Ishím Voróo (Jenseitiges Land), 4370. Teil der Unendlichkeit (5198. Sonnenzyklus), Spätsommer
Caphalor und Raleeha kamen trotz kalter Winde und andauernden Regens zügig voran.
Zwar erreichte das Pferd, auf dem die Sklavin ritt, nicht annähernd die Geschwindigkeit wie der Nachtmahr, doch fraßen sie Meile um Meile auf dem Weg zurück ins Reich der Albae.
Caphalor deutete die Spuren, auf die sie stießen, und vermied jegliche Begegnung mit Scheusalen oder umherstreunenden Kriegsbanden.
Für ihn war es eine beunruhigende Erfahrung, die Zeit fürchten zu lernen. Hatte er mit dem festen Wissen gelebt, niemals eines natürlichen Todes sterben zu müssen, machte ihn das Gift in seinem Körper plötzlich – menschlich. Vergänglich.
Es schien ihm die Zeit zu rauben, sie zu raffen, einen Punkt in seine eigene Unendlichkeit zu setzen und sie zu beenden, während die anderen um ihn herum ewig leben durften.
Sein bisheriges Leben hatte ihm erlaubt zuzusehen, wie aus eigenhändig gesetzten Pflänzchen gewaltige Bäume geworden waren. Er konnte Wein keltern, ihn in seinen Fässern so lange reifen lassen, wie ihm danach war, und ihn zusammen mit seiner Gemahlin kosten. Schmeckte er nicht, kelterte er neuen und wartete voller Geduld. Caphalor hatte Berge durch Eis, Sonne, Schnee, Regen und Wind schrumpfen und Landstriche sich wandeln sehen. Kein anderes Volk vermochte das.
Natürlich gab es Krankheiten, die einem Alb zusetzten, aber die Magie in ihrem Blut, der Fortschritt und die Erkenntnisse ihrer Heiler verhinderten so gut wie jeden Tod durch ein herkömmliches Leiden oder Wunden jeglicher Art. Die Endlichkeit hatte er niemals fürchten müssen, weder auf dem Schlachtfeld noch bei anderer Gelegenheit. Bis er den Fflecx begegnet war.
Caphalor gab sich nicht dem Trugschluss hin, dass er das Gift überlebte. Die Fflecx wussten, was sie zu tun hatten. Es war mit Sicherheit wohl dosiert, perfekt auf die Körper und Besonderheiten seines Volkes ausgerichtet und tödlich. Sogar Raleeha lebt länger als ich! Rasch unterdrückte er seine aufflammende Wut über die Ungerechtigkeit, bevor er seinen Hass in einem unbeherrschten Moment an ihr ausließ.
Caphalor zweifelte nicht an seinem Vorhaben, die Obboona und Munumon zu töten. An Sinthoras dachte er nur selten, denn im Mittelpunkt seiner Gedanken befanden sich seine Gefährtin und seine Kinder. Ein erfülltes Leben, und dennoch erscheint es mir auf einmal viel zu kurz.
Die Frist, die ihnen der Gnomenkönig gegeben hatte, verstrich mehr und mehr. Es blieben ihm sechs Sonnenzüge, um Raleeha abzuliefern, vielleicht etwas mehr, wenn Samusin und Inàste mit ihm waren.
Sardaî schnaubte und sah hinüber zu den ersten Ausläufern eines Waldgebietes, das sich vor ihnen ausbreitete.
Caphalor betrachtete den Boden, die Straße. Es war später Nachmittag, die Sonne senkte sich irgendwo hinter den dunklen Regenwolken zum Horizont herab, und es wurde düsterer. Demnach würden sie zwischen die Stämme eintauchen, wenn das Licht gänzlich erloschen war.
Normalerweise hätte er diesen Umstand begrüßt, doch das Verhalten des Nachtmahrs und die aufgewühlte Erde waren ihm deutliche Warnungen. Er hielt an und brachte auch Raleehas Pferd zum Stehen. »Wir müssen einen Umweg nehmen«, sagte er zu ihr.
»Was ist geschehen, Gebieter?« Raleeha saß aufrecht im Sattel, um lauschen zu können. Sie hatte auf ihrer Reise an Gewicht verloren und war nun ebenso schlank wie eine Albin, wie er bemerkte. Bis auf die Ohren und die letzte Feinheit im Antlitz. Erneut erwachte sein unerklärliches Interesse an ihr …
»Der Wald steckt voller Wegelagerer«, sagte Caphalor, um sich selbst abzulenken. »Ich kann es nicht auf mich nehmen, dem Weg zu folgen. Sie würden dich mit Sicherheit haben wollen, und ohne einen Nachtmahr bist du zu langsam.« Er wendete Sardaî. »Vor etwa zwei Meilen sind wir an einer Kreuzung vorbeigekommen. Wir passieren den Wald nördlich und nähern uns Dsôn Faïmon von dort«, erklärte er sein Vorhaben und verschärfte den Ton. »Du wirst bei mir bleiben, Raleeha.«
»Sicher, Gebieter.«
Caphalor konnte nichts Verdächtiges in ihrer Stimme erkennen. Die Warnung hatte er nicht umsonst ausgesprochen. Sie näherten sich wegen ihres Umwegs dem Gebiet der Familie Lotor. Die Aussicht auf eine Flucht und die Freiheit wäre verlockender denn je, zumal sie nicht mehr ihrem ursprünglichen Gebieter folgte. Er würde alles unternehmen, um die Geisel nicht zu verlieren und sie für die Unauslöschlichen zu bewahren.
So kehrten sie zur Kreuzung zurück und ritten, bis die Sonne versunken war.
Das gedämpfte Licht genügte dem Nachtmahr, den Weg deutlich vor sich zu erkennen, aber Raleehas Pferd war erschöpft und stolperte ständig über Unebenheiten und Wurzeln, sodass Caphalor an einem zerfallenen Haus anhielt und ihr Lager in der Ruine bereitete. Wenigstens waren sie unter den Resten des Daches vor dem Regen sicher. Auf Feuer verzichtete er. Er wollte weder Späher noch Wegelagerer durch den Schein aufmerksam machen.
Caphalor schnitt den Proviant klein, schob der Sklavin ihren Anteil hin und kaute den ersten Bissen. Pfeile und Bogen lagen griffbereit. Er sah ihr an, dass sie etwas sagen wollte. »Sprich.«
»Es ist noch nicht lange her, dass das Haus stand, Gebieter«, sagte Raleeha. Sie hatte die Pferdedecke wieder um sich gelegt. »Der Brandgeruch ist frisch und stark.«
»Es wird wohl das Werk derer gewesen sein, die sich im Wald verbergen«, mutmaßte er. »Ich sah beschlagene Hufe von großen Pferden, wie sie die östlichen Barbarenvölker reiten. Vermutlich ist es einer ihrer Spähtrupps, die sich nach Westen aufgemacht haben, um die Lage zu erkunden.« Er sammelte Regenwasser in der hohlen Hand und nahm einen Schluck. »So geht es in Ishím Voróo seit Tausenden Teilen der Unendlichkeit zu. Völker kommen und gehen, um zu erobern und unterworfen zu werden.«
»Bis auf die Albae«, warf Raleeha mit Stolz ein. »Euer Volk, Gebieter, ist die Beständigkeit. Ich verstehe nicht, weswegen Ihr und Eure Heere sich nicht ganz Ishím Voróo angeeignet haben. Wenn es eine Rasse erreichen könnte, dann die Albae.«
Caphalor betrachtete sie mitleidig, was sie natürlich nicht sehen konnte. Sie klang so, als verstünde sie sich selbst als eine Albin und war doch nicht mehr als eine Barbarin mit einem hübschen Gesicht und einer verqueren Begeisterung für das falsche Volk.
»Wir haben es nicht nötig«, antwortete er, obwohl er nicht darüber sprechen wollte. Schon gar nicht mit ihr. »Was sollten wir mit einem großen Reich?«
Das war nicht die Wahrheit. Tatsächlich schrumpfte die Zahl der Einwohner von Dsôn Faïmon, die Albinnen gebaren nicht mehr genügend weibliche Nachkommen, aber leider auch nicht genügend männliche, um viele Soldaten zu erhalten. Das Sternenreich befand sich in einem zerbrechlichen Gleichgewichtsakt, von dem die übrigen Völker nichts ahnen sollten. Zwar bestand derzeit keine echte Gefahr, aber wenn sich nicht bald etwas ergab und Samusin für einen Ausgleich sorgte …
»Ihr hättet mehr Macht und noch mehr Vasallenvölker«, sagte Raleeha. »Ihr brächtet Ordnung in das Durcheinander und würdet die Scheusale aus den fruchtbaren Gebieten und den herrlichen Wäldern fegen. Ishím Voróo wäre nicht länger dieses gesetzlose Land, sondern würde unter Eurer Führung erstarken. Kreaturen mit Verstand würden Euch wie auch die Unauslöschlichen allein aus Dankbarkeit anbeten und Euch folgen, Gebieter.«
»Kreaturen mit Verstand?« Caphalor lachte. »Davon gibt es kaum welche in Ishím Voróo. Nicht mal unter den Barbaren. Du hast dir schon lange Gedanken darüber gemacht, Raleeha«, entgegnete er belustigt. »Und ich kann dir verraten, dass Sinthoras zu denjenigen gehört, die unter uns Albae ebenso denken und am liebsten morgen schon mit den Feldzügen beginnen würden.«
»Aber Ihr nicht, Gebieter?«
»Nein.« Er zögerte. »Ich bin der Meinung, dass unsere Grenzen gut gesichert sind und wir bleiben sollten, wo wir sind.« Er wunderte sich, dass er sich mit einer Sklavin über politische Angelegenheiten seiner Heimat besprach, als wäre sie eine Gleichwertige. Das Gift schien ihn milde zu stimmen, ihn sogar eine Sklavin als anziehend betrachten zu lassen. Beides musste aufhören. »Mehr gibt es dazu nicht zu sagen«, beendete er die Unterredung. Seine rechte Hand schmerzte. Er rieb die Finger, als könnte er das Gift wegmassieren.
»Gebieter«, sprach sie nach einer Weile, ohne seine Erlaubnis einzuholen. »Verspürt Ihr jemals Furcht?«
»Was soll diese Frage?«, zischte er und fühlte sich ertappt: Er hatte an seine Endlichkeit gedacht.
»Ich überlege mir, ob dies einer der Vorteile der Albae ist: Sie fürchten sich vor nichts.«
Caphalor bedachte seine Antwort und hörte das leise Klopfen der Tropfen gegen das Dach. Wie oft darf ich es wohl noch hören? »Nein, ich glaube nicht, dass ich mich jemals vor etwas oder jemandem fürchten musste. Nicht im Sinne von Todesfurcht.« Er schluckte. »Aber derzeit steckt etwas in mir, auf das ich nicht vorbereitet war«, fügte er leiser hinzu. »Ich trage den Tod in mir. Mein Leben verlief mit der Gewissheit, durch Gewalt oder einen Unfall zu sterben, aber nicht, weil ich alt und gebrechlich werden oder weil mein Körper zerfallen könnte.« Zu seinem eigenen Erstaunen empfand er es als erleichternd, sich die Last von der Seele zu reden. Wieder fing er sich Wasser auf und rieb sich damit über das Gesicht, das ihm sehr heiß vorkam. »Die Alchemikanten flößten mir den Tod ein. Nun steckt er in mir, sickert in die kleinste Ecke meines Leibes und tötet mich.« Er seufzte. »Ich denke, dass ich mich davor fürchte. Vor dem Gefühl des Sterbens. Ich weiß nicht einmal, wie und wann ich vergehen werde: Stockt mein Herz? Gerinnt mein Blut? Zerfließt mein Gehirn?« Er schloss die Lider, atmete ein und aus.
»Es ist die Ungewissheit, die Euch verzagen lässt, Gebieter«, sagte Raleeha tröstend. »Eine solche Ungewissheit über den Zeitpunkt des Todes verfolgt die Menschen ihr ganzes Leben. Wir wissen, dass wir sterben. Mit Sicherheit sterben. Euch wurde eines Eurer Privilegien genommen, Gebieter.«
»Das größte von allen«, setzte er nachdenklich hinzu und sah sie an. »Ich hielt es für selbstverständlich wie das Luftschöpfen oder meinen Herzschlag.« Caphalor legte den nächsten Bissen, den er zwischen den Fingern hielt, zurück in das Wachspapier und wickelte ihn zusammen mit den anderen ein. Ihm war nicht mehr nach essen.
»Euer Erbe ist gesichert, Gebieter?«, hakte sie behutsam ein.
»Ja, das ist es.« Ohne dass er es wollte, berichtete er von Enoïla, von seinen Kindern, von deren Leben, bis er bemerkte, dass die Sklavin erschöpft eingeschlafen war. Du Glückliche. Mir hat die Angst den Schlummer geraubt.
Das Erzählen hatte ihm wieder vor Augen geführt, was der Tod ihm nahm. Wut auf Munumon kochte auf, er spürte die zunehmende Hitze sowie das Ziehen in seinem Antlitz. Noch lebte er. Das würden seine Feinde zu spüren bekommen.
In seine Heimat durfte er nicht mehr, da er seine Aufgabe, die ihm von den Unauslöschlichen aufgetragen worden war, nicht erfüllt hatte. »Kehrt erfolgreich zurück oder gar nicht«, hatte Nagsor Inàste zu ihnen gesagt. Die Schmach wäre zu groß.
»Du wirst leiden, Gnomenmissgeburt«, flüsterte er und schloss die Augen. »Leiden wie niemals zuvor in deinem nichtswürdigen Leben.«
Der scharfe Ritt begann mit dem Aufgang der Sonne.
Es ging einen sanften Hügel hinauf, und der Wald fiel zu ihrer Rechten zurück. Aus dem Hügel wurde ein fünfzig Schritt breiter Grat, auf dem sie entlanggaloppierten. Das Umland wurde durch ihn strikt getrennt.
Wenigstens hatten die Elemente ein Einsehen und verzichteten darauf, die Reisenden mit Regen zu überschütten. Sie beließen es bei einem sanften Wind, der mit den grauen und schwarzen Wolken Gemälde am weiten Himmel schuf und über einer breiten Ebene zu ihrer Linken ein Gewitterband formte, das sich mit Getöse entlud. Blitze stachen nieder, und das Donnern wollte nicht mehr enden.
»Wie gern würde ich es sehen, Gebieter«, seufzte Raleeha bedauernd, als sie das erste Grollen vernahm.
»Bedanke dich bei Sinthoras«, gab er zurück. Er war durch Sardaîs Verhalten alarmiert. Der Nachtmahr blickte unentwegt nach rechts, in die Richtung des Waldes, aus dem hier und da Nebelsäulen aufstiegen, die umeinander wirbelten. Was verbirgt sich darin?
Der gut vierhundert Schritt hohe Grat verschaffte ihnen zwar einen einmaligen Ausblick, gleichzeitig wurden sie deutlich gesehen. Es gab keinerlei Gewächse, nicht einmal Büsche, hinter denen sie sich notfalls verbergen konnten. Und wie es den Anschein hatte, mussten sie dieser Erhebung noch lange folgen.
Dann sah Caphalor, was die Aufmerksamkeit des Nachtmahrs erregt hatte: Auf einem schmalen Pfad unterhalb des Grats hetzten Reiter entlang und versuchten, zu ihnen aufzuschließen. Der Statur und der Bewaffnung nach waren es Barbaren, die auf großen Pferden hockten. Vermutlich gehörten zu ihnen die Hufspuren, die er vor dem Eingang zum Wald gefunden hatte.
Dann erkannte Caphalor seinen Irrtum. Die Soldaten verfolgten nicht sie, sondern einen weiteren, wesentlich kleineren Trupp in einiger Entfernung vor ihnen. Wie angenehm. Die Barbaren jagen sich gegenseitig.
Seine Beruhigung währte nur kurz.
Die kleinere Abteilung scherte nach links aus und hetzte die Pferde auf einen Pfad, der hinauf zum Grat führte. Sie würden vor Caphalor und Raleeha auftauchen, und ihre Verfolger würden bei dieser Geschwindigkeit auf gleicher Höhe mit ihnen sein.
Das muss ich vermeiden. Caphalor zügelte Sardaî und brachte ihn wie auch das Tier der Sklavin zum Stehen. Die Mündung des Weges war etwa dreihundert Schritt entfernt und ein guter Sicherheitsabstand für einen sicheren Schützen wie ihn. Schnell machte er seinen Bogen bereit und öffnete den Deckel des Pfeilköchers an seinem Sattel. Er bewegte die Finger, lockerte sie.
Raleeha vernahm, was er tat. »Werden wir angegriffen, Gebieter?«
»Nicht unbedingt. Ich hoffe für die Barbaren, dass sie uns in Ruhe lassen.« Kurz schilderte er, was er gesehen hatte. Kaum endete er, wehte der Wind das Trampeln der Hufe zu ihnen herüber. Der erste Pulk tauchte auf und gleich danach schon der zweite. Das Trommeln wurde lauter, das metallische Klappern der Rüstungen und Waffen drang leise an ihre Ohren.
Die Verfolger hatten stark aufgeholt und waren nicht mehr als vier Pferdelängen entfernt. Noch waren er und die Sklavin nicht bemerkt worden.
»Jetzt kommt es zum Gefecht«, erklärte er Raleeha. Ein blechernes Jagdhorn schmetterte ein Signal. »Sie dreschen aufeinander ein.«
»O großer Radnar!«, entfuhr es Raleeha erschrocken. »Eine von den Gruppen sind Untergebene meines Bruders! Seht Ihr an ihren Rüstungen den gespaltenen Wolfskopf? Bitte, Gebieter, verzeiht mein ungebührliches Verhalten und berichtet mir, was Ihr seht!«
Caphalor überlegte kurz, dann nahm er sein Fernrohr und beobachtete den Kampf. Das Emblem, das sie ihm beschrieben hatte, konnte er deutlich erkennen. »Die Barbaren der kleineren Einheit tragen es«, sagte er. »Es wird dich nicht freuen zu hören, dass sie meiner Ansicht nach mit Sicherheit untergehen werden. Die anderen sind dreimal mehr, sitzen auf den größeren Pferden und haben Waffen mit größerer Reichweite. Kein schöner, aber ein schneller Kampf. Deine Leute werden sich nicht lange gegen das Unvermeidliche wehren müssen.«
»Gebieter«, bat sie mit Zittern in der Stimme. »Ich schwöre, dass ich alles tun werde, was Ihr oder Eure Gemahlin von mir verlangen werdet, wenn Ihr zum Vorteil meiner Leute eingreift!«
Caphalor lachte herablassend. »Das müsstest du ohnehin, Sklavin«, maßregelte er sie.
»Aber ich werde über Euren Tod hinaus Eurer Familie dienen. Jegliche Aufgabe erledigen, die Ihr mir auftragt!«, flehte sie. »Auf … Eure Kinder achten … oder …« Verzweifelt suchte sie nach Diensten, welche sie als Besonderheit anpreisen konnte.
Caphalor sah das Leiden und die Angst um die Kämpfer ihres Stammes in ihrem Gesicht – und sie rührte ihn. Einmal mehr wunderte er sich über sich selbst, denn er empfand Mitleid mit Raleeha, dem törichten jungen Ding. Das darf nicht sein, sie ist eine Barbarin. Und doch hörte er sich selbst sagen: »Ich lasse dich wissen, was du mir schuldest, sobald wir in Dsôn Faïmon angelangt sind.« Das tue ich, um sie endgültig an mich zu binden, rechtfertigte er sich vor sich selbst. Aus keinem anderen Grund.
Caphalor legte das Fernrohr weg, zog den ersten der langen, weit reichenden Kriegspfeile aus dem Köcher und dirigierte den Nachtmahr mit Schenkeldruck, sodass er den Langbogen ungehindert zum Einsatz bringen konnte.
Das Geschoss mit den schwarzen Federn fand sein Ziel, und der erste Barbar fiel tot aus dem Sattel. Der Alb schickte weitere Pfeile mit enormer Geschwindigkeit auf die Reise, die wie kurze schwarze Blitze durch die Luft zischten und Verderben brachten. Noch ehe die Verwirrung über den Beschuss aus dem Hinterhalt sich legte, hatte Caphalor sieben weitere Soldaten getötet. Es blieben noch zweiundzwanzig gegen fünf Krieger, die zur Familie Lotor gehörten. Ich werde mit den Pfeilen haushalten müssen. Falls ich alle töten muss.
Die Barbaren auf den großen Pferden brüllten ihm entgegen. Zehn Mutige preschten auf ihn zu. Dabei nahmen sie ihre Kurzbögen zur Hand und rutschten seitlich an den Pferden herab, um den Leib der Tiere als Deckung zu nutzen.
Eine nett gemeinte List. Bringen wird sie euch nichts. Caphalor wusste, weswegen sie näher ritten: Sie mussten die kürzere Reichweite ihrer Waffen ausgleichen. »Steig ab und tritt rechts von deinem Pferd weg«, wies er Raleeha an. »Sobald es losrennt, drückst du dich flach auf den Boden.« Er legte einen Pfeil auf die Sehne.
Diese Barbaren hatten anscheinend noch keine Erfahrung mit seinem Volk gesammelt, sonst hätten sie einen solchen Versuch nicht gewagt, sondern sich rasch abgesetzt.
Fürchtet mich, ihr Barbaren. Caphalor legte an, die Sehne wurde zurückgezogen, und schon sirrte das erste Geschoss davon. Es durchschlug den Hals des Pferdes schräg und durchbohrte den Mann dahinter, der kreischend zu Boden ging und von den Hufen der Nachfolgenden zerstampft wurde. Albische Kriegspfeile besaßen zu viel Wucht, um sich von Fleisch aufhalten zu lassen.
Bessere Zielübungen, mehr seid ihr nicht. Caphalor tötete weitere Barbaren mitsamt ihren Pferden. Sie stürzten aus vollem Lauf, überschlugen sich und brachten die Pferde und Reiter hinter ihnen in Bedrängnis, während ein Pfeil nach dem anderen sein Ziel fand. Acht hatte er erlegt, ohne auch nur eine Unsicherheit zu zeigen, bevor die verbliebenen zwei umdrehten und flüchten wollten.
Caphalor lächelte kalt. Ihr Armseligen. Der Gedanke kommt euch zu spät. Sie befanden sich in allerbester Schussweite für ihn. Dem Rechten jagte er eine Spitze durch den Hinterkopf, dem anderen durch das Herz. Durch die langen Schäfte mit ihren Pferden fest verbunden, rasten sie den Grat entlang, durch die Gruppe der Kämpfenden.
»Du kannst wieder aufsteigen«, befahl er Raleeha und beobachtete, was die Barbaren taten. Sobald sie saß, ließ er Sardaî antraben, den Bogen in der Hand haltend.
Die Barbaren auf den großen Tieren nahmen schließlich Reißaus, während die überlebenden vier Krieger Lotors zögerlich abwarteten. Es war unmissverständlich klar, dass nur auf die anderen geschossen worden war und nicht auf sie. Aber sie hielten ihre Rundschilde und Beile noch in den Händen.
Nichts, was euch gegen meine Pfeile helfen würde. »Wir nähern uns deinen Leuten«, meldete Caphalor. Für ihn sahen sie aus wie alle anderen Barbaren auch: schmutzig, zu viele Haare im Gesicht und auf dem Kopf, geringe Qualität der Waffen, Rüstungen und Kleidung. Dennoch strotzten sie vor Stolz – obwohl sie nichts besaßen, was dieses Gefühl rechtfertigte. »Sag ihnen, dass sie nichts zu befürchten haben, ehe sie der falsche Mut packt und sie mich angreifen. Das wäre ihre letzte Tat.«
»Ja, mein Gebieter.« Raleeha rief ihnen in einem eigentümlichen Dialekt etwas zu, das er nicht verstand. Es klang schrecklich primitiv.
Noch ein Zeichen des niederen Daseins: Die Barbaren besaßen nicht einmal eine einheitliche Sprache. So viele Sprachen, so viele Interessen gab es unter ihnen. Sie könnten niemals auf Dauer die Macht in Ishím Voróo halten, sogar dann nicht, wenn man sie ihnen schenken würde.
Einer der Männer antwortete, und es klang sehr freudig und ausgelassen, woraufhin die Übrigen ihre Arme in die Luft streckten und laute Rufe von sich gaben. Die Freude, das Leben geschenkt bekommen zu haben, hatte sie überwältigt. Sie ritten heran, und man traf sich auf halber Strecke.
Caphalor bedachte sie mit arrogant-spöttischen Blicken. Er hielt nicht einmal an, sondern ließ Sardaî weitertraben.
Sie ritten neben ihm, staunten ihn unter ihren dichten Augenbrauen hervor an, bewunderten ihn und hatten zugleich Angst in den Blicken. Diese Soldaten hatten von Albae gehört, das stand fest. Sie begriffen nicht, warum sich ein Alb auf ihre Seite gestellt hatte.
Einer von ihnen unterhielt sich mit Raleeha, und er redete heftig auf sie ein.
»Wenn er versucht, dir eine Flucht schmackhaft zu machen, weißt du, was ihnen bevorsteht«, merkte er beiläufig an. »Du wirst mir nicht von der Seite weichen.«
»Gebieter, verzeiht ihm. Er versteht nicht, dass ich Euch freiwillig folge.« Sie klang aufgewühlt und besorgt. »Bitte verzeiht ihnen das Unverständnis.«
»Sage ihnen, dass sie uns nicht weiter folgen sollen. Ansonsten werden meine Pfeile sie treffen.« Allzu viele Pfeile besaß er nicht mehr, doch das wussten die Reiter nicht. Er würde sie auch nicht benötigen.
Die Sklavin redete weiter auf die Männer ein, die lautstark antworteten. Sie versuchten anscheinend noch immer, sie zum Mitkommen zu bewegen.
Caphalor ließ den Nachtmahr und Raleehas Pferd in Galopp verfallen. Einer der Barbaren schloss zu ihnen auf, ritt herausfordernd dicht neben ihm und starrte ihn so lange an, bis der Alb ihm den Kopf zuwandte. Er sah in ein Paar moosgrüner Augen, die ernst und dankbar zugleich blickten. Dann hob der Barbar grüßend die Hand mit dem Beil und ließ sich zurückfallen, der Rest seiner kleinen Truppe tat es ihm gleich.
»Danke, Gebieter«, hörte er Raleeha erleichtert sagen.
Er entgegnete nichts. Weil seine Lippen taub waren und er nicht mehr sprechen konnte.
Das Gift der Alchemikanten schlug an.
Ishím Voróo (Jenseitiges Land), 4370. Teil der Unendlichkeit (5198. Sonnenzyklus), Spätsommer
Anfangs hatte Sinthoras in Betracht gezogen, den Kampf gegen die heranstürmenden barbarischen Soldaten aufzunehmen. Doch fünfzig erschienen selbst ihm – ohne jedes Überraschungsmoment auf seiner Seite – etwas zu viele, zumal sie allesamt kampfbereit und aufmerksam wirkten. Ansonsten hätte es eine Leichtigkeit bedeutet, mit der Übermacht fertig zu werden.
Dann waren sie heran und umstellten ihn. Er stützte sich gegen seinen Speer und lächelte freundlich in die Runde, erweckte einen ruhigen Eindruck.
Die Barbaren hatten erkannt, dass es sich bei ihm nicht um einen Jeembina handelte, wussten jedoch nichts mit seinem Äußeren anzufangen.
Sinthoras fand es erfrischend, als Alb nicht mit Furcht und Misstrauen betrachtet zu werden. Wie große Kinder. Es war an der Zeit, die Barbaren zu lehren, wen sie vor sich hatten.
»Du bist kein Jeembina«, fuhr ihn einer der Barbaren an. Seine Sprache war grässlich, doch er konnte sich wenigstens verständlich machen, und der Alb war nicht auf Verhandlungen mit Händen und Gesten angewiesen.
»Sinthoras ist mein Name, und ich gehöre den Shindimar an«, log er strahlend. Er mied die Bezeichnung Alb, weil die Barbaren durchaus von seinem Volk gehört haben mochten. »Die Jeembina hatten mich gefangen genommen, und als ihr sie angegriffen habt, gelang mir die Flucht.« Er zeigte auf den Wald. »Aber es sind welche von ihnen geflüchtet. Sie trieben einige eurer Soldaten vor sich her.«
Der Barbar übersetzte die Worte und gab sie weiter, woraufhin die anderen Männer mit den Waffen fuchtelten und auf den Weg deuteten, der zwischen die grünen Bäume führte. Die meisten wollten unverzüglich losstürmen, aber manchen stand das Misstrauen ins unansehnliche Gesicht geschrieben.
Bei ihrem Anführer, der die beste Rüstung trug, erkannte Sinthoras Ähnlichkeiten zu Hasban, dem Prinzen der Windsöhne. Er schenkte dem Mann ein breites Lächeln. Bald wirst du deinem Vater folgen, kleiner Barbar.
Und ausgerechnet dieser Mann war es, der den Befehl gab, sich in Bewegung zu setzen. Er lächelte sogar zurück.
»Aber du«, sagte der Barbar zu Sinthoras, »wirst uns begleiten.«
»Sehr gern.« Eine Gasse wurde für ihn geöffnet, und er schritt zusammen mit Hasbans Sohn, dem Übersetzer und den größten Kriegern an die Spitze der Abteilung.
»Du stammst von dieser Seite?«, fragte ihn der Barbar.
»Ja«, log er weiter. »Die Jeembina fingen mich bei der Jagd hier im Wald.« Er nahm mit Freuden wahr, dass die Barbaren nicht wussten, in was sie hineinliefen. Die Bäume selbst waren harmlos, auch die gefährlich aussehenden Blätter bedeuteten keinerlei Gefahr. Doch die hübsch anzuschauenden Phaiu Su daran schon.
Schritt für Schritt ging es in den Wald hinein, der Schnee knirschte unter den Sohlen der Barbaren, während Sinthoras selbst weder Geräusche noch Spuren machte. Diese Lektion werdet ihr nicht vergessen, sofern ihr sie überlebt. Er hielt den Speer locker in der Rechten und verfiel in leichten Dauerlauf, deutete immer wieder warnend nach rechts und links, um die Barbaren glauben zu machen, dass er etwas vernommen hätte. Eine Ablenkung von der eigentlichen Falle, in die er sie tiefer und tiefer führte.
Es dauerte nicht lange, da packte ihn der Fürstensohn am Arm und zwang ihn zum Stehenbleiben; hastig redete er auf ihn ein. Unterdessen bildeten die Krieger einen Doppelkreis und schufen mit ihren Schilden eine zweifache Mauer. Durch schmale Lücken streckten sie ihre langen Schwerter hinaus.
»Mein Herr will wissen«, übersetzte der Barbar, »was du beabsichtigst.«
»Euch zu euren Leuten führen, die in Not sind. Warum bleiben wir stehen?«, drängte er.
»Weil mein Herr keine Spuren erkennen kann«, bekam er die gereizte Antwort. »Unsere Soldaten können ebenso wenig fliegen wie die Jeembina.«
Der Fürstensohn hatte sein Schwert gezogen und richtete die Spitze auf Sinthoras’ Kehle.
Der Alb hörte am Tonfall, dass es eine unmissverständliche Drohung war, die gegen ihn ausgestoßen wurde. »Wir können uns gern zurückziehen«, lenkte er ein und hob die Arme, um zu zeigen, dass von ihm keine Gefahr ausging, was durchaus stimmte.
Beginnen wir den Unterricht. Was keiner der einfältigen Barbaren bemerkte: Seine Speerspitze streifte dabei einen tief hängenden Ast, von dem sich unmittelbar einige Spinnfäden lösten und in einem sanften Windhauch umhertrieben, ohne sich niederzulassen.
»Du wirst uns sagen, warum du uns in den Wald geführt hast!«, verlangte der Barbar drohend, und der Fürstensohn machte einen Schritt auf ihn zu, legte die Klinge an Sinthoras’ Hals. »Du gehörst doch zu den Jeembina?«
»Niemals!«, lachte Sinthoras, blieb betont gelassen und zeigte keine Furcht vor der Schneide auf seiner Haut. »Du weißt, dass es Mittel gibt, Abdrücke zu verwischen. Ich vermag diese Feinheiten zu erkennen.« Er folgte dem malerischen Flug der Silberfäden mit den Augen und achtete weder auf den Fürstensohn noch auf den Übersetzer.
Einer der Fäden senkte sich wirbelnd auf den Helm eines Barbaren, hing ihm bald über den Nackenschutz bis auf den Rücken. Eine sanfte Brise schob das untere Ende hoch, unter das Leder des Helms auf die blanke Haut.
Gleich beginnt es! Sinthoras freute sich auf das, was geschehen würde.
Weitere Gespinste ließen sich auf die unwissenden Barbaren nieder, andere wurden scheinbar zufällig vom Wind umhergeweht, bis auch sie ein Ziel fanden. Die Wärme der Körper leitete ihren Flug, lockte sie an.
In Augenblicken wie diesen war Sinthoras dankbar dafür, dass sein Volk riesige Bibliotheken mit gesammeltem Wissen besaß, in denen er lange gesessen und gelesen hatte. Viele Geheimnisse von Ishím Voróo waren in den Schriften festgehalten, und ein sehr seltenes davon hatte er auf Anhieb erkannt, als er es von den Bäumen hängen sah: Phaiu Su.
Ein Silberfaden trudelte auf ihn zu und wollte sich auf seinem Antlitz niederlassen. Mit einem kurzen, heftigen Pusten lenkte er das Gespinst von sich weg, sodass es dem Fürstensohn ins Gesicht trieb und dort haften blieb.
Der Barbar hob die Hand, um es wegzuwischen – da riss er die Augen weit auf und stöhnte. Gleichzeitig blies sich der dünne Faden auf, schwoll auf Fingerdicke an. So sehr der Mann daran riss, der Faden, dessen Farbe sich von Silber zu Purpur und dann zu Dunkelrot wandelte, bewegte sich nicht.
Schlagartig verlor das Gesicht des Fürstensohns seine Farbe, wurde aschgrau. Das Schwert fiel aus seiner Hand, er sank vor Sinthoras auf die Knie und versuchte noch immer erfolglos, das pulsierende Etwas von sich zu entfernen. Inzwischen ähnelte es mehr einem kurzen Tau.
Tatsächlich. Wie im Buch beschrieben, befand der Alb sachlich und ließ dabei weder die Phaiu Su noch die Feinde aus den Augen. Ohne sein Wissen wäre es ihm ebenso ergangen.
Der Angriff auf den Anführer der Barbaren war das Signal.
Überall saugten sich die Fäden an den überrumpelten Männern fest, sobald sie unbedeckte Haut spürten, und verdickten sich. Das ausgesaugte Blut sorgte dafür, dass sie anschwollen wie pralle Würste. Ihre Opfer fielen nieder, griffen nach den Phaiu Su oder stachen nach ihnen.
Vergebens, ihr Unwissenden. Die Lebewesen, die Spinnweben glichen, sonderten unmittelbar nach dem Biss eine Flüssigkeit ab, welche verhinderte, dass das Blut gerann. Selbst wenn es einem gelang, sie abzureißen oder zu töten, waren die Betroffenen verloren. Die Wunden schlossen sich nicht, der Lebenssaft war viel zu flüssig. Es hat den Anschein, dass keiner von euch die Lektion übersteht.
»Du wusstest es!«, schrie ihn der Übersetzer an und schlug mit dem Schwert zu. »Du hast uns …«
Sinthoras lenkte die Attacke mit einem Handschlag gegen die flache Klingenseite ab, stellte den Speer senkrecht auf den Boden und schlug dem Barbaren pfeilschnell die geballte Faust genau auf den Kehlkopf, sodass er zerquetscht und in die Luftröhre gedrückt wurde. Die Finger des Albs schlossen sich wieder um den Speerschaft, ehe die Waffe zur Seite kippen konnte. Der Übersetzer fiel röchelnd auf die Knie und erstickte qualvoll. »Versteht ihr Einfältigen, weswegen ihr niemals wahre Macht in Händen halten werdet?«, höhnte er.
Um ihn herum starben die Soldaten. Immer mehr Phaiu Su senkten sich auf sie herab, die vom Geruch des Blutes angelockt wurden.
Lasst mir meine Ruhe. Ich habe euch Nahrung gebracht. Sinthoras machte einige Schritte zur Seite und begab sich unter den Schutz eines Baumes, an dem keine Fäden hingen. Zwei, drei Wesen, die er an seiner Rüstung bemerkte, zerrieb er mit den Handschuhen; sie zerfielen wie echte Spinnfäden. Harmlos. Einen schob er sich als Andenken vorsichtig in den Ärmelaufschlag des Mantels. Solange sie mit der Haut nicht in Berührung kamen, richteten sie keinerlei Schaden an. »Komm, mein Kleiner. Sollte Caphalor es lebendig nach Hause schaffen, werde ich dich ihm schenken. Heimlich«, sagte er und sah sich um.
Dem Fürstensohn gelang es, sich den Phaiu Su aus dem Gesicht zu reißen. Das Wesen hatte einen langen, offenen Schnitt hinterlassen, der sich bis zum Hals zog und aus dem Blut sickerte. Der Mann deutete auf den Alb und schrie etwas.
»Verfluchst du mich, kleiner Barbar?« Sinthoras lachte ihn schallend aus. »Ich diene Göttern, deren Segen dir wie ein Fluch erscheinen würde. Wovor sollte ich mich also fürchten?« Mit dem Speer klaubte er treibende Phaiu Su von nahen Ästen und lenkte sie gegen den jungen Mann, der nicht mehr schnell genug ausweichen konnte. Gierig umschlangen drei von ihnen das Gesicht des Barbaren. »Folge deinem Vater. Ich folge meiner Bestimmung.«
Sinthoras verließ die Stelle, wo das Sterben nicht enden wollte, und löste im Vorbeigehen weitere Phaiu Su von den Bäumen.
Die Luft trieb die Gespinste zu den Windsöhnen. Sie würden vollenden, was er begonnen hatte.
So wiederum bereitete das Reisen Vergnügen.
Ishím Voróo (Jenseitiges Land), zehn Meilen nördlich des Albae-Reichs Dsôn Faïmon, 4370. Teil der Unendlichkeit (5198. Sonnenzyklus), Spätsommer
Caphalor sah die Umgebung verschwommen und zweifach.
Das Gift der Alchemikanten entfaltete immer stärker seine Wirkung. Je mehr er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, umso heftiger rollten die schmerzenden Wellen durch seinen Leib. Daran änderten auch die Tarto-Kräuter nichts, die er am Wegesrand gesammelt und gekaut hatte. Sie halfen üblicherweise gegen Vergiftungen, aber das Mittel der Fflecx schien genau auf seinen Körper abgestimmt zu sein.
Das rechte Bein war taub und hätte ihm ebenso gut fehlen können, Caphalor spürte es nicht mehr. Sein Geruchssinn gaukelte ihm vor, dass es nach frisch gebackenem Brot duftete, und das seit Meilen, während er auf der Zunge den Geschmack von Eisen trug. Dieses Durcheinander verwirrte ihn zusätzlich.
Durchhalten, sagte er sich. Ihr Götter, ich muss sie bis zur Grenze schaffen. Danach gebt mir Kraft genug, um wenigstens Munumon zu vernichten. Es war ein Wunsch, an dessen Erfüllung er selbst nicht mehr glaubte. Dafür bereitete ihm das Gift zu viele Schwierigkeiten. Doch vielleicht besaß Samusin ein Einsehen, und die Tarto-Kräuter verzögerten sein Dahinsiechen.
»Gebieter, warum reiten wir plötzlich langsamer?«, fragte Raleeha hinter ihm.
»Dein Pferd«, antwortete er knapp. Die Zunge gehorchte ihm nicht mehr so, wie sie sollte. Aus diesem Grund sprach er so gut wie nicht mehr mit der Sklavin.
Caphalor fühlte eine schreckliche Müdigkeit. Immer wieder fielen ihm die Lider herab.
»Rast«, befahl er schwach und rutschte schon aus dem Sattel. Er musste in die Knie gehen, sonst wäre er gestürzt. Der Bogen glitt ihm aus der Hand; keuchend griff er nach ihm, bekam ihn im dritten Versuch zu fassen und nutzte ihn als Stütze.
»Wie Ihr befehlt, Gebieter.« Raleeha folgte dem Geräusch, den der Bogen machte. Sie standen unter einem kahlen Baum, der keinerlei Schutz vor dem Nieselregen bot. »Gebieter, gibt es einen Unterstand, oder warum habt Ihr den Ort ausgesucht?«, wunderte sie sich und zog die Decke enger um ihre schmalen Schultern.
»Er gefiel mir«, entgegnete er und rutschte an dem Stamm auf den feuchten Erdboden. »Er gefiel mir einfach.« Den Hinterkopf gegen die Rinde gelehnt, schloss er die Augen und dämmerte weg.
Hitze aus dem Innern seines Körpers brachte ihn zum Schwitzen, die Kühlung des Nieselregens kam wie gerufen. Ohne ihn wäre er sicherlich verbrannt.
Das Fieber brachte ihm Träume.
Er sah seine Gefährtin, die ihn lockte und sich vor ihm entblößte, und als er sie umschlang, bekam sie plötzlich Raleehas Antlitz. Ja, die Sklavin besaß unerwartet ein Antlitz , etwas Albisches. Vor den leeren Augenhöhlen trug sie eine Binde aus schwarzen Spitzen, die ihre Anziehungskraft auf unerklärliche Weise betonten. Er beugte sich nach vorn und küsste Raleeha, spürte ihren wohlgeformten Leib unter seinen Fingern, der sich plötzlich in Rauch auflöste.
Nun stand er auf einem Balkon, weit über Dsôn Faïmon, auf dem Beinturm. Die Unauslöschlichen flankierten ihn, und von weit unten jubelten die Massen ihm zu. Sie feierten ihn als Bezwinger von Tark Draan.
»Du hast mich vergessen«, flüsterte eine Frau in sein Ohr, und als er sich umwandte, stand die verbrannte Obboona hinter ihm.
Ehe er die Arme zur Abwehr zu heben vermochte, versetzte sie ihm mit beiden Händen einen Stoß gegen die Brust, und Caphalor stürzte rücklings über die Brüstung.
Der Alb fiel schreiend vom Beinturm, raste vorbei an den Knochen, aus denen das Gebäude errichtet worden war, schrie und schrie … bis ihn jemand an den Schultern auffing. Sein freier Fall endete immer noch meilenhoch über der rufenden Menge, und der Wind umspielte ihn.
»Gebieter!«
Er wollte die Augen öffnen, doch die Lider schienen schwerer als Steine zu sein. Jemand rüttelte an seiner Schulter.
»Gebieter, wacht auf! Bitte! Sie suchen …« Dann schrie Raleeha schrill auf. Aus der Entfernung wieherte Sardaî.
Caphalor erwachte aus dem Dämmerschlaf und blickte sich um.
Die Sklavin wurde von zwei maskierten Gestalten gehalten; drei andere hatten dem Nachtmahr Seile um den Hals gelegt und versuchten, ihn zu bändigen, bevor er die Taue mit seinen scharfen Zähnen zerbiss.
Die Schatten unmittelbar vor sich bemerkte er um ein Haar zu spät. Sein Sehvermögen kehrte zurück, aber nur auf weite Entfernung. Drei Männer, die er verschwommen wahrnahm, standen unmittelbar vor ihm.
»Euer Tod heißt Caphalor.« Er sprang auf, zog die Kurzschwerter und schlug die Klingen gegeneinander, die daraufhin hell summten. »Ihr begingt den unverzeihlichen Fehler, Hand an meine Eigentümer zu legen. Niemand, der Verstand besitzt, versucht, einen Alb zu bestehlen.«
Die Räuber blieben auf ein Zeichen ihres Anführers stehen. Zwar waren ihre Mienen durch die Halstücher vor Mund und Nase nicht genau zu erkennen, doch die Augen verrieten Furcht. Barbaren, dazu noch von ihren eigenen Leuten verstoßene Barbaren. »Wir hielten Euch für tot, Alb«, sagte er und bemühte sich um einen schmeichelnden Ton.
»Ich zeige euch gleich den Unterschied zwischen toten und lebenden Wesen.« Caphalor schleuderte ansatzlos seine Kurzschwerter und rannte im nächsten Augenblick nach vorn. Fast gleichzeitig kam er bei den Menschen an und hielt seine langen Dolche in den Händen.
Die Schwerter durchbohrten den Anführer und den Mann zu seiner Rechten, Caphalor durchtrennte die Kehle des dritten.
Es sirrte.
Das Geräusch brachte Caphalor dazu, den Kopf nach hinten zu ziehen. Die Federn am Pfeilschaft streiften seine Nase, so dicht flog das Geschoss an ihm vorüber.
»Gebieter, Vorsicht!«, erreichte ihn Raleehas Schrei. »Einer muss bei Euch …«
Ein neuer Schemen stand vor ihm, schwang eine Waffe über dem Kopf und drosch mit einem Brüllen zu.
Caphalor wollte ihn Furcht schmecken lassen, doch da fuhr ein Blitz in seinen Schädel. Die Umgebung wurde hell, er roch wieder das frisch gebackene Brot und schmeckte Eisen im Mund. Seine Arme fielen kraftlos herab, und die Beine fühlten sich an, als seien sie aus Glas und würden gleich unter dem Gewicht seines Leibes splittern. Er hörte es sogar schon knistern! Das Gift! Regungslos stand er da und wartete, dass sie barsten.
Der Feind vor ihm erschien als leuchtendes Wesen, das in seinem Angriff stockte. »Was ist denn jetzt mit dem Schwarzauge?«, fragte er lachend.
»Warte nicht lange«, wurde er angeschrien. »Schlag zu, ehe er zu sich kommt.«
Wieder erklang das aufgeregte Wiehern des Hengstes. Das Donnern von Hufen näherte sich, und die Räuber brüllten durcheinander.
Caphalors Sicht normalisierte sich, und er starrte auf die blinde, blutverschmierte Sklavin, die nach ihm suchte, ihn jedoch um viele Schritte verfehlen würde. Wieso ist sie frei? Er brachte kein Wort hervor. Er wusste, was mit ihm geschah: Das Gift der Alchemikanten war gerade dabei, ihn in diesem Wald zu töten. Möglicherweise hatte die Anstrengung des Kampfes die Wirkstoffe angeregt.
Dann fiel ihm die Stille auf, die plötzlich im Wald herrschte. Vor ihm erschien ein vertrautes und zugleich besorgtes Albgesicht. »Caphalor! Da gehe ich einmal ohne dich auf die Jagd …«
Aïsolon! Die Stimme des Freundes wurde leiser, dann vermochte Caphalor nichts mehr zu denken.
Seine Wahrnehmung setzte aus.