Telefonumfrage
Bei geöffnetem Fenster liege ich auf dem Bett des Hotelzimmers und starre an die weiß gestrichene Decke. Zwei Fliegen kreisen in einer eintönigen Flugbahn um die Lampe und wirken hypnotisierend. Der zu mir dringende Straßenverkehrslärm lullt mich zusätzlich ein.
Von dem Zwischenfall bei der Arbeit lasse ich mich in meinem Vorhaben nicht entmutigen. Allerdings sollte ich vor den nächsten Versuchen zunächst einmal Informationen sammeln, bei wem sich die Mühe lohnt.
Gerade als ich über die Beantwortung der Frage eindöse, wie ich an diese Hinweise gelange, trifft mich die Erkenntnis wie ein elektrischer Schlag. Begeistert von meinem Geistesblitz springe ich vom Bett auf und hole aus meiner Tasche meinen Kalender heraus. Auf einem leeren Blatt notiere ich spanische Nachnamen, die mir spontan im Kopf umherschwirren: Gomez, Fernandez, Sanchez, Gonzalez, Rodriguez, Blanco.
Gonzalez streiche ich wieder, um jeglichen unglücklichen Zufall auszuschließen. Dann mache ich mich auf den Weg in die Hotellobby. Am Empfang sitzt ein junger Mann, der in seinen Computerbildschirm vertieft ist. Als er mich bemerkt, widmet er mir seine ungeteilte Aufmerksamkeit.
»Wie kann ich Ihnen helfen, Herr Jakobi?«, erkundigt er sich lächelnd und beeindruckt mich mit seinem Namensgedächtnis.
»Haben Sie ein städtisches Telefonbuch, das ich mir ausleihen kann?« Ungeduldig trommle ich mit den Fingern auf den Tresen zwischen uns.
»Was?« Irritiert schielt er zu meiner Hand.
Ich schnalze wegen seiner Begriffsstutzigkeit und zwinge mich, das Trommeln zu unterlassen.
»Telefonbuch?«, wiederhole ich meinen Wunsch langsam, als würde ich mit einem grenzdebilen Betrunkenen sprechen. »Zum Ausleihen auf mein Zimmer?«
Er runzelt die Stirn. »Haben wir ein Telefonbuch?«, murmelt er.
Gegen meinen Willen setzen sich meine Finger erneut in Bewegung. Er lässt sich davon nicht ablenken, schnalzt jedoch seinerseits. »Ich frage mal beim Chef nach.«
Der Hotelangestellte verlässt den Empfangsbereich und es dauert eine Ewigkeit, bis er zurückkehrt. Zu meiner Freude hält er dabei ein relativ dickes, weißes Örtliches in der Hand.
»Ohne Ö fehlt dir was«, flöte ich einen alten Werbejingle und strahle ihn an. »Danke!«
»Das ist das aktuelle, persönliche Exemplar von Herrn Jesche. Insofern bittet er Sie um vollständige, unversehrte und zügige Rückgabe.«
Ich reiße ihm das Telefonbuch aus der Hand, und weil er nicht sofort loslässt, verknittert eine Ecke. In seinem Gesicht spiegeln sich Zweifel wider, ob ich den Wunsch des Direktors erfüllen werde.
Eine halbe Stunde später habe ich auf meiner Liste insgesamt sieben Namen samt Telefonnummern stehen. Bei meiner Suche habe ich Anschlüsse, denen ein männlicher Vorname zugeordnet ist, ignoriert, dafür aber Anschlüsse, bei denen der Vorname mit einem Buchstaben abgekürzt ist, berücksichtigt.
Maria Blanca
Isabel Fernandez
M. Fernandez
E. Gomez
M. Gomez
P. Rodriguez
C. Sanchez
Mein Gefühl rät mir, die Anrufe in umgekehrter, alphabetischer Reihenfolge vorzunehmen, also starte ich mit C. Sanchez. Ich greife zum Telefon des Hotelzimmers und tippe die erste Nummer ein. Nach dem siebten Klingeln meldet sich eine alte Frauenstimme.
»Hallo?«
»Hier ist das städtische Amt für europäische Integration, Schulze mein Name, guten Tag. Mit wem spreche ich?«
»Carmen Sanchez«, antwortet die Frau und in ihrer Stimme bemerke ich eine Spur Misstrauen, weil eine offizielle Stelle Kontakt zu ihr sucht.
»Da habe ich mich wohl verwählt, entschuldigen Sie vielmals.« Bevor die Frau etwas erwidern kann, lege ich auf. Natürlich hätte ich mich informieren können, ob sie vielleicht eine junge Tochter hat, aber auf meiner Liste stehen noch genügend potenzielle Chancen, um sich nicht an diesen Strohhalm klammern zu müssen.
»Pablo Rodriguez!«
Ich hasse Männer, die nicht ihren vollen Namen abdrucken lassen!
»Sind Sie an einem sechsmonatigen Probeabo zum Vorzugspreis interessiert?«, erkundige ich mich säuselnd.
»Um welche Zeitschrift handelt es sich?«, fragt er.
Erst verwirrende Angaben im Telefonbuch hinterlassen und dann ein leichtes Opfer für Telefonverkäufer sein. Wie kommt so jemand überhaupt durchs Leben?
»Der moderne Heimwerker«, ist das Erste, was mir einfällt.
»Eine neue Handwerkerzeitschrift?« Pablo klingt begeistert. »Von der habe ich noch nichts gehört.«
»Das ist schade, das Abo zum Sparpreis können wir leider nur Lesern anbieten, die uns bereits kennen. Leben Sie wohl.« Während ich auflege, bittet er mich flehentlich, das Gespräch nicht zu beenden, weil er sich so einsam fühlen würde. Unter anderen Umständen hätte ich mich seiner angenommen.
Bei M. Gomez meldet sich ein Anrufbeantworter.
»Falls ihr den Fußballer Mario Gomez sprechen wollt, seid ihr bei mir falsch. Wollt ihr mit einem coolen Mario Gomez reden, hinterlasst eine Botschaft nach dem Pieps.«
Möge er ruhig denken, ein Fußballfan sei zufällig auf seine Nummer aufmerksam geworden.
E. Gomez ist nicht zuhause. Ich beschließe, am frühen Abend einen erneuten Anwahlversuch vorzunehmen.
Bei M. Fernandez habe ich mehr Glück.
»Fernandez«, meldet sich eine Frau mit erotischer Stimme.
»Schulze vom städtischen Amt für europäische Integration. Bin ich mit Maria Fernandez verbunden?«, wage ich einen Schuss ins Blaue.
»So ist es«, bestätigt sie mir.
»Schön, dass ich Sie erreiche. Das Amt für europäische Integration kümmert sich um das Wohlbefinden unserer Bürger mit Wurzeln im EU-Ausland. Sie haben doch spanische Wurzeln?«
»Genau.«
»Können Sie mir ein paar Minuten Ihrer Zeit für ein kurzes Interview über Ihre persönlichen Lebensumstände opfern?«
»Wenn es nicht zu lange dauert.«
»Versprochen. Zunächst einmal einige allgemeine Fragen. Wie alt sind Sie?«
»Siebenundzwanzig.«
»Seit wie vielen Jahren leben Sie in unserer Stadt?«
»Seit 2006.«
»Ihr Familienstand? Verheiratet, ledig, geschieden, verwitwet?«
»Ledig.«
Überraschend, wie aussagebereit Bürger sind, sobald sie glauben, von einem Amt befragt zu werden. »Haben Sie Kinder?«
»Hätte ich gerne mit dem richtigen Mann an meiner Seite.« Sie stößt ein verbittertes Lachen aus, das mich etwas abschreckt. Warum hat Maria Schwierigkeiten, einen zeugungswilligen Partner zu finden? Dann erinnere ich mich an Kathrin und ihre Probleme bei der Suche nach dem passenden Gegenstück. Manchmal tragen nicht die Frauen die Schuld.
»Wie beurteilen Sie Ihre Lebenssituation auf einer Skala von eins bis sechs?«
»Bedeutet eins sehr gut?«
»Genau.«
»Fünf Minus!«
Plötzlich höre ich eine herrische, männliche Stimme im Hintergrund. »Mit wem telefonierst du?«
Das Gespräch wird unterbrochen und ich starre fassungslos auf das Telefon. Hat sie mich angelogen, was ihren Familienstand anbelangt? Oder hat sie einem völlig Fremden am Telefon darüber ihr Herz ausgeschüttet, nicht mit dem richtigen Mann zusammen zu sein, um Kinder in die Welt zu setzen? Wütend knalle ich den Hörer auf, enttäuscht über das abrupte Ende, nachdem es so verheißungsvoll begonnen hatte.
Ich nehme mir einen Erdbeerjoghurt aus dem Kühlschrank und löffle ihn frustriert aus. Danach spüre ich genügend neue Energie in mir, um den nächsten Anruf zu starten. Leider meldet sich bei Isabel Fernandez ein kleines Kind, was mich zum sofortigen Auflegen veranlasst. Auch mit dem Mann, der anstelle von Maria Blanca das Gespräch entgegennimmt, will ich mich nicht unterhalten.
Kurz nach achtzehn Uhr wähle ich die letzte verbliebene Nummer.
»Elena Gomez!«
Die Stimme klingt nicht sexy, aber sympathisch.
»Schulze vom städtischen Amt für europäische Integration. Schön, Sie zu erreichen, Frau Gomez. Unser Amt kümmert sich um das Wohlbefinden der Bürger mit Wurzeln im EU-Ausland. Sind Sie spanischer Herkunft?«
»Genau.«
»Haben Sie ein paar Minuten Zeit für eine kurze Befragung über Ihre persönlichen Lebensumstände?«
»Reichlich spät für ein Telefoninterview«, wundert sie sich. »Wieso arbeitet ein städtischer Bediensteter noch um diese Uhrzeit?«
Mist!, fluche ich innerlich. Wahrscheinlich befinden sich alle Beamten längst im Feierabend, nachdem sie einen weiteren Tag den Kampf gegen das Wachstum ihrer Hämorriden verloren haben.
»Das Projekt wird zwar von der EU bezahlt, jedoch nur, wenn wir bis morgen Mittag dreizehn Uhr erste Zahlen liefern. Ich werde das Büro nicht vor zehn Uhr heute Abend verlassen und mir ist jetzt schon schummrig vor Hunger«, drücke ich auf die Tränendrüse.
»Sie Ärmster!«, schluckt sie meine Lüge. »Dann stellen Sie mir rasch Ihre Fragen!«
Dieser empathische Ausbruch vermittelt mir ein gutes Gefühl. »Sehr freundlich von Ihnen, vielen Dank. Zunächst einmal einige allgemeine, statistische Angaben. Wie alt sind Sie?«
»Achtunddreißig.«
Die fünf Jahre Altersunterschied versetzen meinen Hoffnungen einen Dämpfer. Trotzdem schließe ich sie noch nicht aus, im Zweifel würde ich mich sogar auf eine ältere Frau einlassen, falls alles andere passt. »Seit wann leben Sie in Deutschland?«
»Seit meiner Geburt. Meine Eltern sind in den Sechzigern eingewandert.«
»Sind Sie verheiratet, ledig, geschieden, verwitwet?«
»Ledig«, erfolgt die zögerliche Antwort.
»Wie beurteilen Sie Ihre Lebenssituation in unserer Stadt auf einer Skala von eins bis sechs im Schulnotensystem?«
»Zwei Plus.«
»Haben Sie viele deutsche Freunde oder verkehren Sie eher in einem spanischen Umfeld?«
»Oh«, reagiert sie überrumpelt. »Warum wollen Sie das wissen?«
»Die EU möchte herausfinden, wie integriert unsere ausländischen Mitbürger sind.«
»Ich habe einen deutschen Pass«, informiert sie mich.
»Die Wurzeln der Herkunft sind für mein Projekt wichtiger als die Staatsbürgerschaft.« Ich blicke auf meinen Notizzettel, auf dem ich unbewusst ein kleines Herz neben ihren Namen gekritzelt habe. Sie ist eine intelligente, ledige Frau mit angenehmer Stimme. Der Altersunterschied schreckt mich nicht mehr ab.
»Meine Freunde sind hauptsächlich Deutsche. Mit deutschen Eltern.«
»Also könnten Sie sich auch einen deutschen Mann als Ehepartner vorstellen?«
»Was?« Sie wirkt völlig aus dem Konzept gebracht.
»Das klingt jetzt vielleicht etwas überraschend, aber hätten Sie Lust, sich mit mir zu treffen?«
»Wurden Sie von meinen Eltern angestiftet?«, lautet ihre unerwartete Reaktion.
»Von Ihren Eltern angestiftet?«
»Die sollen sich endlich damit abfinden! Früher war ich nie so glücklich wie jetzt!« Elena beendet das Telefonat und mir dringt ein Besetztzeichen entgegen. Ich verstehe nur Bahnhof und habe keine Ahnung, warum sich das Gespräch in diese Richtung entwickelt hat. Als ich fünf Minuten später wieder bei ihr anrufe, um das Missverständnis aus der Welt zu schaffen, hebt sie nicht mehr ab.
Abends um halb zehn kehre ich von einem Kneipenbesuch angetrunken ins Hotel zurück. Aufgrund von reichlichem Biergenuss verspüre ich das Bedürfnis nach einer erneuten Kontaktaufnahme mit Elena. Ich wanke zum Telefon, lasse mich schwerfällig in den bequemen, roten Sessel fallen und drücke ohne große Hoffnung die Wahlwiederholungstaste. Zu meiner Freude meldet sie sich nach wenigen Freizeichentönen.
»Hallo?«
»Elena!«, begrüße ich sie überschwänglich. »Gut, dass ich Sie erreiche. Ich wollte mich für meine kleine Far… Farz…, äh, mein kleines Schauspiel entschuldigen. Mein Name ist nicht Schulze und ich bin nicht vom Amt für Integral, äh Integration. Ich heiße Daniel Jakobi und würde Sie wirklich gerne kennenlernen. Völlig unverbildlich, nein, -bindlich.«
Nach dem letzten Tropfen Alkohol hatte ich mir geschworen, mit der Wahrheit ans Licht zu rücken, falls ich sie noch einmal erreichen würde. Das unbewusst aufs Papier gekritzelte Herz scheint mir ein Zeichen gewesen zu sein. Wir sind füreinander bestimmt!
»Wie heißen Sie?«
Bilde ich es mir bloß ein oder klingt ihre Stimme anders als vor einigen Stunden?
»Daniel Jakobi. Wir sind uns nie zuvor begegnet und genau das würde ich gerne ändern.« Ich habe den Eindruck, zu lallen, und versuche mich zusammenzureißen. Diese Chance will ich nicht vermasseln.
»Daniel Jakobi?«
»Wahrscheinlich wirke ich seltsam auf Sie, weil ich Sie um ein blindes Date bitte, doch Sie müssen wissen, ich werde nur mit einer Spanierin glücklich.« Ich hickse und entschuldige mich sogleich.
»Arbeiten Sie zufälligerweise bei …« Während Elena den Namen meines Arbeitgebers nennt, rülpse ich versehentlich.
»Ups«, sage ich albern kichernd. »Woher wissen Sie, wo ich arbeite? Sind wir uns schon mal begegnet?«
»Das hat Konsequenzen!«, faucht Elena und beendet das Gespräch. Ratlos lässt sie mich zurück.