Das Ende der Saison
In der letzten Septemberdekade leert sich S’Illot deutlich. Die Strände sind nicht mehr überlaufen, die Lokale abends nur spärlich besetzt. Abschiedsstimmung liegt in der Luft.
Bislang haben wir kein endgültiges Datum für unseren Umzug festgelegt. Carmen wollte eigentlich bereits Anfang Oktober die Zelte abbrechen, ich argumentierte dagegen und wies auf die Mietdauer der Wohnung hin. Überraschenderweise hat sie sich meinem Wunsch gebeugt, ohne vorher Geschirr zu zerschlagen.
Zu meinem Verdruss sind Paulina und Juan noch immer ein Paar. Wegen akuter Erfolglosigkeit habe ich meine Versuche, sie auseinanderzubringen, nicht weiterverfolgt. Ich lasse den Dingen ihren Lauf. Das Schicksal wird schon wissen, was gut für mich ist.
Mit anderen Worten: Ich habe aufgegeben.
Ich stehe an der Brüstung der Terrasse und genieße den Ausblick auf das Meer. In den vergangenen Monaten habe ich mich daran nicht sattsehen können. Mittlerweile fühle ich mich auf Mallorca richtig heimisch. Ob mir das in Madrid auch gelingt?
Mein Handy piept zweimal. Ich angle es aus meiner Bermudahose und stelle überrascht fest, dass mir Paulina eine Nachricht geschickt hat. Normalerweise kommunizieren wir kurz vorm Schlafengehen miteinander.
Nachdem ich mich davon überzeugt habe, dass Carmen nicht in der Nähe ist, öffne ich die SMS.
Hi! Können wir uns heute Nacht gegen eins am Strand treffen? Juan darf das aber nicht mitbekommen.
Unwillkürlich zittert meine rechte Hand, mit der ich das Telefon halte. Was hat diese Botschaft zu bedeuten? Warum will sie mich nachts treffen? Wieso diese Heimlichtuerei?
Ich setze mich auf eine der Liegen, um das Zittern unter Kontrolle zu bekommen, und tippe meine Nachricht.
Ich bin um ein Uhr da. Vor der Perla?
Die mit Ja sehr wortkarge Rückmeldung lässt nicht lange auf sich warten.
Irgendwie muss ich es bewerkstelligen, dass Carmen heute frühzeitig einschläft.
»Schatz?«, rufe ich laut.
»Ich bin im Bad!«
»Ich fahre einkaufen. Wir grillen nachher.«
»Wodka Lemon?«, wundert sich Carmen ein paar Stunden später. »Haben wir Grund, uns zu betrinken?«
Härterer Alkohol hat auf Carmen meist die Wirkung, sie enthemmt zu machen. Und irgendwann ist mir aufgefallen, dass sie nach alkoholisiertem Sex besonders tief schläft. Deshalb ist ihr Getränk im Verhältnis eins zu eins gemischt, während ich mir nur Bitter Lemon eingeschüttet habe.
»Keinen besonderen«, antworte ich ihr zuprostend. Auf dem Grill brutzelt unterdessen der Fisch.
»Ich freue mich auf unsere Zukunft«, sagt sie.
Warum ängstigen mich ihre Worte?
Sie trinkt den ersten Schluck und zu meiner Freude beschwert sie sich nicht über den Alkoholgehalt.
Sobald sie abgelenkt ist, fülle ich uns nach. Ihr vor allem Wodka, mir ausschließlich den Softdrink. Kaum sind der Thunfisch und die Langusten verspeist, stelle ich aufgrund ihrer lallenden Sprache fest, kurz vor meinem Ziel zu stehen.
»Gute Idee von dir«, lobt sie mich. Unkoordiniert greift sie zur fast geleerten Wodkaflasche. Den größten Teil schüttet sie in ihr Glas, einen winzigen Rest gönnt sie mir. Sie leert das Glas in einem Zug und schaut mich dann lüstern an.
»Jetzt habe ich einen Vorschlag!«
Verstohlen blicke ich auf die Uhr. Es ist Viertel nach elf.
Nach einer Ewigkeit wälzt sie sich von mir herunter. Tatsächlich hatte ich Standschwierigkeiten, da der Alkohol sie vulgär gemacht hat. Überflüssigerweise kuschelt sie sich an mich. Es wird zwölf, Viertel nach, halb eins. Endlich dreht sie sich im Schlaf zur Seite. Ich warte bis zehn vor eins, ehe ich lautlos aufstehe. Aus ihrem Mund dringt ein leises Schnarchen. Hoffentlich wird sie nicht demnächst von einer vollen Blase geweckt.
Ich entdecke Paulina, die im Sand sitzt. Der Vollmond scheint von einem wolkenlosen Himmel und taucht den Strand in ein märchenhaftes Licht, die Nacht ist angenehm mild. Als ich noch ein paar Schritte entfernt bin, wird sie auf mich aufmerksam und erhebt sich. Wir umarmen uns flüchtig.
»Weiß Carmen von unserem Treffen?«
»Bin ich lebensmüde? Ich habe sie mit Alkohol abgefüllt und es ihr sexuell so besorgt, dass sie nun tief schläft.«
»Ich musste eine Migräne vortäuschen, um mich allein ins Zimmer zurückzuziehen«, erklärt Paulina.
»Was liegt dir auf dem Herzen?«, frage ich.
»Gehen wir spazieren.«
Eine Weile laufen wir still nebeneinander her, ehe sie mir die neuesten Entwicklungen beichtet.
»Juan versucht mich zu überreden, ihm nach Andalusien zu folgen. Er spricht von Hochzeit.«
»Was denkst du darüber?«
»Mich nervt es.«
Im Geiste balle ich eine Faust.
»Mich nervt es«, wiederholt sie, »Jahr für Jahr nach Deutschland zurückzukehren, ohne meinem Traum nähergekommen zu sein. Ich liebe die spanische Mentalität, ich liebe die Sprache, in Deutschland leiste ich mir bloß ein möbliertes Appartement, um wenig Geld auszugeben. Ich bin achtundzwanzig. Sollte ich nicht langsam erwachsen werden?«
»Mir kommst du sehr erwachsen vor. Wenigstens hast du ein Ziel. Im Gegensatz zu mir.«
»Ein unerreichbares Ziel. Ich habe mich von Juan überreden lassen. Am vierten Oktober fliegen wir mit Iberia nach Madrid, dort steigen wir in ein Flugzeug nach Sevilla.«
»Das ist in neun Tagen«, entfährt es mir entsetzt.
»Juan ist total glücklich. Er kann es kaum erwarten, mich seinen Eltern vorzustellen. Er ist schwer verliebt.«
»Und du?«, frage ich.
Ihr Schweigen lässt einen letzten Hoffnungsschimmer aufblitzen.
»Carmen und ich ziehen bald nach Madrid. Das macht mir Angst«, bekenne ich. »Manchmal rastet sie emotional aus. Du musst mir eins versprechen.«
»Was?«
»Wir bleiben in Kontakt. Wir schicken uns regelmäßig SMS. Wenn ich irgendwann auf eine spanische Telefonkarte umsteige, simse ich dir meine Nummer.«
»Klar!«
»Hörst du zwei Monate lang nichts von mir, schaltest du die Polizei ein. Nein. Besser nach einem Monat.«
Überrascht bleibt sie stehen. »Ist das dein Ernst?«
Als Mann fällt es mir nicht leicht, das einzugestehen. Trotzdem nicke ich.
»Dann solltest du nach Deutschland fliegen«, folgert sie.
»Aus deinem Mund klingt das so einfach!«
»Das ist so einfach!«
»Und falls sie mir dort wahnsinnig fehlen wird? Wenn meine Furcht übertrieben ist? Dann breche ich in Deutschland zusammen. Ohne Job, ohne Partnerin, ohne Paulina, die nachts über mich wacht.«
Aufgrund ihres Lächelns möchte ich auf die Knie sinken, ihr meine Liebe gestehen und mit ihr davonlaufen.
»Juan ist nicht der Richtige für mich«, stellt sie nach einer Weile fest. »Er lebt sorglos in den Tag hinein, verweigert sich Zukunftsplänen.«
»Von eurer Hochzeit abgesehen.«
»Mit ihm komme ich niemals ans Ziel.«
»Warum kehrst du nicht nach Deutschland zurück?«
»Deprimiert und ohne Aufgabe, weil ich mich nicht um dich kümmern darf? Nein. Da probiere ich es lieber mit ihm. Sein Dorf liegt nur vier Kilometer vom Strand entfernt. Ich kann jeden Tag mit dem Rad zum Meer fahren.«
»Also wagen wir beide einen Schritt, von dem wir nicht überzeugt sind«, stelle ich fest. »Gründen wir einen Klub.«
Wir schlendern wortlos weiter, irgendwann hakt sie sich bei mir unter und legt ihren Kopf auf meine Schulter. Für Außenstehende wirken wir bestimmt wie ein Liebespaar.
Als wir einen felsigeren Abschnitt erreichen, hocken wir uns auf einen großen Stein.
»Wann brecht ihr auf?«, will Paulina wissen.
»Wir haben noch keine Tickets gebucht.«
»Fliegt auch am Vierten!«, schlägt sie vor. »Wir könnten in die gleiche Maschine steigen. Wäre ein schöner Abschluss.«
Die Idee zieht mich sofort in ihren Bann. »Kennst du eure Flugnummer?«
»Nö. Aber der Flieger startet mittags um zehn nach eins. Wird wohl nur einen mit dieser Abflugzeit geben.«
Vor ihrem Hotel bleiben wir stehen.
»Danke für dein Ohr.«
Wir schauen uns an und in der nächsten Sekunde berühren sich unsere Lippen. Unser zweiter Kuss. Der Erste hatte den Zauber eines Neubeginns versprüht, dieser Kuss hingegen schmeckt nach Abschied.
»Ich bin froh, dich kennengelernt zu haben«, flüstert sie, als sie sich von mir löst.
»Ich werde dich nie vergessen«, verspreche ich ihr.
Bevor ich mich auf den Heimweg begebe, sehe ich ihr hinterher, bis sie im Gebäudeinneren verschwunden ist.
»Lass sie schlafen!«, bitte ich das Sandmännchen wispernd. Fast lautlos öffne ich die Tür.
»Wo warst du?«, ertönt Carmens Stimme.
Fauler, hinterhältiger, nichtsnutziger, verlauster Sandmann!
Ich gehe direkt ins Schlafzimmer. Wenigstens liegt sie noch im Bett. »Habe ich dich geweckt?«
»Wo warst du?«, wiederholt sie.
»Ich bin von einem Geräusch wach geworden«, pokere ich. »Klirrendes Glas. Kurz darauf ist ein Auto mit quietschenden Reifen weggefahren.«
»Und?«
»Ich wollte mich vergewissern, dass es nicht unser Cabrio war. Aber das steht an Ort und Stelle.«
Sie schlägt die Bettdecke beiseite, erhebt sich schwerfällig und wankt Richtung Bad. Ihr scheint der Wodka nicht gut bekommen zu sein. Ein Würgen untermauert meine Theorie.
Am nächsten Morgen bleibt Carmen mit einem Kater im Bett liegen. Ich breche zeitig auf und stehe zehn Minuten am Internetcafé vor verschlossener Tür. Carmens Ausweis steckt in meinem Portemonnaie.
Ungeduldig trete ich von einem Bein aufs andere, bis der Besitzer aufschließt. Ich stürme an ein Terminal, muss mich jedoch erneut gedulden, weil die Rechner eine Ewigkeit benötigen, ehe sie hochgefahren sind. Im Online-Portal von Iberia stelle ich fest, dass es in der gewünschten Maschine noch freie Plätze gibt. Ich gebe unsere Daten ein, zahle per Kreditkarte und drucke zuletzt die Tickets aus.
Nachmittags hat sich Carmen erholt. Ein kräftiger Wind hat Wolken nach S’Illot geweht, Carmen sitzt in eine dünne Decke gewickelt auf der Terrasse.
»Ich habe eine Überraschung für dich, die dir bestimmt gefallen wird«, versuche ich sie mit einer positiven Ansprache für mich einzunehmen.
»Was denn?«, fragt sie neugierig.
»Das Wetter kippt, außerdem kann ich es kaum erwarten, mit dir in deiner Wohnung zu leben. Also war ich im Internetcafé und habe zwei Flüge nach Madrid gebucht. Am vierten Oktober geht es los.«
Ihr ist die Verwunderung ins Gesicht geschrieben.
»So früh? Wolltest du nicht den Oktober hier genießen?«
»Egal! Ich bin bereit für unseren nächsten Schritt!«