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Ohne Theatralik öffnet die neuseeländische Premierministerin ihre Tasche und zieht ein kleines Armband hervor, während Hilfspersonal an alle Anwesenden ein ähnliches Stück verteilt. Dann setzt sie ihre Rede fort:
»Was sie hier sehen und gerade bekommen, ist die neueste Version des e-Helpers. Er hat alle Funktionen, die ihnen vertraut sind: Er ist Handy, Kamera, Videokamera und mächtiger Computer in einem. Er hat aber, und das ist neu, einen noch besseren Schutz gegen alle Arten von Strahlungen und elektromagnetische Felder, wobei er auf vollständige Durchlässigkeit oder »Einwegdurchlässigkeit« in die gewünschte Richtung eingestellt werden kann.
Die PM verschweigt bewusst, dass der neue e-Helper auch teilweise vor »frequenzvariabler« Strahlung schützt, einer Strahlung, die nach Marcus Berichten offenbar zum Ausfall der Elektronik des in Orlando notgelandeten Luftschiffs 920-S führte.
Wäre 920-S mit einer Abschirmung wie bei dem e-Helper, nur mit einem sehr viel stärkeren und entsprechend größeren Feld geschützt gewesen, wäre die Elektronik nicht ausgefallen, behauptet Marcus!
Sie weiß, dass die schon in Planung befindliche nächste Generation der e-Helper einen vollständigen Schutz, auch vor frequenzvariabler Strahlung, geben wird: darum wollte Marcus noch zuwarten, doch wurde er nun gezwungen, mit wie er sagte, einem ‚halbfertigen Produkt’ anzutreten.
»Aber das Gerät liefert noch viel mehr. Jeder aktive e-Helper vor dieser neuen Generation kann - wie seinerzeit die alten Handys - bis auf Meter genau angepeilt werden. Die Standorte von Benutzern von e-Helpern können also genau aufgezeichnet werden, einer der großen Vorwürfe, den Sam Green schon nach 2000 der Handyindustrie und später den e-Helpern machte. Wir haben auf dich gehört, Sam Green! Die Position eines Gerätes aus der neue Generation der e-Helper ist nicht mehr genau feststellar. Je nach Situation kann die Lage nur mehr mit ca. 10 km Genauigkeit festgestellt werden. Natürlich wäre es uns lieber, wenn wir diese 10 km auf 1000 km ausweiten könnten und SR-Inc. arbeitet daran, aber immerhin ist damit die exakte Überwachbarkeit von Personen nicht mehr möglich. Freilich, der Benutzer eines e-Helpers kann auf Wunsch jederzeit seine Position bis auf zehn Zentimeter genau über das im e-Helper eingebaute GPS System mitteilen, etwa wenn er in Bedrängnis ist. –
(Lauter Applaus zwingt die PM kurz zu unterbrechen. Sie fährt lächelnd fort) -
Wenn sie jetzt schon applaudieren, dann halten Sie sich fest, es kommt noch einiges auf Sie zu! - (Es wird sehr still. Alle lauschen gespannt) -
Die Techniker unter Ihnen werden sich fragen, wie es möglich ist, die Peilung zu verhindern. Möglich ist ja die Peilung dadurch, dass nicht eine Sende-Empfangstation die Signale des e-Helpers empfängt, nicht nur die in der »Zelle« wo sich der e-Helper befindet, sondern auch die in den Nachbarzellen, diese je nach Entfernung natürlich schwächer.
Aus diesen Unterschieden kann die Position berechnet werden. Im neuen e-Helper wird die Peilung in erster Linie dadurch verhindert, dass der e-Helper nicht nach allen Seiten gleichmäßig sendet, sondern nur in eine, und diese, sowie die Sendestärke, verändert er andauernd. Er erkennt auch den nächsten Sende-Empfangsmast und sendet dann in diese Richtung besonders schwach. Dadurch ist eine genaue Peilung nicht mehr möglich. Umgekehrt haben wir es erreicht, dass alle in Frage kommenden Sendestationen Informationen an den neuen e-Helper senden, ohne zu wissen, von welcher er sie dann in Wirklichkeit bezieht. Der zweite Trick, der noch erweitert wird, ist, dass der e-Helper einen anderen e-Helper, der freie Kapazität hat, als Relaisstation verwendet, der vielleicht wieder einen anderen, so dass die Verbindung mit Sende-Empfangsstation potenziell erst sehr weit vom ursprünglichen e-Helper hergestellt wird.
Nun aber weg von der Technik, zu einer ganz wichtigen neuen Eigenschaft. Der e-Helper warnt vor EVWs, wobei der Wirkungsradius variabel bis auf maximal 300 m eingestellt werden kann. Außerdem erlaubt er keinem EVW eine Annäherung unter eine gewisse Entfernung, wobei die größtmögliche einstellbare Entfernung dafür 20 m beträgt. Die Zeiten, wo jemand aus nächster Nähe mit einem EVW in ein Zimmer hineinschauen oder seine Nachbarn bespitzeln kann, sind, Sam Green, aufgrund dieser neuen Technologie fast so schnell vorüber, wie sie gekommen sind. Es tut uns leid, dass du diesen Erfolg deiner Warnungen nicht mehr erleben kannst!
Verehrte Anwesende: Die berüchtigten EVW-Blocker gehören der Vergangenheit an, jeder e-Helper erfüllt nun diese Funktion, gleichgültig, ob er von jemandem getragen oder irgendwo hingelegt wird.«
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Die letzte Ankündigung schlägt wie eine Bombe ein. Sie verändert nicht nur die Welt an sich, sondern auch die wirtschaftliche Situation. Jeder klar denkende Mensch erkennt, dass diese neue Entwicklung eine Katastrophe für Sonokia ist. Während sie ihre Drohnen nach wie vor mit Verlust verkaufen, tätigen sie Spitzen-Erlöse über die EVW Blocker – und diese sind plötzlich überflüssig!
Im New Yorker Hauptquartier von Sonokia sehen sich die versammelten Aufsichtsräte und Vorstände an. Der Vorstand des Vertriebs ist der erste, der spricht:
»Wir müssen, um zu retten was zu retten ist, die Produktion der EVW-Blocker sofort einstellen und die Preise für die Drohnen dramatisch erhöhen, nach meiner Rechnung um das Sechsfache!«
Die Anwesenden sind bestürzt, denn sie sehen noch einen anderen Aspekt, der sie unruhig macht und am liebsten aus den Raum rennen lassen würde. Ihre Sonokia Aktien werden abstürzen! Der Vorstand der Finanzen steht auf:
»Meine Damen und Herren, ich weiß, dass die meisten Anwesenden am liebsten ihre Sonokia Aktien verkaufen würden, weil ein dramatischer Wertverlust absehbar ist. Tatsächlich sind die Aktien innerhalb der letzten 10 Minuten von 82 auf 51 Dollar eingebrochen. Mein Prognoseprogramm sagte mir, dass der Wert sehr schnell bis auf unter 4 Dollar zurückgehen wird. Ich habe aber vor 30 Sekunden eine Nachricht von SR-Inc. erhalten, dass SR-Inc. mit uns in Zukunft kooperieren will und damit den Wert von Sonokia auf einem sicher etwas tieferen Niveau als noch vor kurzem, aber auf einem vernünftigen, stabilisieren wird. Mit dieser Nachricht konnte ich den Handel mit Sonokia Aktien bis auf weiteres aussetzen lassen.«
»Was konkret bietet SR-Inc. an?«
»Ich weiß es nicht. Zwei der wichtigsten Geschäftsführer von SR-Inc. sitzen in einem Privatflugzeug hierher. Sie schlagen ein Treffen morgen Vormittag um 11 Uhr vor. Sie bitten, dass alle notwendigen Entscheidungsträger anwesend sind. Aus der Sicht von SR-Inc. wird ein großzügiges Angebot gelegt. SR-Inc. sagt aber, dass man nicht verhandeln will. Das Angebot wird entweder angenommen oder nicht, so wie es ist.«
»Klingt wie eine massive Drohung!«
»SR-Inc. hat den Ruf, eine faire Organisation zu sein. Sie hätte vor 10 Jahren die eSmog Krise beliebig ausnutzen können, und tat es nicht.«
»Es ist sinnlos, viel zu spekulieren, hören wir uns an, was Neuseeland zu sagen hat, und sehen wir morgen weiter.«
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Die Ankündigung der PM, dass EVW-Blocker in Zukunft unnötig sein werden, löst auch in der UNO Generalversammlung große Unruhe aus. Viele stehen auf und verlassen den Saal. Die PM pausiert kurz, dann blickt sie auf ihre Uhr und fährt fort:
»Alle, die den Saal verlassen wollen, um Sonokia Aktien zu verkaufen, können getrost sitzen bleiben. Der Handel mit diesen Aktien wurde nach einem Kurssturz auf 51 Dollar gerade ausgesetzt. Sonokia wird morgen von SR-Inc. ein faires Angebot zur Zusammenarbeit erhalten. Sonokia wird daher aller Voraussicht nach ein weiterhin mächtiger und gesunder Konzern bleiben.
Aber nun möchte ich ihnen eine weitere wichtige Eigenschaft der neuen e-Helper erläutern. Als Kreditkarte konnte man sie ja schon immer benutzen, aber nun auch als anonyme Debitkarte. Dies ist in Zusammenarbeit mit der Afra-Asia-Bank gelungen. Man kann über fast jeden Geldausgabeautomaten weltweit einen beliebigen Betrag auf seinen e-Helper laden, wobei die Herkunft des Geldes nicht mit geladen wird. Nun kann man damit in allen Geschäften, die eine der gängigen Kreditkarten annehmen, anonym bezahlen. Dass das möglich ist, dafür sorgt ein kryptographisches Verfahren, dass seit 3 Jahrzehnten bekannt ist und das von der Afri-Asia-Bank für Zahlungszwecke adaptiert wurde. Während Kreditkartenfirmen zwischen 1,5 und 3 % der Kaufsumme für ihre Dienste einbehalten, verrechnet die Afri-Asia Bank nur 1 %.
Von diesen 1 % werden die Hälfte, also 0,5 % des Kaufbetrags an die Stiftung TfH, das steht für »Technology for Humanity« abgeführt. Diese Stiftung schüttet ihr Geld für Projekte aus, bei denen Technologie zum Nutzen der Menschheit, vor allem den ärmeren Schichten der Menschheit, erforscht, entwickelt oder eingesetzt wird. Man kann übrigens auch Geldtransaktionen direkt von e-Helper zu e-Helper durchführen, wobei man dann die Option hat, einen nicht verfälschbaren Schlüssel, der den Einzahler identifiziert mitzusenden oder auch hier anonym zu bleiben. In beiden Fällen werden wieder gefinkelte kryptografische Algorithmen verwendet. Dabei wird ein Betrag von 0.5 % eingezogen, der zur Hälfte für die Abwicklung durch die Afri-Asia-Bank dient, zur anderen Hälfte der Stiftung TfH zugute kommt. Die TfH versucht so etwas wie eine ‚Tobin-Steuer’ auf Geldtransaktionen durchzuführen, mehr dazu in Unterlagen, die ab heute allen zur Verfügung stehen.
Hinter der Stiftung TfH stehen die Global Marshall Initiative, die in den letzten Jahren viel an Dynamik und Bedeutung gewonnen hat, sowie einige Regierungen, darunter unsere, die World Bank, die Bill Gates Stiftung, die Ford Foundation und andere. Alle haben die TfH Stiftung mit großzügigem Startkapital ausgestattet. Ich bedanke mich nicht nur dafür, sondern auch, dass alle diese Maßnahmen, soweit ich weiß, bis heute wirklich geheim geblieben sind. Ich lade alle Firmen, Organisationen und Regierungen ein, bei der TfH Stiftung mitzuwirken, für eine bessere, sichere und menschengerechtere Technologie im Sinne von Sam Green.«
Die PM hebt die Hände, um aufkeimenden Applaus zu unterdrücken:
»Sparen Sie sich bitte Applaus oder Pfiffe bis
zum Ende meiner Rede. Ich habe noch eine technische Anmerkung und
einen allgemeine. Wie Sie wissen, hat Sam Green auch immer wieder
vor den Gefahren der so genannten RFID und NFC Chips gewarnt, die
inzwischen in fast jedes Produkt eingebaut sind. Dadurch ersparen
wir uns heute die Kassen bei Kaufhäusern, finden verlorene
Gegenstände wieder, erhöhen die Diebstahlsicherheit usw. Wir
bezahlen aber dies bisher mit dem Preis, dass ein Netz von Dingen
mit unserer Person verbunden ist und dieses Netz in gewissen Fällen
anderen zugänglich ist und gegen uns eingesetzt werden kann. Wir
haben nun Varianten der RFID Chips entwickelt. Wir wollen diese als
internationalen Standard einführen. Zusammen mit
Verschlüsselungsverfahren in den e-Helpern können wir so alle
Vorteile der RFID Chips bewahren aber jeden potenziellen Missbrauch
ausschalten. Im Wesentlichen beruht das darauf, dass man keine
Informationen auf diese RFID Chips
schreiben kann. Sie behalten nur eine eindeutige Kennung, die aber
der e-Helper nie ausgibt, sondern nur eine daraus kryptografisch
generierte Einmalkennung.«
Die PM blickt von den Unterlagen auf, und blättert zweimal um.
Ich erspare Ihnen die technischen Details … ich verstehe sie selbst auch nicht wirklich - (Gelächter) - sondern lassen Sie mich zusammenfassen: Sam Green folgend, haben wir umfangreiche Maßnahmen entwickelt, um die Überwachbarkeit der Menschen, den »Großen Bruder« nach George Orwell, ein gutes Stück zurückzudrängen. Dies gilt auch für kryptografische Anonymisierung im Internet, was Benutzerprofile und Ähnliches anbelangt. Ich gehe darauf aus Zeitgründen nicht weiter ein, so wichtig dieser Bereich auch ist. Neuseeland und SR-Inc., aber ich hoffe auch alle anderen Länder, werden in diese Richtung weiterarbeiten.
Es ist uns klar, dass solche Entwicklungen auch große wirtschaftliche Umwälzungen mit sich bringen. Dass die EVW Blocker plötzlich überflüssig werden ist nur ein Beispiel. Dass Banken und Kreditkartenfirmen durch die neuen Zahlungsmöglichkeiten Einbussen erleiden ist ein zweites. Ich darf im Namen meines Landes, aber auch im Namen von SR-Inc. festhalten, dass es nicht unser Ziel ist, wirtschaftliche Profiteure zu sein. Wir wollen vielmehr faire Partner bleiben. Das Angebot an Sonokia, von dem sie sicher noch hören werden, wird Ihnen zeigen, was ich meine. Ein anderes Angebot von SR-Inc. zum Eintausch der alten gegen die neuen e-Helper wird dies gleichfalls tun.
Geehrte Anwesende, mein Land wird auch weiterhin versuchen, in manchen Bereichen technisch führend zu bleiben, aber wir werden weder die Warnungen Sam Greens vergessen, noch uns als etwas anders sehen, als das, was wir sind: ein kleiner Teil der Menschheit der am Wohl aller interessiert ist, sowie das die Familie der menschlichen Staaten von jedem Familienmitglied erwarten kann.«
Der Vorsitzende bedankt sich unter Beifallsstürmen. Die PM verlässt ohne zu warten den Raum und wird in ihr Hotel gebracht. Sie weiß, Ruhe gibt es jetzt keine, aber sie möchte verschiedene Einzelgespräche führen können. Ihr Sekretariat filtert eingehende Anfragen. Es hat den Auftrag, eine Pressekonferenz für frühen Abend anzusetzen, sofern genügend Bedarf besteht.
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Der erste Gratulant ist ihr Stellvertreter in Neuseeland, Verteidigungsminister Sir Ronald Steed.
»Jenny, du warst super. Mehr Landsleute haben deine Rede heute verfolgt als das Endspiel der letzten Fußballweltmeisterschaft.« Er lacht.
»Man ist stolz auf dich, aber auch darauf, Neuseeländer zu sein. Ob du willst oder nicht, du wirst noch einmal als PM gewählt werden, auch wenn du schon das vorletzte Mal von Aufhören gesprochen hast. Was dich aber besonders interessieren wird, dieser Koko, der Führer unserer Anti-Techik Bewegung, hat vor wenigen Minuten in einem großen Interview gesagt, dass die Bewegung ab sofort auf Gewalttaten und Protestaktionen, ja sogar gegen das neue Atomkraftwerk in Otago, verzichten wird. Er bedauert einige ihrer frühen Aktionen, sagte er in aller Öffentlichkeit!, und sie hätten sie nie durchgeführt, wenn sie gewusst hätten, wie stark die Regierung und neuseeländische Firmen mit Sam Green zusammen gearbeitet haben. Ja, du hast dich nicht verhört: zusammengearbeitet! Übrigens machte er dir nur einen Vorwurf: dass du von den Entwicklungen die Neuseeländern nicht früher informiert hast«.
Ron Steed lacht noch einmal.
»Wenn das, was bei uns passiert, auch sonst auf der Welt geschieht, dann hast du erreicht, was du wolltest. Die Technikfeindlichkeit wird sich zumindest bis zum nächsten Zwischenfall in Grenzen halten. Übrigens, in einigen Medien wird anstelle von Neuseeland bereits vom SR-Inc.-Land geschrieben. Obwohl ich seinerzeit dagegen war, es war ein sehr guter Schachzug, dass sich Marcus nie ins Rampenlicht geschoben hat und SR-Inc. offiziell keiner Privatperson oder Firma gehört sondern eine Holding ist, an der auch Neuseeland beteiligt ist. So, du bist jetzt im Zentrum des Interesses, ich überlass dich jetzt besser dem nächsten.«
Die nächste Person, die virtuell in ihrem Hotelzimmer sitzt, ist Marcus. Trotz seiner 40 Jahre wirkt er wie ein aufgedrehter Teenager.
»Bist du mit der Rede und SR-Inc. zufrieden?« Jenny lächelt als Antwort.
»Also dein Trick mit den zwei Seiten, auf denen gar nichts stand, aber die ich als ‚zu technisch’ überblätterte, kam gut an. Überhaupt, du bist über deinen Schatten gesprungen ein solches Loblied auf Sam Green für mich zu schreiben, für einen Mann, den du nicht so besonders geschätzt hast.«
»War wohl in diesem Fall einfach total nützlich. Mich ärgert nur, dass unser nächstes e-Helper Modell, das sehr bald fertig sein wird, im Vergleich zum gegenwärtigen kaum Beachtung finden wird. So, jetzt aber genug, du hast garantiert zu tun, und vielleicht musst du dich auf die Pressekonferenz vorbereiten. Ich sitze gerade mit Klaus Baumgartner im Flugzeug nach New York … viel Erfolg!«
Mit der Pressekonferenz hat Marcus Recht. Das Interesse, sie zu interviewen kennt keine Grenzen. Bei technischen Fragen wird sie auf die Geschäftsführer von SR-Inc. hinweisen, die morgen ohnehin in New York sein werden und denen sie so eine Pressekonferenz einbrocken wird. Es tut ihr leid, dass wieder Klaus im Vordergrund stehen wird, nicht Marcus, der Europa wegen seiner telekinetischen Begabung verlassen musste und der noch immer Angst hat, dass die Wahrheit über seine Para-Begabung und die der meisten seiner Mitarbeiter bekannt wird. Andererseits, sie muss ihm Recht geben, wenn sie an die vielen Filme und Bücher denkt, in denen Mutanten bis zum Äußersten bekämpft werden.
Die meisten der zahlreichen Spendenzusagen werden vom Sekretariat der PM dankend entgegengenommen, einige werden zu ihr durchgestellt. Sie freut sich nicht nur über die Spendenzusagen großer Hochtechnologiefirmen (für manche ist eine Spende an TfH vielleicht auch nur ein Feigenblatt, denkt sich die PM zynisch), sondern über jene Firmen, die ihr dazu gratulieren, mit ihrer Rede etwas gegen die Technikfeindlichkeit getan und Interesse an Technik geweckt zu haben.
Der Präsident vom MIT, der sich innerhalb von Stunden mit Kollegen an anderen hervorragenden technischen Universitäten der USA abgesprochen hat, macht ein interessantes Angebot. Für jedes Stipendium für ein technisches Studium, das die TfH vergibt, erklärt sich das Konsortium um MIT herum bereit, ein weiteres zu vergeben.
»Danke für das Angebot. Freilich kann es nicht das Ziel sein, alle guten Technikstudenten der Welt in die USA abzusaugen. Das hat die Fullbright- Organisation nach dem 2. Weltkrieg ja sehr erfolgreich 65 Jahre lang betrieben«, sagt die PM etwas spitz, aber dann versöhnlich:
»Es geht um mehr, als um Stipendien an den technischen Universitäten. Seit über 30 Jahren bilden wir weltweit in vielen Ländern zu viele Studenten in Jus, Journalistik, Psychologie usw. aus, und zu wenige in technisch- naturwissenschaftlichen Fächern. Das müssen wir ändern. Aber da müssen wir schon auf der Ebene vor den Universitäten beginnen.«
Bevor sie auch nur mit einem Bruchteil der Menschen reden kann, die sie sprechen wollen, und die interessante Ideen haben, ist ihre Pressekonferenz fällig. Sie wird ein Erfolg und ein Vergnügen. Die Journalisten stehen diesmal vom Anfang an auf ihrer Seite.
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Klaus Baumgartner und Marcus Simmer sitzen als Vertreter von SR-Inc. mit einem New Yorker Notar einer »Übermacht« von 7 Vertretern von Sonokia und zwei Rechtsanwälten in einem eleganten Büro im 66. Stockwerk der New Yorker Sonokia Zentrale gegenüber.
Man tauscht Höflichkeiten aus, Getränke und Brötchen werden gereicht, bis schließlich der Aufsichtsratvorsitzende von Sonokia, Marko Haininnen, das Gespräch eröffnet:
»Wir haben gestern durch die Ansprache der Premierministerin von Neuseeland erfahren, dass Sie erstens neue e-Helper auf den Markt bringen wollen die unsere berühmten EVWs in ihrem Einsatz einengen und insbesondere die EVW-Blocker, eine Hauptkomponente in unserem Geschäftsmodell, überflüssig machen.« Klaus und Marcus nicken höflich.
»Wenn diese Angaben stimmen, dann bringt das Sonokia tatsächlich in eine schwierige Situation. Dann könnte das in der selben Rede erwähnte Angebot der Zusammenarbeit mit Ihnen von Interesse für unseren Konzern sein.«
Klaus Baumgartner übernimmt den Hauptpart.
»Wir schätzen Sonokia als eine große und verlässliche Firma mit hervorragender Infrastruktur für Forschung, Entwicklung, Produktion, Marketing und Vertrieb. Wie Sie wissen, haben wir schon bei der Produktion der älteren e-Helper andere Firmen als Partner eingeschaltet. SR-Inc. hätte gar nicht die Kapazität, so viele e-Helper zu produzieren, wie benötigt werden. Wir wollen uns daher mit einem größeren Aktienpaket an Sonokia beteiligen, dafür aber 50% der Produktion der e-Helper und deren Vertrieb Sonokia überlassen, mit einem gewissen Mitspracherecht bei der Preisgestaltung und mit einer Umsatzprovision von 10%. Mehr noch, wir bieten Ihnen an, auch die nächste Generation e-Helper mit Sonokia zu produzieren. Da SR-Inc. auch eine Drohne in Entwicklung hat, die die EVWs in Funktionalität wesentlich übertrifft, können wir später über eine Produktion dieser Drohne bei Sonokia verhandeln. Dabei könnten wir sogar das Selbstzerstörungsmodul Know-How von Sonokia einkaufen. Auch der Name EVW könnte bestehen bleiben. Der von Sonokia erzeugte e-Helper kann auch gerne umbenannt werden, etwa in Sonokia- Helper und wir sind auch für kleine Änderungen in der Funktionalität und im Design offen. Insgesamt ist es wohl sinnvoll, wenn unser Aktienpaket eine deutliche Mehrheit ausmacht, damit die Intentionen von SR-Inc. und Sonokia in dieselbe Richtung gehen.«
Das Sonokia Team ist über die wie es scheint ungewöhnliche Großzügigkeit des Angebotes überrascht. Freilich hängt alles von den finanziellen Parametern ab. Man hat vor der Sitzung beschlossen, Aktien keinesfalls unter 30 Dollar abzugeben.
Marko Haininnen erkundigt sich mit etwas heiserer Stimme:
»Warum wollen
Sie gerade 50% der Produktion und des Vertriebs zu Sonokia
auslagern? Und welche Größe von Aktienpaket zu welcher Bewertung
haben Sie sich vorgestellt?«
»Die 50% bedeuten nach unserer Hochrechnung, dass Sie die Anzahl der Mitarbeiter in der Produktion, Qualitätsprüfung, Marketing und Vertrieb etwa um 10% aufstocken müssen. Nachdem Belegschaft und Öffentlichkeit nach gestern sicher eine Reduktion des Personals erwarten, wird das für alle eine positive Überraschung und Motivation sein. Bei der Preisgestaltung der e-Helper wollen wir so vorgehen, dass Sonokia genügend Marge erwirtschaften kann, um das ganze Forschungs- und Entwicklungsteam zu erhalten. Es wird seine gegenwärtigen Aufgaben ändern müssen, da SR-Inc. in den gegenwärtigen Arbeitsbereichen dieser Sonokia Abteilungen einen deutlichen Vorsprung hat. Aber es wird genug Ideen geben, was sonst noch sinnvoll zu entwickeln ist. Zur Größe des Aktienpakets: Wir wollen 66%.«
»Aber das ist unmöglich!«, unterbricht enttäuscht Haininnen. »Sie wissen, dass die beiden großen Eigentümer je 21% besitzen, der Rest von 58% sich in Streubesitz befindet.«
»SR. Inc. besitzt seit gestern 49% von Sonokia. Wäre der Handel nicht durch unsere Intervention eingestellt worden, hätten wir wahrscheinlich schon den gesamten Streubesitz. Wir fordern in dem Vertrag, auch um Ihnen die Verhandlungen mit Kleinaktionären zu erleichtern, dass jeder, der heute Aktien von Sonokia besitzt, ein Drittel davon an uns zum Preis von 82 Dollar, also dem Wert vor dem Kurssturz, abgibt. Das sind zusammen 17 %, woraus sich die erwähnten 66 % ergeben. Alle, auch die Kleinaktionäre, gehen entweder auf diese großzügige Forderung ein, oder die Aktie verliert weiter an Wert, weil die Lage für Sonokia schwierig wird.
Hier sind alle
notwendigen Verträge. Sie sind bis ins Detail ausgearbeitet. Wie
Sie sehen werden, sind sie so großzügig, dass Analysten am Verstand
von SR-Inc. zweifeln werden. Aber wir wissen, was wir tun. Wir sind
keine kurzfristigen Profiteure; wir wollen Partner, die uns
vertrauen, ja vielleicht fallweise dankbar sind, wenn das eine
unter Großkonzernen erlaubte Kategorie ist, weil wir in Zukunft
diese Partner für noch viel größere Aufgaben benötigen werden. Wir
wollen Konkurrenten, die wissen sollen, dass man mit uns immer
reden kann und dass wir nie eine Zwangslage ausnützen werden. Bitte
studieren Sie die Unterlagen. Wir haben um 18 Uhr eine
Pressekonferenz angesetzt, wo wir das Angebot kurz erklären werden.
Es wäre gut, wenn einige von ihnen dabei wären und es kommentieren
würden. Sie werden sehen, die Verträge sind von unserer
Seite notariell beglaubigt unterzeichnet, gelten aber nur, wenn gegengezeichnete Verträge
innerhalb der Frist von 20 Tagen bei unserem Notar abgegeben
werden. Die Frist ist ausreichend, dass sie in einer
Generalversammlung ihre Aktionäre überzeugen
können.«
»Erlauben sie mir noch eine Frage?«, sagt Haininnen .
»Natürlich, gern«.
»Was ist mit
dieser Austauschaktion? Ich bin sicher, dass sie auch in den
Verträgen erwähnt ist, kostet die nicht ein Vermögen?« Da meldet
sich Marcus das erste Mal zum Wort.
»Ja, sie kostet ein Vermögen. Aber das betrifft nicht Sonokia, die Kosten werden zur Gänze von SR-Inc. übernommen. Dann also bis heute Abend, meine Herren!«
Marcus und Klaus hinterlassen eine ungläubige Gruppe. Die Pressekonferenz am Abend verläuft wie erwartet. Der Tenor der Medien ist:
»Die Neuseeländer sind entweder unglaublich spendabel und fair oder verrückt.«
Marcus und Klaus sind zufrieden. Sie wollen eher Goodwill als Geld. Geld können sie mit ihren Para-Begabungen immer erhalten, wie z. B. die sehr erträglichen Goldbergwerke[1] weltweit zeigen. Nur weiß niemand, dass da Marcus dahinter steckt.
51
3. Juni
2022, zwei Tage nach der UNO Rede; Jolo,
Philippinen
Tschau ist nach den Tests mit den neuen e-Helpern einigermaßen beruhigt. Sie schirmen zwar frequenzvariable Strahlung bis zu einem gewissen Grad ab und schwächen damit die Kraft seiner Minidrohnen. Sie vermindern damit auch ihre Funktion als Hypnoseverstärker. Aber seine Panik nach der Rede der PM, dass man in Zukunft Objekte gegen seine Drohnen resistent machen könnte, war zum Glück ungerechtfertigt. Damit sind seine erste große Lieferung und weitere Einsätze von Mückenschwärmen gesichert!
Jetzt gibt es auf Jolo unglaublich viel zu tun. Die Massenproduktion der Drohnen, zwar schon angelaufen, muss nun auf volle Touren gebracht werden, ein ‚interessantes’ logistisches Problem. Es gilt in 20 Tagen 40 Milliarden Minidrohnen herzustellen, also ca. 200 Schwärme zu 10 Millionen pro Tag! Jeder Schwarm muss in einem Container verpackt werden und hat schließlich insgesamt 8 Tonnen Gewicht. Selbst die nur 0.5 g schweren Drohnen wiegen als Schwarm immerhin allein schon fünf Tonnen! Trotz 10 Fließbändern in Schichtbetrieb und obwohl Grundstoffe und Verpackungsmaterial inzwischen eingelagert sind, müssen pro Fließband und Tag fast 20 Container erzeugt, verpackt und zwischengelagert werden. Dass für jeden Schwarm zwei Steuereinheiten dazu kommen (eine jeweils als Reserve) ist dagegen eine kleinere Aufgabe, die in einer anderen Abteilung von 50 Mitarbeitern problemlos durchgeführt werden wird.
Tschau ist recht zuversichtlich. Er hat schon ab dem 10. Mai »auf Verdacht« produziert und in den 20 Tagen seither 600 Schwärme komplett fertiggestellt. Da seine Grundlieferung ja ‚nur’ aus 1000 Schwärmen besteht und er vertraglich für die anderen »als Garantie des Vertrags« bestimmten inzwischen noch eine Galgenfrist von zusätzlich 20 Tagen ausgehandelt hat, würde sich das schon ausgehen.
Mehr Sorgen macht ihm, dass ihm die Ausbildung von 1000 Soldaten zur Führung eines Schwarms, auch mit Datum 1. Juli 2022, in denselben Nachverhandlungen diktiert wurde. Da er gar nicht genügend ausgebildete Mitarbeiter hat, muss in zwei Stufen ausgebildet werden. Zunächst 40 Personen in zehn Tagen, diese 40 dann je 25 weiter Schüler in weiteren ca. 10 bis 15 Tagen. Die ersten 40 Soldaten, die zu Ausbildern ausgebildet werden müssen, kommen morgen an. Für sie ist alles vorbereitet. Sie werden am 14. Juni eigene Gruppen zur Ausbildung übernehmen können. Für die dann 1000 »Schüler« gibt es aber in seiner Anlage nicht genügend Ausbildungsplätze. Er muss also die 40 ausgebildeten »Schwarmführer« zurücksenden und mit ihnen 3 bis 4 Tage später 1000 Schwärme. Nach maximal 4 »theoretischen« Tagen der Einschulung ist die praktische Arbeit von 3 bis 5 Tagen mit einem Schwarm notwendig. Dadurch wird die Produktionszeit trotz enormer Automatisierung unglaublich kurz.
Tschau beglückwünscht sich insgeheim, dass er vor vielen Jahren in Graz die Firma Knapp kennen lernte, die auf Verpackungsautomatisierung spezialisiert ist. Als er Knapp Ende 2021 den Auftrag gegeben hatte, Verpackungsautomaten für die Verpackung von jeweils 10 Millionen künstlicher Fliegen in einen Container (angeblich für Sport-Angler in den USA bestimmt) zu entwickeln, hatte die Firma ohne dumme Fragen zu stellen hervorragende Arbeit geleistet und alles termingerecht auf Jolo installiert.
Es darf jetzt
nur keine Pannen geben und keine Unterbrechungen! Er hofft, dass
seine Verbindungen und die Zahlungen an die radikale islamische
Rebellengruppe Abu Sayyaf (»Träger des Schwertes«) auf Jolo
ausreichend war, sodass diese Gruppe sie weiterhin deckt und keiner
an ihn herankommt. Die Gelder, die er regelmäßig an die
Zentralregierung in Manila zahlt (ein gefährliches Doppelspiel!)
haben ausgereicht, um das ganze Gebiet um Jolo ab 5. Juni 2022 zum
militärischen Sperrgebiet zu erklären. Dies wird ihm einerseits
Schutz vor internationaler Spionage geben, würden die Rebellen aber
andererseits als gegen sie gerichtete Aktion sehen und daher
besonders aufmerksam reagieren.
[1] Marcus kann durch seine Para- Begabung gewisse Erze aufspüren, siehe »XPERTEN: Der Telekinet«.