Über den Wolken
»Mir ist laaaaaangweilig«, ertönt die Stimme eines etwa fünfjährigen Jungen zwei Reihen vor uns.
»Erzähl mal was Neues«, entgegnet der Vater genervt.
Sein Sohn hatte eine Minute zuvor die gleiche Information lauthals kundgetan, ohne eine Reaktion seiner Eltern zu erhalten.
»Spiel einfach mit ihm«, zischt die Mutter ihrem Partner zu.
Paulina schaut mich grinsend an, was ihre Gesichtszüge auf erstaunliche Weise verändert. Waren sie mir anfangs sympathisch, aber nicht ausgesprochen hübsch vorgekommen, muss ich mein Urteil spätestens jetzt revidieren.
»Seit wann ist es meine Aufgabe, Maximilian zu bespaßen?«, beschwert sich der Mann. »Die letzten Wochen im Büro haben mir genug abverlangt. Da steht mir wohl etwas Erholung zu. Warum kümmerst du dich nicht um ihn?«
»Weil ich hier tausend Tode sterbe.« Wie zur Bestätigung ihrer Aussage stöhnt sie kurz auf, als das Flugzeug in der Luft minimal absackt.
Der gestresste Bürohengst schnaubt abfällig, seine väterlichen Pflichten erfüllt er dennoch nicht.
Paulina beugt sich zu mir, ihre Haare kitzeln meine Wangen.
»Solche Paare begegnen mir in den nächsten Monaten ständig«, flüstert sie mir ins Ohr. »Er definiert sich lediglich in der Rolle des Ernährers, sie wünscht sich zumindest im Urlaub Unterstützung. Am Ende wälzen sie die Kinderbetreuung auf mich ab.«
»Mein Beileid«, wispere ich.
»Wenigstens glotzen mir die Kinder nicht die ganze Zeit auf den Ausschnitt«, erklärt sie gelassen.
Für einen Moment bin ich versucht, mich reflexartig zu rechtfertigen, ehe mir klar wird, dass sie Männer im Allgemeinen meint.
Paulina löst ihren Gurt und erhebt sich. Da sie ihr Dekolleté erwähnt hat, fühlen sich meine Augen vom selbigen wie magisch angezogen. Drei Knöpfe der Bluse stehen offen. Was sich unter ihrer Kleidung abzeichnet, sieht wohlgeformt aus, nicht zu groß, nicht zu klein.
»Du brauchst eine Spanierin«, rufe ich mir ins Gedächtnis, um mich von dem Anblick abzulenken.
»Was hast du gesagt?«, erkundigt sie sich.
»Nichts«, entgegne ich. Habe ich etwa laut gesprochen?
»Komisch, klang irgendwie nach Bauchspanner.«
Nuschle ich, wenn ich Gedanken unbeabsichtigt artikuliere? »Was soll ein Bauchspanner sein?«
Paulina lacht. »Ein Geständnis, dass du zu der selteneren Gattung der Bauchfetischisten statt zu den Tittenglotzern gehörst?«
Sie dreht sich seitlich zu mir und hebt kokett ihr Oberteil. Vom Hosenbund bis zum Bauchnabel sehe ich ihre leicht gebräunte, makellose Haut. Entweder treibt sie Sport oder der Kellnerjob hält sie auf Trab, denn ich entdecke kein überflüssiges Gramm Fett.
»Du wirst rot«, kichert sie.
»Sehr witzig!«, murmle ich und greife verlegen nach dem Bordmagazin.
»Junger Mann, wie wäre es mit einem Match Stein, Schere, Papier?«, fragt sie.
Ehe ich mich durchs Ausschlagen des Angebots zum Vollidioten mache, taucht zwei Reihen vor uns der Kopf des Kindes auf.
»Was ist mit Brunnen?«, will Maximilian wissen.
»Brunnen zählt nicht«, klärt ihn Paulina auf. »Brunnen ist für Weicheier. Wer zuerst zehn Punkte erreicht, gewinnt.«
Während die beiden ihr Startduell ausfechten – Paulina triumphiert mit Stein gegen Schere – überfliege ich die Artikel des Magazins. Aus den Augenwinkeln beobachte ich meine Reisebekanntschaft. Indem sie sich geringfügig später als ihr Gegner für eine der drei Alternativen entscheidet, sorgt sie dafür, dass er regelmäßig mit seiner Auswahl Erfolg hat. Beim Stand von sechs zu fünf für das Kind bleibe ich an einem Bericht über die architektonischen Schätze der mallorquinische Stadt Alcudia hängen.
Maximilian siegt mit zehn zu acht und bettelt um eine weitere Partie.
»Vielleicht hat dein Papa Lust bekommen. Er hat uns interessiert zugeschaut«, informiert sie ihn.
»Spielen wir?«
»Meinetwegen«, brummt der Vater.
Paulina lässt sich zufrieden zurücksinken. »Manche Männer benötigen lediglich einen kleinen Schubser.«
»Und manche einen Tritt in den Allerwertesten«, antworte ich, weil ich an Ines denken muss. Ihretwegen sitze ich in diesem Flugzeug.
Der Text über Alcudia endet mit Ausflugstipps abseits des Massentourismus.
»Wohin verschlägt es dich auf Mallorca?«, fragt Paulina.
»Alcudia«, erwidere ich. Dann wird mir bewusst, dass sie sich nicht nach dem Artikel, sondern nach meinem Urlaubsort erkundigt hat. Als ich mich korrigieren will, schiebt eine Stewardess ihren Wagen mit den käuflichen Produkten zu uns und lenkt Paulina ab.
»Möchten Sie etwas einkaufen?«
Paulina erwirbt Weingummi, ich lehne dankend ab. Die Gelegenheit, meine Aussage zu revidieren, verstreicht ebenso wie der Moment für die Gegenfrage, wo sie die nächsten Monate leben wird. Und überhaupt: Warum sollte mich das interessieren? Paulina ist zweifelsohne sympathisch, genauso wie Ines, Carola, Beatrix, Rafaela, Susanne und Svenja anfangs mit ihrer Art mein Herz erobert hatten. Glücklich bin ich mit ihnen trotzdem nicht geworden.
Paulina reißt die Tüte auf und bietet mir Gummibärchen an.
»Welche magst du am liebsten?«
»Die Grünen.«
»Das sind auch meine Favoriten. Wehe, du futterst sie auf«, warnt sie mich.
Unwillkürlich erinnere ich mich daran, dass Ines die gelben Bärchen bevorzugt.
Während das Flugzeug Frankreich überquert, laufe ich zu Höchstform auf. Nachdem sie sich nach weiteren Einzelheiten meines Jobs erkundigt hat, erzähle ich ihr ein paar Anekdoten und bringe sie immer wieder zum Kichern. Als ich ihr von meinem Spaß auf Tomasz’ Kosten berichte, lacht sie laut auf.
»Das hast du nicht wirklich geschrieben!«, sagt sie grinsend.
»Ehrenwort!«
»Der Arme. Hoffentlich hat er sich inzwischen von dem Schock erholt.«
Gleichzeitig greifen wir in die fast geleerte Gummibärchentüte. Unsere Hände berühren sich und sie lächelt mich auf eine Art an, die mich verlegen macht. Um dies zu überspielen, beschwere ich mich, dass sie das letzte grüne Bärchen futtert. Herausfordernd hebt sie ihre Augenbrauen und wirft sich den Weingummi gekonnt in den Mund.
Knappe neunzig Minuten später naht unser Abschied. Wir stehen zusammen mit den anderen Fluggästen am Gepäckband. Einer Gewohnheit folgend, will ich mich direkt ans Band begeben, als mich Paulinas Hand zurückhält.
»Bist du ein Drängler?«
»Bin ich was?«
»Beim Warten aufs Gepäck trifft man auf die unterschiedlichsten Menschentypen.« Sie deutet auf einen Mann mittleren Alters mit Halbglatze, einem Hawaiihemd und braunen Chinos. »Das ist ein Drängler«, erklärt sie mir.
Ich beobachte ihn, wie er sich rücksichtslos zwischen zwei Passagiere quetscht. Obwohl die Frau links von ihm aufstöhnt, weil er ihr auf den Fuß getreten ist, starrt er konzentriert auf die Koffer. Eine Entschuldigung kommt ihm nicht über die Lippen.
»Dann gibt es die vorgetäuschten Lässigen.«
Paulina zeigt auf einen jungen Kerl, der betont gelangweilt an einer Säule lehnt, die Arme vor der Brust verschränkt. Er wirkt, als hätte er alle Zeit der Welt, aber sein das Transportband fixierender Blick verrät ihn.
»Sobald er seine Tasche entdeckt, wird er zum Drängler«, informiert mich Paulina. Sie lenkt meine Aufmerksamkeit auf ein Rentnerpaar, das miteinander im Gespräch vertieft in der zweiten Reihe steht. »Die gehören zu den Geduldigen.«
Die Kokosnussstecher ordnet sie in die Kategorie der Nervigen ein, da sie sich an vier Stellen positionieren, um sich lautstark gegenseitig Hinweise zuzubrüllen. Außerdem weist sie noch auf die Kontrollfreaks (jeder infrage kommende Koffer wird inspiziert) und die Unentschlossenen hin. Letztere können sich nicht entscheiden, ob das anvisierte Gepäckstück ihnen gehört und lassen es eher eine zusätzliche Runde drehen, statt sich mit einem beherzten Griff zu vergewissern.
Als sich die Hälfte der Fluggäste vom Band entfernt hat, sichtet Paulina ihren hellblauen Rucksack. Kurz darauf greift sie nach ihrem dunkelblauen Hartschalenkoffer und ich nach meinem schwarzen Exemplar. Schwer bepackt schlendern wir Richtung Ausgang.
»Hier trennen sich unsere Wege«, sagt sie schließlich einige Meter vor den Glastüren. »Du musst dich am Informationsstand deiner Reisegesellschaft erkundigen, welcher Bus dich ins Hotel bringt.«
»Wie kommst du ins Hotel?«
»Mein Arbeitgeber sponsert ein Taxi.«
»Okay.« Ich lächle und spüre einen leichten Stich im Herzen. Die letzten Stunden an ihrer Seite haben mir gutgetan. »Ich wünsche dir reichlich Mittelmeerfeeling.«
»Und ich dir einen erholsamen Urlaub. War schön, dich kennenzulernen.«
»Fand ich auch.«
Wir umarmen uns und geben uns Abschiedsküsse auf die Wangen. Danach läuft sie mit ihrem Gepäck ins Freie. Ich schaue ihr hinterher, bis sie in ein Taxi einsteigt.