Leben wie Udo Lindenberg

Nach der Arbeit fahre ich auf dem Heimweg zu einem Supermarkt und kaufe die Zutaten für ein gemeinsames Dinner ein. Ich erwarte Ines nicht vor viertel nach sieben zurück, was mir genügend Vorbereitungszeit lässt. Ich besorge Hähnchenbrustfilet, Schalotten, Bandnudeln, Sahne, Hühnerbrühe, gemahlene Mandeln, Thymian, Currypulver, Butter und Paniermehl, da ich mir nicht über unsere Vorräte im Klaren bin, außerdem landen zwei Kerzen im Einkaufskorb, die später für eine romantische Stimmung sorgen sollen.

Meine Hoffnung, sie hätte irgendetwas auf die gebastelte Karte geschrieben – im Idealfall ein »Mir tut es auch leid« – erfüllt sich nicht, die Karte liegt stattdessen zerknüllt im Altpapier. Doch davon lasse ich mich nicht entmutigen. Ich bereite die Zutaten vor, zerschneide das Fleisch in mundgerechte Stücke und hacke zwei Schalotten klein. Danach beseitige ich die Spuren dieser Tätigkeit und fülle mir ein Schaumbad ein, um nachher gut zu riechen. Gegen halb sieben stehe ich frisch rasiert am Herd und koche Hähnchen-Curry auf Bandnudeln.

Um zehn nach sieben ist das Essen servierbereit und außer zwei gefüllten Töpfen auf dem Herd ist die Arbeitsplatte völlig aufgeräumt. Der Tisch ist gedeckt, in der Mitte befinden sich die beiden angezündeten Kerzen, die einen schönen Schein verbreiten, weil ich am Küchenfenster das Rollo herabgelassen habe.

Zehn Minuten später ist Ines noch nicht aufgetaucht. Normalerweise benötigt sie eine Viertelstunde von ihrer Arbeitsstätte nach Hause.

Um halb acht beginne ich mir Sorgen zu machen. Selbst auf einem kurzen Heimweg kann immer etwas Schlimmes passieren. Trotzdem rufe ich sie nicht an, denn ich will sie nicht nerven, nur weil sie sich ein wenig verspätet.

Allerdings halte ich meinen Vorsatz locker zu bleiben nicht lange aus und greife schließlich zu meinem Smartphone. Ihre Nummer befindet sich auf der Kurzwahltaste ›1‹, es klingelt sechsmal, ehe ihre Mailbox anspringt.

»Hallo, hier ist Ines. Ich kann leider nicht ans Telefon gehen, hinterlasst mir einfach eine Nachricht.«

»Ines, wo bist du?« Klingt meine Stimme vorwurfsvoll? Ich atme tief durch, bevor ich weiterspreche. »Ich habe eine Überraschung für dich vorbereitet. Wann kann ich mit dir rechnen?«

Ich beende das Gespräch und eine Erinnerung, die ich den ganzen Tag über zu verdrängen versucht habe, trifft mich mit voller Wucht. Nachdem sie gestern die Wohnung verlassen hat, ist sie erst morgens um zwei heimgekehrt. Aus Angst vor der Beantwortung der Frage, wo sie war, hatte ich mich schlafend gestellt. Wahrscheinlich hat sie sich bei ihrer besten Freundin ausgeheult, doch …

Unser Festnetztelefon klingelt und befreit mich von diesen trüben Gedanken. Ich renne ins Wohnzimmer und nehme das Gespräch beim dritten Klingeln entgegen.

»Hallo?«, sage ich in der Erwartung, meine Liebste zu hören.

»Melanie Schmitt vom Leserkreis daheim. Spreche ich mit Daniel Jakobi?«

Ohne Erwiderung lege ich auf. Wir hatten vor einiger Zeit für mehrere Monate das Modell einer Zeitschriftenausleihe ausprobiert, uns dann aber dagegen entschieden und die in Frage kommende Zeitschrift lieber abonniert. Dies hält den Anbieter nicht davon ab, alle vier Wochen, bevorzugt in den Abendstunden, telefonisch neue Angebote anzupreisen. Doch heute habe ich keine Lust, mir die aktuellsten Schnäppchen präsentieren zu lassen.

Es wird acht, Viertel nach acht, halb neun.

Um zehn vor neun puste ich die halb abgebrannten Kerzen aus und fülle das komplette Essen in drei Tupperdosen. Mir selbst ist der Appetit vergangen. Zwanzig Minuten später stelle ich die Dosen in den Kühlschrank.

Als sich die Wohnungstür kurz nach elf öffnet, sitze ich wie ein Häufchen Elend in der Küche.

»Wo warst du?«, erkundige ich mich matt.

Sie sieht mich an und in ihren Augen erkenne ich, dass es vorbei ist. Unsere dreijährige Beziehung ist an ihrem Ende angelangt. Mir wird speiübel und am liebsten würde ich zum Klo laufen, unterdrücke jedoch diese rein psychosomatische Reaktion meines Körpers.

»Wir müssen reden«, flüstert sie.

Sie setzt sich zu mir an den inzwischen abgeräumten Küchentisch, die Arme vor den Körper verschränkt. Wie unter einem Mikroskop fallen mir unzählige Kleinigkeiten auf: die vereinzelten Sommersprossen, die ihre Nase sprenkeln, die kleinen Lachfältchen an den Augen, ein Muttermal am linken Ohrläppchen. Außerdem entdecke ich auf ihrer rosafarbenen Bluse einen dunkelroten Fleck.

»Ich habe mich vor ein paar Wochen in einen Arbeitskollegen verliebt«, sagt sie leise und starrt dabei auf den Küchentisch. »Lange Zeit war ich mir nicht sicher. Sind das Frühlingsgefühle oder steckt mehr dahinter? Seit gestern weiß ich, es ist mehr.«

Deswegen ist sie erst in der Früh nach Hause gekommen. Und ich Idiot mache mich noch zum Affen, indem ich ihr eine Karte bastle.

»Außerdem ist mein Vertrauen in dich zerstört.«

»Was?«, frage ich überrascht. Sie redet von Vertrauen? »Wieso?«

Nun blickt sie mir in die Augen. »Du hast mich körperlich bedroht.«

»Wann?«

»Du hast mich gegen meinen Willen an dich gepresst.«

»Ich wollte mich mit dir versöhnen«, erläutere ich.

»Du wolltest mir wehtun«, beharrt sie.

»Du hast mir in die Eier getreten. Wer hat also wem wehgetan?«

»Das ändert nichts an deinen Absichten.«

»Ich hatte gehofft, wir könnten diesen lächerlichen Streit so aus dem Weg räumen.«

»Wie aufschlussreich! Du findest meine Ansichten also lächerlich!«, dreht sie mir die Worte im Mund um.

»Das habe ich nicht behauptet!«

»Zieh bitte bis zum Wochenende aus! Und bis dahin schläfst du auf der Couch!«

Wahrscheinlich hat sie wegen dieser Machtposition nie gewollt, dass ich mich an der Finanzierung der Wohnung beteilige. Außer der Hälfte des Hausgeldes inklusive Strom musste ich nichts zum Wohnungsunterhalt beitragen.

Wortlos gehe ich ins Schlafzimmer und hole vom Kleiderschrank zwei Koffer herunter. In den ersten packe ich meine Klamotten und bekomme meine gesamte Frühlings- und Sommerkleidung untergebracht, in den zweiten stopfe ich meine Kosmetiksachen, einige Handtücher, Unterwäsche, ein paar DVDs und meinen Laptop samt Schutztasche. Nach zwanzig Minuten sind die meisten Spuren von mir aus der Wohnung getilgt und mir wird bewusst, hier lediglich ein geduldeter Gast gewesen zu sein.

Ines bleibt während meiner Packaktion in der Küche mit dem Rücken zur Tür sitzen. Sie versucht nicht, mich von meinem übereilten Aufbruch abzubringen. Selbst als ich den Wohnungsschlüssel vom Bund löse und auf die grauen Küchenfliesen schleudere, reagiert sie nicht.

»Leb wohl!«, sage ich verbittert.

»Du auch.«

Ich öffne die Tür, wuchte die beiden Koffer hinaus und schließe ein langes Kapitel meines Lebens.

Zumindest beinahe, denn als ich an der Haustür ankomme, stelle ich fest, dass sie verschlossen ist.

»Wie typisch!«, murmle ich. Im nächsten Augenblick erlischt das Flurlicht und ich stehe eine Weile im Dunkeln, ehe ich mich aufraffe, nach oben zu schlurfen.

Ich betätige kurz die Klingel und Ines macht mir nach ein paar Sekunden auf.

»Unten ist abgeschlossen.«

Sie geht in die Küche, hebt meinen Schlüssel vom Boden auf und drückt ihn mir in die Hand. »Schmeiß ihn in den Briefkasten!« Gefühllos drückt sie mir die Tür vor der Nase zu.

In meinem Auto starre ich minutenlang dumpf vor mich hin. Wo verbringe ich die Nacht? Während der Beziehung mit Ines habe ich keine großen Freundschaften gepflegt und bei den wenigen Menschen, mit denen ich mich gut verstehe, möchte ich nur ungern um Mitternacht mit zwei gepackten Koffern vor der Tür stehen. Meine Eltern leben weit entfernt und fallen daher als Alternative aus. Also lade ich mir auf meinem Smartphone eine App herunter, mit der man weltweit freie Hotelzimmer suchen kann. Ich tippe die Stadt meines Arbeitgebers ein und die Anwendung präsentiert mir insgesamt siebenundvierzig Hotels. Nach kurzem Überlegen entscheide ich mich für eines in der Nähe meiner Arbeitsstelle.

Die junge Rezeptionistin schaut mich müde an.

»Schönen guten Abend«, begrüßt sie mich trotzdem freundlich-professionell. Sie trägt eine weiße Bluse und darüber eine rote Jacke, auf der sich ein Namensschild befindet, laut dem sie Annika heißt.

»Guten Abend. Was kostet ein Zimmer bei Ihnen?« Eigentlich eine überflüssige Frage, denn über die Preise konnte ich mich dank der App und eines Schildes neben der Eingangstür bereits informieren.

»Neunundfünfzig Euro die Nacht, ein reichhaltiges Frühstücksbüfett gibt es für zehn Euro extra.«

»Gibt es einen Sondertarif für Gäste, die für einen Monat einchecken?«

Annika wirkt verdutzt.

Auf der halbstündigen Anfahrt habe ich mir ausgiebig Gedanken gemacht. Natürlich muss ich mir eine Wohnung suchen, will dabei aber nichts überstürzen. Und es gibt zwei beruhigende Faktoren, derentwegen ich mir Zeit lassen kann. Zum einen habe ich in den letzten Jahren jeden Monat reichlich Geld von meinem Gehalt übrig behalten, weil ich keinem exklusiven Hobby fröne und auch keine teuren Anschaffungen getätigt habe. Mein Tagesgeldkonto weist einen Stand von mehr als zwanzigtausend Euro auf und auf meinem Girokonto verfüge ich ebenfalls über ein Guthaben von viertausend Euro.

Der Ursprung des zweiten Faktors liegt fünfzehn Jahre zurück. Im Juli siebenundneunzig schenkte mir mein inzwischen leider verstorbener Patenonkel, der in den Achtzigerjahren nach Amerika ausgewandert war, ein Aktienpaket zur Volljährigkeit. Das Paket umfasste fünfhundert Wertpapiere einer einzigen Firma, deren Kurs pro Aktie zum damaligen Zeitpunkt drei Dollar dreißig betrug. Der Name der Firma lautete Apple. Bei einem Kurs von sechshundertsechzig Dollar verkaufte ich das komplette Paket. Das ohnehin sehr großzügige Geschenk, das an meinem achtzehnten Geburtstag einen Wert von eintausendsechshundertfünfzig Dollar hatte, verschafft mir eine finanzielle Reserve von etwa dreihunderttausend Euro, die ich gut verzinst angelegt habe.

Annika erholt sich schnell von ihrer Überraschung und reicht mir einen Anmeldebogen. »Das kann ich Ihnen nicht sagen«, überspielt sie ihre Unwissenheit. »Bestimmt haben wir einen Sondertarif für langfristige Gäste. Allerdings müssten Sie den mit dem Direktor aushandeln. Herrn Jesche treffen Sie werktags von neun bis achtzehn Uhr an.«

Nachdem ich das Formular ausgefüllt habe, gibt sie mir eine Magnetkarte für ein Zimmer im vierten Stock.

Ein leises Summen signalisiert mir den Zugang zu meinem vorübergehenden Zuhause. Ich stoße die Tür auf, schalte das Licht ein und lasse den ersten Eindruck auf mich wirken. Das Zimmer ist geräumig und verfügt über ein großes Doppelbett, das von zwei Nachttischen umrahmt wird, auf denen kleine Lampen stehen. Der grüne Vorhang ist zugezogen, zur Ausstattung des Raumes gehören zudem ein an der Wand hängender Flachbildfernseher, ein Tisch mit einem Telefon und ein roter Ledersessel. Gegenüber dem Fußende des Bettes steht ein Kleiderschrank.

Da die Luft im Raum stickig ist, führen mich meine ersten Schritte zum Fenster. Ich schiebe den Vorhang und die weiße Gardine beiseite, dann öffne ich das Fenster, wodurch Straßenlärm zu mir hochdringt. Danach inspiziere ich das moderne, mit einer Duschzelle versehene und weiß gekachelte Badezimmer.

»Willkommen daheim«, flüstere ich, während ich den Koffer mit der Kleidung zum Schrank rolle.