Bürozombie
»Was ist denn mit dir passiert?«, erkundigt sich Michaela, als ich mich um zehn nach acht ins Büro schleppe. Trotz der kurzen Anfahrt habe ich mich verspätet, weil ich nach einer Nacht, in der ich nicht eine Minute schlafen konnte, mit einer ausgiebigen Dusche und vier Tassen Kaffee zum Frühstück probiert hatte, meine Lebensgeister zu wecken. Die anderen Kollegen mustern mich besorgt und in ihren Augen erkenne ich, wie es um mich bestellt ist.
»Ines hat mich rausgeworfen«, erkläre ich leise.
Michaela steht von ihrem Arbeitsplatz auf, bestimmt will sie mich tröstend in den Arm nehmen. Ich entgehe diesem wohlgemeinten Angebot, indem ich mich auf meinen Stuhl fallen lasse. Im Gegensatz zu der einsamen Nacht im Hotel werde ich hier nicht in Tränen ausbrechen. Auch die anderen Kollegen gesellen sich zu uns.
»Was ist zwischen euch vorgefallen?«, fragt Kathrin.
»Wo hast du geschlafen?«, will Alexander wissen.
»Ich habe ein freies Gästezimmer«, bietet mir Klaus an.
»Sie hat bereits einen Neuen!«, jammere ich.
»Diese Schlampe!«, echauffiert sich Klaus.
Reflexartig will ich Ines in Schutz nehmen, aber mir tut der Zuspruch meiner Kollegen viel zu gut, als dass ich jetzt für meine Verflossene in die Bresche springe und eine Teilschuld auf mich lade.
»Ich rufe bei meiner Frau an. Sie soll das Zimmer herrichten«, beweist sich Klaus als Mann der Tat. Als er sich von uns abwendet, greife ich nach ihm und halte ihn an der Schulter fest. »Das ist nicht nötig. Trotzdem vielen Dank.« Ich versuche ein Lächeln hinzubekommen, doch meine Gesichtsmuskeln scheinen die dafür notwendige Koordination vergessen zu haben.
»Du musst irgendwo unterschlüpfen«, widerspricht mir Klaus.
»Ich habe mich in einem Hotel einquartiert und suche mir in aller Ruhe eine Wohnung.«
Die Kollegen wissen von meinen finanziellen Reserven und niemand stellt in Frage, dass ich mir wahrscheinlich für die nächsten zehn Jahre ein Hotelzimmer leisten könnte. Außerdem kennen sie mich gut genug und ahnen, dass ich niemandem zur Last fallen will.
Plötzlich wird die Tür zu unserem Büro aufgerissen und ein Mann in einem modischen, dunkelblauen Boss-Anzug stampft genervt herein. Wie immer, wenn er hektisch ist, fährt er sich mit seiner linken Hand über die Halbglatze.
»Warum hat mich niemand über diese Abteilungsversammlung informiert? Dann hätten wir die Callcenter vorwarnen können. So sind wir nicht erreichbar und haben seit zwei Minuten vier Anrufer in der Warteschleife!«
Dr. Ignatius Wohlmüller ist unser Abteilungsleiter, der sich nur aus seinem schicken Büro bemüht, wenn sein Team eine unterdurchschnittliche Leistung abliefert. Manchmal bekommen wir ihn tagelang nicht zu Gesicht, was uns allen ganz recht ist, da wir ohne das Taktschlagen eines Steuermanns am besten arbeiten.
Er wird auf mich aufmerksam und schüttelt den Kopf. Bestimmt fragt er sich, wie man sich als Mann bei der Arbeit so schwach präsentieren kann. Empathie gehört ganz sicher nicht zu seinen Führungsqualitäten.
»Alle, die gerade keinen Grund zum Heulen haben, gehen zurück an ihren Arbeitsplatz und sorgen für eine Steigerung unserer Leistungskennzahlen«, befiehlt er streng. »Ich will mich morgen nicht beim Hauptabteilungsleitermeeting rechtfertigen müssen! Daniel, du kommst mit in mein Büro.«
Zehn Minuten später hat mich Ignatius ausgequetscht. Wahrscheinlich würde er in CIA-Geheimgefängnissen gute Karrierechancen haben, denn er musste mich nicht einmal waterboarden, um die Wahrheit über meinen Beziehungsstatus zu erfahren, obwohl mein Chef der Letzte ist, dem ich mich normalerweise privat anvertrauen würde. Doch nach der zweiten Tasse Espresso, die immerhin die bleierne Müdigkeit aus meinen Knochen vertrieben hat, bin ich schwach geworden, froh darüber, jemanden zum Reden zu haben.
Ignatius schiebt seinen Ledersessel ein Stück vom aufgeräumten Schreibtisch zurück, auf dem sich neben dem Computerbildschirm lediglich eine Unterschriftenmappe sowie das Etui eines Mont-Blanc-Füllers befinden, und steht auf. Er hatte vor fünf Jahren die Initiative für ein papierloses Büro in unserer Firma ergriffen und schreitet seitdem mit gutem Beispiel voran. In dieser Zeit haben sich hier an unserem Hauptsitz die Druckkosten um dreiundvierzig Prozent reduziert.
Von seinem Fenster blickt er direkt auf den Park. Meine Augen richten sich automatisch auf das Ölgemälde an der Wand, auf dem eine einsame Ranch in Namibia abgebildet ist. Nach seiner Pensionierung will sich Ignatius eine solche Ranch kaufen, um den Rest seiner Tage in Ruhe und Frieden zu verbringen, wie er uns beim letztjährigen Weihnachtsumtrunk in seinem Büro mitgeteilt hat. Ich beneide ihn um diese glasklare Lebensperspektive, denn ich weiß noch nicht einmal, wo ich in zwei Monaten wohnen werde. Allerdings schwant mir Böses für seine zukünftigen Hausangestellten. So wie ich ihn kenne, wird er Mittel und Wege finden, die Sklaverei nach Namibia zurückzubringen.
»Nach meinen beiden Scheidungen habe ich mich innerlich verwirrt gefühlt. Wie konnten es sich die blöden Kühe erlauben, mich zu verlassen?«, erinnert er sich. »Trotzdem bin ich zur Arbeit gefahren und habe die von mir erwartete Leistung abgerufen.« Er öffnet das Fenster auf Kippe und lässt frische Luft in den Raum. Dann dreht er sich zu mir um. »Das Gleiche erwarte ich ab morgen von dir.«
»Wieso ab morgen?«, vergewissere ich mich, ihn richtig verstanden zu haben. Normalerweise lässt er keine Ausrede für schlechte Zahlen gelten.
»Du gehst nun zurück ins Hotel«, schreibt er mir vor.
»Bin ich suspendiert?«, frage ich im Versuch, ironische Lässigkeit an den Tag zu legen.
Ignatius lächelt mitleidig. »Nur von deiner Ex-Partnerin.«
Ignatius hält inne, als er sieht, wie ich wütend auf seinen Spruch reagiere.
»War ein Scherz«, beruhigt er mich. »Tut mir leid, wenn er dich verletzt hat.« Er verdreht fast unmerklich die Augen und macht mir deutlich, wie wenig er von empfindlichen Mitarbeitern hält. »Du bist heute gar nicht in der Lage, einen vernünftigen Job zu machen. Und ich möchte nicht, dass die Leistung deiner Kollegen ebenfalls leidet, weil sie sich um dich sorgen und dich verhätscheln. Komm morgen mit klarem Kopf ausgeruht wieder. Dann haben wir alle mehr davon.«
»Ich bleibe lieber hier«, schlage ich sein Angebot aus. »Im Hotel würde mir bloß die Decke auf den Kopf fallen. Hier werde ich wenigstens gebraucht.«
»Das war keine Bitte, sondern eine dienstliche Anordnung. Du hast den Rest des Tages frei! Die Fehlstunden werden natürlich von deinem Zeitkonto abgerechnet.«
Der Direktor des Hotels bekommt eine abgespeckte Version meiner Leidensgeschichte serviert. Nach einer Trennung und dem damit verbundenen Wegzug aus der alten Heimat wolle ich mir eine neue Existenz aufbauen und mich in aller Ruhe um eine geeignete Wohnung kümmern. Daher sei ich an einem mehrwöchigen Hotelarrangement interessiert, sofern er mir ein gutes Angebot unterbreiten könne.
Er nimmt einen Kugelschreiber zur Hand, schreibt ein paar Zahlen auf eine leere Notizblockseite, greift schließlich zum Taschenrechner und tippt diese Zahlen ein.
»Tausendzweihundert Euro inklusive Frühstück, einem Pkw-Stellplatz und einem kleinen Kühlschrank in Ihrem Zimmer, falls Sie für den ganzen Monat im Voraus bezahlen«, schlägt er vor.
Ich denke kurz darüber nach, verspüre jedoch keine Lust, mit ihm wie auf einem Basar zu feilschen. Also nicke ich zustimmend. In den nächsten achtundzwanzig Tagen habe ich keine Obdachlosigkeit zu befürchten.
Abends verlasse ich das Hotel und schlendere los. Die Sonne hat den ganzen Tag über die Luft erhitzt, dabei sollte es eigentlich meiner Gefühlslage entsprechend in Strömen regnen. Auch jetzt ist es noch so warm, dass ich lediglich mit einem weißen T-Shirt und einer dünnen Baumwollhose bekleidet bin.
An einer verkehrsreichen Straße angekommen, bleibe ich unschlüssig stehen. Auf der anderen Seite liegen eine Kneipe und ein Kinokomplex. Da ich auf einen einsamen Kinobesuch keine Lust habe, entscheide ich mich für ein paar Drinks. Kurz darauf finde ich mich kurz in der Cocktailbar wieder, die aus einem langen Raum mit hoher Decke besteht. Nach dem Öffnen der Glastür steige ich einige Stufen hinab, auf denen Stadtillustrierte und Werbematerialien ausliegen. Ich greife nach einer Zeitschrift und gehe damit zu einem freien Tisch in der Nähe der Theke.
Während ich den ersten Artikel lese, taucht eine Kellnerin an meinem Platz auf.
»Was darf’s sein?«, erkundigt sie sich.
Ohne von der Zeitschrift aufzusehen, bestelle ich einen Tequila Sunrise. Ich blättere weiter und lande unweigerlich bei den Kontaktanzeigen. Gerade als ich den ersten Text der Rubrik Sie sucht ihn überfliege, stellt mir die Kellnerin das Getränk auf den Tisch. Ertappt zucke ich zusammen. Bestimmt ist ihr aufgefallen, worin ich vertieft bin.
Verschämt lächle ich die bildhübsche Kellnerin an. Sie ist Mitte Zwanzig, hat schulterlanges, schwarzes Haar, einen dunklen Teint – soweit sich das im schummrigen Licht der Bar sagen lässt – und dunkle Augen. Möglicherweise ist sie sogar Spanierin. Sie könnte als Halbschwester von Penélope Cruz durchgehen. Leider scheint sie mein Lächeln nicht registriert zu haben, denn sie hat sich bereits wieder umgedreht und steuert den nächsten Tisch an.
»Auf das Singleleben«, proste ich mir selbst leise zu und nippe am Cocktail.
Meine Gedanken schweifen zu den verflossenen Frauen in meinem Leben: Ines, Carola, Beatrix, Rafaela, Susanne und Svenja. Mit Ines, Rafaela und Svenja habe ich mir jeweils eine Wohnung geteilt. Doch alle Beziehung sind kläglich gescheitert.
Plötzlich erinnere ich mich an das Mädchen, das mich entjungfert hat. Sie hieß Carmen und ich lernte sie durch einen Sprachurlaub in Madrid kennen, den ich zur Abivorbereitung von meinen Eltern gestiftet bekommen hatte. Carmen war die Tochter der Gastfamilie, die mir drei Wochen lang ein Zimmer zur Verfügung gestellt hatte. Wir waren uns von Anfang an sympathisch, flirteten rasch miteinander. Nach fünf Tagen küssten wir uns das erste Mal; ich war siebzehn und hatte nie zuvor so viele Schmetterlinge im Bauch gespürt wie bei ihrem Anblick. Die nächsten zwei Wochen hatte ich ein Visum fürs Paradies: Immer wenn es sich einrichten ließ, unternahmen wir etwas zusammen, und zwei Tage vor meinem Heimflug schlich sie sich nachts in mein Zimmer, um mir die Sterne vom Himmel zu holen. Bei der Abreise zerriss es mich dann innerlich: Glücklich über die mit ihr verbrachte Zeit fiel ich wegen unserer Trennung in ein schwarzes Loch. Wir versprachen uns, Kontakt zu halten und uns im folgenden Jahr wiederzusehen. Wenigstens das erste Versprechen hielt sie vier Monate, bis ein Brief von mir nicht mehr beantwortet wurde. Vielleicht hatte ihr Vater ihn abgefangen, misstrauisch geworden durch unseren regelmäßigen Kontakt, vielleicht hatte sie das Interesse an ihrem deutschen Don Juan verloren. Selbst die Bestnote im Abiturfach Spanisch konnte mich nicht über meinen Kummer hinwegtrösten.
Wie sehr hatte mich diese Erfahrung geprägt? Hatte ich alle folgenden Freundinnen mit der feurigen Carmen verglichen? Hatte ich mich stets nach diesen aufregenden Gefühlen gesehnt und sie nie wieder mit gleicher Intensität erlebt?
Der letzte Rest des Cocktails fließt meine Kehle hinunter. Spanische Frauen haben ein ganz besonderes Temperament. Carmen war auch sehr impulsiv gewesen, was ich äußerst erregend fand.
Die Rädchen in meinem Kopf greifen ineinander über. Bei allen Verflossenen hat mir etwas gefehlt. Leidenschaft, Feuer im Herzen, Spontanität! Kriselten die Beziehungen deswegen über kurz oder lang, weil ich seit jenem Urlaub auf der Suche nach Emotionen bin, die nur ein bestimmter Frauentyp in mir auslöst?
Mit jeder Sekunde wird mir klarer, was ich mehr als fünfzehn Jahre zu verdrängen versucht habe: Wirklich glücklich kann ich bloß mit einer Spanierin werden! Das scheint in meiner DANN zu liegen. Also muss meine nächste Freundin aus diesem Land stammen.
Die Kellnerin, die laut ihrem Namensschild Carla heißt, tritt an meinen Tisch.
»Möchtest Du noch einen Cocktail?«
»Cómo estás?«, greife ich auf meine alten Spanischkenntnisse zurück, die zwar eingerostet sind, aber für eine Konversation in einer Kneipe ausreichen dürften. Zumal die Frage nach ihrem Wohlergehen keine schwierige ist.
»Häh?« Carla blickt mich verständnislos an. Ist meine Aussprache so schlecht geworden oder hat sie mich aufgrund der Nebengeräusche nicht richtig verstanden? Außer der dezenten Hintergrundmusik schweben Gesprächsfetzen anderer Gäste in der Luft und ergeben einen unangenehmen Klangbrei.
»Quiero hablar español contigo«, teile ich ihr meinen Wunsch mit, Spanisch plaudern zu wollen.
»Ich bin Portugiesin!« In ihren Augen lodert ein Feuer, das mich zu entzünden droht. Doch ich kann nicht für eine Portugiesin meinen erst gerade eben aufgestellten Vorsatz brechen, eine Spanierin kennenlernen zu wollen.
»No hablo portugués«, weise ich auf meine fehlenden Portugiesischkenntnisse hin.
Sie sieht mich an, als hätte ich ihr etwas Unanständiges angeboten, und wendet sich kopfschüttelnd ab.