Ishím Voróo (Jenseitiges Land), siebzehn Meilen vom Nordpass und dem Steinernen Torweg entfernt, 4371. Teil der Unendlichkeit (5199. Sonnenzyklus), Sommer

Die beiden Albae trabten mit vierzig Kriegern dem Pass entgegen und betrachteten das gewaltige Lager von weiter oben.

»Es war weise, die Zelte am Fuße der ersten Bergausläufer aufschlagen zu lassen«, merkte Caphalor an. »Vor allem die Oger, Trolle und Riesen veranstalten viel Lärm, und ihre kraftvollen Stimmen tragen weit.«

Sinthoras lauschte und war beruhigt, keine verräterischen Geräusche aus der Ebene zu vernehmen. »Das fehlte noch, dass die Unterirdischen ausgerechnet durch Gelächter vor dem Sturm gewarnt werden, der sich da zusammenbraut«, antwortete er. Das Verbot, den Steinernen Torweg zu attackieren, hatte gefruchtet. Keine Bestie, kein Barbar, kein sonstiges Wesen begegnete ihnen bei ihrem Aufstieg. Die Nostàroi waren die Ersten nach einer langen, langen Zeit.

Der Pass verlief steiler, wand sich die Berge hinauf und behielt seine Breite bei.

Das war nicht immer so gewesen.

Sinthoras wusste, dass Óarcos und andere Scheusale ihn ausgetreten und mit Pickeln und Schaufeln erweitert hatten, weil sie dachten, dass ihre einfachen Belagerungsmaschinen gegen die mächtigen Portale etwas ausrichten konnten. In den wenigen Teilen der Unendlichkeit, da nicht irgendeine Bestie meinte, sie müsse einen Angriff gegen die Unterirdischen führen, kamen gelegentliche Expeditionen aus Tark Draan nach Ishím Voróo. Gerade die Barbaren schienen von der Neugierde getrieben zu werden, mehr vom Unbekannten zu erfahren. Nicht, um es sich zu unterwerfen, sondern um es zu erkunden. Sinthoras lächelte grimmig. Ich finde, es ist nur höflich, die Besuche zu erwidern.

Es wurde kälter. Der Atem vor den Nasen und Nüstern wurde zu weißen Wölkchen, Reif schlug sich an den Helmrändern nieder.

Sinthoras’ Gedanken schweiften bei ihrem Ritt über Meilen hinweg zu der schwer verletzten Timānris.

Die Nachricht von ihrem Unfall hatte ihn mitgenommen, und er spürte schreckliche Sorge und Angst um seine Zukünftige. Liebe macht nicht nur stark. Da er jedoch nicht einfach so aus dem Lager verschwinden durfte, nicht wegen persönlicher Belange, auch wenn es ihm das Herz zerriss, schrieb er Briefe. Unzählige Briefe, die Boten nach Dsôn brachten.

Ich muss mich ablenken, sonst verweilt mein Verstand zu lange bei ihr, und die Sorge wird zu erdrückend. »Du hast noch immer nicht erzählt, was du mit Munumon getan hast.« Sinthoras sah zu Caphalor. »Du hast ihn leiden lassen, nehme ich an.«

»Ja. Mehr, als ich jemals zuvor eine Kreatur leiden ließ«, entgegnete er zufrieden. »Ich hoffe, du konntest etwas mit seinem Blut anfangen, das ich dir mitbrachte.«

»Ich behandele es mit Sorgfalt. Wo es doch keine Fflecx mehr gibt, ist der Lebenssaft ihres Königs umso wertvoller.« Sinthoras fühlte Enttäuschung. Zu gern hätte er gewusst, was in jener Nacht geschehen war. Ob auch ich Rache für die Erniedrigung spüren darf?

Doch ehe er nachhakte, sagte Caphalor: »Ich bin froh, dass der Pass so breit geblieben ist. Für unsere Truppenstärke ist er perfekt. Wir werden rasch hinaufgelangen.«

»Auch die Katapulte und Sturmleitern werden sich einfach transportieren lassen.« Er sah die unterschiedlichsten verwitterten Knochen, verrostete und flechtenüberzogene Rüstungen und abgestürzte Wagen in den Schluchten rechts und links des Passes. Der Tod hatte sich reichlich Beute geholt. Bald darf er das wieder tun.

Die Nachtmahre kamen mit der Höhe gut zurecht, und so standen die Albae nach kurzem Ritt auf einer Plattform, von der aus der Pass eine halbe Meile am Bergrand entlangführte, um dann nach Westen zwischen Berghängen zu verschwinden.

»Ich habe keinerlei frische Spuren gesehen«, sprach Caphalor. »Es scheint, als wäre schon lange niemand mehr durch das Tor gegangen.«

»Wir lassen dennoch einige Späher hier«, entschied Sinthoras. »Es ist immerhin nicht auszuschließen, dass die Barbarenkönige von Tark Draan ausgerechnet in den kommenden Momenten der Unendlichkeit eine neue Truppe entsenden, um Ishím Voróo erkunden zu lassen. Da wäre es schlecht, wenn sie durch eine unglückliche Fügung über unser Heer stolperten.« Er atmete tief ein. Kalte, klare Bergluft und ein Hauch des Reiches, das er niederzuwerfen gedachte. Die Unterirdischen bilden lediglich den Auftakt.

»Ich kann es kaum erwarten«, grollte Caphalor, als hätte er seine Gedanken gelesen. »Das verfluchte Tark Draan soll in Flammen vergehen und meinen Hass mit seiner Asche löschen!«

Sinthoras nickte ihm zu. »Das soll es, mein Freund. Lass sie spüren, was du fühlst. Du wirst sehen, dass mit jedem toten Elben unter den Hufen deines herrlichen Nachtmahrs dein Schmerz weniger wird. In …« Ruckartig wandten er und Caphalor die Köpfe nach rechts, wo ein Steinchen den Hang hinabkullerte.

»Ein Barbar«, wisperte Caphalor, »etwa achtzig Schritt über uns. Er sieht aus einer Höhle herab.«

»Wie schnell können wir dort sein?«

Caphalor riss den Bogen herab; schon hatte er einen Pfeil in der Hand und sandte das Geschoss zu dem entdeckten Späher. Getroffen fiel der Mann aus dem Loch und schlug leblos auf dem Boden auf. »Nicht nötig«, merkte der Alb an. »Ich habe ihn zu uns geholt.« Er bedeutete den Albae, abzusitzen und die Umgebung zu sichern.

Sinthoras hatte das veränderte Verhalten des Nostàroi schon seit Längerem bemerkt. Er benahm sich, wie es sich eines Kriegers, eines Helden gebührte und nicht wie ein Adliger vom Land, der ab und zu in den Krieg ritt. Sein neues Auftreten ließ die eigenen Soldaten ehrfürchtig zu ihm aufschauen und die Verbündeten in größtem Respekt von ihm reden. Er hat nichts mehr mit dem weicheren Caphalor gemein. Stünde er nun noch auf der Seite der Kometen, wäre es perfekt.

Vor nicht allzu langer Zeit hätte Sinthoras dies alles sehr eifersüchtig gemacht. Heute blieb er gelassen. Er sah in ihm keinen Gegner mehr, zumal das Politische längst entschieden war: Der Feldzug lief, und das gesamte Sternenreich zeigte sich inzwischen begeistert von dem Vorhaben. Weil der Erfolg durch die Teilnahme zweier solcher Helden nicht mehr infrage gestellt werden konnte.

Vom Rücken ihrer Nachtmahre aus blickten er und Caphalor teilnahmslos auf den erschossenen Barbaren herab. Er sah verwahrlost aus, trug Pelze über den Resten einer Uniform und eines rostigen Kettenhemdes.

Sinthoras stocherte mit der Lanze an dem Toten herum, schlitzte den Proviantbeutel auf. »Er hat genug zu essen bei sich. Scheint, als wäre er ein Barbar, der einst zu einer Expeditionseinheit gehörte.«

Caphalor sah zur Höhle hinauf. »Es gibt gewiss noch andere. Wir sollten sie erlegen, bevor sie uns sehen und die Unterirdischen zu warnen versuchen.« Wieder gab er Anweisung, und die Hälfte der Truppe machte sich an den Aufstieg. Er folgte ihnen mit einigem Abstand.

Sinthoras hing sich die Lanze mit einem Riemen über den Rücken und erklomm den steilen Kletterpfad, der auf den ersten Blick nicht zu sehen gewesen war. Der Rest der Truppe blieb bei den Nachtmahren und hielt Wache.

Lautlos betraten sie die Höhle, in der es nach Barbar stank. Ein einfaches Lager für zwei Leute, ein Kehrrichteimer, alte Decken und Pelze auf Strohsäcken.

»Ein Spähposten«, schätzte Caphalor und zog einen seiner Dolche. »Aus den Soldaten sind gewöhnliche Räuber geworden. Ich nehme an, sie halten Ausschau nach Kaufleuten, die es noch wagen, diese Strecke zu benutzen.«

Sinthoras stimmte mit einem Nicken zu. »Da hinten«, sagte er und machte auf einen Gang aufmerksam. Der Trupp bewegte sich vorwärts; Licht benötigten sie keines.

Die Luft wurde muffig und abgestanden, sie kamen an Lampen mit abgebrannten Dochten vorüber, deren Petroleumbehältnis nicht aufgefüllt worden war. Die Ränder des Stollens sahen aus, als seien sie natürlichen Ursprungs; die abgewaschenen Kanten sprachen für einen Wasserlauf, der sich einst seinen Weg durch den Fels gebahnt hatte.

»Wir laufen am Steinernen Torweg in gerader Linie vorbei«, sagte Sinthoras. »Der Gang führt uns weg.«

»Und er verläuft in einem sanften Bogen nach Nordosten. Ich frage mich, ob die Unterirdischen ihn kennen.« Caphalor lächelte. »Ich bete zu Samusin, dass wir auf etwas gestoßen sind, womit wir den Bärtigen einen Stich in den Rücken zufügen können.«

Eine Tür erschien vor ihnen, unter dem Spalt drang Lichtschein hervor.

»Einen lassen wir am Leben. Die anderen müssen sterben.« Sinthoras rief seine Magie, sein Rückgrat erwärmte sich. Die schwarzen Gespinste der Furcht waberten durch den Schlitz und drangen in den Raum dahinter, suchten die Lichtquellen und erstickten sie. Er sah seine Gegner im Dunkeln sitzen und wie sie sich nicht zu erklären wussten, was ihnen geschah. Der Tod kommt zu euch. Und er ist euch gewiss. Als er die erschrockenen Ausrufe von Barbaren vernahm, öffnete er leise die Tür.

Sinthoras erkannte in erster Linie Barbaren vor sich. Zwei hässliche Barbarinnen saßen im hinteren Teil auf ihren Betten und hielten Säuglinge an ihren dicken Brüsten, um sie zu beruhigen. Die Bälger spürten, dass etwas nicht stimmte.

Er war – wie alle Albae – so leise, dass sie weder ihn noch seine Truppe hörten, als sie sich mit gezückten Waffen zwischen ihnen verteilten.

Caphalor deutete auf den größten von ihnen und machte das Zeichen für »Anführer«.

Sinthoras betrachtete das unförmige Gesicht des stark riechenden Barbaren vor sich, der im Dunkel einfach weiteraß und keine Ahnung hatte, wie nahe ihm der Tod war. Ihr Einfältigen. Es ist ein Wunder, dass ihr so lange überlebt habt. Der Mann biss herzhaft in ein Wurstende, die Füllung quoll daraus hervor, verschmierte seine Mundwinkel und die ungepflegten Barthaare. Er wischte sich darüber und rief etwas, was der Alb als Aufforderung an eine der Barbarinnen verstand, die Lampen zu entfachen; danach rülpste er und tastete nach dem Becher, der nach Schnaps roch. Sinthoras empfand Abscheu und Ekel. Eine Klinge ist zu schade für dich. Er nahm den Becher, bevor ihn der Barbar zu greifen bekam, und rammte ihn dem Mann mit einer harten, brutalen Bewegung in den Hals.

Sein Angriff war der Auftakt zum Überfall.

Die Albae töteten die Barbaren und Barbarinnen mitsamt der Brut innerhalb zweier Herzschläge. Nur ihr Anführer bekam einen betäubenden Schlag gegen die Schläfe. Mit dem letzten Röcheln erlaubte Sinthoras dem Licht, heller zu scheinen.

Die Albae standen verteilt im Raum, jeweils bei einem oder mehreren Leichnamen. Sinthoras hörte mitunter leises Plätschern, mit dem das Blut aus den breiten Schnitten und dicken Adern quoll.

Caphalor schüttete dem benommenen Barbarenanführer den Krug mit Wein ins Gesicht und versetzte ihm mit der Rückhand des Panzerhandschuhs eine schallende Ohrfeige.

»Dämonen!«, spie er stammelnd aus und wollte vor Caphalor zurückweichen. Er wog mindestens das Zweifache des Albs, war muskulös und wirkte enorm stark – aber dennoch war sein Wille gebrochen. »Ihr Dämonen der Berge, ich …«

»Was willst du im Grauen Gebirge, Mensch?«, fragte Caphalor mit tiefer Stimme. »Wer schickte dich hierher?«

Sinthoras spürte, dass der Nostàroi Furcht gegen den Barbaren sandte und seine Seele folterte. Seine Gabe kommt mir wirkungsvoller als meine vor, wunderte er sich. Hat das seine Gram verschuldet?

»Wir sind Truppen aus Gauragar. Unser König schickte uns aus, um den Pass zu erforschen, doch wir …« Der Mensch schwieg unsicher.

Caphalor verstärkte seine Aura aus Furcht, die als unsichtbare Welle gegen Sinthoras schwappte und ihn schaudern ließ. »Die Wahrheit, Mensch!«, herrschte Caphalor ihn an.

»Wir sind zu Räubern geworden«, rief er schrill und entsetzt und langte sich an die Brust, als könne er so sein Herz beruhigen. Er starrte in das albische Antlitz. »Ihr habt nicht einmal meine Söhne verschont«, heulte er.

»Weswegen sollten wir das tun?«, sagte Caphalor scheinbar freundlich. »Sie sind die nichtswürdige Brut eines Verbrechers gewesen. Ist es unrecht, geborene Gesetzeslose mit dem Tode zu bestrafen, ehe sie Schlechtes zu tun vermögen?« Er legte die Dolchklinge an die Barbarenwange. »Woher nehmt ihr den Proviant?«

»Wir bestehlen die Unterirdischen«, gestand er sofort. »Wir haben einen Tunnel durch ein Gestein gegraben, das sie Scheingranit nennen.«

»Und sie wissen wirklich nichts davon?«, knurrte Caphalor und setzte die Schneide auf die Haut; durchtrennte Barthaare rieselten herab und landeten auf dem Hemd des Barbaren, der ein »Nein« flüsterte. Auf Caphalors Geheiß erklärte er, wo sich der Gang befand. »Hast du noch Fragen an ihn, Sinthoras?«

»Nein.«

»Dann«, sagte der Alb bedächtig, »heißt dein Tod Caphalor.« Der Dolch zerteilte dem Barbaren den Hals; lediglich die Wirbel verhinderten, dass der Kopf herabfiel. »Ich nehme dir das Leben, und deine Seele soll vor Tion treten und verschlungen werden.« Peinlich genau achtete er darauf, nicht von dem sprühenden Blut benetzt zu werden.

»Machen wir uns auf  …« Sinthoras vernahm Gepolter hinter der anderen Tür, die unmittelbar danach aus dem Schloss gesprengt wurde: Ein gerüsteter Unterirdischer stand mit erhobenem Kriegshammer vor ihnen und schrie: »Habe ich euch, ihr Brot…« Er bemerkte die Toten, die Albae und schwieg verwundert.

Sinthoras erkannte im Gang hinter ihm noch mehr der kleinwüchsigen Torwächter. Sie haben die Spur der Räuber also doch aufgenommen!

Caphalor kam ihm zuvor, als er seinen zweiten Dolch zog und leise befahl: »Tötet sie. Rasch.«

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Ishím Voróo (Jenseitiges Land), Albae-Reich Dsôn Faïmon, Dsôn, 4371. Teil der Unendlichkeit (5199. Sonnenzyklus), Sommer

Nagsor Inàste stieg aus dem im Boden eingelassenen Becken. Er hatte ein Bad in Milch und Öl genommen, das nach schweren, kräftigen Gewürzen duftete, und ließ sich von einer blinden Albin in den weichen, langen Mantel hüllen, der die Feuchtigkeit aufsaugte.

Eine Wohltat sondergleichen. Er setzte sich auf einen Stuhl und ließ sich von der Albin und einer zweiten Dienerin die Haare bürsten, sie mit einem angereicherten, pflegenden Duftwasser behandeln und sich danach in seine schwarze Robe helfen. Noch zwei weitere Dienerinnen kamen hinzu, umschwärmten ihn und schnürten das Gewand, legten ihm die Schuhe und den Schmuck an, brachten die Samthandschuhe, setzten ihm den Stirnreif mit den sechs Zacken daran auf den Schopf und zogen sich zurück. Wie stets hatten sie perfekt gearbeitet.

Jetzt darf ich ihr unter die Augen treten. Der Unauslöschliche verließ die Badehalle und begab sich zu seiner Schwester, die an einer neuen Skulptur zu Ehren des Feldzugs arbeitete. Mehr wusste er nicht; er sollte sie sich erst mit der heutigen Vollendung anschauen.

Doch noch auf dem Weg zu ihr, mitten im Korridor, näherte sich ihm ein Diener. »O Unauslöschlicher, der Gålran Zhadar ist angekommen. Er besitzt die Frechheit und möchte unverzüglich empfangen werden, wie er betonte.«

Nagsor Inàste spürte die Angst, die den Diener folterte. »Du kannst nichts für seine Anmaßung«, beruhigte er den Alb. »Wenn einer meinen Zorn zu spüren bekommt, dann er und nicht du. Nun eile zu Nagsar Inàste und bitte sie in die Ehrenhalle. Sie soll dabei sein, wenn ich mit ihm spreche.« Schnell lief der Diener davon.

Gemessenen Schrittes änderte der Unauslöschliche die Richtung und begab sich dorthin, wo der Gålran Zhadar seiner harrte. Ein forsches Wesen, das muss ich ihm zugestehen. Er hatte ihn zu sich gerufen, bevor er ihm seinen Wunsch erfüllen und ihn nach Phondrasôn gehen lassen wollte. Im Austausch für die Hilfe am Nordpass. Aber das Treffen hätte nach dem Besuch bei seiner Schwester stattfinden sollen.

Es hat nicht viele Gelegenheiten in meinem langen Leben gegeben, mich mit einem Gålran Zhadar zu treffen. Die zwergenähnlichen Geschöpfe waren misstrauisch, dazu noch magisch begabt und scharten eine äußerst schlagkräftige Gefolgschaft um sich. Er und seine Schwester hatten es stets vermieden, einen von ihnen zu verärgern. Undurchsichtige Gegner lagen ihnen nicht.

Hatte sich einer nicht als Gott verehren lassen, hatte Tote lebendig gemacht und Landstriche mit seinen Zauberkräften verwüstet, wenn sie ihm den Tribut verweigerten? So jedenfalls lauteten die Geschichten. Wie viel Wahrheit darin steckte, hatte er niemals herausfinden wollen. Seine eigene magische Macht wollte er nicht nutzen müssen.

Nagsor Inàste betrat die Halle  – und entdeckte keinen Gålran Zhadar. »Wo steckst du?«, rief er und machte einige Schritte hinein. »Schließe deine Augen. Meine Schönheit kann dich töten.«

»Hier«, traf ihn der Ruf aus einer dunklen Nische, dann schritt das Geschöpf ins Tageslicht, das durch die türkis gefärbten Fenster hereinfiel. Es hielt einen Pokal in der Hand, nippte daran und schmatzte betont. Die Lider waren geöffnet. »Dein Wein ist gut, Unauslöschlicher.«

»Woher hast du ihn?«, donnerte Nagsor Inàste und richtete sich auf.

»Ich fand ihn in einem der Gemächer, nicht weit von hier«, antwortete der Gålran Zhadar. »Es dauerte mir zu lange, auf dich warten zu müssen, also habe ich mich in dem Beinturm umgesehen. Ein schönes Gebäude, aber kein Vergleich zu meiner Festung. Es müsste mehr Spielereien in sich tragen, damit ich es gemütlich finde.« Wieder trank er vom Wein und zwinkerte über den Rand hinweg. »Es war nicht so leicht, die blinden Diener zu täuschen. Sie hören sehr gut.«

Der Unauslöschliche war sprachlos. »Du bist hier zu Gast!«, schmetterte er ihm entgegen und spürte Wut in sich aufsteigen. »Du besitzt die Frechheit, die Anmaßung, nein, du begehst den Frevel, aus meinem …«

Das Eintreten von Nagsar Inàste unterbrach ihn, und er schluckte. In diesem Moment wünschte er sich, seine Schwester wäre nicht hier. Der tückische Ausdruck in den Augen des Gålran Zhadar warnte ihn. In dem Geschöpf steckt mehr, als die verschrumpelte Gestalt erahnen lässt. Wesentlich mehr.

»Ihr wolltet mich sprechen«, sagte der Gålran Zhadar, ohne mit einer passenden Begrüßung auf das Auftauchen der Albin zu reagieren. »Hier stehe ich.« Er zeigte auf das Fenster, zur Sonne. »Beeilt euch. Ich muss nach Phondrasôn.«

Nagsar Inàste stand angesichts dieser vollendeten Unhöflichkeit der Mund offen. »Wie kannst du …«

Der Unauslöschliche hob beschwichtigend die Hand und gesellte sich an ihre Seite. »Es ist gut«, beruhigte er sie. »Lass ihn und kümmere dich nicht um sein Benehmen. Wir sind ihn bald los. Aber zunächst möchte ich den wahren Grund wissen, weswegen er Ishím Voróo verlässt. Er lebte so lange schon hier, schuf sich eine Festung, die nichts und niemand einnehmen kann, und wollte sie ausbauen, wie ich von Sinthoras vernahm.« Er sah ihn forschend an. »Mir sieht es nach einer überstürzten Flucht aus – wovor, Gålran Zhadar? Das frage ich dich!«

Das zwergengleiche Geschöpf schmunzelte. »Es geht dir darum zu erfahren, ob sich vielleicht etwas nähert, vor dem sich auch die mächtigen Albae fürchten müssen, wenn ich schon das Land verlasse. Sehe ich das richtig?«

Nagsor Inàste schwieg.

Der Gålran Zhadar lachte auf. »Ich war neugierig, was du von mir wollen könntest, Unauslöschlicher. Und ich dachte mir, dass ich diese Frage zu hören bekomme.« Er leerte den Pokal auf einen Zug und schleuderte das Gefäß achtlos hinter sich. Scheppernd schlug es auf und löste ein vielfaches Echo in dem hohen Raum aus. Sein Gesicht verlor alle Heiterkeit, schlagartig wurde es hasserfüllt. »Ich gönne dir den Untergang, Unauslöschlicher!«, grollte er. »Deine größten Helden haben ihn herbeigeführt!«

Nagsar Inàste sah ihren Bruder verwirrt an. »Ich verstehe nicht, was er meint. Habt ihr vor meinem …«

»Erkläre dich, Gålran Zhadar!«, verlangte Nagsor Inàste und verheimlichte seine Wut nicht länger. Schwarze Blitze zuckten über sein Antlitz und verharrten darauf. Er wusste nicht, was die Andeutungen sollten, und sorgte sich. »Ich schwöre, dass du ansonsten nicht lebend aus dem Beinturm gelangen wirst!«

Das Geschöpf stieß ein langes, lautes Lachen aus und wirkte nicht im Mindesten eingeschüchtert. »Einer deiner beiden Helden, Sinthoras oder Caphalor, stahl mir ein wertvolles Gut. Eine Phiole, angefüllt mit der magischen Substanz, einen jeden Dämon zu stärken und ihn gleichzeitig an sich zu binden  – vorausgesetzt, man kennt die passende Formel dazu.« Er sah an den Zügen der Geschwister, dass sie nichts von dieser Episode der Reise wussten. Wieder lachte er sie aus. »Oh, die Höchsten des legendären Volkes der Albae hatten keinen Schimmer, dass die Helden bei mir einbrachen? Sie täuschten euch noch dazu?« Er bebte vor Lachen und hielt sich den Bauch.

Es reicht! »Ich lasse mich nicht von dir …«, setzte Nagsor Inàste an.

»Schweig!«, kreischte der Gålran Zhadar feindselig. »Ich kenne dich und deine eifersüchtigen Beweggründe, den Feldzug vom Zaun zu brechen. Du wolltest den kleinen, harmlosen Dämon, der dem bisschen Land um sich herum und allem darauf ein Leben nach dem Tod verschafft, vom Hals haben. Weil du und deine Albae die einzigen Unsterblichen sein sollen! In Tark Draan könnte er kein Unheil anrichten, dachtest du dir. Und ihr wärt weiterhin die unangefochtenen Ewiglebenden in Ishím Voróo.«

»Mir genügt dein Gehabe!« Nagsar Inàste rief einen Befehl, und vier bewaffnete Diener rannten in den Saal; zwei weitere brachten die Schwerter der Unauslöschlichen und reichten sie den Geschwistern.

Doch der Gålran Zhadar scherte sich nicht darum. »Ihr schreckt mich nicht. Die Phiole ist zerbrochen, der Dämon entfesselt und kaum beherrschbar. Ihr habt ein Monstrum erschaffen und es von der Kette gelassen, ohne zu wissen, wie man es aufhält. Ich sage euch voraus: Bald müsst selbst ihr ihm dienen!« Er sah zum Fenster. »Deswegen, Unauslöschlicher, verlasse ich das Land. Selbst meine Festung wird mich nicht vor der Macht des Dämons schützen. Ich gehe nach Phondrasôn, wo ich mir ein neues Reich errichte und verfolgen werde, wie das Nebelwesen sich auch Dsôn Faïmon einverleibt.« Seine Stimme wurde wieder leise. »Betet zu euren Göttern, dass der Dämon sich lieber um Elben, Zwerge und Menschen kümmert als um euch. Sonst wird euer Reich fallen, weil die Unauslöschlichen eifersüchtig auf untotes Leben waren.« Er schritt an ihnen vorbei, mitten durch das Grüppchen der blinden Diener hindurch.

Nagsar Inàste blickte zu ihrem Bruder. Mit einer gehauchten Silbe erteilte er den Befehl zum Angriff.

Der erste Diener schlug mit dem Schwert nach dem Geschöpf, als könnte er sehen, wo es stand. Aber seine Klinge wurde vom Hammer pariert und zur Seite geschlagen; der zweite Hammerkopf zertrümmerte ihm die rechte Gesichtshälfte.

Der Gålran Zhadar sprang in den Angriff des zweiten Leibwächters hinein, unterlief die Schneide und lenkte sie mit dem Hammer in den Bauch des dritten Dieners, während er mit dem anderen Hammer beide Knie des nächsten Gegners zerschmetterte. Schnell hob er die Waffe und drosch den Hammerkopf auf den zum Schrei geöffneten Mund des Albs. Dem vierten Leibwächter schlug er beide Hämmer gegen die Schultern, woraufhin die Schlüsselbeine brachen und der Alb im Oberkörper wie nach innen knickte.

Dann wandte sich der Gålran Zhadar langsam zu den Unauslöschlichen um. Ein unbestimmbarer Laut drang aus seiner Kehle, und die Köpfe seiner Waffen wurden von magischem Licht umspielt.

»Wenn du mich töten willst, Nagsar Inàste, dann versuche es selbst«, riet er ihr lauernd. »Wagst du es? Mich haben Völker einst Gott genannt.«

Sie darf nicht verletzt werden. Nagsor Inàste bemerkte, dass seine Schwester sich durchaus hinreißen lassen würde, wenn sie weiter gereizt wurde. Die magische Kraft, die von dem Geschöpf ausging, schien sie nicht zu stören. Rasch trat er zwischen sie und den Gålran Zhadar. »Wir brauchen noch die Anweisung, wie wir den Spion bei den Untergründigen dazu bringen, für uns zu arbeiten«, sagte er und senkte das lange Schwert. »Aus diesem Grund lassen wir dir das Leben.«

»Oh, wie nobel von dir.« Der Gålran Zhadar lachte dumpf, und das Leuchten um die Hämmer legte sich; dennoch behielt er sie in den Händen. »Nobel und selbstlos.« Mit diesen Worten schritt er durch die Halle zur Tür hinaus und lachte dabei immer lauter.

»Du lässt ihn wirklich gehen?« Nagsar Inàste konnte nicht fassen, dass der Gålran Zhadar mit dem Leben davonkommen sollte. Sie hob ihr Schwert. »Wir müssen ihn töten, sobald er uns gesagt hat, was wir brauchen! Er darf mit seinem ungebührlichen Verhalten nicht lebend davonkommen.«

Nagsor Inàste betrachtete die toten Diener und deren schreckliche Wunden. Ihr Blut wird nicht vergeudet werden, dafür dienten sie mir zu treu. Vielleicht lassen sich aus den zerschmetterten Knochen Skulpturen schaffen. Etwas über zerstörte Körper und zerstörte Seelen. »Dir ist eines in deiner Wut entgangen, geliebte Schwester.« Er nahm ihr das Schwert aus der Hand. »Er sah unsere Züge und ist nicht wahnsinnig geworden. Was schließt du daraus?« Er küsste sie sanft auf die Stirn, bevor sie zu einer Erwiderung ansetzen konnte, und ging an ihr vorüber, um Sklaven zu rufen, welche die Leichen für ihn ausbeinten und das Blut auffingen. »Wir lassen ihn ziehen.«

»Was ist mit dem erstarkten Dämon?«, sprach sie in seinen Rücken.

»Gib nichts darauf«, beruhigte er sie. »Wir sind ihn bald los.« Das hoffe ich.

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Ishím Voróo (Jenseitiges Land), Albae-Reich Dsôn Faïmon, Dsôn, 4371. Teil der Unendlichkeit (5199. Sonnenzyklus), Sommer

Raleeha erhob sich mit einem leisen Stöhnen von ihrem Lager.

Es war früh am Morgen, die Sonne stand noch jenseits des Kraterrandes, und das Licht fiel schwach, beinahe ängstlich durch das Fenster. Ein neuer Tag. Ihr erster Blick galt der Wunde an ihrer Seite, wo Timānris sie erwischt hatte. Die Naht hielt.

Im Gegensatz zur Albin hatte sie sich von ihrem Sturz und ihrer Verletzung weitestgehend erholt. Alle nahmen an, dass die Sklavin ihrer Herrin zu Hilfe hatte eilen wollen und mit ihr die Treppe hinabgestürzt war. Raleeha erzählte auch nichts anderes.

Timānris lag seit dem »Unfall« in ihrem Bett, bleicher als sonst, der Endlichkeit nahe und nicht ansprechbar. Verschiedene Heiler hatten sie bereits besucht, und ihre Einschätzung blieb stets die Gleiche: Der Aufprall mit dem Kopf hatte die Gedanken und alles Wissen gelöscht. Geblieben waren ihr die einfachen Fertigkeiten wie Atmen, Schlucken und Ausscheidungen; nur diese verhinderten, dass der Tod ihr Herz anhielt.

Einmal mehr werde ich die tapfere Sklavin spielen, welche um ihre Herrin bangt. Jeden Tag saß sie für längere Zeit am Bett, sprach über die neuen Werke und zeigte sie Timānris sogar, als ob diese durch die geschlossenen Lider schauen könnte.

Dabei verging Raleeha insgeheim vor Furcht. Sobald die Götter die Albin erweckten, wäre es um sie geschehen. Eine weitere Gelegenheit, Timānris zu töten, bekam sie gewiss nicht. Stets befanden sich Pflegerinnen in der Kammer. Und immer wieder rieten die Stimmen in ihrem Kopf ihr die unterschiedlichsten Dinge, trieben sie beinahe in den Wahnsinn.

Womöglich bin ich schon verrückt. Sie kleidete sich an und ging wie jeden Morgen vor dem ersten Mahl zu ihrer Herrin. Habe ich Glück, und sie ist endlich tot? Sie betrat den Raum.

Zu Raleehas Überraschung saß Hirai, Timānris’ Mutter, auf dem Stuhl, den sie üblicherweise belegte. Nach wie vor wusste niemand, dass sie zu sehen vermochte, also tat sie so, als ob sie die Anwesenheit der Albin nicht bemerkt hätte.

»Warte an der Tür«, wurde sie angefahren. Hirai hatte Briefe auf dem Schoß liegen. Anscheinend hatte sie der Schlafenden gerade vorgelesen.

»Verzeiht. Ich wusste nicht …« Raleeha verneigte sich und blieb stehen, lauschte.

»Schon gut.« Hirai nahm das Vorlesen wieder auf.

Nach wenigen Sätzen verstand Raleeha, dass es sich um Briefe von Sinthoras handelte, die er seiner Zukünftigen gesandt hatte.

Die Worte schmerzten Raleeha, denn sie drückten die Sorge des Albs aus, der meilenweit von ihr entfernt und nicht in der Lage war, ihre Hand halten oder sie durch einen Kuss vielleicht wieder in die Ewigkeit zurückholen zu können. Die Sätze klangen ehrlich und klagten Raleeha unbewusst an.

Was habe ich ihm angetan? Welche Qualen er wegen meiner Tat erleiden muss! Es dauerte nicht lange, und ihr rannen die Tränen aus den Augen. Heimlich wischte Raleeha sie mit dem Ärmel weg und zog sich aus der Kammer zurück.

Ihr schlechtes Gewissen und ihre Schuld schufen Hass auf sich selbst. Die Eifersucht, die Habsucht, das Stimmchen hatten sie dazu getrieben. Ich werde nicht eher Ruhe finden, bis ich Sinthoras meine Tat gebeichtet habe. Sie wollte keine Vergebung, doch sie musste sich seinem Zorn stellen. Was danach geschah, war einerlei.

Das vermochte sie jedoch nicht in Dsôn, nicht im Haus von Timānsor.

Einmal bin ich aus dem Reich der Albae entkommen – warum sollte es mir nicht ein weiteres Mal gelingen? Es waren so viele Wagen mit Nachschub, mit Ausrüstung zum Steinernen Torweg unterwegs, auf denen sie sicherlich in aller Heimlichkeit einen Platz finden würde.

Der Entschluss war gefallen.

Sie kehrte in ihre Kammer zurück, packte einige wenige Habseligkeiten zusammen und hinterließ Timānsor einen Brief, in dem sie ihm schrieb, dass sie zu ihrem Bruder zurückkehren wolle. Der Freibrief! Raleeha fiel glücklicherweise ein, dass Timānris ihr ein Schreiben ausgestellt hatte, das sie freigab und ihr Geleit aus Dsôn Faïmon gewährte. Es trug keine Zeitangabe, lediglich ihr Siegel und ihre Unterschrift. Ausgerechnet von ihr musste Raleeha einen Gefallen in Anspruch nehmen! Das erleichterte ihr Gewissen wahrhaftig nicht.

Sie hielt sich nicht lange auf, sondern warf die an den Hausherrn gerichteten Abschiedsworte auf ihr Lager, nahm das Geld an sich, das ihr aus dem Verkauf ihrer Ritzereien zugefallen war, und eilte aus dem Haus.

Raleeha war aufgeregt, Vorfreude und Angst tobten in ihr gleichermaßen. Sie würde mit einem Soldatentross nach Süden reisen, um zu ihrem Gebieter zu gelangen! Würde sie nach ihrer Beichte durch seine Hand sterben, so war es ihr recht.

Wirf dein Leben nicht weg, hörte sie das Stimmchen. Du bist zu jung und eine zu gute Künstlerin. Lass dir etwas anderes einfallen!

Raleeha hörte nicht hin.

Es dauerte nicht lange, und sie fand einen Zug aus zehn Wagen, die mit Pfeilen und Speeren für die Katapulte bepackt an die Front rollten. Als sie den Anführer fragte und ihm ihren Freibrief zeigte, gestattete er ihr, es sich auf der mit einer Plane geschützten Ladefläche bequem zu machen.

Raleeha saß auf dem schwankenden Wagen, während sie Schritt um Schritt den Grenzen des Albae-Reichs entgegenfuhr. Wehmut befiel sie, wenn sie an die Einmaligkeit und die Schönheit dachte, die sie hinter sich ließ.

Du gehörst hierher, nicht zu den Menschen. Sie verstehen dich nicht, wisperte es in ihr. Die Albae bewundern dich, Raleeha. Wie kannst du das aufgeben wollen?

Und obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, Sinthoras ihre Tat zu beichten, und sich lange gegen die verlockenden Einflüsterungen wehrte, kam ihr nach wenigen Meilen ein Einfall. Einer verschlagenen, gewissenlosen Albin durchaus würdig.

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Ishím Voróo (Jenseitiges Land), siebzehn Meilen vom Nordpass und dem Steinernen Torweg entfernt, 4371. Teil der Unendlichkeit (5199. Sonnenzyklus), Sommer

Caphalor sprang vorwärts, einen Dolch nach vorn gestreckt und auf das rechte Auge des Unterirdischen zielend. Sein Stich saß, der Zwerg brach wie von einem Pfeil ins Herz getroffen zusammen.

Hatte Caphalor auf heilloses Durcheinander in den Reihen dahinter gehofft, wurde er jetzt eines Besseren belehrt: Die Unterirdischen rückten zusammen und formten aus ihren Schilden einen Wall, der vom Boden bis an die Decke des Ganges reichte und an dem es kein Vorbeikommen gab.

Ich könnte meinen Bogen mit den verstärkten Pfeilen gebrauchen. Die würden die Schilde mit Leichtigkeit durchschlagen.

Die Albae stürmten ihm nach, attackierten den Wall mit den Schwertern und trieben die Verteidiger zurück, um sie an eine breitere Stelle zu drängen, wo sie einem Angriff schutzlos ausgeliefert wären.

Doch es war harte Arbeit, die Caphalor und Sinthoras zusammen mit ihren Kriegern leisten mussten. Immer wieder zuckten Kriegshämmer, Morgensterne und Äxte aus sich blitzschnell auftuenden Lücken des zwergischen Schildwalls und hackten oder schlugen nach ihnen. Bald gab es die ersten Verletzten unter den Albae, während Caphalor vergebens auf dem Boden nach dem Blut der Feinde Ausschau hielt. Sie sind gut.

»Man merkt, dass es ihr Schlachtfeld ist, auf dem wir uns bewegen«, sagte Sinthoras zu ihm und wischte sich den Schweiß aus den Augen. Er stocherte mit dem Speer durch eine Lücke und traf, wie sie an dem Schrei vernahmen. Rasch drückte er den Auslöser für die Besonderheit seiner Waffe, und aus dem Schrei wurde ein Kreischen, das abrupt endete; ein Schild brach aus dem Wall, und zwei Albae stürzten sich durch die Bresche, um nachzusetzen und die Zwerge zu attackieren.

Noch zwei Schilde fielen, die Lücke verbreiterte sich.

Zeigt mir euer Können, kurzbeinige Bergmaden. Caphalor wollte noch mehr von der Kampfweise der Unterirdischen erfahren und spüren, und so drängte er sich zwischen den Soldaten durch an die Spitze. Auf Sinthoras’ warnende Rufe achtete er nicht. Wenn er seine Unendlichkeit verlor, traf er umso schneller bei Enoïla ein. Dennoch trug er das seltsam sichere Wissen in sich, dieses Mal nicht zu sterben. Nicht heute, nicht morgen 

Das Gemetzel hatte sich in einen breiteren, höheren Gangabschnitt verlagert.

Endlich mehr Platz! Caphalor sah einen buschbärtigen Zwerg mit einem Morgenstern auf sich zukommen, dessen gedrungener Leib in einem dicht gewobenen Kettenhemd steckte. Ein gewöhnlicher Dolch würde nicht durch die Maschen dringen. Sinthoras’ Speer schon.

»Was immer du bist«, grollte der Unterirdische, »ich schlage dir die Beine ab und mache dich so groß wie mich. Dann wollen wir sehen, was du vermagst.«

Caphalor verstand ihn schlecht, der Dialekt ließ ihn schaudern, aber es reichte, um herauszuhören, dass diese Burschen sehr von sich überzeugt waren.

Mit einem raschen Blick erfasste er, dass der Schildwall gebrochen war und sich die Soldaten überall mit den Unterirdischen im Kampf befanden. Wohin wollen sie? Wenn er die Schatten am Ende des Ganges richtig deutete, hatten mindestens vier Zwerge die Flucht angetreten. Gelangen sie zu ihresgleichen, ist der Angriffsplan ohne den Überraschungsmoment kaum mehr etwas wert!

Doch zunächst musste er sich des dreisten Gegners entledigen.

Die drei spitzenbesetzten Eisenkugeln sausten dicht an seinem Antlitz vorbei, und Caphalor bog den Oberkörper nach hinten; gleichzeitig trat er zu, um dem Zwerg seine Stiefelsohle gegen die Nase zu schmettern.

Aber der Kleinwüchsige, der knapp über Caphalors Hüfte hinausragte, wich erstaunlich schnell, wenn auch nicht elegant aus und hieb erneut zu.

Zwei der Kugeln verfehlten Caphalors Becken, die dritte war jedoch an einer etwas längeren Kette befestigt und traf ihn.

Es schmerzte dumpf; der wattierte Unterrock unter der geschwärzten Plattenrüstung dämpfte den Aufprall, aber der Alb taumelte zur Seite – geradewegs in die Attacke eines Unterirdischen mit einer langstieligen Axt!

Mit gekreuzten Dolchen fing er den Stiel ab und wurde durch die Kraft nach hinten geschoben. Die Schneide berührte die Eisenplättchen leise klingend.

Verflucht. Caphalor bekam gezeigt, dass man die Wächter des Torwegs keinesfalls leichtfertig unterschätzen durfte. Die Größe spielte keine Rolle. Gegen die meisten Óarcos ist es einfacher zu gewinnen als gegen diese Feinde.

Er zog die Dolche auseinander und stach um die Arme des Zwergs herum rechts und links in den kurzen Hals, knapp unter der Helmkante hindurch. Der Unterirdische fiel, aber schon stellte sich ihm der Zwerg mit dem Morgenstern in den Weg und brüllte seinen Hass auf ihn hinaus.

Caphalor sprang über ihn hinweg, drehte sich dabei um die eigene Achse und durchtrennte die Nackenwirbel. Der Unterirdische machte noch einen Schritt nach vorn, dann fiel er in sich zusammen.

Caphalor sah nach Sinthoras. Dieser nahm soeben seinen Spieß als Sprunghilfe und rammte einem Zwerg die Stiefelabsätze gegen den Helm. Noch in der Luft drehte er den Spieß und stach dem Fallenden die Spitze durch den Hals. Einen weiteren heranstürmenden Gegner hielt er mit einem Stich der abgeflachten Spießseite auf, umrundete ihn und stach ihm von hinten durch den Rücken. Sodann stieß er ihn vorwärts gegen einen dritten Zwerg und durchbohrte dessen Herz.

Sinthoras blickte sich um. Dies war der letzte Unterirdische gewesen, der sich ihnen zum Kampf gestellt hatte.

»Es sind uns welche entkommen!«, rief Caphalor und deutete den Gang hinab.

»Verfolgt sie«, befahl Sinthoras den verbliebenen zehn Albae. Fünf Tote hatten sie in Kauf nehmen müssen. Die Zwerge waren schlagkräftige Widersacher.

Die Soldaten nahmen die Verfolgung auf. Als Caphalor sie begleiten wollte, hielt ihn Sinthoras am Arm fest. »Nein. Wir gehen zurück und schicken ihnen die verbliebenen Krieger hinterher. Sie sollen den Tunnel auskundschaften. Vielleicht können wir auf diese Weise noch mehr von unseren Soldaten einschmuggeln.«

Caphalor blieb stehen. »Ich weiß nicht. Der Weg wurde bereits von den Unterirdischen entdeckt. Diese Handvoll, die wir töteten, kann nur eine Vorhut gewesen sein.«

»Darauf müssen wir es ankommen lassen.« Er rannte zurück zur Höhle.

Caphalor begleitete ihn, wenn auch zögernd. Er hätte die Krieger lieber begleitet und weitere Zwerge erlegt.

Bald waren sie bei den Nachtmahren und den Wartenden angelangt, die Sinthoras knapp davon in Kenntnis setzte, was sie zu tun hatten: die überlebenden Unterirdischen zu stellen und zu vernichten, um danach tiefer in ihr Reich vorzudringen.

Die Albae verneigten sich und kletterten zur Höhle hinauf. Die Nostàroi waren allein.

»Es entgleitet uns, wenn wir nicht achtgeben«, sprach Caphalor. »Ich zweifle nicht an unseren Leuten, aber die Zwerge sind unter Umständen näher, als wir denken.« Er sah Sinthoras an und deutete auf die Serpentinen, die sich nach unten zum Bergfuß wanden. »Von hier aus kann man die Lichter des Lagers sehen. Wir sollten den Angriff vorziehen.«

Sinthoras betrachtete die vielen hellen Punkte im Tal. »Du meinst, ich soll den Dämon rufen? Wir haben die Nachricht des Gålran Zhadar noch nicht erhalten, wie wir den Verräter unter den Zwergen erkennen und ihn dazu bringen, die Losung für das Tor zu sprechen.«

Caphalor verstand sein Zögern. Es muss dennoch jetzt geschehen. »Sagte der Dämon nicht, dass auch er die Macht besitzt, die Riegel in Bewegung zu setzen?« Er hob die Augen, sah in die Ferne. »Ich bin gespannt, wie schnell er kommen wird. Das ist noch so eine Unsicherheit.«

Sie schwiegen und hörten das Säuseln des Windes, der sich an den Kanten des Gebirges brach und ihnen ein vielstimmiges, unharmonisches Lied sang.

»Du hast recht. Wir beginnen mit dem herkömmlichen Angriff, ohne vorerst auf den Dämon und den Gålran Zhadar zu setzen«, sagte Sinthoras plötzlich. »Halten wir uns an den alten Plan.«

Sehr gut! Caphalor hatte gezweifelt, dass sich der Alb dieser Meinung anschloss. Seine Erleichterung war groß.

»Die Oger sind zwar noch nicht angekommen, aber wir verfügen über genügend Bestien, die wir mit Sturmleitern gegen das Portal hetzen können. Um die Óarcos ist es nicht schade. Unsere albischen Truppen kommen erst zum Einsatz, wenn sich der Durchgang geöffnet hat.« Er sah Sinthoras von der Seite her an. »Was ist nun mit dem Dämon?«

Der Alb atmete die kalte Bergluft ein, schöpfte tief Luft und stimmte die Weise von Inàstes Tränen an, um das Nebelwesen an den Nordpass zu rufen.

Caphalor lauschte dem traurigen Gesang und schloss ergriffen die Augen.

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Legenden d. Albae
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