Ishím Voróo (Jenseitiges Land), 4370. Teil der Unendlichkeit (5198. Sonnenzyklus), Spätsommer

Sinthoras galoppierte auf dem gestohlenen Pferd einen verwucherten Pfad entlang. Ranken und Büsche schlugen ihnen entgegen, doch er trieb das schwitzende Tier gnadenlos an, seit einiger Zeit roch es nach Torffeuern, ohne dass er auf Behausungen gestoßen wäre. Einbildung?

Er glaubte, erste taube Stellen an seinen Fingern bemerkt zu haben. Die Hinterlassenschaft von Munumons Boshaftigkeit, die bald noch stärker zutage treten würde.

Der Alb hatte sich unterwegs bei Nomaden am nächtlichen Lagerfeuer umgehört und den genauen Weg zum Dämon beschrieben bekommen. Das schloss er zumindest aus dem Gehörten: Die Barbaren nannten das nordwestlichste Gebiet Land des Endlosen Todes und mieden es mit ihren Herden. Das Leben, das die Götter in die Welt gesetzt hatten, würde dort nicht bestehen und sei Schlimmerem gewichen.

Für Sinthoras klang es erfreulich nach Dämonenwerk, und deswegen lenkte er die Schritte des Pferdes dorthin.

Die Zeichen auf seinem Weg gaben ihm recht. Er war durch verlassene Ortschaften geritten, hatte eingefallene Tempel in Ebenen stehen sehen und war an einer umgestürzten Statue vorbeigekommen, die den Zeichen nach einer Gottheit des Lichts gewidmet gewesen war. Barbaren und Götter hatten diesen Landstrich verlassen. Und wie es schien, hatten die Barbaren die Götter für ihre Untätigkeit bestraft, indem sie die heiligen Stätten zerstört und die Standbilder umgestürzt hatten.

Bald finde ich dieses Wesen, dachte er sich. Dann kommt mein Sieg über Caphalor und über sämtliche Gestirne. Wir Kometen werden Dsôn Faïmon in eine glänzende Zukunft führen. An seinen eigenen Tod dachte er lieber nicht. Sinthoras glaubte fest daran, dass er durch die Missachtung des Giftes mehr erreichte, als wenn er ständig auf das nächste Anzeichen wartete. Gleichermaßen unerschütterlich war seine Überzeugung, lebend nach Dsôn zurückzukehren. Er wollte seinen Triumph, er wollte seine Segnung durch die Unauslöschlichen, und er wollte den Marsch gegen Tark Draan erleben und sich durch die Erfolge zum Anführer der Gestirne aufschwingen. Sein Name musste in den Legenden seines Volkes erwähnt werden. Mein Wille schützt mich vor der Endlichkeit, sagte er sich. Deswegen werde ich leben, und Caphalor wird sterben.

Das Pferd durchbrach eine Wand aus dichten Blättern, und Sinthoras sah zwei Schritt vor sich – einen Abgrund!

Im selben Augenblick war ihm klar: Sein viel zu schnelles Tier ließ sich nicht mehr zum Stehen bringen. Daher rollte er sich rückwärts über die Kruppe ab, löste dabei die Satteltaschen und kam mit den Füßen auf; den Speer nutzte er, um das Gleichgewicht zu bewahren.

Das Pferd versuchte noch, einen rettenden Haken zu schlagen, doch es gelang ihm nicht mehr. Wiehernd rutschte es über den Rand und verschwand aus Sinthoras’ Blick.

Der Alb trat nach vorn, an die Kante, und hielt vor Überwältigung den Atem an.

Vor ihm erstreckten sich Bergketten, nicht mehr als achthundert bis tausend Schritt hoch, doch sanft ansteigend und ohne schroffe Wände. Sie reihten sich in- und aneinander, schimmerten im Dunst braun und dunkelgrün. An vielen Stellen stieg Rauch von ihnen auf, ganze Bereiche glommen dunkelrot wie Pfeifentabak und spien schwarzen Qualm aus. Die Erhebungen, die flachen Abschnitte dazwischen, alles Land bestand aus Torf. Und es hatte sich entzündet!

Das unentwegte Glimmen hatte tiefe Löcher in den Untergrund gebrannt, Krater gähnten und sandten aus immenser Tiefe noch mehr weißlichen Dampf.

Sinthoras empfand den Anblick von Zerfall als beflügelnd. Überwältigend!

Er sah einen Wald, der nur noch aus verkohlten Bäumen bestand, gleich daneben standen die Überreste einer Stadt, deren Häuser verbrannt und eingestürzt waren. Ihnen war der Boden durch das Feuer entzogen worden, die Fundamente hatten nachgegeben.

Wahrliches Dämonenland. Aufregung packte den Alb. Schnell machte er sich an den Abstieg, vorbei an dem zerschmetterten Leichnam des Pferdes. Gegen Mittag eilte er auf die Stadt zu.

Sinthoras lief über knöcheltiefe Asche. Der Boden unter seinen Sohlen strahlte enorme Wärme ab. Den Himmel sah er durch den Qualm kaum, die Sonne war nicht mehr als ein dreckiger, glühender Ball. Die verbrannten Bäume, an denen er vorbeieilte, knisterten und knackten. Es war das einzige Geräusch, das er vernahm.

Schließlich erreichte er die Stadt.

Sinthoras sah etliche Löcher in der Straße, sie hatten sich zwischen Häusern aufgetan; woanders hatte sich die Erde abgesenkt und die Gebäude dadurch zum Einsturz gebracht. Der Alb war völlig in den Bann der Zerstörung geraten, in der er morbide Schönheit fand. Eine ganze Stadt hatte sich in ein Kunstwerk des Verfalls verwandelt. So etwas will ich in Tark Draan gleichermaßen erschaffen. Er streunte umher, entdeckte immer wieder neue Formen und Strukturen in den Ruinen.

Er stieß auch auf Leichenreste, nicht mehr als versengte Gerippe, die alle eine Gemeinsamkeit aufwiesen: Ihnen war der Kopf abgetrennt oder der Schädel zerschmettert worden. Mit Sicherheit kein Zufall.

Wie finde ich das Wesen aus Sternenstaub? Von seinem Aussichtspunkt aus hatte er den Eindruck gewonnen, als zögen sich die brennenden Hügel etliche Meilen in alle Himmelsrichtungen. Noch dazu würde es nicht einfach werden, im dichten Rauch eine Kreatur auszumachen, die Staub gleichkommen sollte.

Der Wind blies nun aus Süden und hüllte Sinthoras in beißenden Qualm. Hustend band er sich ein Tuch vor Mund und Nase.

Er beschloss, einen der sanft ansteigenden Berge zu erklimmen und sich dort mit seinem Rufhorn bemerkbar zu machen. Kam der Dämon, umso besser. Lockten die Töne Barbaren an, auch gut. Sie könnte er dann befragen.

Sein Marsch führte ihn über ausgetrockneten, heißen Boden, und selbst als er sich anschickte, die erste Steigung zu erklimmen, fühlte er noch die Hitze unter sich. Alles schien von Feuer durchdrungen.

Kleine Flämmchen tanzten über schmalen Spalten, Gase entzündeten sich unerwartet und bedeuteten eine neuerliche Gefährdung für Sinthoras, der peinlichst genau darauf achtete, wohin er trat.

Die Erde knirschte gelegentlich wie dünnes Eis und sank selbst unter seinem geringen Gewicht ein. Er malte sich aus, dass unter der zerbrechlichen Kruste ein tiefer Schlund wartete, in dessen Tiefe ein glutrotes Feuer schwelte.

Welch bizarre Welt, sagte er zu sich und sah den flachen Gipfel vor sich in den Schwaden auftauchen.

Gemächlich erklomm er die Kuppe, nahm sein Horn hervor und setzte es an die Lippen; kräftig blies er hinein und wiederholte die Tonfolge mehrmals. Sie flog über die Berge hinweg, erzeugte Echos und schuf einen düsteren Kanon, der hervorragend zu der Landschaft passte. Wenn man Töne doch in Gemälde packen könnte, dachte er und ließ die Blicke schweifen.

Es war dunkler geworden. Dicke Tropfen trafen ihn, zerspritzten auf dem Horn, und dann setzte ein Sturzregen ein, der Sinthoras bis auf die Haut durchnässte.

Die Erde um ihn herum zischte aufbegehrend. Feuer und Wasser schufen unverzüglich Dampf, der aufstieg und die Hügel verschlang.

Dem Alb fiel das Atmen schwer, Feuchtigkeitsperlen bildeten sich auf seinem Antlitz, der Rüstung, den Haaren, und das Tuch vor Mund und Nase war innerhalb von wenigen Herzschlägen nass. Seine Lunge schien durch die heiße Luft inwendig zu garen. Sternchen tanzten vor seinen Augen.

Wer bist du?, sagte eine Stimme in seinem Kopf.

Sinthoras schrak zusammen. Das war keine Sinnestäuschung gewesen. »Und wer bist du?«

Ich fragte zuerst.

»Gib dich zu erkennen, damit ich sehe, wer du bist, anstatt dich vor meinen Blicken zu verbergen!«, rief er herausfordernd.

Du wirst mich nicht sehen, solange der dichte Dampf uns umgibt. Ich besitze keine körperliche Gestalt wie du. Mein Leib gleicht mehr einer Wolke aus funkelnden kleinen Lichtern. Und wer bist du nun, und warum machst du diesen Lärm?

Das Sternenstaubwesen! Es hatte ihn gefunden! »Ich grüße Euch«, hustete er mehr als er sprach. »Mein Name ist Sinthoras vom gefürchteten, mächtigen und unbezwungenen Volk der Albae.« Er stellte sich aufrecht und stolz hin, den Kopf erhoben und die Stimme mit Samt gefüllt, um beeindrucken und zu gefallen. »Meine Herrscher, die Unauslöschlichen und ewig lebenden Geschwister, senden mich. Ich habe nach Euch gesucht und die Ehre, Euch ein Bündnis antragen zu dürfen.« Bei allen Strapazen und aller Erschöpfung hätte er am liebsten gejubelt: Der Erfolg der Mission war zum Greifen nahe! Mein alleiniger Erfolg. Er dankte Inàste für ihren Beistand.

Die Albae? Was soll das sein?

Die Frage überraschte und beleidigte ihn. »Eine Rasse.«

Wie die Menschen?

»Niemals! Wir sind besser als jede andere Rasse«, erwiderte Sinthoras überheblich.

Und warum benötigt ihr dann einen Verbündeten?, sprach die Stimme des Dämons amüsiert. Wenn ihr doch besser seid als alle anderen?

»Meine Herrscher bieten Euch die Herrschaft über ein eigenes, großes Reich jenseits der Berge an«, redete er einfach weiter. Es lief nicht so, wie er es sich ausgedacht hatte. Dass der Dämon nicht einmal von den Albae gehört hatte, machte ihn fast wütend. Oder ist es seine Art von Humor? Foppt er mich absichtlich, um mich einer Prüfung zu unterziehen? »Dort könnt ihr über Menschen regieren, wie es Euch beliebt. Die Unauslöschlichen unterstützen Euch dabei mit einem Heer, wie es Ishím Voróo noch nicht gesehen hat.«

Die Stimme in Sinthoras’ Kopf lachte. Wie kommen sie darauf, dass mich das Regieren reizt?

Diese Frage verstand er beim besten Willen nicht. »Ist es nicht jedermanns Bestreben, über etwas zu herrschen? Ihr selbst, Dämon, habt Euch dieses Gebiet zu eigen gemacht und verteidigt es und habt die Menschen, die hier lebten, getötet oder vertrieben.«

Es ist nicht mehr als Fügung, dass ich hier bin. Ich hätte ebenso gut im Süden oder im Osten nach einem Lebensraum suchen können. Das, was geschehen ist, wollte ich nicht verursachen. Es geschieht meistens, wenn ich mich niederlasse. Ich kann es nicht verhindern.

Für Sinthoras klangen die Worte nicht so, als wäre der Dämon besonders interessiert daran, nach Tark Draan zu gelangen. Das wunderte ihn. Das wunderte ihn sogar sehr. Und an eine Probe glaubte er nicht mehr. Was nutzt ein gelangweilter, lahmer Beistand?

»Was wünscht Ihr Euch stattdessen, wenn Ihr uns Eure Hilfe angedeihen lasst?«, entgegnete er ratlos.

Der Regen ließ nach, und ein heftiger Wind trieb den Qualm davon, sodass er das Nebelwesen vor sich sah, in dem Pünktchen flimmerten und funkelten. Es schwebte regungslos einen Fuß über der Erde und besaß die Ausdehnung von zwei Fässern nebeneinander. Leidlich unspektakulär für einen Dämon.

Kannst du singen, Alb?

»Selbstverständlich. Was soll …?«

Das Spiel mit dem Horn gefiel mir, doch eine Stimme kann mich zutiefst rühren. Wenn du mir Wohlgefallen bereitest, Alb, dann könnte es sein, dass ich darüber nachdenke, deinen Unauslöschlichen einen Besuch abzustatten und mit ihnen zu verhandeln.

Sinthoras zeigte seine Verwunderung unverhohlen. Er hatte schon um Gold, um Waffen, um Vorräte gefeilscht, hatte Kunstwerke gegen andere getauscht, doch dass ein Lied eine derart wichtige Entscheidung für seine Heimat bringen sollte? Wie gut, dass er ein passabler Sänger war. »Dann lauscht mir. Ihr vernehmt die Weise über Inàstes Tränen.«

Sinthoras erhob die Stimme und sang, wie er noch niemals in seinem langen Leben gesungen hatte.

Tränen, unglücksschwer

schwarz und voller Kummer.

Schwärze vom Himmel,

vergossen für uns,

die Unsterblichen.

Sie gaben uns Mut,

wiesen uns Heimat und Hoffnung.

Niedergegangene Göttlichkeit,

gegeben an uns,

die Unsterblichen.

Gesegnet und erhöht

durch unsere Mutter Inàste,

stehen sie über allen,

stehen wir über allen,

die Unsterblichen.

Nie mehr sollen Tränen fließen,

schwarz und voller Kummer.

Wir leben ewig, um Mutter zu preisen,

sie mit Stolz zu erfüllen.

Den gleichen Stolz,

gegeben an uns,

die Unsterblichen.

Tränen sollen andere weinen,

die Mütter unserer Feinde.

Inàste soll lachen, sich erfreuen

an der Feinde Gebeinen,

getötet von uns,

den Unsterblichen.

Der letzte Ton kam über seine Lippen und hallte noch zwischen den Bergketten nach. Sinthoras fand seine Darbietung ausgesprochen gelungen und hegte keinerlei Bedenken, dass er den Dämon überzeugt hatte. Er sank vor dem Wesen auf das rechte Knie. »Jetzt lasst mich Euch beschreiben, wie wir nach Dsôn …«

Ich fühlte kein Wohlgefallen, Alb.

»Was?« Sinthoras war sich sicher, dass er den Nebel tumb anglotzte.

Zwar rührtest du mich, und ich verlor mich ein wenig in deiner Stimme, doch die Weise behagte mir nicht. Zu viele dunkle Töne. Zu traurig. Die Wolke wuchs in die Breite und wurde durchscheinender. Sieh dich um. Brauche ich noch mehr Trostlosigkeit als das hier? Etwas Heiteres, Alb, wäre passender gewesen.

Sinthoras konnte es nicht fassen, wie dieses Ding es wagte, ein solches Urteil über seine Sangeskunst zu fällen. Bevor er etwas erwidern und ein zweites Lied vorschlagen konnte, erhob sich der Nebel und ließ sich vom Wind zurück in den Qualm der Torffeuer treiben. Der Regen hatte nicht ausgereicht, sie zu löschen.

Geh zurück, Alb, hörte er die Stimme zum Abschied sagen. Es hat mich gefreut, einen Unerschrockenen kennenzulernen. Ich empfehle dir jedoch, mein Refugium zu verlassen, bevor dich der Fluch trifft. Die Menschen mussten teuer bezahlen, bevor sie lernten.

»Wartet!«, schrie er und unternahm den Versuch, die Wolke zu verfolgen. Aber sie verschmolz mit dem Qualm und verschwand. »Dämon, das dürft Ihr nicht!«, rief er verzweifelt. »Dämon? DÄMON?«

Er horchte, hörte das Zischen der heißen Erde und hoffte auf die Stimme in seinem Kopf.

Aber es blieb still.

»Bei Tion!«, brüllte er und rammte den Speer in den Boden. »Was tue ich nun?« Meine Träume scheitern an meiner Sangeskunst. An der Auswahl des Liedes. Sinthoras gab einen Laut von sich, der all seine Hilflosigkeit ausdrückte. Mir muss etwas einfallen! Es muss!

Stiefelschritte hinter ihm ließen ihn herumfahren.

Sieben Gestalten kamen über die Gipfelkuppe, schwer gerüstet, mit Schildern und Schwertern bewaffnet, ein Sammelsurium verschiedener Rassen, von Barbaren über einen Óarco bis zu einem Fflecx. Der Cnutar unter ihnen, ein Symbiontenwesen, bedeutete eine erfreuliche Abwechslung.

Sinthoras zog den Speer aus dem Boden, warf die Satteltaschen hin und hielt sich bereit. Das ist kein Zufall. Diese verschiedenen Rassen hätten sich unter herkömmlichen Umständen niemals zu einer Bande zusammengeschlossen. Nicht einmal in Ishím Voróo. Folglich dienten sie jemandem, der die Macht besaß, sie zu zwingen. »Was wollt ihr?«

Die sieben fächerten auseinander, und der Barbar, dessen bärtiges Gesicht hinter dem geschlossenen Visier kaum zu erkennen war, trat nach vorn. »Abgesehen von deinem Tod, Alb, gib uns die Phiole, die du aus der Festung meines Herrn, des mächtigen Gålran Zhadar, gestohlen hast.«

»Sie ist nicht in meinem Besitz. Mein Begleiter hatte sie«, log er. Er ärgerte sich, dass er seine Verfolger unterwegs nicht bemerkt hatte. Gut, er hatte sich nicht wirklich um sie gesorgt und sich zu sehr darauf verlassen, dass er keine Spuren hinterließ. Er nicht, aber sein Pferd schon. Eine Nachlässigkeit, für die er nun zahlen durfte. Da die sieben sämtliche Hindernisse des Weges wie er hinter sich gelassen hatten, mussten sie recht gut sein.

»Nun, das wird ein zweiter Trupp herausfinden, der sich an seine Fersen geheftet hat«, erwiderte der Barbar.

Ihr denkt, ihr werdet mich bezwingen? Sinthoras legte gespielt nachdenklich einen Finger gegen die Unterlippe. »Warte! Ich glaube, die Obboona hat sie genommen. Sie wusste, worum es sich dabei handelte.«

Der Barbar schüttelte den Kopf. »Das denke ich nicht.« Er zog sein Schwert. »Ich denke vielmehr, dass du sehr genau weißt, was du gestohlen hast. Sonst befändest du dich nicht hier, und wir hätten dich nicht gefunden, oder?«

Sinthoras’ Neugier wuchs. Sicherlich hatte er die Phiole bei mancher Rast betrachtet und die Magie ihres Inhalts gespürt, aber nicht herausgefunden, wofür der gut sein mochte. Den Worten des Barbaren nach hat es unter Umständen etwas mit dem Dämon zu tun. Das würde zur beschädigten Aufschrift passen. »Möglich«, antwortete er vage und ließ den Speer kreisen.

»Dann beginnen wir mit deinem Tod und suchen die Phiole selbst.« Der Barbar gab das Angriffszeichen, und die anderen sechs rückten nach.

Zu Sinthoras’ Verdruss nahm der Fflecx ein Blasrohr zur Hand und zog einen Pfeil aus dem Brustgurt, während die anderen sich weiter verteilten und ihn zu umkreisen versuchten.

Der Alb tat etwas, was er in seinem Dasein als Soldat lediglich einmal in seiner Ausbildung getan hatte, weil es ihm so befohlen worden war: Er wandte sich abrupt um und stürmte den Hügel hinab; dabei schlug er Haken, um nicht von den Geschossen des Alchemikanten getroffen zu werden. Und seid so dumm, befolgt den Befehl eures Herrn und rennt mir hinterher!

Seine Geschwindigkeit verschaffte ihm einen Vorsprung. Sinthoras würde sich passende Stellen für seine Angriffe suchen und sich ihnen gewiss nicht im offenen Kampf stellen. Aus gutem Grund: Das Taubheitsgefühl in seinen Fingern wanderte bereits die Arme hinauf und verunsicherte ihn, brachte seine Präzision in Gefahr. Deswegen würde er Hinterhalte für sie legen.

Die Schergen des Gålran Zhadar waren im Zugzwang, wollten sie die Phiole und sein Leben, also mussten sie ihm folgen.

Der Fflecx stirbt als Erster. Er nahm den Phaiu Su aus dem Ärmelaufschlag und umschloss den silbrigen Faden mit der behandschuhten Faust, rannte mitten in die dichtesten Rauchschwaden, warf sich in eines der kokelnden Löcher und hielt den Atem an.

Sinthoras sank in die Asche, Wärme umgab ihn wie Wasser und steigerte sich. Die Hitze würde er für kurze Zeit aushalten können. Er vertraute auf seine Rüstung und seinen Willen, der Schmerzen lange genug unterdrücken konnte.

Bald darauf vernahm er die Schritte seiner Verfolger. Er konnte durch die Trittgeräusche die verschiedenen Rassen zuordnen. Als er die leisesten Sohlen neben sich bemerkte, richtete er sich etwas auf, öffnete die Finger und blies den Phaiu Su von seinem Handschuh. Flieg und such dir etwas zu fressen!

Der Atem genügte, um den ausgehungerten Faden auf die Reise zu schicken.

Zuerst sah es danach aus, als wolle sich das Raubwesen wirkungslos auf der gepanzerten Schulter des vor dem Fflecx dahineilenden Óarco niederlassen, doch sein gnomenhaft verspieltes Wesen wurde dem Alchemikanten zum Verhängnis. Er haschte nach dem Faden. Eine leichte Brise wehte ihm ein Ende ins Gesicht.

Sofort setzte sich der Phaiu Su fest, und der Fflecx kreischte wie ein altes Weib. Seine Begleiter eilten herbei und versuchten, dem Unglücklichen zu helfen. Nur der Barbar schrie, dass der Fflecx verloren sei, und wollte die anderen zu Wachsamkeit mahnen.

Wie leicht ihr zu überlisten seid. Die allgemeine Verwirrung, die entstanden war, nutzte Sinthoras. Immer noch aus seinem Versteck heraus, bohrte er die Lanzenspitze in den rechten Unterschenkel des Cnutar und drückte die Erhebung am Schaft.

Der künstliche Luftstoß blähte Haut und Fleisch auf, sprengte sie auseinander. Fetzen und Blut spritzten umher, der Alb sah den mächtigen Knochen bloßgelegt.

Sofort trennten sich die Symbionten voneinander und nahmen menschliche Gestalt an. Verzweifelt versuchten sie, die Blutung ihres verletzten Drittels aufzuhalten, doch der Tod war zu schnell für sie und raubte ihm das Leben. Sechzig Herzschläge danach stürzten die anderen beiden stumm zu Boden. Von den anderen Verfolgern war nichts zu sehen. Sie steckten irgendwo in dem Nebel.

Fünf. Sinthoras sprang auf und rannte weiter, tiefer in die Schwaden und eine Fahne aus Asche sowie Fünkchen hinter sich herziehend. Fünf sind durchaus zu schaffen. Sogar in seinem angeschlagenen Zustand.

Unvermutet bekam er einen Schlag ins Kreuz, der ihn stürzen ließ. Er hörte ein óarcohaftes Lachen und einen lauten, erfreuten Ruf.

»Die Schwarzaugen waren früher schneller«, machte sich der Gegner mit kehliger, dröhnender Stimme über ihn lustig.

Sinthoras hörte das Pfeifen und rollte sich zur Seite; das Schwert verfehlte ihn. Er spürte seine Arme nicht mehr, aber sie ließen sich wenigstens noch bewegen und taten, was er von ihnen verlangte. »Schnell genug, um dich zu töten«, verkündete er hochmütig. Seine Bewegungen waren ruckend, ohne Eleganz. Der Óarco hatte keinerlei Mühe, die Stiche mit dem Speer zu parieren.

Rechter Hand tauchte der Barbar auf und schlug mit dem Schwert nach seinem Kopf.

Sinthoras fing die gegnerische Klinge mit dem Speerschaft ab und leitete die Schneide weiter, gegen den Óarco. Der wiederum parierte den Hieb mit dem Schild.

Gelingt mir denn gar nichts? Sinthoras’ feine Ohren bemerkten, dass der Boden unter seinen Sohlen knisterte. Ohne zu zögern, rammte er die Speerspitze in die Erde und löste den Mechanismus erneut aus. Gleichzeitig sprang er nach hinten weg.

Die unter hohem Druck entweichende Luft brachte die Kruste zum Reißen, und ein Loch tat sich auf, in dem der Barbar und der Óarco verschwanden. Funkenwolken stoben empor, eine rote Lohe zuckte in den Himmel. Ein weiterer Barbar, der seinen Freunden hatte zu Hilfe kommen wollen, stürzte ebenfalls in die Tiefe. Der Untergrund hatte sich zu rasch geöffnet, die schwere Rüstung hatte ihn in den Tod gerissen.

Es geht doch. Sinthoras landete außerhalb des Gefahrenbereichs und rannte weiter. Bleiben zwei 

Wie aus dem Nichts tauchte eine Schildkante vor ihm auf und traf ihn gegen das Kinn.

Sinthoras wurde hochgeschleudert und stand für einen Augenblick waagrecht in der Luft, ehe er niederstürzte. Der Speer rutschte aus seinen Fingern und verschwand klappernd im Dunst, er bekam keine Luft mehr und spürte, dass er sich den Unterkiefer gebrochen hatte.

Blut spuckend wälzte er sich herum und zog einen Langdolch.

Da bekam er einen Tritt in die Seite, der ihm die Luft aus den Lungen trieb, und hörte einen triumphierenden Ruf. Die hässliche Fratze eines Halbtrolls sah auf ihn herab; den Turmschild hielt er vor sich und knallte ihn gegen sein Antlitz.

Jetzt musste Sinthoras schreien, die Schmerzen in seinem Kiefer waren zu groß. Dunkles Blut lief ihm aus dem Mund. Doch es kam noch schlimmer: Seine Arme und Beine knickten ein, er konnte sie nicht länger beherrschen und sich dem Gift widersetzen. Es tat seine Wirkung zu einem denkbar falschen Moment. Samusin, gewähre mir deine Gunst, sonst bin ich verloren! Die Vorstellung eines neuerlichen Triumphs über seine Feinde bekam deutliche Risse.

»Hierher! Zu mir!«, schrie der Halbtroll und wälzte den Alb mit seinem eisenbeschlagenen Stiefel auf den Rücken. »Hier bin ich! Ich habe ihn!«

»Es gibt nur noch einen außer dir«, krächzte Sinthoras undeutlich und versuchte ein boshaftes Lachen. Es schmerzte unweltlich, und so ließ er es lieber sein. Der Kraft seiner Arme und Beine beraubt, wollte ihm nicht einfallen, was er gegen die drohende Niederlage unternehmen konnte. So dicht davor. Alles wegen eines zaghaften Dämons!

»Das ist mir gleich«, antwortete der Halbtroll von oben herab. »Wichtig ist, dass ich dich erwischt habe, Schwarzauge.« Er hob den riesigen Fuß und stampfte ihm mit der Ferse genau in den Bauch. »Lass mich sehen, was du gegessen hast«, sagte er und lachte gehässig.

Sinthoras’ Rüstung fing einen guten Teil des mörderischen Tritts ab. Dennoch steigerte sich der Druck, und ihm brachen vier Rippen. Er glaubte, ersticken zu müssen, und bäumte sich unter der Attacke auf.

Dabei hörte er das leise Klirren von Glas.

Siedendheiß überlief es ihn: Der Halbtroll hatte die Phiole mit seinem Fuß zermalmt.

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Ishím Voróo (Jenseitiges Land), Albae-Reich Dsôn Faïmon, Spitze des Strahlarms Shiimāl, 4370. Teil der Unendlichkeit (5198. Sonnenzyklus), Spätsommer

Caphalor schlug die Augen auf.

Und wunderte sich.

Er hatte nicht damit gerechnet, so etwas überhaupt jemals wieder tun zu können.

Noch viel weniger hatte er damit gerechnet, die Decke seines Schlafgemachs zu betrachten.

Ich träume! Er wandte den Kopf nach links.

Es war in der Tat sein Gemach – und neben ihm lag seine Gefährtin. Sie hatte die Lider geschlossen, ihr Atem ging schleppend.

Er wollte sie rufen, aber seine Lippen bewegten sich nicht. Caphalor fühlte sich müde, schwach am ganzen Körper. Sein Verstand arbeitete sehr langsam, als wäre er trunken von zu viel Wein.

»Vater, bleib ruhig liegen«, sagte die Stimme seiner Tochter rechts von ihm.

Ist es immer noch ein Traum? Vermutlich lag er in Wirklichkeit sterbend im Dreck, während das Gift des Alchemikanten seine grausamen Scherze mit seinen Gedanken trieb.

Es war Tarlesa, die ihn anlächelte. Auf ihrer schlichten, dunkelbraunen Kleidung haftete Blut. Hinter ihr stand Raleeha in einem grauen, hochgeschlossenen Kleid, ein Spitzenband vor den Augen. Wieder sah sie aus wie eine Albin und nicht wie eine Barbarin. Nur das Würgehalsband erinnerte an den Status einer Sklavin, einer Rechtlosen. Sie hielt eine Wasserschüssel; rote Tropfen rannen außen am Gefäß herab, und über ihre Handgelenke hingen blutige Tücher.

Das Bild verschwamm vor Caphalors Augen, und er versuchte, den Arm zu heben.

»Nein, Vater. Nicht bewegen. Noch bist du dem Tod nicht entronnen. Es wird viele Momente der Unendlichkeit benötigen, bis du aufstehen kannst und deine alte Kraft besitzt«, sagte seine Tochter beruhigend.

Caphalor schluckte. »Wie kam ich …« Seine Stimme versagte.

»Aïsolon fand dich und die Sklavin bei einem Jagdausflug. Er hat die Räuber, die euch angriffen, getötet, euch bis zum Wassergraben geschafft und die Grenztruppen alarmiert. Sie brachten euch unter seiner Führung hierher«, erklärte Tarlesa.

Er stöhnte. Jetzt war das Schlimmste geschehen, was er sich ausgemalt hatte. Schmach und Schande, vom Helden zum Gespött geworden. Damit wären die Anhänger von Sinthoras, die Kometen, gestärkt worden. Er hatte den Dämon nicht gefunden, Munumon nicht getötet, die Obboona lebte noch immer; er dagegen lag säuglingsgleich auf seinem Lager. Die Unauslöschlichen würden ihn ächten, weil er erfolglos zurückgekehrt war.

Das alles war schlimmer als der Tod.

Seine Tochter schien von seiner Miene ablesen zu können, was er dachte. »Niemand weiß, dass du in Shiimāl bist, Vater. Die Soldaten schworen mir und Mutter, dass sie schweigen würden. Sie sind Freunde der Gestirne. Und Aïsolon wäre der Letzte, der dich verrät.«

Caphalor atmete langsam aus und schloss die Lider. Ich, der Gesegnete, habe versagt.

Der Gedanke machte ihm schwer zu schaffen – dass er noch lebte, machte ihm zu schaffen. Lieber hätten die Albae und die Unauslöschlichen annehmen sollen, er sei bei dem Versuch, eine weitere Heldentat zu vollbringen, in die Endlichkeit gegangen. Einem gewöhnlichen Krieger hätte man das Scheitern noch nachgesehen, aber nicht einem Gesegneten.

»Wenn ich sterbe, verbrennt mich heimlich«, raunte er. »Niemand darf wissen, dass ich hier bin. Es würde ein schlechtes Licht auf euch alle werfen.«

»Vater, ich lasse dich nicht sterben«, erwiderte Tarlesa. Sie klang freundlich und fordernd zugleich. »Sobald du gesundet bist, kannst du erneut in aller Heimlichkeit aufbrechen und einen weiteren Anlauf unternehmen. Du wirst die Mission mit einem Erfolg zu Ende bringen.«

Er zwang sich, die Lider zu heben und seine Tochter anzuschauen. Dann streckte er die linke Hand aus, um ihr über die Wange zu streichen – und starrte auf sein Handgelenk. Aus dem Fleisch ragte eine Enali-Ranke. Sie steckte in seiner Ader, getrocknetes Blut haftete auf der Haut darum herum.

Tarlesa drückte seinen Arm zurück. »Nein, bitte, Vater.« Es klickte, und er spürte, dass sie seine Finger mit Metallschellen am Bett festgebunden hatte. »Du könntest die Ranke aus dir ziehen, dann würden du und Mutter verbluten.«

»Was hast du getan?«

»Aus meinen Arbeiten gelernt. Meine Ranken sind innen hohl und sehr biegsam. Ich habe sie mit starkem Alkohol ausgespült, damit sie keine Entzündung verursachen. Die meisten Heiler benutzen kochendes Wasser, aber das gart die Ranken und macht sie brüchig.« Sie berührte seine Schulter, drückte sie sachte und aufmunternd. »Die Sklavin sagte mir, dass die Fflecx dich vergiftet hätten. Also musste das kranke Blut aus dir heraus. Ich öffnete deine Hauptader am rechten Bein, und gleichzeitig verabreichten Mutter und ich dir unser frisches Blut über die Ranke.« Sie lächelte und streichelte seine Wange. »Mutter gibt dir eben die letzte Ration. Danach muss sie aufhören, sonst wird sie zu schwach.« Tarlesa küsste ihn auf die Stirn. »Schlaf, Vater. Ich sorge dafür, dass du als Held zurückkehren wirst.«

Caphalor schloss die Augen. Noch wollte keine Zuversicht in sein Denken Einzug halten, aber der Stolz auf seine tüchtige Tochter bescherte ihm ein beruhigendes Gefühl.

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Legenden d. Albae
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