Kapitel 15

Susan

Gedimmtes Licht, auf dem gedeckten Tisch das stimmungsvolle Flackern zweier Kerzen, im Hintergrund die Klänge meiner neuen Lounge-CD – eigentlich sollte man annehmen, dass eine solche Atmosphäre für erotische Stimmung sorgt. Doch David kaut nur wortkarg auf meinem Boeuf bourguignon herum. Stundenlang habe ich es im Ofen schmoren lassen, dazu Bandnudeln aus dem Feinkostladen besorgt und für den Salat sogar Pinienkerne geröstet.

»Noch etwas Rotwein?«, frage ich.

»Nein, danke.« Sein Lächeln wirkt aufgesetzt. »Schmeckt ausgezeichnet. Du bist eine tolle Köchin.«

»Man tut, was man kann.« Ich halte kurz inne. »Du bist schon wieder so komisch. Genau wie neulich. Stört dich irgendwas, mache ich irgendwas falsch? Oder brauchst du nur immer ein bisschen Zeit, um aufzutauen? Vielleicht wirke ich aufdringlich, aber dein Verhalten verunsichert mich irgendwie.«

Er räuspert sich und starrt auf seinen Teller. Ich sehe, wie es in ihm arbeitet.

»Es ist so«, beginnt er, legt sein Besteck zur Seite und schaut mir ernst in die Augen. »Ich habe mit meinem Bruder gesprochen.«

Ich schlucke und beiße mir auf die Unterlippe. Auf eine Antwort verzichte ich vorerst.

»Du kannst dir bestimmt denken, was er mir erzählt hat. Ich finde es ehrlich gesagt ziemlich seltsam, dass du ihn über mich ausgefragt hast. Warum hast du das getan?«

Nervös spiele ich mit meiner Serviette. »Du beschämst mich.«

»Nein, du beschämst mich, Susan. Glaubst du, ich bin ein Monster? Warum misstraust du mir? Alexander auszuhorchen, ist ganz schön starker Tobak. Du hättest mich doch direkt ansprechen können, anstatt hinter meinem Rücken zu spionieren.«

»Du hast recht. Es tut mir wirklich leid. Vergibst du mir?«

»Ohne eine Erklärung? Ich weiß nicht.«

»Doch, ich will es dir erklären, auch wenn es mir schwerfällt. Ich habe das bisher nur sehr wenigen Menschen anvertraut. Aber du bist mir wichtig. Also … ich hatte mal einen Stalker.«

»Oha! Echt?« Davids Pupillen weiten sich, und er greift über den Tisch nach meiner Hand. Zärtlich streichelt er meine Finger und nickt mir aufmunternd zu. »Das muss schlimm gewesen sein. Wann war denn das?«

»Vor etwa sechs Jahren. Ich hatte massive Probleme mit ihm und bin deshalb bis heute extrem misstrauisch. Was du nun ausbaden musst. Bitte entschuldige, dass ich dich mit diesem Idioten quasi in einen Topf geworfen habe.«

»Natürlich. Jetzt verstehe ich dein Verhalten schon viel besser. Ich hatte beruflich mehrfach mit Stalking zu tun und weiß, was die Opfer durchmachen müssen. Der Druck, dem sie ausgesetzt sind, ist immens. Hinzu kommen die Scham und das Gefühl, dass einem sowieso niemand glaubt.«

»Genau!«, rufe ich aus. »Man kommt sich so unsagbar blöd vor. Schließlich ist man selbst schuld, weil man einem solchen Irren vertraut hat. Meistens stammen Stalker ja aus dem persönlichen Umfeld und sind keineswegs Fremde.«

Davids Appetit ist zurückgekehrt, und er dreht Nudeln um seine Gabel. Genüsslich nimmt er einen Bissen.

»Das kann man so nicht unbedingt sagen. Es gibt auch viele Psychopathen, die sich ihre Opfer willkürlich aus Internetforen oder sonstigen anonymen Plattformen fischen. Eine Menge Promis werden zum Beispiel gestalkt. Genau wie Blogger. Andererseits gibt es natürlich auch Fälle, in denen der Gestalkte seinen Stalker kennt. Wie bei dir offenbar?«

»Ja, bei mir war von Anfang an klar, wer es auf mich abgesehen hatte.«

Ausführlich berichte ich von Christian, meinem Ex. Die Atmosphäre entspannt sich, bereitwillig lässt David sich Rotwein nachschenken und lobt erneut meine Kochkünste, während das Essen auf meinem Teller kalt wird. Das stört mich allerdings nicht, denn ich will noch Platz lassen fürs Dessert, das im Kühlschrank wartet.

»Wir waren ein knappes Jahr zusammen. Ist eine gefühlte Ewigkeit her, doch wenn ich darüber spreche, kommt es mir wieder vor, als wäre es gestern gewesen. Ich fürchte, die Wunden sind immer noch nicht ganz verheilt.«

»Ich habe kein Problem mit deinen Narben, Süße«, schmeichelt mir David. »Du hättest es mir vorher sagen sollen, aber natürlich verstehe ich auch, dass du dich nicht getraut hast. Wahrscheinlich hast du große Angst, noch einmal an einen Psychopathen zu geraten.«

»Dabei ist das völlig absurd, denn vor mir sitzt der tollste Mann der Welt.«

Ich stehe auf und gehe um den Tisch herum. Eilig schiebt er seinen Stuhl ein Stück nach hinten, zieht mich auf seinen Schoss und küsst mich liebevoll. Nach einer Weile nehme ich seine Gabel und drücke sie ihm in die Hand.

»Iss bitte, es wäre jammerschade um das teure Fleisch. Wir machen später dort weiter, wo wir stehengeblieben sind.«

»Okay, dann erzähl mal ausführlicher, ich will alles über diesen Idioten Christian wissen.«

Zurück auf meinem Platz, greife ich den Faden wieder auf. »Die Beziehung fing prima an. Christian war ein echter Gentleman. Großzügig, loyal und sehr verliebt. Er erfüllte mir jeden Wunsch, ehe ich ihn überhaupt ausgesprochen hatte. Auf so was fahren wir Frauen ab.«

»In Fachkreisen auch Beklunkern genannt«, sagt er grinsend.

»Nie gehört«, bekenne ich. »Was ist damit gemeint?«

»Wenn Männer ihre Weiber von oben bis unten mit Schmuck behängen, um in ihrer Gunst zu steigern. Beklunkern eben.«

»Weiber?«

Kritisch spitze ich die Lippen und verenge die Augen zu schmalen Schlitzen.

»Entschuldige«, sagt er hastig. »Blöd von mir. Frauen wollte ich sagen. Als Junggeselle gewöhnt man sich schnell eine unmögliche Ausdrucksweise an.«

»Ach was, ist doch nicht schlimm. Ich rede selbst oft Blödsinn. Jedenfalls hat Christian mich auch beklunkert. Und mir gefiel das natürlich. Welche Frau fühlt sich nicht wie eine Königin, wenn sie verwöhnt und umschmeichelt wird?«

»Keine Ahnung. Ich bevorzuge Beziehungen, die auf Augenhöhe stattfinden und solche albernen Gesten nicht nötig haben«, sagt er ein wenig schroff.

Bevor dies nun in einer unnötigen Grundsatzdebatte endet und ich ihm erkläre, dass das eine mit dem anderen rein gar nichts zu tun hat, komme ich zurück auf das Thema Stalking.

»Na ja, er wurde jedenfalls schnell extrem besitzergreifend. Seine Eifersucht ging so weit, dass er sogar ein Problem damit hatte, wenn ich zu lange mit dem Gemüsehändler quatschte. Am liebsten wäre ihm gewesen, ich hätte mit keinem anderen männlichen Wesen kommuniziert. Woran ich mich selbstverständlich nicht hielt. Irgendwann wurde es mir zu bunt, und ich machte Schluss.«

»Den Rest kann ich mir denken. Er ließ dich nicht in Ruhe.«

»Korrekt. Er weigerte sich schlichtweg, die Trennung zu akzeptieren. Ich versuchte ihm klarzumachen, dass wir nicht zueinander passen. Dass es bestimmt eine Frau gibt, die besser für ihn ist und es genießt, die Einzige zu sein. Ich bin nun mal jemand, der die Kommunikation mit anderen Menschen braucht wie die Luft zum Atmen, egal ob Männlein oder Weiblein. Aber keine Chance. Anstatt mich loszulassen, bombardierte er mich mit Anrufen, SMS, WhatsApp-Nachrichten. Tag und Nacht. Rund um die Uhr. Sieben Tage die Woche.«

»Fürchterlich. Bist du denn auch mal richtig sauer geworden?«

»Ja, klar«, sage ich seufzend, stehe erneut auf und wandere durch den Raum. Mit den Händen unterstreiche ich meine Worte. »›Christian‹, habe ich ihn angebrüllt, ›lass mich endlich in Frieden und verschwinde aus meinem Leben. Sonst gehe ich zur Polizei. Das grenzt schon an Stalking, was du hier treibst!‹ Daraufhin wurde es aber nicht besser, sondern eher schlimmer. Er fing an, mir per Post Drohbriefe zu schicken, in denen stand, dass er mich verfolgen und fertigmachen würde. Natürlich ohne Absender. Wenn ich unterwegs war, fühlte ich mich ständig beobachtet – und manchmal entdeckte ich ihn tatsächlich hinter Hausecken oder Bäumen versteckt, das komplette Programm eben. Ich war fix und fertig. Niemand kann sich vorstellen, wie grauenvoll es ist, einen solchen Psycho an den Hacken zu haben.«

»Du hast ihn hoffentlich angezeigt, oder?«

»Nein. Das bringt eh nichts. Ich hatte ja keine handfesten Beweise, sondern lediglich Vermutungen. Man liest doch immer wieder, wie Opfer zu Tätern stilisiert werden. Am Ende ist die Frau sowieso die Dumme, und ihr wird geraten, einfach nicht mehr auf die Provokationen zu reagieren. Darauf hatte ich keine Lust. Heutzutage haben wir Frauen ja sogar bei einer Vergewaltigung kaum eine Chance, weil wir ernsthaft nachweisen müssen, dass wir uns gewehrt haben oder mit K.o.-Tropfen wehrlos gemacht wurden – als ob das ohne Weiteres möglich wäre! Mann, mich regt dieses Thema echt auf!«

»Hm.«

Nachdenklich schiebt er seinen leeren Teller beiseite. »Ist jetzt eh zu spät, aber hey, vor dir sitzt ein waschechter Polizist, dein Freund und Helfer.« Wir lachen befreit auf, doch dann wird seine Miene wieder ernst. »Verrätst du mir seinen Namen? Damit ich dich in Zukunft vor ihm beschützen kann?«

»Ach, David, nimm das bloß nicht persönlich. Ich habe mit dem ganzen Mist endgültig abgeschlossen und will an dieses Arschloch nicht mehr erinnert werden. Außerdem lebt er weit weg in einer anderen Stadt. Ich habe sämtliche Kontaktmöglichkeiten gekappt, damit er mich nicht mehr nerven kann. Darum ist jetzt auch schon längst Ruhe. Mich findet man zum Beispiel nicht in den sozialen Netzwerken. Meine Privatsphäre bedeutet mir extrem viel.«

»Das Internet nutzen wir doch alle«, wendet David ein. »Wie will man heute noch vernünftig arbeiten, ohne im Netz unterwegs zu sein?«

»Stimmt, aber das ist dann eben der Job. Meinen Beruf könnte ich ohne Internet natürlich nicht ausüben. Privat allerdings: Fehlanzeige.«

David kommt zu mir ans Fenster und nimmt mich fest in den Arm. Ich schmiege mich an seine Brust und lasse mir den Rücken streicheln.

»Wie heißt er, Baby?«, flüstert er mir ins Ohr.

»Christian Dorint«, sage ich mit leiser Stimme und füge hinzu: »Ich vertraue dir.«

»Danke. Das weiß ich zu schätzen und werde es nicht missbrauchen.«

»Komm, ich zeige ihn dir auf Facebook. Da hat er sein Profil auf öffentlich gestellt, sodass man ihn gut erkennen kann. Aber nimm auf gar keinen Fall Kontakt zu ihm auf, hörst du? Ein zweites Mal würde ich den Wahnsinn nicht durchstehen.«

»Das würde ich niemals tun, Süße. Ich will schließlich, dass es dir gut geht.«

»Ich wüsste, wie es mir noch besser gehen könnte«, hauche ich und wandere mit den Fingern unter sein T-Shirt.

Knutschend tapsen wir zum Sofa, lassen uns drauffallen und machen ein bisschen rum. Er scheint nicht besonders neugierig auf den Stalker sein, oder falls doch, lässt er es sich nicht anmerken. Seine Erregung steigt sichtlich. Vorsichtig bremse ich ihn aus.

»Bringen wir es hinter uns«, sage ich, löse mich aus seinen Armen und ziehe den Laptop auf dem Couchtisch näher zu uns heran.

Auf der Startseite gebe ich Christians Namen als Suchbegriff ein und warte, was der Computer ausspuckt. Den ersten Link klicke ich an; es ist tatsächlich sein Profil bei Facebook. David studiert aufmerksam die Infos. Christian Dorint sieht wie ein harmloser Businesstyp aus, blond, blauäugig, und lächelt freundlich in die Kamera. Er lebt im Norden des Landes, hat an einer bekannten Universität studiert und ist begeisterter Freizeittaucher.

»Kein Mensch käme auf die Idee, dass er ein Stalker ist«, meint David. »Ich kann gut verstehen, dass du auf ihn reingefallen bist. Dich trifft absolut keine Schuld, Susan.«

»Danke. Das ist sehr lieb von dir.«

»Ich muss dir übrigens auch ein Geständnis machen.«

»Oha, jetzt kommt’s. Ich hab doch gewusst, dass die Sache einen Haken hat«, unke ich ironisch. »Hauptsache, du bist kein Stalker. Mit allem anderen kann ich leben. Sofern du keine kleinen Kinder zum Frühstück verspeist.«

»Quatsch.« Liebevoll zwickt er mich am Bauch. »Zum Frühstück bevorzuge ich Kaffee und Toast. Ähm, möglicherweise bin ich aber auch ein Stalker.«

Verwirrt senke ich den Blick.

»Natürlich kein richtiger«, fügt er verschämt hinzu. »Ich wollte mehr über dich erfahren und habe dich gegoogelt. Sagt man doch so, oder?«

Ich brumme zustimmend. »Ja, schon. Aber wenn ich mich bei deinem Bruder nach dir erkundige, ist das übergriffig – und wenn du mich googelst, ist das legitim? Ich meine ja nur …«

»Touché.« Mit Hundeblick hebt er die Arme und formt einen Schmollmund.

Lachend drücke ich ihm einen Kuss auf die Lippen. »Alles in Ordnung, Süßer, ich konnte es natürlich selbst nicht lassen und habe nach Internetprofilen von dir gesucht.«

»Da waren wir wohl beide nicht sehr erfolgreich«, meint er. »Jetzt verstehe ich auch, warum du dich so zurückhältst.«

»Genau. Und du? Warum gibt’s von dir fast nichts? Dein Facebook-Profil habe ich zwar gefunden, aber das meiste ist ja nur für Freunde sichtbar.«

»Mein Vorgesetzter sieht es nicht gern, wenn wir Privates öffentlich machen«, erklärt er und zieht den Laptop auf seinen Schoß. »Grundsätzlich ist es ein ungeschriebenes Gesetz, dass Polizisten sich im Netz bedeckt halten sollten.«

Aufmerksam verfolge ich, wie er sich mit Benutzernamen und Kennwort in seinen Account einloggt.

»Hier, jetzt weißt du alles über mich.« Lächelnd klickt er auf eins seiner Fotoalben und dreht den Bildschirm in meine Richtung. »Ich am Strand. Ich mit meinem Kollegen und Kumpel Marc. Ich als Kind. Langweilig, was?«

»Ganz im Gegenteil. Ich find’s spannend.«

»Ach, ich sehe auf Fotos immer doof aus.«

Zärtlich schmiege ich mich an ihn. »Erstens denkt das jeder über sich. Und zweitens finde ich dich wahnsinnig attraktiv. Und …« Ich nestle an seinem Hosenknopf und schiebe den Laptop beiseite.

»Und was?«, stöhnt er erregt.

»… und sexy.«