Ishím Voróo (Jenseitiges Land), das Reich der Fflecx 4370. Teil der Unendlichkeit (5198. Sonnenzyklus), Sommer

Während einer durch das Wetter erzwungenen Rast in einer Höhle, die dicht umschlossen von dickstämmigen Targobäumen lag, beobachtete Caphalor die Sklavin, die trotz ihrer Blindheit versuchte, sich Anmerkungen aufzuschreiben. Sie tat das recht geschickt, indem sie einen Stein mit einer langen, feinen Kante benutzte, um Linien ins Papier zu schaben. Immer wieder prüfte sie mit den Fingerkuppen, ob sie die Buchstaben erkannte.

Sinthoras stand am Eingang und hielt Wache. Dabei aß er etwas von seinem Proviant; sein Reittier hatte er vor der Höhle im Regen gelassen, es stank ihm zu sehr. Etwas tiefer in ihrem Unterschlupf fraß Sardaî ein Kaninchen, das er sich selbst gefangen hatte. Das Krachen und Splittern der feinen Knöchelchen machte deutlich, dass der Nachtmahr das Tier im Ganzen verzehrte. Blutgeruch hing in der kühlen Höhlenluft.

»Du weißt dir zu helfen«, sagte Caphalor zu Raleeha.

»Ich habe meine Augen, aber nicht meinen Verstand verloren, Ehrwürdiger«, erwiderte sie gedankenlos und errötete, weil sie sich bewusst wurde, dass es anmaßend klang. »Verzeiht«, stotterte sie, »ich …«

»Es sei dir verziehen«, sagte er leichthin.

Je mehr Caphalor von Raleeha erfuhr, indem er sie einfach nur beobachtete, desto erstaunlicher fand er sie. Kein Hadern mit dem Schicksal oder ihrem Gebieter, der sie vor ihren Ohren freiweg entbehrlich genannt hatte. Für eine Barbarin hatte sie einen aufgeschlossenen, wachen Verstand und ein angenehmes Wesen. An einen Alb wie Sinthoras war sie die reine Verschwendung. Eine Sklavin wie sie, noch dazu aus der Familie Lotor, besaß viel Wert. Das Blenden hatte ihr zwar viel davon genommen, doch er läge sicherlich weit über dem eines gewöhnlichen Barbaren. Und dann waren da noch ihre Gefühle zu ihrem Gebieter: aufopfernde Liebe, ohne Bedingungen.

Caphalor beschloss, ihr Vertrauen zu gewinnen, statt auf seinem ehrwürdigen Status zu beharren. Ihre Loyalität war mehr wert als Gehorsam. Sie war die Schwester eines Barbarenfürsten. Die Lage machte es erforderlich, politischer als sonst zu denken. Gut möglich, dass Raleeha sich plötzlich an der Spitze der Thronfolge und eines einhunderttausend Mann starken Heeres wiederfände. Ein solches Heer könnte ihnen möglicherweise nutzen. Von daher sollte sie sich später einmal an ihn erinnern, und zwar im Guten.

»Du solltest versuchen, ob du auf diese Weise zu zeichnen vermagst.«

Raleeha hörte nicht auf, Buchstaben zu ritzen. »Es ist sicherlich schwieriger und kommt der Schönheit nicht einmal annähernd entgegen. Es wären Zerrbilder, und das möchte ich nicht. Lieber beschreibe ich mit Worten, Ehrwürdiger.«

Caphalor betrachtete sie versonnen. Noch ging er davon aus, dass sie ihren Auftrag vollendeten, sowohl den von Munumon als auch den der Unauslöschlichen. Was aber, wenn sie am Gift starben? Er wollte sie Vertrauen spüren lassen und locken. »Sag, Raleeha, was würdest du für deinen Gebieter tun?«

»Alles, Ehrwürdiger«, antwortete sie unverzüglich.

»Wärst du bereit, unter gewissen Bedingungen eine große Bürde auf dich zu nehmen, von der das Leben vieler Albae abhinge?«, hakte er nach.

Raleeha hob nach alter Gewohnheit den Kopf, um ihn anzuschauen. Hinter der schwarzen Binde lagen die leeren Augenhöhlen, doch auf ihrem Gesicht las er Verwunderung. »Ich erwarte gespannt, was Ihr mir sagen wollt, Ehrwürdiger.«

Er war selbst unschlüssig, wie weit er gehen sollte. »Noch ist der Moment nicht gekommen«, wich er nach einigem Nachdenken aus. »Sollte sich jedoch abzeichnen, dass Sinthoras und ich nicht lebend nach Dsôn Faïmon zurückkehren, wirst du für uns in die Bresche springen.«

Sie richtete sich auf und verneigte sich tief. »Das wäre die größte Ehre, die mir jemals zuteilgeworden wäre, Ehrwürdiger! Ich freue mich über Euer Vertrauen …«

»… zu einer Blinden?«, rief Sinthoras ungläubig vom Eingang. »Caphalor, such dir eine eigene Sklavin, mit der du Pläne schmieden kannst, und lass meine in Ruhe, verstanden? Es hat aufgehört zu schütten. Wir sollten weiter.«

Raleeha schreckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb. Es hatte den Anschein, als fühlte sie sich ertappt, weil sie mit Caphalor gesprochen hatte.

»Im Gegensatz zu dir mache ich mir Gedanken, wie wir unser Abenteuer im Falle unseres Versagens zu einem guten Ende bringen können«, gab er unbeeindruckt zurück.

»Wir versagen nicht«, tönte Sinthoras herablassend. »Nein, ich versage nicht. Für dich zu garantieren wäre so sicher, wie einem hungrigen Óarco ins Maul zu langen und zu hoffen, dass er nicht zuschnappt.« Er biss in das fingerlange Stück getrocknetes Fleisch und kaute langsam. »Sie ist nur eine blinde Sklavin, mehr nicht. Sie könnte niemals tun, was uns zusteht. Ohne uns läge sie schon lange tot in einem Graben oder in Einzelteilen im Kessel von Óarcos oder anderem Gesindel. Setz ihr nicht die Flausen in den Kopf, dass sie nützlich wäre.«

Caphalor freute sich ausnahmsweise über Sinthoras’ Hochmut, der ihn selbst netter wirken ließ. Auch wenn sein Kontrahent im Prinzip recht haben mochte, ausschließen konnte man bei dieser Mission nichts, wie man an der Begegnung mit Munumon sah. Durch das Gift hätten sie beide ebenso gut längst sterben können, wenn den Fflecx danach gewesen wäre. »Das sehe ich anders«, erwiderte er harsch.

»Sie lebt deswegen noch«, entgegnete Sinthoras, »weil sie eine Lotor ist und ihr Bruder dabei ist, die Macht der Barbaren zu sammeln. Sonst hätte ich ihr für ihre neuerlichen Vergehen den Kopf von den Schultern geschlagen. Bedenke: Flucht einer Unfreien aus Dsôn! Andere Sklaven sterben für den angedeuteten Versuch, ja, schon allein für das Aussprechen des Wortes Flucht!«

Caphalor sah, dass Raleehas Gesicht alles Strahlen verloren hatte. Mit einer Sache hatte Sinthoras leider recht: Sie war nicht seine Sklavin.

»Was ist mit deinem wundersamen Plan, das Reich der Fflecx zu vernichten?«, fragte er und klang dabei spöttisch. Ihm war danach, den eifernden, aufstrebenden Alb zu reizen. »Was tue ich dabei?«

»Nichts«, schleuderte Sinthoras ihm verächtlich entgegen. »Dazu benötige ich dich nicht, und ich habe mich eben entschieden, dir nichts zu offenbaren. Am Ende versuchst du es selbst, um mich später damit bei den Unauslöschlichen auszustechen.«

Caphalor lachte mitleidig.

Sinthoras richtete sich plötzlich auf und langte nach seinem Speer, dann zog er sich einen Schritt weit in die Höhle zurück und legte einen Finger auf die Lippen.

»Sei ruhig«, flüsterte Caphalor der Sklavin zu. »Es kommt jemand.« Er zog die Sehne auf den Bogen, nahm den Pfeilköcher und huschte zu Sinthoras.

Er hörte und roch, was sich ihnen näherte. Den schweren Schritten und den tiefen, kehligen Stimmen nach marschierte eine Rotte Trolle durch den Wald. Es mussten etwa zehn von ihnen sein, ihr Gewicht brachte den Boden zum Zittern und die kleinen Äste der Targobäume zum Tanzen.

Caphalor verstand die einfachen Sätze, komplexe Wortgefüge vermochten die einfältigen Wesen nicht zu bilden.

»Gold«, röhrte eines der Scheusale. »Gold will ich haben.«

»Fleisch ist besser«, rief ein anderes. »Aber nichts Zähes. Will wieder was Zartes. Nacktweibchen sind am besten.«

»Ja, Nacktweibchen! Hoffentlich hat der so was«, schrie der erste Troll begeistert.

Nacktweibchen waren Barbarinnen. Trolle nannten sie so, da die Menschen im Vergleich zu Trollen kaum Behaarung aufwiesen. Den Zungenschlag vermochte Caphalor nicht einzuordnen. Es waren jedenfalls keine Trolle aus Ishím Voróos Osten. Was den haarigen Biestern an Verstand fehlte, machten sie durch Kraft und Wuchs wett.

»’s wird klappen«, krakeelte ein anderer Troll. »Wir kommen rein in die Festung. Sie hat es versprochen.«

»Jau«, stimmte wieder einer lauthals ein. »Jau! Keiner hat das vor uns geschafft. Wir knacken ihn. Und reißen ihm die Arme und Beine aus wie einem Käfer. Und dann fressen wir ihn.«

Lauter Jubel erklang. »Und reißen seinen Bau ein«, brüllten sie. »Alle seine Türmchen. Purzeln zusammen wie Steinchen.«

Das machte die Albae aufmerksam.

Die Meute passierte den Eingang zu weit von ihnen entfernt, um erkennen zu können, welche Art Troll zwischen den Stämmen durchs Dickicht trampelte.

Als Erster machte sich Sinthoras auf den Weg.

»Warte auf uns«, sagte Caphalor zu Raleeha. »Sie sind zu breit für den Spalt.« Auch er setzte zur Verfolgung an.

Sinthoras konnte er bereits nicht mehr sehen. Der Alb nutzte die Geräuschlosigkeit seines Volkes, um sich durch die dichten Ranken, das Unterholz und den Farn an die Scheusale anzupirschen. Nur das sachte Schwanken eines Zweiges verriet, wo er langgegangen war.

Caphalor entschied sich für den Weg durch die Baumkronen.

Rasch hängte er sich den Bogen um, erklomm den nächsten Stamm und sprang in sieben Schritt Höhe von Ast zu Ast, drückte sich immer nur kurz, jedoch kräftig ab und überbrückte rasend schnell eine recht große Entfernung. Die Kunst bestand darin, sich nicht mit dem Bogen zu verhängen und zu stürzen. Das wäre gefährlich und eine Schmach noch dazu, auch wenn es vielleicht niemand sehen würde.

Bald bekam der Alb den weiß befellten Rücken des letzten Trolls zu sehen. Um die Hüfte trug er einen mit Eisenplättchen beschlagenen Lendenschurz, seine Beine hatte er mit Seilen umwickelt, die ihn wohl vor Klingenschlägen schützen sollten. Seine Waffe war ein grob geschmiedeter, langstieliger Streitkolben, an dessen Ende sieben handlange Eisendornen wegstanden.

Die Größe des Trolls fand Caphalor verwunderlich: nicht mehr als vier Schritt hoch, dafür weit muskulöser als die Scheusale, die er bislang gesehen und vernichtet hatte. Sie stammten somit aus einer anderen Region des Niemandslands, waren vielleicht auf Wanderschaft oder folgten dem Ritual, sich in Kämpfen zu beweisen, ehe sie als Krieger zurückkehren durften.

»Holla! Macht langsamer!« Der Troll beschwerte sich lautstark. »Kannich mehr so flott.«

Zur Antwort bekam er einen kleinen Stein gegen den Kopf geworfen.

»Haltet das Maul, ihr Schronzen!«, schallte gleich darauf die Aufforderung durch den Wald. »Der Gålran Zhadar is nich taub.«

»Ja. Gut. Verstanden«, brüllte der weiße Troll zurück.

Caphalor konnte nur den Kopf schütteln. Dummheit und Hässlichkeit allerorten – das war Ishím Voróo abseits seiner Heimat.

Er eilte über den Kopf des Trolls hinweg, ohne dass dieser ihn bemerkte, und überholte die schwer bepackte Rotte, die wild durcheinandertrottete und weder Disziplin noch Marschordnung zeigte. Sie verließen sich ganz auf ihre geballte Kraft.

Caphalor ließ sich zehn Schritte vor ihnen auf einem Ast nieder und studierte sie von vorn.

Auf herkömmliche Gegner hätten die Scheusale mit den Zottelmähnen erschreckende Wirkung, wenn sie mit ihren gelben Augen und den Ziegenpupillen darin rollten und die widerwärtigen Mäuler aufrissen. Die Gesichter waren grobschlächtig, mit dichten Bärten versehen, in denen Schmutz und Unrat haftete. Wulstige Lippen, wulstige Augenbrauen, breite Kieferknochen und herausstehende, lange Zähne.

Ihr Gestank ekelte Caphalor an.

Der Troll an ihrer Spitze markierte den Anführer, und er trug im Gegensatz zu den anderen eine echte Rüstung, die vor Rost starrte und aus vielen verschiedenen Eisenteilen bestand, so als habe er die Panzerungen seiner besiegten Feinde mit Eisendraht zusammengebunden. Natürlich entdeckte Caphalor nichts daran, was auf einen erlegten Alb hindeutete.

Ein Pfeifen ließ ihn nach rechts schauen. Sinthoras hatte sich dort im Farn verborgen und sich mit dem Signal zu erkennen gegeben. Angst vor Entdeckung musste er keine haben, der hohe Ton wurde von Óarcos und anderen niederen Kreaturen nicht vernommen.

»Fujoock«, rief der Anführer, und ein Troll mit einem Tragegestell auf dem Rücken, auf dem sich etwas Viereckiges unter einer fleckigen Decke befand, kam angekeucht. »Abstellen und nach vorn laufen. Zum Waldrand. Will wissen, wo Turm ist«, erteilte er ihm den Befehl.

Das Scheusal grunzte und streifte das Gestell ab; scheppernd krachte es zu Boden. Caphalor hörte ein unterdrücktes Aufstöhnen. Die Decke war durch den Aufprall verrutscht, er sah Eisenstäbe. Ein Käfig!

»Stinkende Schronznase!«, beschimpfte ihn der Anführer grölend. »Nicht so hart. Sonst geht es kaputt. Brauchen es doch für Turm reinkommen! Oft genug gesagt.«

»Stinkende Schronznase«, rief ein Zweiter, bückte sich und hob einen Ast auf, den er nach dem Troll warf.

Laut protestierend machte sich der Gescholtene auf den Weg, während die übrige Rotte das Gepäck ablegte und sich um den Anführer versammelte. Sehr leise – zumindest für ihre Verhältnisse – berieten sie, wie sie gegen den Turm vorgehen wollten, und das erstaunte Caphalor auf seinem Horchposten wirklich: Es gab keinen Angriff.

»Schronzen, ihr alle!«, beschimpfte sie der Anführer. »Wird leicht. Es weiß, wo der Eingang in Türme ist. Ist aber geheim. So niemand weiß von uns.«

Caphalor vermochte sich nicht vorzustellen, wie ein geheimer Zugang aussah, durch den ein ausgewachsener Troll passte. Und warum sollte »es« ihnen verraten, wie man die Verteidigungsanlagen des Gålran Zhadar umgeht – wenn es sich nicht um eine Falle für die Scheusale handelte!

So oder so: Ihm passte nicht, was die Trolle beabsichtigten. Ihr Eindringen würde bemerkt werden, und wenn sich die Soldaten des Gålran Zhadar einmal im Alarmzustand befanden, würde dies das Vorhaben der Albae erschweren. Caphalor gelangte zu der Ansicht, dass die Kreaturen nicht bis zur Festung gelangen durften. Nach dem »es« konnte man dann sehen.

Daher erklomm er den Baum bis zum Wipfel, sah nach Nordosten – und erblickte die Himmelsfestung.

Welch ein Bollwerk, welch ein Wolkenfresser türmte sich in zwei Meilen vor ihm auf!

Sechs Türme standen im Abstand von fünfzig Schritt versetzt nebeneinander. Der Durchmesser eines jeden einzelnen betrug sicherlich fünfzig Schritt! Sie ragten steil nach oben, sich dabei auf beinahe die Hälfte ihrer Fläche verjüngend, und vermutlich würde ein senkrecht nach oben geschossener Pfeil nicht bis an ihre Spitze gelangen. Die beiden linken Türme wurden im oberen Bereich von Wolken umhüllt und verbargen, wie hoch sie wirklich waren. Höher als die anderen sogar?

Untereinander waren sie im oberen Drittel mehrfach mit geraden und schräg verlaufenden Röhren und Treppen verbunden, und auch diese bildeten Abzweigungen und führten wiederum zu anderen Ebenen. Auf den ersten Blick wirkte das Bauwerk wie ein Durcheinander, auf den zweiten offenbarte sich eine fremde Ästhetik, die Caphalors Sinn für das Schöne ansprach. Und ihn immer mehr gefangen nahm. Als hätten die Götter die Türme in den Boden gerammt. So etwas hatte er, bei aller Baukunst seines Volkes, niemals zuvor erblickt. Und er wollte es von Nahem sehen.

Wie errichtet man Derartiges?, staunte er. Und wie lange benötigt man dafür?

Das hohe Pfeifen durchbrach sein Schwärmen über die Festung. Sinthoras verlangte nach ihm.

Also kletterte er zurück auf seinen Ast und kehrte just in dem Augenblick zurück, als auch der ausgesandte Troll vom Spähen wiederkehrte. Caphalor pfiff dem verborgenen Alb zu, dass er sich für einen Angriff bereithalten solle, und legte einen Pfeil auf.

Als die Bestätigung erfolgte, zielte er auf das rechte Auge des Anführers und gab den Schaft frei; noch während das Geschoss flog, griff er blitzschnell nach dem zweiten und feuerte es hinterher. Mehr als drei Herzschläge lagen nicht dazwischen, Mensch und Elb waren ihm in der Schießkunst weit unterlegen. Auch was die Treffsicherheit anging.

Der erste Pfeil bohrte sich durchs Auge und drang tief ein; da schoss der zweite bereits heran und zerstörte die andere Pupille. Auf diese kurze Entfernung hatten die Geschosse nichts von ihrer Wucht verloren und zerstörten die hintere Schädelpartie. Der Anführer fiel gegen zwei Trolle, sein rechtes Bein zuckte unkontrolliert.

Die Scheusale brüllten auf und machten ihre Waffen bereit, duckten sich und schauten in alle Richtungen nach dem heimtückischen Bogenschützen.

Ihr seid so dämlich, ihr merkt nicht einmal, wann ihr tot seid. Caphalor erschoss den Nächsten mit zwei Pfeilen durch den Hals, ohne dass sie ihn ausmachten, danach fiel ein Troll durch einen einzigen Schuss durch das Genick, und schon stürzte ein weiterer mit zwei Treffern im Herzen tot zu Boden. Den fünften streckte er mit einem Schuss ins weit aufgerissene Maul nieder.

Die Scheusale wussten noch immer nicht, was ihnen geschah.

Caphalor freute sich, die ganze Rotte in aller Ruhe von seinem Hochsitz aus erledigen zu können. Er bedauerte, dass er das Blut und die mächtigen Gebeine nicht mitnehmen konnte. Seine große Leidenschaft war das Knochenschnitzen, und so würde er wohl nicht widerstehen können, wenigstens ein Schienbein mitzunehmen. Als Andenken und für Tarlesas Sammlung. Aus den vielen Knochen hätte er ein schönes Instrument bauen lassen können.

Aber er hatte nicht mit Sinthoras gerechnet. War es dessen Geltungsbedürfnis, seine Eifersucht oder sein Kampfeswille – er sprang aus seinem Versteck und attackierte die verbliebenen fünf Trolle mit seinem Speer. Sein Ziel war: der Käfig.

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Sinthoras schlitzte im Sprung einem Troll die Kehle auf, die Abwehrbewegung des Scheusals erfolgte viel zu spät. In einer Mischung aus Husten und Würgen fiel sein Gegner nieder, während hellgraues Blut weit aus der klaffenden Wunde spritzte.

Er stand inmitten der vier übrigen Scheusale, zwei davon hatten ihm den Rücken zugewandt. Sie waren noch ungefährlich, daher kümmerte er sich zuerst um die Gegner, die ihre Zähne fletschten und auf ihn eindrangen.

So liebte er das! Warum sollte er Caphalor den Spaß allein überlassen? Außerdem wollte er dringend herausfinden, was es mit dem Käfig auf sich hatte. Am besten vor dem anderen.

Sinthoras rutschte zwischen den Beinen des vorderen Trolls hindurch; dabei verhakte er seinen Speer zwischen dessen Beinen und brachte das Scheusal zu Fall. Am Boden liegend, rollte er sich mit seiner Waffe mehrmals um die eigene Achse und entging dabei den wütenden Schlägen des nächsten Angreifers. Die einschlagende Keule hinterließ tiefe Mulden in der Erde, Dreck spritzte hoch und rieselte auf ihn nieder.

»Ich habe Schmerzen für dich!« Die lange, schmale Klinge zuckte unter den Lendenschurz, fuhr von rechts nach links, und der Troll stieß einen schrillen, hohen Schrei aus, ließ die Waffe fallen und langte mit beiden Händen nach seinen Genitalien. Blut schoss die Schenkel hinab.

Sinthoras kam auf die Füße, sprang dem Angreifer, den er zu Fall gebracht hatte, ins Kreuz und rammte ihm die Schneide der Länge nach in den breiten Nacken. Sofort erschlaffte der mächtige Körper.

Der Alb nutzte den Speerschaft, um sich abzustoßen, riss die Waffe aus dem Genick des Toten und wirbelte sie im Sprung über dem Kopf, was ein dunkles, sirrendes Geräusch hervorrief. Dann packte er den Speer am hinteren Ende und stieß ihn am ausgestreckten Arm nach vorn, um dem vorletzten Gegner die Klinge mit Wucht durch den Hals zu bohren. Der Troll stürzte nach hinten.

Sinthoras löste die Arretierung und hielt bei seiner Landung den Kurzspeer in der Hand. Geschmeidig wandte er sich zum letzten Feind um. Es war die Schronznase, der gescholtene Käfigträger.

Die gelben Augen huschten nach rechts und links, die aufgeregten Blicke trafen die vielen Toten, und er gab einen kläglichen Laut von sich; das Scheusal verspürte schreckliche Angst. Es machte tatsächlich einen kleinen Schritt rückwärts und streckte die Waffe gegen den Alb, um ihn auf Abstand zu halten.

Sinthoras lachte böse und setzte seine Gabe ein, um die Furcht des Trolls zu verstärken. Er sollte leiden. Schwarze Gespinste schossen auf den Feind zu, schienen von ihm eingeatmet zu werden und färbten sein Gesicht grau.

»Ist der kleine, hässliche Troll plötzlich ganz alleine?«, säuselte er mit vorgetäuschtem Mitleid und spielte dabei mit dem Kurzspeer. »Komm und versuche, mich zu töten, Schronznase. Das war doch dein Name, oder?«

Die Kreatur wandte sich um und rannte los, weg von dem Alb.

Sinthoras setzte eben zur Verfolgung an, da sirrte es.

Ein Pfeil schlug genau in die Mitte von Schronznases Hinterkopf ein, ein zweiter in den Nacken und ein dritter von hinten in das Herz. Aufschnaufend stolperte er ins Dickicht und lag still.

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Caphalor sprang auf den Boden und näherte sich dem Käfig, in dem es still geblieben war. Der Gefangene schien abwarten zu wollen, was sich jenseits der Eisenstäbe und der Decke abspielte. Feinde der Trolle waren nicht immer auch Freunde.

Sinthoras zog mit einiger Anstrengung sein Speervorderteil aus der Leiche, säuberte es am Fell und setzte die Waffe zusammen. »Du hast mir meinen letzten Gegner gestohlen«, begrüßte er ihn vorwurfsvoll.

»Es sah nicht danach aus, als hättest du ihn töten wollen. Vielmehr dachte ich, dass du vor mir beim Käfig sein wolltest.«

»So, dachtest du?« Sinthoras entfernte die Decke mit der Speerspitze und stieß einen entsetzten Fluch aus. Auch Caphalors Miene zeigte nichts als Abscheu; er legte einen Pfeil auf die Sehne und ging in den Anschlag.

Sie blickten auf eine sehr schlanke, junge Frau hinab, deren Kleidung in Fetzen herunterhing. Unter den halblangen braunen Haaren standen spitze Ohren hervor, die jedoch in diese Form geschnitten und nicht so gewachsen waren. Ihr Gesicht war ebenfalls schmal, zeigte Narben an den Wangenknochen und eine unnatürliche, leicht schiefe Form.

Caphalor wusste, worauf sie gestoßen waren: auf eine Obboona.

Die Narben stammten sicherlich von einer brutalen Prozedur, der sie sich unterzogen hatte, um ihr Gesicht schmaler zu machen. Vermutlich hatte sie sich das Fleisch aufschneiden, die Wangenknochen brechen und die Splitter danach entfernen lassen.

Die Obboona starrte sie aus großen schwarzen Augen an. Sie hatte sich das Weiße mithilfe von Farbe verändert, die Pupillen waren dennoch zu erkennen. Die Täuschung war nicht perfekt, auch wenn ihr Volk sehr findig darin war, Albae-Augen nachzuahmen.

»Samusin hat uns eine Fleischdiebin gesandt«, spie Sinthoras aus. »Ich schlage vor, wir lassen sie spüren, wie es ist, wenn man lebendig seine Haut verliert.«

»Ich schlage vor«, Caphalor senkte den Bogen wieder, »wir lassen sie leben. Sie weiß, wie man in die Himmelsfestung gelangt.«

»Das sagten die Trolle. Wer weiß, ob das stimmt?«

»Ihr wollt auch in die Himmelsfestung?« Die Obboona rutschte in ihrem Gefängnis nach vorn. »Es wird mir eine Ehre sein, zwei Halbgötter zu führen!«

Ihre Stimme klang ebenfalls nicht natürlich. Caphalor sah genauer hin und entdeckte eine Narbe am Halsansatz, darunter eine leichte Verdickung. Sie hatte sich etwas einsetzen lassen, das auf die Stimmbänder drückte und sie veränderte, damit sie sich angeblich wie ein Alb anhörte. Die seinem Volk von Inàste verliehene Klangfarbe, melodisch und gefährlich zugleich, würde sie jedoch nie auf diesem Wege erreichen.

»Du beleidigst unsere Ohren«, schrie er sie an.

»Verzeiht«, rief sie demütig und kauerte sich nieder.

»Wer sagt, dass wir ihr Wissen brauchen?«, warf Sinthoras ein. »Sie ist nur eine Last.« Er hob den Speer und wollte zustechen.

»Ich stand in den Diensten des Gålran Zhadar«, erwiderte sie flink. »Ich kenne sämtliche Türme, jeden Gang und auch die geheime Pforte, durch die ich flüchtete und in die Arme der Trolle lief.« Sie lächelte und zeigte makellose, blendend weiße Zähne. »Was möchtet Ihr ihm nehmen? Sein Leben oder seine Schätze? Von Letzteren hat er so viele, dass er einen neuen Turm in Arbeit geben möchte!«

Caphalor bedeutete Sinthoras, zu ihm zu kommen, dann wandten sie sich ein Stück vom Käfig ab. »Wir sollten es mit ihr probieren.«

Sinthoras schüttelte den Kopf, die blonden Haare schwangen bei der Bewegung mit. »Zu ungewiss. Sie wird uns in einen Hinterhalt locken, um uns umzubringen und sich unsere Haut überzustreifen.«

»Ich habe diese Himmelsfestung gesehen, Sinthoras. Wir werden ohne ihr Wissen nicht hineingelangen.«

»Wann und wo hast du sie gesehen?«

»Eben noch, von dem Baum aus, auf dem ich saß.«

Sinthoras musterte ihn. »Wie weit entfernt?«

»Zwei Meilen …«

»Aus zwei Meilen Entfernung siehst du, dass es uns nicht gelingen wird. Deine Augen hätte ich gern. Deinen Kleinmut hingegen nicht.« Sinthoras zog die Brauen hoch, sein Mund zeigte ein spöttisches Lächeln. »Ich sehe mir diese Himmelsfestung aus der Nähe an, danach überlegen wir, was wir mit der Fleischdiebin anstellen.« Für ihn war die Unterredung beendet. Er ließ Caphalor stehen und ging am Käfig vorbei, ließ das Speerende an den Stäben entlangrattern und verschwand im Unterholz.

Caphalor drehte sich um, sah dem Alb nach. »Ich sollte ihn jetzt töten«, murmelte er. »Es würde mir mehr bringen, als mich unentwegt mit ihm herumärgern zu müssen.« Seufzend folgte er ihm, deckte im Laufen den Käfig wieder zu und achtete nicht auf die Rufe der Obboona. Sie konnte froh sein, dass sie die Trolle belauscht hatten, sonst hätte er längst an ihr Rache für alle verstümmelten Albae genommen.

Caphalor betrat die Höhle, in der Sinthoras bereits am Feuer saß. Es war seine freundliche Art, ihm klarzumachen, dass er keinen Wachdienst mehr zu versehen hatte. Caphalor blieb am Eingang stehen, lehnte sich gegen den Felsen und behielt die Umgebung im Auge.

Raleeha näherte sich ihm und brachte ihm seinen Trinkbeutel, den er vorhin hatte liegen lassen. »Ehrwürdiger, was hat sich zugetragen?«, fragte sie zurückhaltend.

»Wollte dir dein Gebieter nichts sagen?«

Sie schüttelte den Kopf.

Rasch fasste er zusammen, was sie mit den Trollen angerichtet hatten, wobei ihm einfiel, dass er vor lauter Überraschung über die Obboona seinen Trophäenknochen vergessen hatte.

»Fleischdiebin«, wiederholte Raleeha und schüttelte sich. »Das klingt unangenehm. Warum nennt man die Obboona so?«

»Sie haben nur ein Ziel: zu sein wie die Albae«, erklärte er nach einem langen Schluck aus dem Trinkschlauch. »Sie gehörten einst zu unseren Vasallen, beteten uns als Halbgötter an, verehrten die Unauslöschlichen als göttliche Wesen und verstümmelten sich, um ihren Wuchs dem unseren gleichzumachen. Ihr krankes Verlangen aber ließ sie Dinge tun, die ihnen die ewige Feindschaft der Albae einbrachten. Die Obboon schreckten nicht einmal davor zurück, Albae zu jagen und ihnen einzelne Körperteile oder gar Gliedmaßen abzuschneiden, um sie sich in widerwärtigen Versuchen selbst einzusetzen oder anzunähen.«

Die Sklavin schüttelte sich, ihr Mund stand offen. Sie sah entsetzt aus. »Bei Samusin!«

»Andere begnügten sich damit, solche Teile zu trocknen und sich damit zu umhüllen«, fuhr Caphalor fort. »Übergestülpte Ohren und Albae-Haare waren dabei noch das Harmloseste. Nach einem harten, kurzen Krieg, den die Unauslöschlichen gegen sie führten, haben sich die Obboon weit in den Norden zurückgezogen. Ich hätte nicht gedacht, auf eine von ihnen zu treffen.«

»Diese … Übertragung von Gliedmaßen und Organen«, fragte sie angewidert, »hat das jemals wirklich funktioniert?«

»Nein. Das macht ihr Verhalten noch verabscheuungswürdiger. Sie töteten ihre Halbgötter, obwohl sie genau wussten, dass sie niemals sein können wie wir. Nicht einmal in Teilen.« Caphalor wusste in Wahrheit nicht, ob Versuche dieser Art je gelungen waren oder nicht. Doch selbst wenn, würde er es der Sklavin niemals sagen. »Jetzt kehre zu deinem Gebieter zurück.«

»Sehr wohl, Ehrwürdiger.« Raleeha verneigte sich und ging langsam zu Sinthoras, der sie beobachtet hatte.

Kurz bevor sie ihn erreicht hatte, sprang er auf, packte sie grob am Würgehalsband und zerrte sie hinter sich her zum Höhlenausgang.

»Hier!«, rief er aufbrausend und schleuderte die keuchende Frau Caphalor vor die Füße. »Ich schenke sie dir. Da du so sehr Gefallen an ihr findest.«

»Gebieter!«, hauchte Raleeha erschrocken und bekam von ihm den Stiefel in die Seite.

»Schweig, du!« Sinthoras funkelte seinen Rivalen an. »Wie ich sagte: Sie ist dein.«

»Ich will sie nicht«, antwortete Caphalor überrumpelt.

Sinthoras zog mit einer Hand den Dolch, mit der anderen griff er in ihre Haare. »Dann wird es das Beste sein, wenn ich sie umbringe. Dann kann sie niemandem verraten, was wir …«

»Schön.« Caphalor nickte ihm zu. »Ich nehme sie, bevor du eine Sklavin aus der Familie Lotor umbringst, die uns bald nutzen könnte.«

»Nutzen, pah! Gegen Barbaren haben wir immer gesiegt.« Er sah zu Raleeha. »Mach mir keine Schande und diene ihm besser als mir. Deine Augen sind dir schon genommen worden. An deiner Stelle würde ich nicht noch mehr Gliedmaßen in Gefahr bringen.« Sinthoras schnitt sein Zeichen aus dem Halsband. In die freie Stelle, unter der blanke Haut zu sehen war, ritzte er mit dem Dolch Caphalors Signum. Die Sklavin sog laut die Luft ein, während die Klinge ihre Haut zerschnitt und dunkelrotes Blut hervorquoll. »Damit gehörst du ihm.« Er kehrte an die Flammen zurück und legte sich nieder, um zu schlafen.

Raleeha kniete vor Caphalors Füßen, schluchzte leise. Sie weinte nicht vor Schmerzen, das ahnte er, sondern weil sie ihren Gebieter verloren hatte, den Alb, dem sie freiwillig in die Sklaverei, in die Verbannung gefolgt war. Verschenkt an einen anderen, der sie nicht einmal wollte.

»Steh auf«, sagte er sanft, viel zu sanft für einen Befehl an eine Rechtlose. Unfreundlicher wiederholte er: »Hoch mit dir!«

Raleeha gehorchte ihm.

Es sah faszinierend aus, wie die Tränen durch die schwarze Binde quollen. In dem warmen Licht der Flammen bekam die Sklavin durchaus etwas Albisches, eine nicht zu verleugnende Anziehungskraft, geboren aus Schwermut und Schmerz. Caphalor konnte sich an ihrem Leid gar nicht sattsehen und wünschte sich, diesen Moment festhalten zu können. Dafür fehlte ihm jedoch das Talent. Er war ein begnadeter Knochenschnitzer und kein Maler. »Leg dich hin. Du kannst Sardaîs Decke nehmen, wenn dir kalt sein sollte.«

Sie neigte das Haupt. »Sehr wohl, Ehrw… Gebieter.« Raleeha war im Begriff, sich abzuwenden, da schnellte seine Linke nach vorn und öffnete alle drei Lederriemen, die um ihre Kehle lagen. Verwundert blieb sie stehen.

»Vergiss nicht, dass du etwas essen musst«, sprach er nachdrücklich. »Essen und trinken. Morgen wirst du wieder hier warten, während Sinthoras, die Obboona und ich die Himmelsfestung genauer untersuchen.«

»Ob die Obboona dann noch lebt, werden wir sehen«, kommentierte Sinthoras vom Feuer aus, ohne sich zu ihnen umzudrehen. »Irgendwelche Aasfresser werden über Nacht dafür sorgen, dass die Trollkadaver verschwunden sind. Der Käfig wird einiges aushalten müssen.«

Wie zum Beleg seiner Worte vernahmen alle drei den Entsetzensschrei der Obboona, gefolgt von Vogelgekrächze und Raubtierbrüllen. Es würde eine harte Nacht für sie werden. Und Caphalor fühlte kein Quäntchen Mitleid.

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Ishím Voróo (Jenseitiges Land), das Reich der Fflecx, 4370. Teil der Unendlichkeit (5198. Sonnenzyklus), Sommer

Das Morgengrauen kam mit Nebel und ermöglichte den Albae somit, sich im Schutz des Dunstes nahe an die Grundmauern der Himmelsfestung heranzuschleichen.

Sie liefen von Turm zu Turm und begutachteten das fugenlose Mauerwerk, bei dem sich Quader auf Quader schichtete, ohne dass Mörtel zum Einsatz gekommen war. Bei dem Gewicht, das sie trugen, gab ihnen der Druck des Gesteins genügend Halt, wie Sinthoras befand.

Mit den Dolchknäufen pochten sie behutsam gegen die Sockel, aber auf das dumpfe Geräusch eines Hohlraums warteten sie vergebens. Caphalor grub unmittelbar an der Grasnarbe, um zu sehen, wie tief die Türme in die Erde stachen, doch nach einer Weile gab er auf. Sie mussten zehn Schritt und mehr in den Boden reichen.

Während die beiden Albae suchten und forschten, stieg die Sonne höher und löste die Schwaden aus Wasserdampf auf. Sinthoras blickte an den wolkenhohen Türmen entlang nach oben zu den verflochtenen Verbindungen aus Röhren und Treppen. Einige von ihnen waren mit mannsbreiten eisernen Ringen umgeben, von denen armdicke Stahlseile zu Haken im Mauerwerk führten.

»Das verhindert wohl, dass sie während eines Sturmes zu schwingen beginnen«, mutmaßte er und konnte seine Bewunderung nicht unterdrücken. Nein, er wollte sie nicht unterdrücken! »Ich kann mich nicht satt daran sehen«, sagte er und sog die Eindrücke in sich auf. Ein solches Gebilde, wenn auch kleiner, würde er sich in Dsôn errichten! Niemand sonst besäße eine vergleichbare Residenz. Und Caphalor konnte sich ein solches Gebäude nicht leisten.

»Du spielst sicher bereits mit dem Gedanken, den Gålran Zhadar zu entführen und mitzunehmen, anstatt ihm den Kopf abzuschlagen«, spottete Caphalor. »Er müsste dir auch so etwas Hübsches bauen.«

Sinthoras fand den Vorschlag glänzend. »Warum nicht? Ein derartig grandioser Baumeister sollte sein Leben nicht wegen eines Pergaments und einer Krone verlieren. Diese Missgeburten kann ich sicherlich überreden, ihn mir lebend zu überlassen, wenn ich ihnen genügend bunten Firlefanz aus der Schatzkammer mitbringe. Oder Zuckerwerk.«

»Du vergisst eine Sache.« Caphalor umrundete Sinthoras, stellte sich vor ihn, legte eine Hand gegen die Mauer und deutete nach oben. »Wie gelangen wir ohne die Hilfe der Obboona hinein? Sollen wir eine fugenlose Wand erklimmen, viele hundert Schritt hoch? Ich vermag so etwas nicht. Zwanzig Schritt hätte ich mir noch gefallen lassen, aber das Zehnfache und mehr? Niemals.«

»Die schwarzhäutigen Giftpanscher wussten, warum sie uns diese Aufgabe überließen. Mit ihren dünnen Ärmchen kratzen sie die Mauern nicht einmal an.« Sinthoras hasste es, eingestehen zu müssen, dass auch er keine Möglichkeit sah, bis zu den Treppen zu gelangen. Die Türme selbst wiesen keine Fenster auf. Blinde Pfeiler, mehr waren sie nicht.

»Ich frage mich, was an einer Fflecx-Krone so besonders ist, dass ein Gålran Zhadar sie rauben musste«, murmelte Caphalor vor sich hin. »Und ein Pergament – welchen Inhalts?«

»Geht es uns etwas an?«, gab Sinthoras tadelnd zurück. »Es spielt keine Rolle. Munumon hätte von uns ebenso ein blau bemaltes Pferd und eine zerstörte Harfe verlangen können.«

»Ganz so leicht mache ich es mir nicht.« Caphalor schien auf eine neuerliche Auseinandersetzung erpicht zu sein.

»Er hat uns in der Hand«, hielt Sinthoras dagegen. »Oder besitzt du etwa das Gegenmittel zu dem, was die Pfeile in unser Blut brachten?«

»Angenommen, die Krone und das Pergament wären der Schlüssel zur Eroberung unserer Heimat und wir hätten die Möglichkeit, es zu erfahren, bevor wir sie zu Munumon bringen – würdest du das Gleiche sagen?«

Sinthoras seufzte entnervt. »Das ist doch Unsinn. Barer Unsinn.«

»Es würde mich dennoch interessieren, was sich hinter den Gegenständen verbirgt. Welche Bedeutung sie haben.«

»Dann schlage ich vor, wir fragen den Gålran Zhadar, damit du zufrieden bist und mich nicht länger mit deinen Fragen langweilst«, schnarrte Sinthoras. Wieder musste er aufpassen, seiner Wut nicht nachzugeben. Sie war fast immer da, diese Wut, und sie richtete sich auf den Alb mit dem Bogen und den fehlenden Eigenschaften, die einen wahren Krieger ausmachten. Stellvertretend für alle Gestirne verabscheute er Caphalor und musste doch mit ihm reisen, obwohl er ein Schwächling war und von einem Baum aus seine Pfeile verschoss, anstatt den Scheusalen im Nahkampf zu beweisen, dass sie Abschaum und nichtswürdig waren.

Seinetwegen hatte er sich sogar in einem Anflug von Zorn dazu hinreißen lassen, Raleeha zu verschenken. Es hatte ihn so gewurmt, dass sie Caphalor alle möglichen Fragen stellte. Eine törichte Tat, die er jedoch nicht mehr rückgängig machen konnte, denn ansonsten würde es ihn seinen Stolz kosten. Aber da Caphalor sowieso nicht lebend nach Dsôn zurückkehren würde, verschwendete Sinthoras keinen weiteren Gedanken mehr daran, oder zumindest versuchte er es. Leicht fiel es ihm nicht.

»Ja, fragen wir den Gålran Zhadar«, stimmte ihm Caphalor zu und klang, als denke er allen Ernstes darüber nach, die Gegenstände nicht auszuhändigen, wenn ihnen besondere Bedeutung zukam.

Sinthoras fand den Alb immer anstrengender. Wie gern hätte er an seiner statt einen seiner Freunde mitgenommen. Dann säßen sie schon lange bei ihrem neuen Verbündeten und hätten den Pakt besiegelt.

Plötzlich vernahmen sie ein tiefes Brummen, als drehe sich etwas Schweres. Das Geräusch wurde heller und heller, das Kreiseln nahm zu.

Sinthoras legte eine Hand gegen den Turm: Der Stein vibrierte ganz sachte, als bewege sich etwas in seinem Inneren. »Hat er eine Winde darin verborgen?« Er blickte sich aufmerksam um und sog die Luft ein, doch er konnte keinen fremden Geruch um sich herum wahrnehmen.

»Sieh! Dort oben!« Caphalor hatte einige Schritte zur Seite gemacht, beschirmte die Augen und schaute in die Höhe.

Eines der Röhrenstücke löste sich aus dem Verbund und wurde an fünf Seilen langsam nach unten gelassen. Sinthoras schätzte es auf zehn Schritt Länge und vielleicht acht Schritt im Durchmesser. An dem einen Ende befand sich ein hölzernes Portal, das an ein Burgtor erinnerte. Waren sie entdeckt worden, und der Gålran Zhadar ließ seine Krieger zu Boden, um sie gefangen zu nehmen?

Die Röhre näherte sich durch die Nebelschwaden.

»Wir sollten verschwinden«, sagte Sinthoras und lief los, Caphalor folgte ihm. »Oder meinst du, das könnte unser Weg in das Innere sein?«, überlegte er. »Wir könnten auf die Röhre klettern und uns mit in die Höhe ziehen lassen. Dann brauchten wir die Obboona nicht.«

»Nein«, erwiderte Caphalor und sah sich um. Jetzt, wo der Röhrenabschnitt tiefer gekommen war, erkannten sie beide, dass oben Spähluken angebracht waren, die einen Rundumblick erlaubten.

Die Röhre setzte auf dem Boden auf, das Tor wurde geöffnet. Ein Wagen mit zehn Gerüsteten fuhr langsam heraus und rollte dann in Richtung Norden davon.

In sicherer Entfernung blieben die Albae stehen und sahen zu, wie die Luken geschlossen wurden und das Element an den Seilen wieder nach oben bewegt wurde. Die Spähluken waren besetzt, und somit schied ein heimlicher Ritt obenauf aus.

Sinthoras biss die Zähne zusammen. Damit stand leider fest, dass sie die Hilfe der Fleischdiebin in Anspruch nehmen mussten, anstatt sie endlich töten zu können. Lieber hätte er ihr Pein zugefügt, schreckliche Pein! Doch aufgeschoben war nicht aufgehoben.

Er wusste, was er tun würde: sie an den Fußsehnen aufhängen, ihr die Haut an den Knöcheln einschneiden und sie langsam herabziehen wie ein Gewand, das ihr nicht länger zustand. Das rohe Fleisch würde er mit dünnen Ästchen peitschen und die Adern zerstören, sodass sie unter Schmerzen verblutete. Der Lebenssaft sollte verrinnen, statt in Berührung mit Leinwand zu kommen, um für die Ewigkeit gebannt zu werden. Versickern, vergehen, verschwinden.

Sinthoras lächelte zufrieden. Ja, das war genau das, was einer Fleischdiebin gebührte. Sobald sie ihren Zweck erfüllt hatte.

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Legenden d. Albae
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