Ishím Voróo (Jenseitiges Land), Albae-Reich Dsôn Faïmon, Dsôn (Sternenauge), 4371. Teil der Unendlichkeit (5199. Sonnenzyklus), Winter
»Erzählt uns doch mehr über den Dämon, der auf unserer Seite kämpfen wird.«
Sinthoras, der soeben das Glas mit dem Schaumwein an die Lippen hob, blickte zu Khlotòn, dem Gastgeber des Abends, und hätte ihn für diese Äußerung am liebsten auf der Stelle tot gesehen. Ob die Leibgarde wohl aus Gefälligkeit diesen Befehl ausführt?
Natürlich fielen die vierzig Albae an der Tafel in das Drängen ein, indem sie dezenten Beifall spendeten oder mit dem Besteck gegen ihre Teller klopften.
Das Klingeln schwebte in dem hohen Raum umher, an dessen Decke Bäusche aus Tioniumdraht hingen, die Wolken symbolisierten. Silberne Drähte standen für die Blitze darin. Rings um den langen Tisch standen Spiegel, hinter denen matt Totenschädel der unterschiedlichsten Rassen sichtbar waren: Die Endlichkeit blieb auf der anderen Seite, jenseits der Albae. Windspiele aus langen geschnitzten Röhrenknochen schufen ein beständiges, dunkles Tönen, zu dem ein Musikant mit einer vierstimmigen Beinflöte Lieder zum Besten gab.
Der Abend hätte so schön werden können. Sinthoras senkte den Arm mit dem Glas. »Verzeiht, dass ich dazu schweige. Es ist ein Geheimnis, welches nur die Unauslöschlichen und die Nostàroi wissen dürfen«, sagte er auf der Suche nach einer Ausflucht, die ihn nicht in schlechtem Licht dastehen ließ. Nicht bei den Oberen von Dsôn, deren Einfluss er benötigte.
Die Anwesenden stießen Rufe des Bedauerns und der Enttäuschung aus, aber sie verzichteten darauf, ihn weiter zu drängen. Sinthoras lächelte und hob das Glas erneut. Sie fressen mir aus der Hand.
»Ihr wollt damit andeuten, dass man uns nicht vertrauen kann?«, erwiderte eine Albin.
Wieder musste er das Glas absetzen. Er machte die Störerin aus und erkannte – sie! Die Albin, die er zuvor bei Demenions Empfang gesehen hatte. Die Skelettrüstung und die viele nackte Haut waren ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Nach seiner Rede war sie wie vom Erdboden verschluckt gewesen. Jetzt schien sie zurückgekehrt zu sein und Freude daran zu finden, ihn herauszufordern. Was für ein Spiel wird das, meine Schöne?
Die Oberen von Dsôn sahen vorwurfsvoll zu ihm, als wäre ihnen allen gleichzeitig eingefallen, was die Albin ausgesprochen hatte.
Sehen wir, wohin die Reise mit uns geht. Sinthoras schöpfte Atem, stellte das Glas ab. »Euren Namen habe ich nicht verstanden«, gab er zurück. Sie trug ein figurbetontes, purpurfarbenes Kleid mit eingestickten Ziernähten; vor ihrer Brust baumelten unterschiedlich lange Perlenketten, und um ihre Stirn lag ein Silberreif mit schwarzen Perlen und Perlmutteinlagen. Wieder machte sie Eindruck auf ihn. »Ihr seid noch gleich wer?«
Sie hob das Haupt, anstatt es vor ihm zu neigen. Die schwarzen Haare fielen auf ihre Schultern, gaben den Blick auf den schlanken Hals frei. »Timānris.«
»Den Namen höre ich zum ersten Mal.« Fragend sah Sinthoras zu Khlotòn, erbat sich stumm eine Erklärung. Indem er sie von ihm und nicht von der Albin einforderte, setzte er sie herab. Mit Absicht und Überlegung. Wenn sie Krieg haben wollte, sollte sie ihn bekommen. Das Schlachtfeld spielte dabei für ihn keine Rolle, sei es auf dem Feld, in einem Saal, mit Waffen oder Worten. Ich bin bereit, mich mit dir zu messen.
Ihr Ausfall kam umgehend. »Mein Vater ist der Künstler Timānsor. Ich bin seine jüngste Tochter.«
Natürlich wusste Sinthoras, wer Timānsor war: ein begnadeter Skulpteur, der aus Eisen und Blut, das er mit Substanzen fest werden ließ und vor der Zersetzung bewahrte, die absonderlichsten, beeindruckendsten Werke schuf. Mit Sicherheit war die Skelettrüstung, die Timānris neulich getragen hatte, ein echter Timānsor gewesen.
Eine Skulptur von ihm kostete mehr als hundert Goldstücke, wovon man sich ebenso gut ein prächtiges Haus bauen lassen konnte. Sinthoras hatte einst ein Auge auf die Schöpfung Kraftverlust geworfen: hauchdünne, scheinbar gefrorene Blutstrahlen mit Diamanten darin schossen aus einem zerlöcherten Brustpanzer, doch der Preis hatte ihm gezeigt, dass er noch lange nicht wirklich zu den Oberen gehörte. Nicht, was das Finanzielle anbelangte.
»Ach? Khlotòn, ich dachte, heute seien lediglich deine Freunde aus den Reihen der Krieger eingeladen worden.« Sinthoras missachtete sie noch immer.
»Mein Gefährte«, sagte sie deutlich hörbar, »sitzt Euch gegenüber, Nostàroi. Er hat mich mitgenommen, obwohl ich ihm sagte, dass ich Eure Worte langweilig finden würde. Sein Name ist Robonor, und im Gegensatz zu mir vergöttert er Euch.«
Sinthoras freute sich. Endlich eine Gegnerin, die nicht sofort vom Schlachtfeld stürmte, nachdem er seine ersten Attacken geritten hatte. Die meisten Albinnen waren ihm zu unterwürfig, da sie an seine Seite wollten.
Nun erhob sich ihr Gefährte, verneigte sich vor ihm und setzte sich gleich wieder. Er warf Timānris einen kurzen, doch unmissverständlichen Blick zu.
»Die Vergötterung, lieber Robonor, steht mir nicht zu. Ich zähle nicht zu den Unauslöschlichen«, sagte er freundlich zu dem Alb. »Dennoch ist Lobpreisung angebracht, denn Ihr seht den Alb vor Euch, der Tark Draan niederwerfen wird. Und Ihr, lieber Robonor, werdet sicher bei meinen besten Leuten sein.«
Die Gäste lachten leise und applaudierten. Vermutlich taten sie das in der Hoffnung, die herausfordernden Bemerkungen der Albin aus dem Raum scheuchen zu können.
Sinthoras wandte sich ihr zu. »Ah, jetzt, Timānris, erinnere ich mich an Euch. Ich dachte mir, dass Euch Ausführungen über den Krieg nicht interessieren. Ihr saht eher aus, als wolltet Ihr auf einen Maskenball gehen denn zu einem gesellschaftlichen Treffen.«
Die Albin hob die linke Augenbraue. »Man sieht, dass Krieger, auch wenn sie behaupten, an der Staffelei nette Bildchen zustande zu bringen, keinerlei Ahnung von wahrer Kunst haben.«
»Ihr würdigt meine Gemälde herab und kennt sie nicht einmal.«
»Ich muss sie nicht kennen. Ganz Dsôn lacht über das Geschmiere. Es wird Wahrheit in dem Gerede stecken.« Timānris lächelte. »Und dann weiß ein jeder von der kleinen Episode, bei der Ihr Euer Pirogand-Gelb verloren habt. Demnach ist geklärt, welcher der beiden Nostàroi der gewitztere und bessere ist.«
»Timānris!«, schrie Robonor, und sein Kopf fuhr herum.
Sinthoras’ Augen wurden zu Schlitzen. Das war über das Ziel hinaus, meine Schöne.
Niemand im Saal wagte es, sich zu rühren oder auch nur ein Wort zum Nachbar zu flüstern. Die Grenzen zwischen Geplänkel und Beleidigung waren überschritten worden. Und wer einen Nostàroi beleidigte, musste mit harten Strafen rechnen. Es gab kein höheres Amt in Dsôn Faïmon, und man konnte Sinthoras und Caphalor getrost als Stellvertreter von Nagsor und Nagsar Inàste ansehen.
»Wart Ihr schon immer so biestig, Timānris? Was ist mit Eurem Verstand geschehen, dass Ihr jedes Gewäsch für bare Münze nehmt?« Sinthoras riss sich ein Stück Brot ab und kaute es. Er wusste die Wucht ihres Angriffs abzufangen, indem er sie als einfältig dastehen ließ. »Ein Sturz auf den Kopf vielleicht? Oder habt Ihr als kleine Albin an den Substanzen gelutscht, die Euer Vater benötigt, um das Blut zu konservieren?« Er deutete mit der Rinde auf sie, als sie zu einer Erwiderung ansetzte. »Nein, wie konnte ich es nur übersehen: Ihr seid ja noch ein Kind! Wie sonst ließe sich erklären, dass es Euch gleich einem einfältigen, dummen, unwissenden Kind Vergnügen bereitet, bei Dingen mitzureden, von denen Ihr keinerlei Ahnung habt?«
Timānris wurde rot. »Ich …«
Hab ich dich! »Bleibt bei Eurer Berufung und macht Kunst, die niemand kennt«, fuhr er ihr hochnäsig in die Parade und warf den Brotrest auf den Teller.
»Aber …«, setzte sie erneut an, und ihre flaschengrünen Augen blitzten.
Das war das letzte Wort, das du in diesem Raum gesprochen hast. »Ihr«, fuhr er sie an und legte viel Druck in die tiefer gewordene Stimme, »standet niemals Bestien gegenüber, Timānris. Ihr habt noch nie in Eurem jungen Leben Kampfgefährten verloren. Ihr erlittet keine Verwundung, Ihr musstet keinen Schutz unter einem Schild suchen, weil vergiftete Pfeile auf Euch niedergingen.« Sinthoras sprang auf und zeigte mit dem Finger auf sie. Seine Stimme wurde lauter und noch tiefer, sodass die Gläser vibrierten. »Ihr, kleine Albin, habt keinerlei Ahnung, was ich für dieses Reich auf mich genommen habe. Für Euch und Euren Künstlervater! Also schweigt gefälligst, wenn sich Erwachsene über Krieg unterhalten!« Er setzte sich, verlor seine Wut, als sei nichts gewesen. »Sobald wir über Kunst sprechen, ist Eure Zeit angebrochen. Bis dahin: Esst, trinkt und seht bezaubernd aus.«
Timānris schnellte von ihrem Stuhl auf, warf das Tuch weg und ging gemessenen Schrittes auf den Ausgang zu.
»Wohin gehst du?«, knurrte Robonor hinterher. »Komm zurück! Timānris, du fügst mir Schmach zu.«
Vor der Tür, die bereits von Dienern geöffnet wurde, blieb sie stehen und sagte über die Schulter hinweg: »Ich suche mir jemanden, der über Kunstverstand verfügt, und unterhalte mich mit ihm. Denn in diesem Raum befindet sich niemand, der dieses vermag.« Sie ging hinaus, die Türen schlossen sich wieder.
Jetzt hat sie doch noch was gesagt. Sinthoras lächelte Robonor zu. »Ich beneide Euch nicht um sie.« Er bedauerte, dass sie nun doch geflüchtet war. Bedenke ich es recht, hätte ich mich gern noch weiter mit ihr geschlagen. Der Kampf mit ihr war noch nicht beendet, das stand für ihn fest. Sie ist schön und mutig.
Der Krieger wusste nicht, was er erwidern sollte, und bedankte sich einfach leise.
»Vielleicht«, sagte einer der Gäste, ein Alb in einer alten, aber gepflegten Rüstung, »kann ich etwas über den Dämon sagen, und Ihr, Nostàroi, braucht nur zu nicken, wenn es stimmt, was ich berichte. Somit hättet Ihr nichts verraten.«
Die Gäste lachten über den Scherz. Darin schwang auch die Erleichterung darüber mit, dass Timānris den Saal verlassen hatte.
»Versucht Euer Glück«, bat ihn Sinthoras, halbwegs erstaunt, »doch zuerst sagt: Woher habt Ihr Euer Wissen?« Es käme ihm nur gelegen, mehr über das Wesen zu erfahren. Sämtliche Bücher, nach denen er in der Bibliothek gesucht hatte und in denen unter Umständen etwas über das Nebelwesen geschrieben stand, waren verschwunden. Das hatte ihn stutzig gemacht, aber ändern konnte er es nicht. Dass es so viele hören, lässt sich offenbar nicht verhindern.
Der Alb lächelte. »In das Geheimnis meines Wissens weihe ich Euch unter vier Augen ein.«
Khlotòn lehnte sich zu Sinthoras. »Das ist Jiphulor, mit Abstand der Alb mit den meisten Teilen der Unendlichkeit in den Knochen«, flüsterte er ihm zu. »Er hat den Befehl über etliche Spione außerhalb von Dsôn Faïmon.«
»Der Dämon dehnt den Schrecken aus, den er verbreitet«, begann Jiphulor. »Ich habe gehört, dass jeder Baum, jeder Strauch, jegliche Pflanze, ja sogar die Erde unter seinem Einfluss stirbt und sich verwandelt. Alles wird untot. Auch Kreaturen erleiden dieses Schicksal.«
Sinthoras dachte an den Elben, den er getötet hatte. Zweifach. »Das mag stimmen.«
Die Gäste tuschelten daraufhin. Er vernahm Worte wie »faszinierend«, »beängstigend«. Mancher plante unverzüglich einen Ausflug dorthin, ein anderer wisperte seiner Nachbarin zu, dass man bedeutende Werke aus untotem Material schaffen könnte.
»Aber dass das Nebelwesen sich ausbreitet, das stimmt nicht«, fügte Sinthoras an. »Es erwartet unseren Ruf, sobald wir es benötigen. Ich sah die Erde, auf der es lebte, in Flammen stehen und verbrennen. So soll es Tark Draan und den Elbenreichen ergehen.«
Mitten in den vornehmen Jubel brach Jiphulors Einwand: »Nein, das tut es nicht mehr. Diese Fähigkeit hat das Wesen verloren, aber seine Macht sickert dafür in alle Richtungen.« Der Alb hob sein Weinglas und schüttete den Inhalt auf die weiße Decke. »Wie dies hier.«
Der Wein klatschte auf den Stoff, bildete einen großen Fleck und breitete sich über die Fasern aus.
»Es ist weit vorgedrungen und angeblich auf dem Weg zu den Fflecx«, sprach Jiphulor weiter. »Sagt, Nostàroi: Sind wir schon so weit mit den Vorbereitungen, dass Ihr es rufen musstet?«
Sei endlich still! Sinthoras war nervös. Hatte er die ganze Zeit geglaubt, dass Timānris die gefährlichsten Angriffe gegen ihn führte, war es nun ein harmloser Satz aus dem Mund eines sehr, sehr alten Albs, der ihn richtig in Bedrängnis brachte. »Das Nebelwesen hasst die Elben wie wir«, antwortete er umständlich und abschweifend. »Caphalor musste den Namen unserer Erzfeinde kaum aussprechen, schon war es begierig, sich dorthin zu begeben, wo sie hausen.« Damit hatte er seinem Rivalen schon mal die Schuld in die Stiefel geschoben. Es wird die Runde in Dsôn machen, das steht fest.
»Dieses Geschöpf ist also ohne Euren Befehl auf dem Weg?«, hakte Jiphulor nach. »Ich meine mich zu erinnern, dass es hieß, nur Ihr, Sinthoras, könntet es herbeirufen, weil Ihr maßgeblich mit ihm verhandelt habt.«
Ein weiterer Schlag gegen ihn. Wenn er mit »Ja« antwortete, stellte er die Verlässlichkeit des Verbündeten infrage. Des wohlgemerkt wichtigsten Verbündeten bei dem geplanten Feldzug und darüber hinaus auch noch seine eigene. Von daher konnte er nur sagen: »Nein, ist es nicht. Ich rief es, damit es rechtzeitig ankommt. Wir sind mit den Verhandlungen weit gediehen. Die Halbtrolle, Riesen und Oger sind leicht zu überzeugen, nachdem wir schon die Barbaren und Óarcos auf unserer Seite haben.«
»Dann: Auf den baldigen Beginn des Feldzugs!« Jiphulor riss seinen Pokal in die Höhe, und alle taten es ihm gleich. »Auf Sinthoras! Es ist mir eine Ehre«, der Alb stand auf, »mit Euch und unter Eurer Führung in die Schlacht reiten zu dürfen.« Er trank das Gefäß leer.
Du hättest schon früher auf mich trinken können. Sinthoras ließ sich nachfüllen. Das ist kein geschicktes Manöver von mir gewesen. Er hatte sich tief in Morast bewegt, in dem er nun feststeckte und nicht mehr hinausgelangte.
Er nutzte die erstbeste Gelegenheit, um sich von der Gesellschaft zu verabschieden. Der Marsch, die Truppen, Nachschubplanung, Verhandlungen, eine Ausrede folgte der nächsten, und man ließ den Nostàroi ziehen. Jetzt, wo doch feststand, dass die Momente der Unendlichkeit von Tark Draan gezählt waren.
Sinthoras eilte durch die Eingangshalle, immer begleitet von seiner Leibwache. Er musste sofort mit Caphalor sprechen, um ihn in Kenntnis zu setzen, damit sie die Verhandlungen vorantrieben. Am meisten schmerzte ihn, dass er die Schuld trug, dass sich das Nebelwesen verändert hatte. Ob ich den Gålran Zhadar einfach fragen sollte, was ich ihm gestohlen habe?, dachte er in einem Anflug von Verzweiflung.
»Ach? Ihr geht schon, Nostàroi?«
Timānris! Er blieb stehen und sah sie hinter einer breiten Säule hervorkommen. Sie hatte anscheinend ein Bild betrachtet, das an der Wand hing. »Ach? Ihr immer noch hier?«, gab er zurück. »Wollte niemand von den Dienstboten mit Euch spielen?«
Sie kam näher, auf ihrem anmutigen Antlitz lag ein Hauch von Sorge und Zerknirschung. »Ich wollte mich für meine Worte entschuldigen«, sagte sie. »Es war unrecht, was ich sagte und dass ich Eure Malerei verhöhnte, ohne sie zu kennen«, fügte sie verschmitzt hinzu. »Und es spricht auch niemand abwertend darüber. Ich hatte Streit mit Robonor wegen des Abends, und ich fürchte, Ihr bekamt meinen …«
Sinthoras machte einen Schritt auf sie zu, umfasste ihr Antlitz und zog es heran, küsste sie leidenschaftlich auf den Mund und gab sie gleich wieder frei. Er hatte sehr wohl bemerkt, dass sie seine Zärtlichkeit erwidert hatte. Die Lippen hatten sich einen Spalt geöffnet und mehr verlangt. »Morgen, gegen Mittag, erwarte ich Euch, Timānris«, sagte er und spürte eine nie gekannte Atemlosigkeit. Schwindel machte die Umgebung zum wirbelnden Tanz. »Dann werdet Ihr meine Gemälde sehen dürfen.« Er wandte sich um und ließ sie stehen.
Auch ohne sich umzudrehen, wusste er, dass die Albin ihm nachblickte. Er leckte sich über die Lippen, fühlte sich wie berauscht. Und das lag nicht an dem Wein, von dem er getrunken hatte.
Ishím Voróo (Jenseitiges Land), Albae-Reich Dsôn Faïmon, Strahlarm Wèlèron, 4371. Teil der Unendlichkeit (5199. Sonnenzyklus), Winter
Caphalor saß, umgeben von dunkelroten, mit Symbolen verzierten Zeltwänden, auf einem mit Fell ausgelegten Sessel und las den Brief, den ihm die Unauslöschlichen am frühen Morgen gesandt hatten. Es blieb also keine Zeit mehr für lange Verhandlungen. Das Heer musste bald aufgestellt sein.
Etwa das Gleiche hatte ihm in der Nacht noch ein sehr aufgekratzter Sinthoras gesagt. Der Abend bei einem seiner politischen Freunde musste nicht ganz so verlaufen sein wie vorgesehen, und dazu kamen noch die Nachrichten über das Nebelwesen, das unschöne Eigenschaften entwickelte. Mehr als unschön, viel eher beängstigend. Das will was heißen.
»Also gut«, sagte er zu sich selbst und warf den Brief in den Feuerkorb, dessen Flammen Wärme spendeten. »Dann werden wir eben den Abschaum von Ishím Voróo und dieses Ding los.«
Er verließ die Unterkunft, stieg auf Sardaî und ritt mit seiner Eskorte auf das nächste Verhandlungszelt zu. Es lag ganz im Westen dieser Stadt aus Leinenstoff, obwohl noch einige Zelte dazwischen frei gewesen wären. Neuankömmlinge sonderten sich meist ab und bevorzugten einen Platz, der weit vom Inselturm entfernt war.
Keine Banner, keine Wimpel. »Wer ist das?«, fragte er einen seiner Begleiter mit Blick auf ein einzelnes Zelt. »Sind das nicht die Fatarker?«
»Ich dachte, dass sie es wären«, antwortete der Alb nicht minder verwundert. Er gab den Befehl an die Feuerstierreiter, die Waffen bereitzuhalten, falls jemand verrückt genug sein sollte, einen Anschlag auf den Nostàroi zu versuchen. Auf sein kurzes Hornsignal hin machte der nächstgelegene Inselturm seine Katapulte bereit. Sollte sich in dem Zelt jemand Feindliches befinden, wäre er in einem Schauer aus Pfeilen, Speeren und Steinbrocken schnell vernichtet.
Caphalor stieg ab, sah sich um und entdeckte lediglich ein einziges schwarzes Pferd, das neben dem Eingang angebunden war. Zusammen mit vier Gardisten betrat er das Zelt.
Er stand einer großen, eindeutig weiblichen Gestalt gegenüber, die einen dunklen Kapuzenmantel trug und die Kopfbedeckung tief ins Gesicht gezogen hatte. Durch die Schatten vermochte er ihr Gesicht nicht zu erkennen. »Wenn das ein Scherz sein soll …«, setzte er freundlich, aber dennoch fordernd an.
Die Person vor ihm hob den Kopf, die rechte Hand streifte die Kapuze zurück. Verbranntes Fleisch und eine bekannte Fratze kamen zum Vorschein. »Ich wartete auf Euch, mein Halbgott.«
Die Garde zückte die Schwerter, hob sie drohend in Richtung der entstellten Fleischdiebin, die ein Lächeln versuchte und sich dadurch noch mehr zu einem Scheusal machte.
Ich hatte sie vollkommen vergessen! Caphalor hielt die Albae mit einer Fingerbewegung davon zurück, sich auf die Obboona zu stürzen. Bei ihrem Anblick schien das Brandzeichen aufzuflammen. »Verschwinde«, sagte er in der Dunklen Sprache. »Schätze dich glücklich, dass ich dich nicht töten lasse. Nicht auf der Stelle.«
Das Weiß ihrer Augen schien durch die verunstaltete Haut noch eindringlicher. »Ihr wollt Euer Wort brechen, mein Halbgott? Ihr gabt mir Euren Schwur, an meine Seite zurückzukehren. Als mein Gemahl.«
Er lachte laut. »Das erwartest du wahrhaftig, Fleischdiebin? Ich hätte alles geschworen, um deinen Fängen zu entkommen.«
Sie schluchzte auf. »Ihr brecht mir das Herz, mein Halbgott!«
Caphalor erkannte ihren Wahnsinn. »Dann passt es zu deinem zerbrochenen Verstand.«
Karjuna kicherte plötzlich, steigerte sich in ein Lachen, bis sie sich bog und zusammenkrümmte. Die Gardisten hielten sich noch immer bereit, sie in Stücke zu schlagen. »Was, mein Halbgott, wäre, wenn ich Euch ein Heer liefern könnte?«, lockte sie mit Fistelstimme und gab Kussgeräusche von sich. »Verlasst Eure Gemahlin und kommt an meine Seite. Dann werde ich Euch das Zaudern vergeben, das ich leider bemerken muss.« Sie hob den Kopf. »Ist es wegen meines entstellten Gesichts?«, wimmerte sie und bedeckte es mit den Händen. »Mein Halbgott, ich werde eine Maske tragen, um Eure Augen nicht zu beleidigen, aber bitte«, sie fiel vor ihm nieder und wollte seinen Mantel berühren, doch die Gardisten stießen sie zurück, »bitte kommt zu mir! Wärmt mich in den kalten Nächten mit Eurem Leib …«
»Genug!«, schrie er sie an und spürte den Drang, sie wegen ihrer Stimme, ihres Anliegens, wegen dem, was sie ihm angetan hatte, wegen ihrer bloßen Existenz auf der Stelle zu enthaupten. Er riss eines seiner Kurzschwerter hervor und holte zum Schlag aus.
»Verboten!«, kreischte sie und reckte die Arme, den Mund weit aufgerissen. »Verboten, mich zu töten! Ich bin eine Unterhändlerin!« Sie langte unter ihren Mantel und holte den Schrieb hervor, den die Boten im Namen der Nostàroi in Ishím Voróo verteilt hatten.
»Du bist eine Obboona, die keinen klaren Gedanken mehr fassen kann.« Caphalor gab den Gardisten ein Zeichen, sie auf dem Boden zu fixieren. Inzwischen hatte er seinen Hass so weit unter Kontrolle gebracht, dass er die Fleischdiebin leiden lassen und nicht gleich mit einem raschen Stich töten wollte. »Du hast zum letzten Mal einen Alb oder eine Albin umgebracht«, versprach er ihr.
Blitzschnell riss sie ein kleine Pfeife unter dem Umhang hervor und blies hinein, doch eine der Wachen trat sie ihr aus der Hand, ehe ein Ton entwich; eine andere hob sie auf und reichte sie Caphalor. Am Mundstück haftete ihr Blut.
»Was ist das?«, fragte er sie.
Von draußen, von einer der Turminseln, erklang der Alarmgong. Bald fiel ein weiterer, dann noch einer mit ein. Innerhalb weniger Herzschläge zählte Caphalor nicht weniger als fünf der kleinen Bastionen, die Feinde meldeten. Wer sollte so verrückt sein? Er sah die Fleischdiebin an.
Die Obboona lachte ausgelassen. »Mein Halbgott, mein Halbgott! Versprach ich zu viel?« Wieder kicherte sie.
»Was ist das für eine Pfeife?«, schrie er sie an, während ein Gardist hastig die Zeltwände zerschnitt, damit sie hinaussehen konnten.
Caphalor blickte zum Waldrand, etwa anderthalb Meilen von ihnen entfernt, aus dem eine dunkle Masse quoll: Gestalten wuselten umeinander, kaum geordnet, aber sich unglaublich schnell nähernd. Er hörte an dem lauten, wütenden Heulen und Bellen, dass es Srink waren. Das müssen Hunderte sein! Sie kamen über die Fläche gerannt, genau auf das Zelt zu.
»Ruf sie zurück«, befahl er Karjuna.
Sie blinzelte. »Werdet Ihr mein Gemahl?«
»Willst du sterben?«
»Dann sind wir vereint im Tod.« Schmachtend sah sie ihn an. »Verboten, mich zu töten. Ich bin ihre Befehlshaberin. Ihre Königin! Ihre KÖNIGIN!«
Es scheint so zu sein. Caphalor befahl den Gardisten, die Obboona loszulassen. Sie war eine Unterhändlerin, und er musste sich somit an die Anordnung halten, welche die Unauslöschlichen gegeben hatten.
Die Srink schwappten heran, auf allen vieren, auf zwei Beinen, Waffen schwingend und gerüstet. Das Heulen und Bellen wurde lauter, Caphalor vernahm dunkles Grollen und Hecheln.
Die Gardisten formierten sich zur Abwehr der ersten Welle, auch wenn ein Kampf aussichtslos sein würde. Ein weiteres Gongsignal folgte von den Inseln. Die Katapulte waren bereit und warteten auf Caphalors Signal, den Beschuss der Srink eröffnen zu dürfen. Er konnte sich gut vorstellen, dass einer seiner Untergebenen auf eigene Verantwortung den Befehl gab, um den Nostàroi zu retten.
»Halte sie zurück!«, schrie er Karjuna an.
»Werdet Ihr mich zum Weib nehmen?«
»Ja«, sagte er und war froh, dass die Gardisten mit dem Rücken zu ihm standen, damit er ihre entsetzten Mienen nicht sehen musste. »Ich werde zu meiner Gefährtin gehen und sie verstoßen. In ein paar Momenten der Unendlichkeit kehre ich wieder, und dann feiern wir.« Darauf kannst du lange warten.
Sie sah ihn argwöhnisch an. »Ihr habt mich schon einmal betrogen, mein Halbgott.«
Die Gardisten mähten die ersten Srink nieder, die sich zu nahe an das Zelt gewagt hatten. Schwerter surrten, doch das Geräusch ging bald im Kreischen unter. Blut spritzte durch die Schläge hoch in die Luft, ehe es auf die Nachdrängenden prasselte. Seine Wachen hielten die gefährlichen Scheusale auf Abstand, damit sie nicht von den tückischen Krallen und Zähnen berührt wurden. Doch sie mussten dabei zurückweichen, während die Srink sich um sie herum verteilten und sie einkesselten. Es waren zu viele.
»Dieses Mal nicht«, sagte er in dem einschmeichelnden Tonfall, den er schon zuvor bei ihr angewandt hatte.
»Schwört es bei allem, was Euch heilig ist!«
Caphalor schwor es bei seiner Gefährtin und seiner Familie, ohne es wirklich ernst zu meinen. Einer Fleischdiebin schuldete er nichts, außer diesem Versprechen: Dein Tod heißt Caphalor. Er reichte ihr die Pfeife.
Sie hob sie an die Lippen, blies hinein und legte die Finger in schneller Reihenfolge auf die kleinen Löcher.
Der Ansturm der Srink endete!
Die Bestien hielten inne, zogen sich vom Zelt zurück und liefen ebenso schnell, wie sie gekommen waren, wieder in den Wald. Sie nahmen sogar ihre Toten mit. Hätten sie keine eindeutigen Spuren und Unmengen an Blut auf der Erde hinterlassen, würde Caphalor nicht glauben, was soeben geschehen war. Er sah zu den östlich gelegenen Zelten. Sämtliche Delegationen hatten sich bereitgehalten, sich zu verteidigen. Die Riesen, die Barbaren, die Trolle, die Kraggash standen in voller Panzerung vor ihren Unterkünften.
Ohne ein weiteres Wort mit ihr zu wechseln, ging er hinaus, stieg auf seinen Hengst. Ich ertrage die Obboona nicht länger.
»Ich kann für die Unauslöschlichen nicht weniger als fünftausend Srink aufbieten«, rief sie ihm nach. »Sie sind so gut wie die vierfache Menge an Barbaren, mein Halbgott. Wir Obboon werden keine Halbgötter mehr anrühren! Wir nehmen die Elben, damit wir aussehen wie Ihr, hört Ihr? Ich kann dafür sorgen, dass die Obboon es bei der Verehrung belassen! Wir können in Freundschaft leben miteinander! Bestellt das den Göttern!«
Caphalor ritt los. Er wollte nicht wissen, wie die Obboona an die Pfeife gekommen war und woher sie das Spiel beherrschte. Ginge es nach ihm und auch Sinthoras, gehörten sie und die Srink nicht zu dem Aufgebot gegen Tark Draan. Aber jemand würde den Unauslöschlichen berichten, dass sie fünftausend Scheusale mit sich führte. Wie gut sie diese Wesen beherrschte, hatte sie eindrucksvoll unter Beweis gestellt.
Er richtete den Blick auf die Zelte der anderen Abordnungen. Ich muss einen von ihnen dazu bekommen, die Obboona zu töten, damit keinerlei Verdacht auf mich fällt. Lotor schuldet mir noch etwas.
Caphalor lenkte Sardaî zum Lager der Barbaren.
Ishím Voróo (Jenseitiges Land),Albae-Reich Dsôn Faïmon, Dsôn (Sternenauge), 4371. Teil der Unendlichkeit (5199. Sonnenzyklus), Winter
Timānris schlenderte um die Staffelei herum und betrachtete das Gemälde, an dem Sinthoras gerade arbeitete: verschiedene Töne Weiß auf einem schwarzen Untergrund, eine goldene Linie, die von rechts nach links verlief. Sie berührte die feuchte Farbe, den Maluntergrund, roch daran mit geschlossenen Augen. Das enge, weiße Kleid mit den schwarzen Flammen, die vom Saum nach oben loderten, hob ihre vollendeten Proportionen hervor.
Was wird das, meine Schöne? Sinthoras stand unbemerkt von ihr drei Schritte entfernt und konnte nicht glauben, was sie tat. Er war nur kurz aus dem Atelier gegangen, um die Kleidung zu wechseln und seine Rüstung gegen das Malgewand zu tauschen. Den ganzen Tag hatten er und Caphalor mit Unterredungen verbracht, sodass er sich dringend eine Ablenkung verdient hatte.
Timānris hatte er, weil er so beschäftigt gewesen war, eine Nachricht geschickt, dass er ihr Treffen verschieben müsse.
Entweder hat sie die Botschaft nicht erhalten oder mit voller Absicht ignoriert. Sinthoras grinste. Wie er die Albin einschätzte, hatte sie seinen Zeilen keine Beachtung geschenkt. Sie war neugierig, aufmüpfig und eine Künstlerin wie ihr Vater.
Als sie einen Pinsel aus dem Behälter nahm, ihn in das Blau tauchte und einen kleinen Punkt in die linke untere Ecke setzte, stockte ihm der Atem. Perfekt! Die ganze Zeit über hatte er gegrübelt, was das Gemälde noch benötigte, und Timānris nahm sich die Frechheit heraus, in sein geheiligtes Atelier einzudringen und sein Bild zu verändern. Und es zu vervollkommnen!
Mit schnellen, lautlosen Schritten näherte er sich ihr, stellte sich hinter sie, drehte sie an den Schultern um und küsste sie voller Leidenschaft. Als er sie dicht an sich zog, spürte er, wie sie nach dem anfänglichen leichten Schreck ihre Hand in seinen Nacken legte.
Sie verharrten und tauschten Zärtlichkeiten aus, bis er sie losließ und auf das Bild zeigte. »Du hast es in etwas Einzigartiges verwandelt!«, sagte er überschwänglich.
»Hast du mich deshalb so ungewöhnlich willkommen geheißen?«, gab Timānris zurück, noch immer atemlos von den vielen innigen Küssen.
»Nicht nur«, antwortete er und nahm ihr den Pinsel aus der Hand, streifte ihn vorsichtig am Behälter ab und steckte ihn in die Reinigungslösung. »Es trocknet sehr schnell ein. Das Blau, das du benutzt hast, wurde aus der Leber eines weißen Óarco gewonnen. Jede Unze ist zehn Kisten Gold wert.«
Wie überragend sie ist! Sinthoras strahlte sie an und musste den Drang unterdrücken, ihr Antlitz zu umfassen und seine Lippen auf ihre zu pressen. Und dann war da der Wunsch, sich mit ihr zu unterhalten, über das Malen, ihre Ansichten zum Krieg zu vernehmen, zur Unsterblichkeit seiner Rasse, zu allem, was er sich vorstellen konnte. Belangloses, Tiefsinniges. Was er fühlte, überstieg die Begierde, die er bislang mit Albinnen in Verbindung gebracht hatte. Es ist mehr als das Körperliche.
»Der Untergrund ist Óarco-Haut, habe ich recht?« Timānris schluckte und erwiderte seinen Blick, ihre Brust hob und senkte sich rasch, und er glaubte, ihr Herz klopfen zu hören. Nur für ihn. »Eine gute Wahl, wenn es um hohen Farbauftrag geht.«
»Ausgezeichnet beobachtet! Ich arbeite gern nachträglich mit Eisennadeln, mit denen ich die dicken Farbschichten aufbreche und …« Sinthoras versagte die Stimme, er konnte nichts mehr denken, sondern starrte die Albin an. Der Schwindel packte ihn erneut.
Sie schenkte ihm ein Lächeln, berührte seine rechte Wange. »Mit ergeht es ebenso, Nostàroi. Ich habe versucht, es mir nicht anmerken zu lassen, doch schon am ersten Abend, als ich dich sah, wollte ich dich.«
»Weswegen bist du dann gegangen?«
»Robonor. Ich wollte länger als einen halben Teil der Unendlichkeit an seiner Seite bleiben, weil ich es meinem Vater versprach. Er und Robonors Vater sind gute Freunde. Robonor und ich kennen uns aus Kindertagen. Aus zwei Spielgefährten wurden Liebhaber.« Timānris zog die Hand zurück. »Bis ich dich sah, Sinthoras.«
»Ich verstehe.« Sinthoras log, nutzte die Floskel, um ein Schweigen zu vermeiden. Er wusste das Geständnis nicht recht einzuordnen. Will sie mir damit sagen, dass zwischen uns nichts sein darf oder dass sie Robonor für mich verlässt?
Sie seufzte und warf sich an seine Brust, hielt sich fest. »Was tun wir nun?«
Sinthoras wollte sie nicht traurig sehen, sie aber auch mit keinem anderen teilen. Er löste sich sanft von ihr und zeigte auf eine leere Leinwand aus Gnomenhaut. »Was hältst du davon, wenn wir gemeinsam ein Gemälde erschaffen?«
»Es wäre mir eine Ehre«, sagte sie unverzüglich und wischte sich die Tränen weg. Dann sah sie an sich herab.
»Warte, ich hole dir rasch etwas zum Überziehen.« Er küsste sie noch einmal, und sein Herz raste in seiner Brust. Ihr Geschmack, ihr Geruch! Sie gehörten zusammen, und sie dachte ebenso wie er. Die Augen verrieten sie.
Sinthoras wusste, dass sie sich noch in dieser Nacht, in diesem Atelier lieben würden. Der Auftakt einer langen Beziehung. Das stand für ihn so fest wie der Beinturm der Unauslöschlichen.
Er hastete hinaus und rief nach den Sklaven.
Eine mondklare Nacht hob Dsôns Schönheit hervor.
Und sie gefiel Robonor, der die Straßen mit seinem Wachtrupp durchstreifte, ganz außerordentlich. Der Beinturm erstrahlte auf dem Berg inmitten der Stadt in seinem reinen Weiß, als leuchteten die Knochen der niedergeworfenen Völker von innen heraus. Er war das Symbol für die Überlegenheit der Albae, ihren Stolz und ihre Kunstfertigkeit.
Aber auch an den Fassaden der prunkvollen Gebäude wurden die Skulpturen, Mosaiken, Fresken und Malereien ins rechte Licht gerückt. Manches Kunstwerk trug das Licht in sich, auf raffinierte Weise waren die Lampen darin eingebettet. Vergänglichkeit, Tod, Zerfall, Verwesung und dabei immer noch ansprechend gestaltet – was die Barbaren schrecklich, unheimlich und schaurig nannten, gefiel ihm.
Robonor hatte vergessen, wie spektakulär die Stadt in der Nacht schimmerte. Zu lange schon lebte er in Kashagòn. Auch wenn die Städte dort nicht zu verachten waren, konnte sich keine mit Dsôn messen. Jeder Schritt hier brachte neues Staunen.
Er konnte sich nicht sattsehen, befahl mehr als einmal anzuhalten, damit er in Ruhe schauen durfte. Jetzt stand er vor der Statuengruppe auf dem Kòlsant-Platz. Als Kind hatte er sie geliebt.
Sie zeigte den Kampf einer Albin gegen fünf Óarcos. Die metallenen Figuren waren lebensgroß, jede Kleinigkeit war zu erkennen.
Zwei Dinge machten den besonderen Reiz der Skulpturen aus: Zum einen waren die Muskeln an Armen und Beinen aus Komponenten geschaffen, die sich entgegen dem Verhalten der natürlichen Materialien unter Wärme zusammenzogen und bei Kälte dehnten; zum anderen erlaubten die Gelenke komplexe Bewegungen.
So konnte Robonor verfolgen, wie die Figuren sich in der kühler werdenden Nacht langsam drehten. Die Albin senkte den Arm mit dem Schwert, und die Óarcos sanken zu ihren Füßen nieder. Schien die Sonne darauf, hob sie ihre Waffe, und die Scheusale setzten zu einem neuen Angriff an. Je heißer es wurde, desto dramatischer verlief der Kampf.
Robonor nickte der Albin zu. Wieder siegst du über sie. Er war den Nostàroi regelrecht dankbar, dass sie Patrouillen angeordnet hatten, solange die Verhandlungen nördlich von Dsôn stattfanden. Keines der Geschöpfe, die dort lagerten, durfte das Land betreten, schon gar nicht den Mittelpunkt des Reiches; falls doch, musste es seinen Verstoß mit dem Leben bezahlen.
»Weiter«, ordnete er an, und die zehn Albae folgten ihm. Sie trugen leichte Rüstungen, dreieckige Schilde, deren Ränder geschliffen waren, und Speere, dazu kurze Schwerter auf den Rücken. Ohne ein Geräusch zu verursachen, liefen sie die Straßen und Gassen entlang.
Ein leichter Wind kam auf, der die Mäntel über den Panzerungen zum Wehen brachte.
Robonor roch den Regen, den er mit sich bringen würde, und er verzog das Gesicht. Bald würde die Ablösung kommen, und das hoffentlich vor dem nächsten Guss. »Das Wetter ist nichts für mich«, sagte er zu seinen Soldaten, und sie lachten leise.
»Wessen Wetter sollte das sein?«, gab einer zurück.
»Mir macht es nichts«, antwortete ein Zweiter.
»Dann«, erwiderte Robonor, »werde ich dich für die Ablösung empfehlen. Einer von den anderen armen Kerlen wird die warme Stube sicherlich dem Regen vorziehen.« Er schauderte. Plötzlich fühlte er sich unwohl, sah sich um. Verfolgt uns jemand?
Außer ihnen war niemand in der schmalen Gasse unterwegs.
Er hob den Kopf und sah an den kantigen, in sich gedrehten Wänden vorbei zu den Dächern hinauf. Ganz oben standen steinerne Ornamentblöcke. Vergebens wartete er darauf, einen Schemen vor dem hellen Mond auszumachen, der schuld an seinem schlechten Gefühl war.
»Ist etwas?«
»Nein, ich denke nicht«, erwiderte er auf die Frage des Soldaten und blickte nach vorne. »Kehren wir in die Garderei zurück. Bis wir dort sind, ist es Zeit für den Wechsel.«
Langsam, um nicht zu früh zu kommen, marschierten sie zu dem Gebäude, in dem sie stationiert waren.
Ein lauter, schriller Schrei erklang.
»Das kam von rechts!« Robonor rannte los, auf die enge Gasse zu, aus der sie eben gekommen waren. In der ihn das ungute Gefühl befallen hatte. Seine Ahnung schien sich zu bestätigen. Die Wachen liefen rechts und links von ihm, die Schilde halb erhoben.
Am anderen Ende kämpften zwei Männer gegen einen dritten, schlugen auf ihn ein. Robonor erkannte an der Kleidung, dass es sich um Sklaven handelte.
Auseinandersetzungen zwischen ihnen kamen immer wieder vor, gerade nach einem der wenigen erlaubten Aufenthalte in den eigens gekennzeichneten Tavernen, in denen sie verkehren durften. Dann entluden sich Spannungen. Manche Sklaven waren auf andere neidisch, je nach Haus und Alb, für den sie arbeiteten. Andere hatten einfach nur Spaß an stumpfer Gewalt.
Barbaren. »Wir bekommen was geboten.« Robonor verlangsamte die Schritte und entspannte sich. Solange kein Alb bei der Schlägerei zu Schaden käme, würde er die Sklaven ihre Prügelei austragen lassen. »Sollen sie sich schlagen. Danach werden wir sie festnehmen, auspeitschen und sie zu ihren Herren bringen, die sie wiederum auspeitschen.« Das war die gerechte Strafe für ein derart unstatthaftes Benehmen.
Robonor und seine Soldaten blieben vier Schritte vor den Streithähnen stehen und sahen zu.
Die Sklaven trugen keine Binden an den Oberarmen und keine eingestickten Zeichen auf Brust und Rücken, auf denen der Name ihres Besitzers stand, was Robonor verwerflich fand. Noch eine Auflage, gegen die sie verstoßen hatten. Es musste zu jeder Zeit erkennbar sein, wem sie gehörten.
Einer ging gerade zu Boden, der Streit schien beendet.
»So, ihr …«, rief Robonor gerade und wollte die Anweisung geben, die drei festzunehmen.
Über ihm knirschte es. Ein Steinchen traf seine Rüstung, und er sprang geistesgegenwärtig nach hinten.
Hätte kein Gardist hinter ihm gestanden, gegen dessen Schild er nun prallte, wäre er dem abstürzenden Fassadenteil entkommen.
Aber so wurde Robonor aufgehalten, und die geschliffene Kante schnitt ihm dazu noch tief ins Bein, sodass er einknickte.
Dann rauschten die behauenen Steine, die er vorhin noch so bewundert hatte, nur so auf ihn nieder.