Letzter Aufruf für den Passagier Jakobi

Eine Flughafentoilette ist nicht der romantischste Ort auf dieser Welt. Sie steht auch nicht in den Top Ten. Nein. Seien wir ehrlich. Sie wird sich irgendwo auf den hintersten Plätzen befinden, knapp vor einer versifften Polizeiausnüchterungszelle, in der es nach Erbrochenem stinkt. Doch manchmal lässt einem das Leben keine Wahl. Zumindest wenn man vorher bessere Gelegenheiten verpatzt hat. Ich reiße die Tür zu den Toiletten auf und schlüpfe hinein.

»Was machen Sie hier?«, will augenblicklich eine Spanierin aufgebracht wissen.

Mit einer friedlichen Handgeste versuche ich sie davon zu überzeugen, kein Perverser zu sein. Trotzdem beschimpft sie mich wütend, und als sie den Raum verlässt, ahne ich, dass sie unverzüglich Sicherheitskräfte alarmieren wird.

»Paulina?«, rufe ich daher laut.

»Daniel?«, erklingt ihre verwunderte Stimme.

Eine Kabine wird entriegelt und Paulina tritt heraus. »Du hast dich in der Tür geirrt!«

»Ich habe mich in vielem geirrt, aber nicht in dieser Tür.«

»Was willst du hier?«

Kann sie sich das nicht denken?

»Sobald wir in das Flugzeug steigen, trennen sich unsere Wege. Im schlimmsten Fall für immer. Ich werde an Carmens Seite unglücklich und du – keine Ahnung.«

Sie lächelt wehmütig.

»Warum rennen wir sehenden Auges in unser Unglück?«, frage ich sie. »Lass uns verschwinden! Überlassen wir Juan und Carmen ihrem Schicksal!«

»Was?«

»Komm mit mir!«

»Wohin?«

»Egal! Erst einmal aus diesem Gebäude!«

»Und danach?«, fragt sie mich.

»Weiß ich nicht. Ich weiß nur eins. Ich liebe dich!«

Endlich ist es ausgesprochen. Endlich habe ich ihr meine Liebe gestanden. In dieser Sekunde wird mir klar, dass ich keinesfalls das Flugzeug nach Madrid besteigen werde, egal, wie sie sich entscheidet.

Bevor sie etwas erwidert, wird die Eingangstür aufgerissen. Zwei weibliche Sicherheitskräfte stürmen herein. Paulina packt meine Hand und zieht mich Richtung Eingang.

»Alles in Ordnung! Mein Mann ist manchmal so hilflos!«

Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie eine der Uniformierten ihren Elektroschocker wieder einsteckt.

Wir verlassen die Toilette, Juan wartet bereits draußen auf Paulina.

Fassungslos mustert er uns. Mitleid regt sich in mir. Was für Gedanken schießen ihm wohl durch den Kopf? Hoffentlich ist ihm klar, dass die Zeit für einen Quickie nicht ausreichend war.

Paulina tritt nah an ihn heran. »Verzeih mir!«, flüstert sie. »Du bist ein toller Mensch! Aber nicht der Richtige für mich!« Sie drückt ihm einen Abschiedskuss auf die Wange, dann zieht sie mich erneut hinter sich her.

Er greift nach ihr, doch er greift ins Leere.

»Paulina!«, kreischt er wie ein verletztes Tier.

Bei einem Blick über meine Schulter stelle ich fest, dass Carmen auf uns aufmerksam geworden ist. Während sich Juan seine Niederlage mit hängendem Kopf eingesteht, gibt Carmen keineswegs kampflos auf. Sie sprintet hinter uns her.

»Beeil dich!«, rufe ich.

»Wirst du gestalkt?«, folgert Paulina.

»Von der schlimmsten Stalkerin aller Zeiten.«

Wir nähern uns rennend dem Kontrollbereich, den die Passagiere normalerweise nur in eine Richtung passieren. Drei mit Pistolen und Schlagstöcken bewaffnete Sicherheitskräfte registrieren uns und versperren den Weg.

»Halt! Wo wollen Sie hin?«, brüllt einer von ihnen gebieterisch.

Carmen ist nur dreißig Meter entfernt.

»Wir erklären alles, aber stoppen Sie diese Wahnsinnige!«, bittet Paulina die Männer.

Zwei der Uniformierten packen uns, der dritte wendet sich Carmen zu.

Sie stößt wilde, in meine Richtung zielende Flüche aus und rempelt den Sicherheitsmann zu Boden. Dadurch wird sie von seinen Kollegen als Risiko wahrgenommen, zwei Männer stürzen auf sie zu und ringen sie innerhalb kürzester Zeit nieder.

Ihre Verwünschungen schließen nun auch das Sicherheitspersonal ein.

»Kommen Sie mit!«, sagt einer der Uniformierten und führt uns in das Büro seines Vorgesetzten.

Der stattliche Mann, auf den wir eine Viertelstunde warten mussten, zwirbelt bei der Schilderung unserer Geschichte die Enden seines grauen Schnauzbartes.

»Sie hätten diese Entscheidung nicht früher treffen können?«, fragt er zuletzt. »Stattdessen versetzen Sie einen ganzen Flughafen in Aufruhr.«

In seiner Stimme schwingt nur milder Tadel mit. Daher hoffe ich, das Flughafengebäude als freier Mann verlassen zu können.

»Eigentlich hätten wir schon im Juni zusammenkommen sollen«, bestätige ich ihm, in Paulinas Augen blickend.

»War teilweise meine Schuld«, entschuldigt sie sich.

Mir wird klar, dass wir uns heute noch nicht geküsst haben. Obwohl sich alles in mir nach dem Geschmack ihrer Lippen verzehrt, halte ich mich zurück.

Der Sicherheitsbeauftragte greift zu einem Walkie-Talkie und nuschelt eine Anweisung, die ich nicht verstehe.

Scheppernd erklingt die Frage, ob das sein Ernst sei, da das Flugzeug bereits die Starterlaubnis erteilt bekommen hätte und gerade auf die Bahn rolle.

Er bestätigt seine Anordnung, dann reicht er uns die Boardingkarten. »Wir lassen Ihr Gepäck ausladen und geben es Ihnen nach einer sehr gründlichen Durchsuchung wieder. Ich hoffe für Sie, nichts darin zu finden. Keinen Sprengstoff, keine Waffen, keine Drogen.«

»Was ist mit meiner Begleitung?«

»Sie meinen diese rassige Schönheit, deren Mund unglaublich unflätige Flüche ausstoßen kann?«

»Genau«, murmle ich. Ich werde mich erst sicher fühlen, wenn ich sie in Gewahrsam oder in der Luft weiß.

»Nachdem sie sich beruhigt hat, haben wir sie vor die Wahl gestellt. Entweder begibt sie sich friedlich ins gebuchte Flugzeug oder sie landet für mindestens eine Nacht in der Arrestzelle.«

»Wofür hat sie sich entschieden?«

»Für den Flug.«

»Armer Juan«, sagt Paulina. »Bis zur Landung wird er ihre schlechte Laune ertragen müssen.« Auf ihren Gesichtszügen spiegelt sich das schlechte Gewissen. Ich nehme ihre Hand und streichle sie zärtlich »Er wird darüber hinwegkommen«, tröste ich sie.

»Hoffentlich.«

Förmlich ineinander versinkend sehen wir uns an.

»Sie dürfen die Braut küssen!«, reißt uns eine amüsierte Stimme zurück in die Realität.

Wir kichern wie alberne Schulkinder, unsere Gesichter nähern sich, ich schließe die Augen, spüre ihre Lippen, schmecke sie. Der dritte Kuss. Der Vierte. Der Fünfte. Bald lohnt sich das Zählen nicht mehr. In meinem Blut torkeln Hormone glückselig herum.

Der Mann verlässt den Raum, schließt uns allerdings aus Sicherheitsgründen ein. Wir erforschen einander und es fällt mir schwer, seinen Schreibtisch nicht mit einem Wisch freizuräumen, um mich mit Paulina auf der Holzplatte zu wälzen. Als er zurückkehrt, trennen wir uns voneinander und glätten unsere verwuschelten Haare.

»Anscheinend sind Sie weder Terroristen noch Waffen- oder Drogenhändler. Kommen Sie mit. Ich bringe Sie zu Ihrem Gepäck. Danach suchen Sie sich am besten eine Unterkunft, um die letzten Monate nachzuholen.«