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Mit schweißnassen Händen stehe ich vor der Glastür. Wie werden meine Kollegen auf mich reagieren? Gestern war ich noch ein absolutes Wrack, während ich heute aufgrund einer einzigen Erkenntnis neuen Lebensmut gefasst habe. Hoffentlich glauben sie nicht, ich würde ihnen etwas vorspielen.

Ich wische die Hände an den Hosenbeinen ab und öffne schwungvoll die Tür.

»Guten Morgen!«, rufe ich laut.

Die Köpfe meiner bereits anwesenden Kollegen drehen sich zu mir. Kathrin steht direkt auf und nimmt mich in den Arm. »Habt ihr euch versöhnt?«

»Kein Interesse meinerseits«, kläre ich sie auf. »Sie hat mich mit einem Arbeitskollegen betrogen! Ich könnte ihr nie wieder vertrauen!«

»Du siehst wirklich besser aus als gestern«, stellt Michaela fest.

»Ich hatte genügend Zeit zum Nachdenken«, sage ich, während ich meine Tasche auf den Schreibtisch lege. »In den letzten Monaten lief es nicht mehr so toll. Mir hat was gefehlt. Ihr scheint es genauso gegangen zu sein. Die Trennung kam zwar plötzlich, war aber folgerichtig.« Ich nehme das Urlaubsfoto von der Trennwand, reiße es in der Mitte entzwei und zerknülle die untreue Tomate. Da mir Voodooerfahrung fehlt, landet sie lediglich im Papierkorb.

»Respekt!«, lobt mich Kathrin. »Ich wünschte, mein Liebeskummer würde sich auch so schnell in Luft auflösen.«

Obwohl sie eine atemberaubend schöne Frau ist, hat sie Schwierigkeiten, den richtigen Mann zu finden, der mit ihr sesshaft werden und eine Familie gründen will.

In den ersten zwei Stunden unserer Schicht spüre ich regelmäßig Kathrins besorgten Blick, doch irgendwann scheine ich sie von meiner seelischen Blitzgenesung überzeugt zu haben. Seitdem ich das Geheimnis des Glücks entschlüsselt habe (ich werde nur mit einer Spanierin glücklich), ist der Weg dahin (wie lerne ich die richtige Spanierin kennen) keine unüberwindbare Herausforderung.

Kurz nach der Mittagspause erreicht uns eine an alle Mitarbeiter adressierte Rundmail der Personalabteilung.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

bitte denkt daran, Eure Reisekostenabrechnung für das erste Quartal bis spätestens 15. Juni per elektronischer Abrechnung im Human Ressource Portal einzugeben. Später eingegangene Erstattungswünsche können nicht berücksichtigt werden.

Mit freundlichen Grüßen

Maria Gonzalez

Weil ich in den letzten Monaten keine dienstlichen Reisen angetreten habe, landet die Mail im virtuellen Papierkorb. Fast im gleichen Moment runzle ich die Stirn und schiebe die Nachricht zurück in den Ordner für die Eingangspost.

»Maria Gonzalez«, flüstere ich ihren Namen.

Seit Anfang des Jahres sind alle Mails aus der Personalabteilung von ihr verschickt worden. Die zuvor zuständige Helga Schmitt hatte kurz vor Weihnachten den Beginn ihres vorzeitigen Ruhestands mit einem Umtrunk gefeiert.

»Kennt jemand diese Maria Gonzalez von Human Ressource?«, frage ich laut. Da mich Silke und Arnd neugierig mustern, lasse ich mir schnell eine passende Ausrede einfallen. »Ich überlege, Bildungsurlaub zu nehmen. Die Schmitt hat sich diesbezüglich stets beamtenmäßig angestellt.«

»Bildungsurlaub?«, hakt Arnd nach. »Polnisch für Anfänger?«

»Ich würde Französisch für Vollprofis bevorzugen«, erwidere ich mit dreckigem Lachen.

»Buch für mich mit, falls die Lehrerin ein Schulmädchenkostüm trägt«, fügt Alexander hinzu.

»Männer!«, stöhnt Michaela genervt.

Eine hilfreiche Information über Maria Gonzalez kann mir keiner meiner Kollegen geben. Also tippe ich ihren Namen ins Intranet ein, finde aber nur eine Durchwahl und eine E-Mail-Adresse. Warum sind nicht Fotos von sämtlichen Mitarbeitern hinterlegt? Das werde ich demnächst als Verbesserungsvorschlag anregen.

Ein paar Minuten überlege ich fieberhaft, bis ich davon überzeugt bin, dass ihre heutige Mail ein Wink des Schicksals war. Deswegen klicke ich in der Nachricht auf »Antworten«.

Liebe Maria,

ich möchte meine Spanischkenntnisse auffrischen und dafür Bildungsurlaub beantragen. Im Zuge der europäischen Finanzkrise ist es schließlich nicht abzusehen, ob wir nicht zukünftig unsere Callcenter nach Südeuropa verlegen, weil dort alsbald geringere Löhne als im Osten bezahlt werden. Welche Reiseziele könntest Du empfehlen? Das Festland oder eher eine der Inseln?

Muchas gracias y hasta luego

Daniel Jakobi

Als sie nach einer halben Stunde noch immer nicht reagiert hat, werde ich nervös. Habe ich sie beleidigt, da sie als stolze Spanierin nicht über die Lohnentwicklung in ihrer Heimat nachdenken will? Hält sie mich für einen Schmarotzer, der auf Firmenkosten den Ballermann unsicher machen will?

Verdammt! Wie konnte ich so blöd sein und diese Nachricht abschicken? Bestimmt hat sie die schon dem Personalvorstand gezeigt und die Herrschaften beraten gerade über ihr weiteres Vorgehen. Beziehung und Job innerhalb von achtundvierzig Stunden gekillt. Tolle Leistung, Daniel Blödarsch Jakobi!

Ob mir der Vorstand das Projekt Ehehafen iberische Halbinsel absegnen wird? Immerhin kann ich empirisch belegen, in meiner Vergangenheit nur mit einer Spanierin rundum glücklich gewesen zu sein. Oder streichen sie das Vorhaben mangels Erfolgsaussichten und feuern den Verantwortlichen?

Da ich gebannt auf den Bildschirm starre, um ihre Antwort nicht zu verpassen, bemerke ich den Neuankömmling in unserem Büro erst, als er mir auf die Schulter tippt. Zu allem Überfluss erschrecke ich mich dermaßen über die plötzliche Berührung, dass ich einen Laut ausstoße, der ungefähr wie eine Mischung aus »umpf« und »iiik« klingt.

Dr. Ignatius Wohlmüller erschreckt sich aufgrund meiner Reaktion ebenfalls, macht instinktiv einen Schritt nach hinten und tritt dabei Kathrin versehentlich auf den Fuß, die von einer Raucherpause kommend wegen des anwesenden Chefs bemüht war, möglichst unauffällig zu ihrem Arbeitsplatz zu gelangen und sich deswegen hinter Ignatius’ Rücken hergeschlichen hat. Ihr Schmerzempfinden steht den Vorzügen eines unbeachteten Auftritts leider gleichgültig gegenüber und zwingt sie

a) laut aufzustöhnen

und

b) den Verursacher des Schmerzes reflexartig von sich zu stoßen.

»Was erlaubst du dir?«, brüllt Ignatius, während er mit dem Gleichgewicht kämpft und sich an mir festhält.

»Du hast mir auf den Fuß getreten«, rechtfertigt sich Kathrin.

»Nicht absichtlich, aber du hast mich vorsätzlich geschubst!«, wirft ihr Ignatius vor.

»Das war ein Reflex!«

»Könnte man auch als Notwehr bezeichnen«, mischt sich Arnd ein, der kein sonderlich gutes Verhältnis zum Chef pflegt und diese Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen will.

Ignatius mustert uns, als wären wir lästige Küchenschaben. Dann befiehlt er mich in sein Büro.

»Was hast du dir dabei gedacht?«, fragt mich Ignatius vorwurfsvoll, während er in seinen Sessel sinkt.

»Ich hab dich nicht kommen sehen. Warum schleichst du dich von hinten an?«, verteidige ich mich. Eventuell hat die Auseinandersetzung mit Kathrin eine Amnesie ausgelöst und er kann sich gar nicht mehr an den Grund seines Auftauchens in unserem Büro entsinnen.

»Du weißt genau, was ich meine«, belehrt er mich. Wo bleiben die Gedächtnislücken von Vorgesetzten, wenn man sie gebrauchen könnte? Warum treten sie immer nur bei Themen wie versprochene Gehaltserhöhungen oder Realisierung vereinbarter Vergünstigungen auf?

Er greift zu einer ausgedruckten Mail, die am rechten Rand seines Schreibtisches liegt, und mustert sie angewidert. Ich hoffe, der Blick resultiert aus seiner Abneigung gegen Papierverschwendung und spiegelt nicht seine Meinung über meinen Flirtversuch wider. »Was hast du hiermit bezweckt?«

Obwohl die Buchstaben für mich auf den Kopf stehen, erkenne ich genau, welche Mail er in den Händen hält.

»Maria Gonzalez? Ist das dein Ernst?«

»Sorry«, sage ich leise.

»Du bist seit einem Tag Single und belästigst Arbeitskolleginnen?«

»Belästigen würde ich das …«

»Ich sitze im Meeting der Hauptabteilungsleiter, als diese Furie hereinstürmt und Alfons die Mail zeigt.«

Alfons Bekker ist der Chef der Personalabteilung.

»Alfons und Maria sind per Du«, klärt mich Ignatius unnötigerweise auf.

»Wir sind alle per Du«, erinnere ich ihn.

Er hebt seine rechte Hand und kreuzt Mittel- und Zeigefinger. »Die beiden sind so. Bittet ihn Maria um etwas, erhält sie es.«

»Also ist sie seine Geliebte«, schlussfolgere ich geknickt. Immer locken die dicksten Tiere die Weibchen auf ihre Wiese!

Ignatius bricht in schallendes Gelächter aus. »Du kennst sie wirklich nicht«, sagt er glucksend. Er wendet sich seinem Bildschirm zu, öffnet einen Ordner und dreht den Monitor dann so zu mir herum, dass ich ein Foto der letzten Weihnachtsfeier betrachten kann.

»Niemand im Unternehmen weiß, warum Alfons sie zu Helgas Nachfolgerin bestimmt hat, aber an sexuellem Interesse seinerseits lag es nicht.« Der Mauszeiger schwebt über einer Frau Mitte Vierzig, die mindestens einen Zentner zu viel wiegt. Ihre schwarzen, dünnen Haare wirken völlig fettig, ihr Gesicht ist aufgedunsen und ihre Kleidung mit Discountware schmeichelhaft umschrieben.

Trotzdem erscheint mir die Theorie eines sexuellen Verhältnisses am wahrscheinlichsten, wenn eine einfache Mail dafür sorgt, dass ich zum Rapport bei meinem Chef antreten muss.

»Vielleicht hat er gewisse Bedürfnisse«, vermute ich.

Ignatius schaut an mir vorbei zur geschlossenen Tür. »Das einzige Bedürfnis, das er von ihr befriedigt bekommen würde«, informiert er mich mit gesenkter Stimme, »ist das Begaffen einer Lesbennummer.«

»Oh«, flüstere ich.

Ignatius räuspert sich. »Sie hat verlangt, dir eine Abmahnung zu erteilen!«

»Diese blöde Les..«

Sein strenger Blick bringt mich zum Schweigen.

»Ich habe Alfons von der Maßlosigkeit dieser Forderung überzeugen können.«

»Danke.«

»Aber nur, weil ich mich nicht mit dem Betriebsrat auseinandersetzen will. Bei Abmahnungen reagieren die immer so verschnupft.« Ihm ist anzumerken, was er von Betriebsräten im Allgemeinen und ihrem Mitspracherecht in disziplinarischen Angelegenheiten hält. »Hiermit ermahne ich dich allerdings offiziell, weder Maria Gonzalez noch anderen Frauen dieses Unternehmens zukünftig belästigende Mails zu schicken. Außerdem wirst du dir erneut den Rest des Tages freinehmen und das wiederum mit Überstunden ausgleichen.«

»Ich will …«

»Widerspruch ist zwecklos. Das war das Mindeste, was Alfons als Konsequenz verlangt hat. Und damit kommst du gut weg. Andere Mitarbeiter freuen sich über die Möglichkeit, bei schönem Wetter Überstunden abzugleiten. In fünf Minuten hast du das Gebäude verlassen. Mach dir mal Gedanken, ob du nicht Urlaub einreichst. Du wirkst überdreht und ich will mich nicht weiter mit den Folgen deiner Liebesprobleme herumplagen müssen.«