Ishím Voróo (Jenseitiges Land), Albae-Reich Dsôn Faïmon, Strahlarm Wèlèron, 4371. Teil der Unendlichkeit (5199. Sonnenzyklus), Winter

Sinthoras hatte sich erhoben, und im gleichen Moment ertönte der Alarm. Ein Irrtum!

Der Blick vom Turm hinüber zeigte ihm, dass er es war, der einem Irrtum unterlag. Aus den Wäldern jenseits des gerodeten Streifens stürmten die Srink. Ihnen preschte ein einzelner Alb auf seinem Nachtmahr entgegen. Um die Fesseln und Hufe zuckten Blitze, und er meinte, das Donnern bis zu seinem Turm hinauf zu hören.

Die Art, wie sich der Alb auf dem Rücken des Tieres bewegte, die beiden Kurzschwerter und die Art zu kämpfen verrieten Sinthoras sehr schnell, wer den Wahnsinn beging, sich allein gegen ein Heer zu werfen: »Caphalor!« Was hat ihn dazu gebracht, dieses selbstmörderische Unterfangen einzugehen? Der besonnene Alb würde nicht ohne außergewöhnlichen Grund so handeln.

Die Leibwächter und zwei Krieger stürmten zu ihm auf die Plattform. »Nostàroi«, keuchte der Soldat, »was sollen wir tun? Nostàroi Caphalor attackiert die Srink!«

»Weswegen tut er das?«

»Das wissen wir nicht. Er wollte die Königin der Srink treffen, um sich mit ihr zu beraten.«

Sinthoras ahnte, dass die Beratung gänzlich anders verlaufen war, als Caphalor es erhofft hatte. Es wäre besser gewesen, ihn zu begleiten. Hätte ich es nur getan, anstatt mich zu verkriechen. »Gebt Alarm. Die anderen Türme sollen sich bereithalten.«

Schon wieder musste er eine Entscheidung treffen. Ließ er die Katapulte feuern, hatte er gegen den Befehl der Unauslöschlichen verstoßen. Tat er es nicht, verloren die Albae einen ihrer größten Helden. Was fast noch schwerer wog, war die Tatsache, dass Caphalor durch seinen Ritt vollends zu einer Legende wurde, gegen die es schwer werden würde anzukommen.

Ohne wesentliche Verzögerung erklangen die Signale von den anderen Inseln, die Mannschaften meldeten ihre Einsatzbereitschaft.

Sinthoras sah Caphalor zu, wie er durch die Reihen der Srink fegte. Sein Nachtmahr stampfte die Scheusale in Grund und Boden und walzte sie nieder. Ohne diesen Hengst wäre er bei aller Schwertkunst schon lange gefallen. Die Srink schienen kein Mittel gegen den rasenden Krieger zu finden und behinderten sich durch ihre Masse selbst in der Attacke.

»Nostàroi, Eure Entscheidung?«, fragte der Soldat nach.

Einer der Gardisten, die Caphalor begleitet hatten, kehrte soeben über die Brücke zurück und wurde von den Soldaten zu Sinthoras geschickt. Auf der Plattform angekommen, berichtete der Mann rasch, was geschehen war.

Aus Liebe also. Sinthoras hätte sich bis vor wenigen Momenten der Unendlichkeit nicht vorstellen können, aus diesem Grund in den Tod zu reiten. Er hätte Caphalor nicht verstanden und ihn einen Narren genannt, der durch seine Rachsucht so vieles aufs Spiel setzte.

Doch seit er Timānris begegnet war, er durch sie unvorstellbare Gefühle hatte kennenlernen dürfen, starke und wundervolle Gefühle, verstand er. Allein die Vorstellung, die Obboona hätte Timānris das Gleiche angetan wie Enoïla, ließ ihn innerlich vor Angst erfrieren.

Sinthoras atmete tief ein und fällte eine Entscheidung.

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Caphalors Bewusstsein war ausgeblendet, ebenso seine Sinne.

Er sah sich von oben, einige Schritte über seinem eigenen Leib, wie er mit den Schwertern um sich schlug und Sardaî durch die Linien der Bestien steuerte. Ihr Blut spritzte weit und hoch, wenn er sie traf. Er selbst hatte etliche Krallen in der Rüstung stecken und wie der Nachtmahr einige Verletzungen davongetragen.

Aber er spürte sie nicht. Vielleicht ist meine Seele bereits im Begriff, aus dem Körper zu weichen. Er stellte sich vor, dass sie hinter seinem Leib herflog, gleich einem Drachen, den Kinder bauten und im Wind steigen ließen. Ein dünnes, unsichtbares Band hielt ihn in der Endlichkeit, bis es reißen würde.

Caphalor hörte ein Rauschen, und dunkelgelber Lichtschein fiel von oben auf die Fratzen der Srink, der rasch intensiver wurde. Gleich darauf schlugen die Feuergeschosse ein, zerbarsten und entluden ihre flüssigen Flammen, badeten die Srink rund um den Alb in Lohen, spülten sie davon und verbrannten sie dabei zu Asche.

In das Rauschen gesellte sich das Schwirren der Pfeile und Speere, die riesige Lücken in das Heer der Ungeheuer rissen. Es erinnerte Caphalor an Kornhalme, die großflächig von starkem Wind niedergedrückt wurden, während der Rest des Feldes stehen blieb.

Die Schützen auf den Turminseln verstanden ihr Handwerk und schufen ihm Schneisen, durch die Sardaî von sich aus sprengte, über die toten oder verbrannten Srink hinweg. Der Nachtmahr geriet nicht ein einziges Mal ins Straucheln, auch wenn er durch Feuerfelder preschte.

Die verbliebenen Srink zogen sich kreischend zurück, eilten auf den Wald zu.

Caphalor schätzte ihre Zahl auf nicht mehr als dreihundert. Sie hatten sich in kleine Gruppen aufgeteilt, sodass sie auf diese Entfernung schwer zu treffen waren, selbst für meisterliche Schützen. Dreihundert von zweitausend. Wie viele er von ihnen eigenhändig niedergemäht hatte, wusste er nicht. Es grämte ihn, dass es Überlebende geben sollte.

Da trat eine weitere Streitmacht zwischen den Bäumen hervor, kurz bevor die Srink das Dickicht erreicht hatten: Caphalor sah die Abordnungen der Barbaren und der Óarcos.

Es war unstrittig, was sie beabsichtigten. Auf die gebrüllten Befehle von Toboribar und Lotor hin rannten die Schildträger den Srink entgegen. Die überlangen Spieße ragten fünf Schritt hervor und verhinderten, dass die Bestien mit ihren gefährlichen Klauen den Kriegern zu nahe kamen. Die Flucht der Srink endete in dem undurchdringlichen Gewirr aus geschmiedeten Eisenspitzen.

Dann soll es heute nicht mein Ende sein? Caphalor befand sich plötzlich wieder in seinem Körper, erlebte die Welt mit all seinen Sinnen und spürte die Schmerzen am ganzen Leib. Die Muskeln schrien nach Rast, die Schnitte verlangten nach Behandlung.

Aber die größte Wunde in seinem Herzen hatte sich nicht mit dem Blut der Feinde füllen und schließen lassen. Caphalor hob den Kopf und sah zu den Nachtgestirnen, flüsterte Enoïlas Namen. Die Götter wollten mich nicht zu dir lassen. Sie fehlte ihm, war unwiederbringlich verloren. Herausgeschnitten. Sie und seine geliebte Tochter 

Er grüßte die Óarcos und die Barbaren, indem er ein Schwert in ihre Richtung hob und senkte, sie neigten die Köpfe vor ihm.

Caphalor lenkte den hinkenden Nachtmahr auf die Brücke zu, zur Turminsel, wo ihn Sinthoras erwartete. Es ist mir gleich, was er dazu sagen wird. Er zügelte Sardaî. »Ich konnte nicht anders«, hob er an.

»Lass deine Wunden versorgen«, sagte Sinthoras verblüffend freundlich.

»Ich muss zu den Unauslöschlichen«, erwiderte Caphalor mit trockener Kehle. Das Blut auf seinem Gesicht, an den Händen gerann allmählich. »Sie sollen erfahren, was ich getan habe. Ich biete ihnen mein Leben, da ich gegen ihre Gebote verstieß.«

»Sei kein Narr, Caphalor«, gab Sinthoras zurück. »Steig ab. Die Unauslöschlichen werden …«

»Ich danke dir für deinen Beistand, aber ich wollte ihn nicht. Mein Leib müsste tot zwischen den Scheusalen liegen, und meine Seele flöge zu Enoïla.« Er lenkte den Nachtmahr an ihm vorbei, ließ ein Schwert nach dem anderen auf die Brücke fallen. »Es macht keinen Sinn«, raunte er. »Nichts macht mehr Sinn. Sie sind tot, Sinthoras. Was soll ich mit ewigem Leben?« Dann rutschte Caphalor aus dem Sattel und schlug, ohne eine Bewegung zu machen, auf den Holzplanken auf.

»Schafft ihn in den Turm und bringt mir einen Heiler«, befahl Sinthoras und sammelte die blutigen Schwerter ein.

Ich weiß, wie du dich fühlst. Der Gedanke, irgendwann einen ähnlichen Verlust ertragen zu müssen, gebar eine schreckliche Angst in ihm. Angst um Timānris.

Jetzt erkannte Sinthoras einen der größten Nachteile der Liebe: die Furcht, die Sorge um die verehrte Person. Wie gut, dass Timānris derart Furchtbares wie Enoïla niemals widerfahren kann. Er würde jede Obboona, der er begegnete, auf der Stelle töten.

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Ishím Voróo (Jenseitiges Land), Albae-Reich Dsôn Faïmon, Strahlarm Wèlèron, 4371. Teil der Unendlichkeit (5199. Sonnenzyklus), Frühling

Caphalor saß im Halbdunkel, im kleinen Offizierszimmer des Inselturmes, und starrte gegen die Wand.

Das Pergament mit dem Siegel der Unauslöschlichen lag ungeöffnet vor ihm, die Nachricht der Höchsten an ihn interessierte ihn nicht.

Er hätte sich – wie Sinthoras – mit den Vorbereitungen für den Zug gegen Tark Draan beschäftigen müssen, sich mit den Befehlshabern treffen, Karten studieren und alles tun sollen, was man sonst im Vorfeld eines ebenso bedeutenden wie gefährlichen Unternehmens tat.

Für mich ist es vorüber.

Er saß im Zimmer, im Halbdunkel.

Seit zehn Momenten der Unendlichkeit schon, ohne zu essen, zu schlafen. Die Augen schienen ausgetrocknet vom Starren gegen die Wand, die er doch nicht wahrnahm. Er sah das Antlitz von Enoïla vor sich, das seiner Tochter. Verloren.

Niemals würde er sich selbst umbringen, so willkommen ihm der Tod auch war. Auf dem Schlachtfeld hatte er ihn gegen die Srink nicht finden dürfen, also würde er ihn anders anlocken. Durch Warten und Nichtstun.

Es klopfte.

Caphalor reagierte nicht.

Es klopfte mehrmals, und schließlich wurde die Tür geöffnet. Sinthoras trat ein, blieb kurz stehen und betrachtete ihn, dann nahm er sich einen Stuhl und setzte sich ihm gegenüber.

»Du hast die Nachricht nicht geöffnet«, sagte er sanft und vorwurfsvoll zugleich.

»Mach du sie auf, wenn du wissen willst, was sie schreiben. Ich hatte ihnen einen Brief zukommen lassen, in dem ich meinen Rücktritt als Nostàroi ankündigte«, antwortete er rau. Das Sprechen war ungewohnt.

»Und warum bist du noch hier?«

»Was soll ich an dem Ort, wo niemand auf mich wartet? Ich kann ebenso hier sitzen.«

Sinthoras seufzte und langte nach dem gerollten Pergament, brach das Siegel und las. »Sie haben deinen Rücktritt abgelehnt«, fasste er zusammen. »Die Unauslöschlichen möchten, dass du deine Aufgabe wahrnimmst, und fühlen mit dir. Du sollst deinen Hass gegen die Elben richten.« Der Alb breitete es vor ihm aus, damit er selbst einen Blick darauf werfen konnte. »Weißt du, dass man in ganz Dsôn Faïmon von dir spricht? Dass sie dich als Helden sehen? Dass alle sagen, du hättest das Richtige getan?«

Verwundert blickte Caphalor auf. »Das Richtige? Die Srink werden am Feldzug nicht mehr teilnehmen …«

»Vergiss die Srink! Die Barbaren und die Óarcos standen dir bei, ohne dass ich es von ihnen verlangte. Sie kamen dir aus freien Stücken zu Hilfe. Die Srink waren ihnen verhasst. Und das Volk trauert mit dir und ist gerührt, nimmt Anteil an deinem Schicksal«, fiel ihm Sinthoras bewegt ins Wort. »Deine Tat ist bereits jetzt schon eine Legende, Caphalor.«

»Was gäbe ich dafür, keine solche Legende zu sein und stattdessen Enoïla bei mir zu haben«, flüsterte er, und schwarze Tränen rannen seine Wangen hinab.

Sinthoras dachte an Timānris, und er fühlte, dass sein Herz schwer wurde. Etwas in seiner Körpermitte stach. »Ich hätte das Gleiche an deiner Stelle getan«, sagte er nach einer Weile und schluckte schwer. »Jeder Alb und jede Albin hätte das Gleiche getan, Caphalor. Du musst Nostàroi bleiben. Die Truppen, sogar die Verbündeten bewundern dich!«

Caphalor sah auf. »Wenn ich dir zuhöre, spüre ich Verständnis in deiner Stimme. Das hätte ich von dir nicht erwartet. Was weißt du von Liebe, Sinthoras? Oder der unendlichen Liebe eines Vaters?«

»Ich kenne das Gefühl noch nicht sehr lange, das gestehe ich. Aber ich kenne es«, antwortete er zu seinem eigenen Erstaunen. Er nahm Caphalor die offenen Worte nicht übel. »Früher hätte ich mir deinen Verlust nicht vorstellen können. Heute …« Er ließ den Satz unvollendet.

Caphalor nahm das Pergament auf, sah die Handschrift von Nagsor Inàste. »Mein Unheil begann mit dem Feldzug gegen Tark Draan«, grollte er. »Einen Feldzug, den ich niemals für gut hieß. Den ich niemals wollte und verstand. Er hat mir alles genommen.« Achtlos ließ er das Schreiben fallen, es landete mit einem leisen Knistern neben seinem rechten Stiefel. »Das ist mehr als Ironie. Selbst Samusin wird keinen Ausgleich finden.« Er richtete den Blick wieder gegen die Wand und verfiel in Schweigen.

Sinthoras wusste nicht, was er sagen sollte. Er blickte auf die Dielen, auf das Pergament. Woanders wurden Dinge, die in Berührung mit den Unauslöschlichen gekommen waren, verehrt. Hier endeten sie zu den Füßen neben Dreck und Staub.

Er erhob sich. »Besinne dich, Caphalor. Besiege den Schmerz und ziehe zu Ehren von Enoïla in die Schlacht«, verabschiedete er sich und ging zur Tür.

»Es macht sie nicht mehr lebendig«, erwiderte Caphalor düster, ohne ihn anzuschauen. »Zu Tion mit Ruhm, Ehre und der Unendlichkeit.« Er schloss die Lider.

Sinthoras seufzte erneut und verließ die Kammer. Er würde es mit der nächsten Sonne wieder versuchen, bis er den Alb aus seiner trüben Stimmung gerissen hatte.

Während er – umgeben von seiner Garde – durch die schmalen Gänge der Turminsel schritt, dachte er daran, dass er den Unauslöschlichen sogar ein Schreiben gesandt hatte, in dem er um Milde für Caphalor gebeten hatte. Auch eine Sache, die früher undenkbar gewesen wäre.

Timānris veränderte ihn. Ist das gut? Er hoffte, dass er sich mit dieser ungekannten Weichheit noch gegen seine politischen Widersacher zu behaupten vermochte. Ich muss härter auftreten. Wenn sie es merken, fallen sie über mich her.

Caphalor hatte ihn auch zum Nachdenken über die Unendlichkeit gebracht. Bislang hatte er sich niemals Gedanken darüber gemacht. Albae lebten ewig, und jeder Alb war durch Inàste gegenüber anderen Rassen erhöht worden. Auch der Tod war demnach etwas Besonderes, wenn er nicht gewaltsam daherkam. Angeblich sehnten sich sehr alte Albae nach ihm, doch Selbstmord gab es nicht. Ein Alb lebte ewig, wie die Unauslöschlichen.

Sinthoras überlegte, wie viele Teile der Unendlichkeit der Älteste zählte, den er kannte. Etwas über zweitausend, und wenn man ihn sieht, hält man ihn höchstens für acht- oder neunhundert. Er lebte in Dsôn, handelte mit Kunst. Er war so alt, dass niemand wusste, was er vorher getan hatte.

Was würde ein solches Leben ohne Timānris zählen? Ich werde alles tun, um sie zu beschützen. Seine Vernunft versuchte verzweifelt, ihn zu einer Heirat mit Yantarai zu bewegen, doch ihre Stimme wurde immer schwächer.

Er ritt zurück ins Feldlager, genau auf das grüne Besprechungszelt zu. Dorthin waren die Karten der Umgebung des Steinernen Torwegs und Aufzeichnungen über Tark Draan gebracht worden.

Dass es so wenig darüber gibt, hätte ich niemals vermutet. Gerüchte, Halbwahrheiten, Kunde von Händlern, mehr nicht. Daraus einen passenden Angriffsplan zu schaffen, gestaltete sich als äußerst schwierig. Ebenso gut kann man blindlings einen Pfeil in den Wald schießen und hoffen, dass man einen Hirsch erlegt. Es konnte geschehen, aber es war mehr als unwahrscheinlich. Die Untergründigen achten offenbar sehr genau darauf, dass keine fremden Rassen durch die Durchlässe der Berge gelangen, egal ob sie friedlich oder kriegerisch daherkommen.

Sinthoras stieg vor dem gigantischen Zelt ab und betrat es. Die Größe war deswegen notwendig, um die Oger, Trolle und Riesen darin beherbergen zu können.

Er sah Lotor, er sah Toboribar und grüßte mit einem Nicken in die Runde. Diener rollten die Karten auf dem Tisch aus. »Es verhält sich so«, begann er, »dass wir auch auf euer Wissen zum Steinernen Torweg zurückgreifen werden. Nennt mir, was ihr über die Höhe und Dicke der Mauern, die Beschaffenheit der Felsen, das Graue Gebirge und das Tor wisst«, zählte er auf. »Ich lasse alles von den Schreibern aufzeichnen, um unser Wissen damit zu ergänzen.« Sollen sie glauben, dass wir die meisten Geheimnisse kennen. Er zeigte auf die Riesin. »Fang an.«

Gattalind machte ein fragendes Gesicht. »Na, es gibt das Tor. Und es ist groß«, redete sie stockend. »Größer als mein Volk. Höher, meine ich.« Sie kratzte sich am Kopf. »Aus Stein. Mehr weiß ich nicht.«

Sinthoras lächelte, doch er war unzufrieden. Die Götter mögen uns beistehen, wenn es nicht ergiebiger wird. Er versuchte, seine Enttäuschung zu verbergen. »Toboribar, willst du uns mit dem Wissen der Óarcos erleuchten?«

Ein Soldat huschte ins Zelt und steuerte auf ihn zu. »Nostàroi, Ihr werdet erwartet«, flüsterte er ihm zu, damit keiner sonst ihn hörte.

»Noch eine Delegation?«

»Ein Gålran Zhadar.«

Sinthoras wurde eiskalt. Was tun? Schlimm genug, dass er überlebt hatte. Aber dass er sich aus seiner Himmelsfestung aufgemacht hatte, um die Diebe zu stellen, übertraf Sinthoras’ Vorstellungskraft. »Ist er allein?«

»Ja, Nostàroi.«

»Was will er?« Er sah zu Toboribar. »Sprich freiweg. Die Schreiber werden kein Wort ungehört verstreichen lassen«, sagte er laut.

»Er wollte Euch sprechen, Nostàroi. Und Nostàroi Caphalor.«

Er wird seine Phiole haben wollen oder Ersatz verlangen. Ein ungünstiger Moment. Sinthoras erhob sich. »Verzeiht«, sagte er im Gehen. »Es gilt, einen Gast zu empfangen.« Er sah die Neugierde auf den Gesichtern, doch er machte keine Andeutungen. Ein Gålran Zhadar außerhalb seines Bollwerks würde in ihren Augen nur eines bedeuten: Ärger. Sehr viel Ärger.

Vor dem Zelt stand der gerüstete Gålran Zhadar; die beiden Kriegshämmer staken in einem breiten Gürtel rechts und links der Hüfte. Er wirkte ruhig und nicht auf Zwist aus. Sinthoras atmete etwas auf. Nur etwas. Hinter dem zwergenähnlichen Geschöpf standen drei Packpferde mit Säcken auf dem Rücken und im Tragegeschirr.

Der Gålran Zhadar schaute sich betont langsam um, als wolle er spionieren und sich alles einprägen. »Die Unauslöschlichen machen in der Tat ernst mit ihrem Vorhaben«, sagte er anstelle eines Grußes; die dunkle Stimme brachte Sinthoras’ Eingeweide zum Schwingen. »So ziemlich alles, was zu kämpfen versteht, sammelt sich und bespricht sich mit euch.« Nun erst richtete er die Augen auf ihn. »Du bist zu einem Nostàroi aufgestiegen, wie man mir sagte. Ein hoher Lohn für einen Dieb

Sinthoras stellte den Speer auf, der einst Eigentum des Gålran Zhadar gewesen war. »Es ist kein Unrecht, einen Dieb und Räuber zu bestehlen«, gab er versucht gelassen zurück. »Von einem wie dir lasse ich mir keine Vorwürfe machen.«

»Ich nehme nicht an, dass ich mein Eigentum zurückbekomme?«

»Nein. Deine Leute versuchten es bereits zwecklos.«

Lässig legte der Gålran Zhadar die breiten Hände gegen die Hammerköpfe. »Ich habe es auch nicht ernsthaft erwartet.«

»Dann möchtest du etwas von mir und Caphalor?«

»Wissen, wer derart töricht gewesen ist, dem Dämonenwesen die Phiole zu opfern.«

»Das geht dich nichts an.« Sinthoras beabsichtigte nicht, seine Tat zu gestehen, die keine absichtliche gewesen war. Ich bin unschuldig. »Was hat es damit auf sich?«

Nun stutzte er. »Du willst mir einen Óarco aufbinden, Alb!?« Der Gålran Zhadar legte den Kopf in den Nacken und stieß ein durchdringendes Gelächter aus, dass die Zeltwände der Umgebung bebten. »Woher solltest du denn gewusst haben, was du mitnimmst?«

Da Sinthoras sich keinerlei Blöße geben wollte, rettete er sich in ein »Das geht dich nichts an«. Sag schon, was es mit dem Inhalt des Behältnisses auf sich hatte. Ihm fiel kein Weg ein, wie er dem Gålran Zhadar die klärenden Worte entlocken konnte, ohne sein Unwissen zu verraten. Der hat mich sicherlich schon lange durchschaut.

»Nun«, sagte sein Gegenüber und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln, »das ist sehr spaßig. Verhängnisvoll für alle Rassen und Völker, die hier leben, aber spaßig. Es ist wirklich das Beste, wenn du ihn nach Tark Draan schaffen kannst. Sonst wird Ishím Voróo vergehen. Und mit ihm das Sternenreich der Albae.« Er grinste, als er das sagte. »Vergessen wir die Phiole. Wie weit sind die Kriegsvorbereitungen gediehen?«

Sinthoras wurde nicht schlau aus den Worten, doch er fühlte eine unheimliche Beklemmung. Eine Beklemmung, die ihm sagte, dass der Gålran Zhadar nicht log. »Was willst du, wenn du nicht daran glaubtest, dein Eigentum zu erlangen?«

»Dir und Caphalor als Nostàroi einen Handel vorschlagen«, kam es unverzüglich aus seinem Mund. »Ich kenne eine Schwachstelle in der Verteidigung des Steinernen Torwegs.«

»Du

»Die Albae sind nicht die einzigen Wesen, die sehr, sehr lange leben. Vielleicht bin ich sogar älter als die Unauslöschlichen?« Offensichtlich machte er sich einen Spaß daraus, den Alb zu reizen. »Ich konnte viel erfahren und viel in die Wege leiten.«

Es wird vermutlich aufschlussreicher sein als das Gewäsch des Abschaums im Zelt. »Was für eine Schwachstelle soll das sein?« Sinthoras blieb wachsam. Die Gefährlichkeit seines Gegenübers war ihm wohl bewusst.

Der Gålran Zhadar rieb sich den Bart mit der Rechten. »Du erkennst mit deinen beiden Augen, dass ich einem Zwerg recht ähnlich sehe. Mir gelang es, einen meiner Vertrauten bei den Unterirdischen einzuschleusen. Ich dachte mir, es sei ein guter Einfall, falls ich eines Tages – oder eines Moments der Unendlichkeit, wie ihr es nennt – nach Tark Draan möchte, ohne aufgehalten zu werden. Diesen Vorteil würde ich euch nun gewähren.«

Hüte dich vor seinen Behauptungen. Sinthoras musterte den Gålran Zhadar eindringlich. »Wie kann ich ergründen, dass es stimmt, was du sagst?«

»Indem ich dir erzähle, dass das Tor am Steinernen Torweg mit fünf magischen Riegeln gesichert ist, die sich nur mit einer besonderen Formel öffnen lassen. Ich hindere dich nicht daran, dich an den Nordpass zu begeben und zu versuchen, einen Blick auf den Durchlass zu bekommen, der dir die Wahrheit offenbart.« Er grinste den Alb an. »Ach, es gibt nur sehr wenige, die diese Formel kennen. Rate, wer sie kennt, Alb.«

»Und als Belohnung dafür möchtest du was haben? Ein eigenes Königreich in Tark Draan? Oder in Ishím Voróo?« Sinthoras sah die Möglichkeit, bei aller Vorsicht einen Vorteil für sich zu erringen. Nach Caphalors Ritt und der Sache mit Robonor war sein Ansehen nicht weiter gestiegen.

Wieder lachte der Gålran Zhadar. »Alb, wenn ich ein Königreich oder ein Stück Land haben will, dann nehme ich es mir. Dazu benötige ich keinerlei Erlaubnis. Um es laut auszusprechen: Ich bin meiner Festung überdrüssig und will Neues erfahren. Aber ich kenne Ishím Voróo in- und auswendig.« Er lehnte sich nach vorne. »Gewähre mir Einlass nach Phondrasôn.«

Sinthoras wusste im gleichen Moment, dass er wie ein Geistesgestörter dreinschaute, als er sein Antlitz verzog. Phondrasôn? Das unterirdische Reich bedeutete eine Steigerung von Faustrecht. Wer sich hineinwagte, war verzweifelt und wollte im Kampf sterben, befand sich auf der Flucht oder musste eine Mutprobe bestehen. Es stellte eine Art Gefängnis, Verbannung für alle möglichen Rassen dar, das über mindestens sieben Zugänge verfügte.

Der Gålran Zhadar freute sich an der gelungenen Überrumpelung. »Ich weiß, dass ihr die jüngsten von euch dorthin entsendet, um als Mann und Krieger zurückzukehren – oder gar nicht«, sagte er. »Ihr und viele andere schiebt eure gefährlichsten Verbrecher dorthin ab.«

»Und es ist dein Wunsch, dahin zu gehen?« Sinthoras dachte an den Hort, an dem die widerlichsten Kreaturen lebten und den niemand erkundet hatte, weil er zu gefährlich, zu tödlich war. Für die Unauslöschlichen kam es nicht infrage, ein Heer zu opfern, um unterirdische Hallen zu erkunden und zu kartografieren, die nichts wert waren.

»Ja. Der Eingang zu Phondrasôn ist erstens verborgen und zweitens sehr gut bewacht und mit unzähligen Fallen gesichert. Ich gebe es zu: Ich kann nicht ohne die Einwilligung von euch dorthin gelangen.«

Sinthoras sah den Irrgarten aus Höhlen, Gängen und Schluchten, geschaffen von Wasser und den Werkzeugen der Verbannten, wieder vor sich. Er war damals nicht weit vorgedrungen und hatte sich gegen unzählige hungrige Óarcos und zwei echsengleiche Geschöpfe wehren müssen, ehe er mit knapper Not zu seinen Eltern als Krieger zurückgekehrt war. »Nach Phondrasôn«, wiederholte er ungläubig. »Du willst dein Leben gegen den sicheren Tod eintauschen?«

»Das lass meine Sorge sein. Außerdem möchte ich Langeweile gegen die Herausforderung eintauschen.« Der Gålran Zhadar rieb sich an der Nase. »Was meinst du? Bekomme ich den Zugang im Austausch für den Namen meines Spions bei den Zwergen vom Stamm der Fünften? Ich kann in die Wege leiten, dass er am Tag eures Angriffs am Tor sein wird.«

»Ich meine, dass es zu unsicher ist.« Sinthoras täuschte vor, nicht interessiert zu sein. In Wirklichkeit ist es ein Angebot, das mich nichts kostet. Es bedeutete auf jeden Fall eine zusätzliche Option, das Bollwerk der Unterirdischen in die Knie zu zwingen, falls die Kraft der Riesen und Oger nicht ausreichte.

»Dann erweitere ich meine Offerte«, sagte der Gålran Zhadar überraschenderweise. »Es gibt bei den Verteidigern wohl einige Gasquellen, die sie bisher nicht entdeckt haben. Mein Spion wäre in der Lage, einige von ihnen so zu lenken, dass sie in die bewohnten Stollen blasen und sie krank machen.«

Sinthoras wurde aufmerksamer. »Ist das alles?«

»Du bekommst den Torweg von mir fast kampflos überreicht, Alb!«

»Wenn es die Wahrheit ist, die du sprichst. Außerdem sind die Unterirdischen zäher, als du denkst. Sie werden das Gas gewiss überstehen.« Du hast bestimmt noch mehr zu bieten.

Der Gålran Zhadar spitzte die Lippen. »Ein Dieb und dazu noch unverschämt.«

»Du möchtest nach Phondrasôn, nicht ich.« Sinthoras blickte gleichgültig auf die Spitze des Speers.

»Mein Vertrauter führt eine Rezeptur der Fflecx mit sich. Er kann ihr Wasser verunreinigen. Bis sie herausgefunden haben, was der wirkliche Grund ist, dürfte der Angriff erfolgt sein.«

Sinthoras sah ihm wieder ins Gesicht und lächelte. »Es geht doch.«

Alles in allem klang es für ihn nicht danach, als hätte sich der Gålran Zhadar das Ganze nur ausgedacht. Der geforderte Lohn wiederum schien gering zu sein. »Ich rede mit meinen Herrschern. Du wartest am besten in einem der Zelte, bis ich dir sage, wie sie sich entschieden haben.«

»Warte nicht zu lange. Der Dämon ist auf dem Weg hierher.« Er zwinkerte Sinthoras zu. »Man erzählt sich, dass du derjenige wärst, der Macht über ihn hat und ihm befiehlt. Aber ich sage dir, dass du dich einem Trugschluss hingibst. Du hast die Phiole zerbrochen und etwas entfesselt, Alb!« Er kicherte. »Und du hattest keine Ahnung, was du anrichtest. Da hatte einer deiner Götter einen sehr schlechten Tag, als er deine Hand und deine Schritte führte.« Der Gålran Zhadar ging zu den Packpferden und schnitt die Säcke auf.

Die Leichen von Fflecx purzelten heraus und fielen auf den Boden. Ihre Körper waren teilweise verwest und aufgedunsen, und aus den Löchern in ihren Leibern strömte schwarzes, stinkendes Blut. Das war nicht üblich.

»Siehst du, was der Dämon mit den Schwarzgnomen angerichtet hat?«

»Sie umgebracht. Das ist nichts Neues«, erwiderte Sinthoras.

»Und sie wiederbelebt. Seine Bosheit durchdringt das Erdreich, vergiftet den Grund, das Wasser, die Pflanzen und Tiere.« Der Gålran Zhadar blickte auf die Kadaver. »Dass sie sich nicht mehr rühren, bedeutet, dass seine Macht noch nicht bis hierher vorgedrungen ist. Gut für euch, Alb. Doch er wandert schnell. Die Fflecx hat er sich bereits bis auf Munumon und eine Handvoll Getreuer einverleibt. Wenn diese Burschen da ihre Augen aufschlagen und sich erheben, dann weißt du, wie weit er vorgedrungen ist. Sag das deinen Herrschern und spute dich. Weder sie noch ich besitzen die Macht, den Dämon aufzuhalten. Nicht mehr

Sinthoras wusste, warum er das letzte Wort so eigenartig betont hatte. Die vermaledeite Phiole. »Mir gehorcht er«, sagte er trotzig.

»Nein. Von dir lässt er sich rufen.« Der Gålran Zhadar wandte sich um und hielt auf das Zelt zu, das ihm der Alb als Unterkunft gezeigt hatte. »Spute dich«, wiederholte er und klang dabei wieder sehr fröhlich. Und schadenfroh.

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Ishím Voróo (Jenseitiges Land), Albae-Reich Dsôn Faïmon, Strahlarm Wèlèron, 4371. Teil der Unendlichkeit (5199. Sonnenzyklus), Frühling

Weswegen dauert es so lange? Caphalor hatte sich noch immer nicht gerührt.

Er war abgemagert, ein Schatten jenes Helden, den das Volk des Albae-Reichs kannte. Sonnen und Monde verbrachte er in der Kammer des Inselturmes, während die Vorbereitungen des Feldzuges von Sinthoras allein vorangetrieben wurden.

Der Alb saß vor ihm, wie er es oft tat, und berichtete ihm von den Fortschritten, vom Auftauchen des Gålran Zhadar, von ihren Plänen, von der Antwort der Unauslöschlichen auf das Angebot.

Caphalor starrte einfach nur gegen die Wand und hörte zu, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Weswegen dauert es so lange? Er wartete auf den Tod.

Aber es hatte den Anschein, als kümmere sich die Vergänglichkeit nicht um ihn, als meide sie ihn und schlage einen Bogen, nur um ihm zu beweisen, dass er den Augenblick seines Todes nicht selbst in der Hand hielt. Caphalor hob den Arm, bewegte ihn. Ich fühle mich nicht einmal schwach!

Ärger schoss in ihm hoch, Wut auf den Tod, der ihn foppte und ihm die Rückkehr zu seiner Familie verweigerte.

Dann vernahm er etwas, was ihn doch dazu brachte, nicht länger die Mauer anzustarren, sondern die Augen auf Sinthoras zu richten.

»Wir haben herausgefunden, wie die Obboona unbemerkt nach Dsôn gelangte«, sagte der Alb und zuckte zusammen, als sich Caphalors Kopf ruckartig umwandte. »Eine Wachmannschaft hat es versäumt, die im Graben treibende Insel aus Schwimmgras rechtzeitig zu überprüfen. Unter diesen Matten gelangten sie und eine Handvoll Srink auf das andere Ufer.«

Caphalor biss die Zähne fest zusammen. Sie hatten es in der Hand, ihren Tod zu verhindern! Samusin, töte sie dafür! »Schlamperei hat Enoïla und meine Tochter das Leben gekostet?«, sprach er heiser. Seine Stimme war belegt, da er sie lange nicht mehr genutzt hatte. »Es ist die Pflicht der Inseltürme, jegliches Treibgut in Brand zu stecken und zu versenken!«

»Ich weiß. Sie taten es auch, nur zu spät. Wir haben die Mannschaft bestraft.«

»Mit dem Tod?«

Sinthoras schwieg, bevor er ansetzte: »Du musst verstehen, dass …«

»Womit habt ihr sie dann bestraft?«, schrie Caphalor. »Habt ihr ihnen das Liebste genommen, was sie sich denken können? Ihnen das Herz herausgeschnitten und sie zum Weiterleben gezwungen?« Stünden sie vor mir, ich würde sie erwürgen!

»Sie wurden verbannt, Caphalor. Schwerer hätte sie es nicht treffen können.«

»Doch«, grollte er wütend. »Sag mir, wo ihre Familien leben, und ich …« Er brach ab, sein Antlitz zeigte Erschütterung. »Siehst du, was die Obboona mir angetan hat? Mich dürstet nach dem Blut meines eigenen Volkes.«

»Ich mache dir keinen Vorwurf. Ich kann es nachvollziehen.«

Lange Zeit blieben sie stumm. Caphalor rang seinen Zorn nieder und sah Sinthoras an. »Wieso haben die Unauslöschlichen noch niemanden gesandt, der mir die Nachricht von meiner Enthebung überreichte?«

»Weshalb glaubst du, dass sie das tun sollten?«

»Weil ich mich um nichts kümmere. Weil ich mich nicht um den Krieg schere und alles dir überlasse. Held hin oder her, ich tauge nichts.« Er bemerkte das Flackern in Sinthoras’ Blick – und verstand. »Du deckst mich?«

»Sagen wir, ich lasse sie nicht wissen, wie es dir ergeht und …«

Caphalor lachte bitter. »So weit ist es gekommen. Einst waren wir Rivalen, nun schenkst du mir aus Mitleid das Amt des Nostàroi. Tust du das, um dich selbst in einem helleren Licht erstrahlen zu lassen, oder genießt du es, mich eines Splitters der Unendlichkeit zu demütigen und mich zu überflügeln?«

»Wenn ich das wollte«, Sinthoras erhob sich, »hätte ich es schon lange tun können. Du gehörst auf den Rücken deines Nachtmahrs, ins Gefecht gegen Tark Draan, Caphalor.« Er öffnete die Tür. »Und ich glaube, dass der Tod ebenso denkt wie ich. Sonst hätte ich dich schon längst leblos vorgefunden.« Er schloss die Tür von außen.

Caphalor starrte in das Halbdunkel und wartete darauf, dass sich ihm etwas erschloss, aus dem er Kraft schöpfen konnte. Oder den Mut, das Unaussprechliche zu tun. Seine linke Hand schloss sich um den Dolch, die Schneide glomm matt auf und reflektierte das schwache Licht.

Sich das Leben selbst zu nehmen, die göttliche Unsterblichkeit zu rauben, galt als ein schwerwiegendes Vergehen. Sein Name würde auf der Tafel der Schmach geschrieben stehen und für die Ewigkeit dort bleiben, mit Flüchen beladen und von allen Albae gehasst.

Davor ist selbst ein Held wie ich nicht gefeit. Caphalor wog die vertraute Waffe in der Hand. Sie hatte das Leben vieler Feinde genommen, nun stand sie kurz davor, edles Blut zu vergießen. Ich bin gespannt, was du dann tust, Tod, dachte er und musste lächeln. Du kannst nicht ewig an mir vorübergehen. Er setzte die Spitze auf Herzhöhe an.

Es klopfte.

»Geh weg, Sinthoras!«, schrie er. »Ich bin deine ständigen Berichte leid!«

»Hier ist nicht Sinthoras«, sagte eine Albinnenstimme. »Mein Name ist Timānris. Ich muss Euch dringend sprechen, Nostàroi.«

Was schadet es, sie mir anzusehen, bevor die Endlichkeit mich einholt? Caphalor war neugierig, wie diejenige Albin aussah, die Sinthoras in ihren Bann geschlagen und ihm Liebe gebracht hatte. Langsam senkte er den Dolch. »Herein. Aber fasst Euch kurz.«

Die Tür schwang auf, und sie trat ein. »Ich störe nicht lange.« Ihre Schritte verlangsamten sich, als sie ihn sah und die Verfassung erkannte, in der er sich befand. Ihre Blicke richteten sich auf den Dolch, und ihre Augen weiteten sich für ein, zwei Herzschläge. »Ihr seht nicht …«

»Ich weiß, wie es um mich bestellt ist«, unterbrach er sie unwirsch. »Was wollt Ihr?«

Timānris verneigte sich. »Ich bin hier, um Euch darum zu bitten, mir Eure Sklavin Raleeha zu verkaufen.«

Seine Augenbrauen zuckten in Richtung Nasenwurzel. »Wie kommt Ihr auf Raleeha?«

»Ich traf sie zufällig und sah ihre Arbeiten, Nostàroi. Sie besitzt für eine Menschenfrau außergewöhnliches Talent, und trotz ihrer Blindheit hat sie etwas erschaffen lassen, was kaum jemand nacharbeiten kann.« Sie trat nach vorn und legte ihm ein dickes Pergament auf den Tisch. Es zeigte eine eingekratzte Szene aus einer Albae-Stadt. Die Feinheiten waren verblüffend genau. »Wie viele blinde Albae kennt Ihr, die so etwas vermögen?«

Ich habe sie in meinem Gram vergessen. Dafür schämte er sich. Nun war er wenigstens in der Lage, der Sklavin ein gutes, neues Zuhause zu verschaffen. Caphalor verriet nicht, dass Raleeha auf einem Auge vielleicht wieder sehen würde. »Ich kenne keinen einzigen«, gab er zurück. »Ihr wollt Raleeha?«

»Ja. Sie muss gefördert werden.«

»Sie ist eine Sklavin!« Er lachte. »Warum solltet Ihr das tun?«

»Sie ist eine Menschenfrau, die sich freiwillig in die Dienste eines Albs begeben hat. Er verkaufte sie an Euch, und ich möchte sie von Euch erlangen«, stellte Timānris richtig.

»Folge ich Euren Worten, würde ich eine Barbarin verkaufen müssen, die nicht als mein Eigentum zu betrachten ist«, sagte er und sah die Albin nicken. Er verstand, weswegen Sinthoras sie anziehend fand, doch keine konnte es mit Enoïla aufnehmen. »Dann fragt Raleeha selbst. Ich gebe sie frei.«

Timānris wirkte überrumpelt. »Nostàroi, ist das Euer Ernst?«

»Durchaus: Ich gebe sie frei.« Er zog das Pergament heran, nahm Feder und Tusche aus der Schublade und krakelte auf die Rückseite, dass er keinerlei Ansprüche auf Raleeha erhebe. »Ihr habt mit Eurer Ansicht recht. Wenn sich Raleeha Euch anschließen möchte, sollt Ihr sie bei Euch aufnehmen.« Er schob das Blatt zu ihr.

Sie verneigte sich. »Meinen Dank, Nostàroi.« Timānris deutete auf den Dolch. »Tut es nicht. Ihr vernichtet mehr als ein Leben.«

Caphalor bemühte sich um ein schwaches Lächeln. »Ihr meint, mich mit drei Worten von einem lange durchdachten Entschluss abbringen zu können?«

»Abgesehen davon, dass es das Volk enttäuscht und es einen Helden verliert, zu dem es aufsehen konnte, bestraft Ihr mit Eurem Tod den Falschen.«

»Ach?« Er richtete sich im Stuhl auf. »Ich tötete die Mörderin meiner Familie, doch ich fühlte keine Genugtuung. Wen soll ich noch abschlachten, dass es mir besser ergeht? Wie viele Schuldige kann es noch geben? Sterbe ich, verschwindet mein Schmerz.«

Timānris hob langsam die Schultern und ließ sie wieder sinken. »Das vermag ich nicht zu sagen, Nostàroi. Weder kann ich Euch Trost versprechen noch Aufmunterndes sagen. Aber tut es nicht. Findet einen Gedanken, der Euch Lebensmut gibt, und klammert Euch daran, bis Ihr etwas Besseres gefunden habt. Oder eine neue Liebe.« Sie nahm das Pergament.

»Neue Liebe?« Er katapultierte sich förmlich aus dem Stuhl und riss den Dolch hoch, als wolle er sich auf sie stürzen. »Wie könnt Ihr es wagen, von neuer Liebe zu sprechen? Ihr kanntet Enoïla nicht! Niemand kommt ihr gleich, hört Ihr?« Er zeigte auf die Tür. »Hinfort! Nehmt Euch Raleeha und verschwindet!«

Timānris ging rückwärts, die Augen auf den Dolch in seiner Faust gerichtet. Ohne ein weiteres Wort verließ sie die Kammer.

Wäre ich nur schon tot! Caphalor wartete, bis sie gegangen war, und schleuderte den Dolch mit aller Kraft gegen die Tür, um seinen Aufruhr ausbrechen zu lassen; die Klinge drang bis zum Heft in das Holz ein.

Er warf sich auf den Stuhl, ballte die Finger zu Fäusten, stützte den Kopf darauf und hämmerte sich mehrmals gegen den Schädel. Einen Gedanken, der mir Lebensmut gibt, um mich daran zu klammern 

Mein Ungemach, mein Unglück begann mit dem Feldzug gegen Tark Draan. Dem Feldzug, den ich niemals wollte. Dann, unvermittelt, sprang ihn der rettende Gedanke an: Ich will meine Wut, meine Trauer im Blut des Landes ertränken, das mir Gefährtin und Tochter nahm. Tark Draan soll ausgemerzt werden. Jeder Greis, jedes Kind muss für Enoïla fallen. Er klammerte sich an diese Eingebung, suchte den Sinn für sich darin. Tark Draan war der Schuldige. Tark Draan und die feigen Elben, die sich verkrochen hatten! Erst wenn beide nicht mehr existierten und er bis dahin in keiner Schlacht gefallen war, würde er Hand an sich legen. Dann hat Enoïla ihre Ruhe und meine Seele ihren Frieden.

Caphalor ließ die Arme sinken, die Hände entkrampften sich. Langsam erhob er sich, ging zum Fensterladen und stieß die Flügel auf, um das Licht der Nachtgestirne hereinzulassen und die kühle Luft einzuatmen.

Mit jedem Atemzug, der frisch in seine Lungen strömte, verfestigte sich sein Vorhaben. Laut rief er nach einem seiner Diener und ließ sich etwas zu essen und zu trinken bringen. »Und sage Sinthoras, dass ich morgen an seiner Seite sein werde«, rief er ihm nach.

Der Alb legte seine Rüstung an, spürte das vertraute Gewicht. Das Leben kehrte zu ihm zurück, auf dass er den Tod brachte. Ich werde der grausamste, unerbittlichste Feind der Elben und aller Völker sein, die ihnen beistehen. So lautet mein Schwur.

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Legenden d. Albae
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