Kapitel 6
Susan
»Im Vergleich zu gestern war mein Tag unspektakulär. Ich hatte weder einen Tankstellenunfall, noch habe ich einen Polizisten mit beeindruckenden Oberarmen kennengelernt.«
Ich grinse, während wir unsere Speisen zu einem niedrigen Tisch tragen, der gerade frei wird und mit einer kuscheligen Lounge-Couch wie gemacht ist für Pärchen. David reagiert nicht auf den kleinen Scherz. Mit ernstem Blick deutet er auf die roten Polster und lässt mir den Vortritt. Vorsichtig stelle ich den Teller ab, streiche mein Kleid glatt und setze mich.
Er hockt sich neben mich, schenkt mir ein pflichtschuldiges Lächeln und sagt: »Wenn es okay für dich ist, besorge ich uns erst in ein paar Minuten Getränke. Ich habe einen wahnsinnigen Hunger, außerdem wird sonst das Essen kalt. Lass es dir schmecken.«
»Danke, du dir auch«, antworte ich.
Schweigend führe ich eine Gabel mit dem köstlichen Rindfleisch zum Mund und denke kurz darüber nach, ob es sich für eine Dame gehört, in die Offensive zu gehen. Doch nach einem knisternden zweiten Date fühlt sich das hier nicht an – und ich bin erwachsen genug für eine eigene Meinung.
»Ist wirklich alles in Ordnung?«
Wie auf frischer Tat ertappt, hält er abrupt inne, legt die Gabel beiseite und mustert mich. Seine Gesichtszüge werden weicher, doch er ist eindeutig anders als gestern.
»Ja, ehrlich, Susan. Übrigens siehst du sehr hübsch aus. Besonders dein Haarband gefällt mir ausgezeichnet.«
Das war nicht die Frage.
»Danke. Aber jetzt bin ich erst recht verunsichert. Du weichst aus.«
»Wieso denn das? Habe ich etwas Falsches gesagt?«
»Nein, natürlich nicht. Aber … es ist, als würdest du vom Thema ablenken und mich beschwichtigen wollen.«
»Ich wollte einfach nicht aufdringlich sein, möglicherweise ist es das. Und nun denkst du, irgendetwas wäre nicht in Ordnung. Tut mir leid. Ich bin ein Idiot.«
Er greift nach einer Haarsträhne, die sich aus dem Band gelöst hat, und streicht sie mir zärtlich hinters Ohr.
»Quatsch, du bist kein Idiot. Vielleicht sehe ich einfach Gespenster. Trotzdem, irgendwie wirkst du distanzierter als gestern. Eben hast du zum Beispiel weder mein Lächeln erwidert, noch auf meinen albernen Spruch reagiert. Beziehungsweise auf meine …« Ich stocke.
»Auf deine was?«
»Auf meine Anmache«, flüstere ich. »Wegen deiner Oberarme. Die finde ich nämlich total sexy.«
Er beugt sich vor und streift mit den Lippen mein Ohrläppchen. »Das trifft sich hervorragend«, raunt er. »Ich finde dich ebenfalls total sexy.«
»Trotzdem sollte ich nicht so mit der Tür ins Haus fallen«, wende ich ein. »Weißt du, ich sage immer gern direkt, was ich denke. Manche Leute kommen damit schlecht klar. Ich hoffe, ich überrumple dich nicht mit dieser Eigenart.«
»Nein, überhaupt nicht! Du bist toll und machst alles richtig, Susan. Du hast dir das nicht eingebildet, es liegt in der Tat an mir, und du bist eine ausgezeichnete Beobachterin. Allerdings bin ich nicht wegen dir so komisch, sondern wegen meines Bruders.«
»Oh, ach so. Dann bin ich ja beruhigt. Magst du mir erzählen, was dich bedrückt? Aber nur, falls ich nicht schon wieder zu aufdringlich bin.«
»Quatsch«, meint er, ohne mich anzuschauen. »Ich bin froh, wenn ich mit jemandem darüber sprechen kann. Normalerweise behalte ich so was eher für mich. Lass uns nur eben aufessen. Ist eine längere Geschichte.«
Vor uns auf dem Tisch stehen zwei Gläser Weißwein und ein Schälchen mit Erdnüssen. David hat nach dem Essen dafür gesorgt, dass wir den gemütlichen Platz behalten dürfen, indem er die Betreiberin des Foodtrucks mit zehn Euro bestochen hat.
Er wirkt immer noch sehr ernst, als er sich auf der Couch zurücklehnt und seinen rechten Arm hinter mir auf die Rückenlehne legt. Ich könnte der stummen Einladung folgen und mich an ihn kuscheln. Aber vielleicht ist es auch gar keine Aufforderung, sondern lediglich der Versuch, eine selbstbewusste Körperhaltung einzunehmen. Ich drehe mich ihm zu, bleibe mit dem Oberkörper aber vorn. Zu leicht will ich es ihm nicht machen. Zuerst soll er mir sagen, was es mit seinem Bruder auf sich hat.
»Vorab muss ich dich um etwas bitten«, beginnt er. »Du musst mir versprechen, niemandem zu erzählen, was ich dir jetzt verrate. Okay?«
»Natürlich. Von mir erfährt kein Mensch ein Sterbenswörtchen.« Um mein Versprechen zu unterstreichen, forme ich mit Zeige- und Mittelfinger das Victory-Zeichen.
»Gut, es ist nämlich wirklich absolut geheim. Wenn das jemand erfährt, komme ich in Teufels Küche. Also … mein Bruder Alex und ich hatten heute einen ziemlich hässlichen Streit. Deshalb bin ich wohl so komisch.«
»Das verstehe ich. Zoff unter Geschwistern ist zwar normal, kann einen aber echt Nerven kosten.«
Er schüttelt leicht den Kopf, als wollte er verneinen, scheint den Gedanken jedoch zu verwerfen und fährt fort.
»Ich weiß nicht, ob du die aktuellen Nachrichten verfolgst, oder ob du lieber auf die ganzen Schreckensmeldungen verzichtest …«
Denkt er, ich bin blöd? »Selbstverständlich verfolge ich die täglichen Nachrichten. Man will schließlich wissen, was sich in der Welt abspielt«, gebe ich in pikiertem Ton zurück.
»Sorry, ich habe mich schon wieder missverständlich ausgedrückt. So meinte ich das nicht … Es geht um den Serienmörder, der derzeit die Region in Atem hält. Hast du mitbekommen, dass es ein neues Opfer gibt?«
»Ja, fürchterlich! Ich habe es im Radio gehört. Als Frau kann einen das wahnsinnig ängstigen. Aber was hat das mit deinem Bruder zu tun?«
»Er möchte mehr über den Fall erfahren und hat mich heute gebeten, ein bisschen aus dem Nähkästchen zu plaudern. Weil ich bei der Polizei arbeite. Dabei bin ich nur ein einfacher Streifenpolizist und nicht bei der Mordkommission.«
»Ach so, er war nur neugierig. Ist das so schlimm für dich?« Ich zwinkere ihm zu und rücke näher an ihn heran. »Da hoffe ich aber, dass ich dir nicht aus Versehen auch mal eine zu intime Frage stelle.«
»Alexander ist Schriftsteller«, erklärt er. »Er möchte sich quasi von einem realen Serienmord inspirieren lassen. Und ich als sein Bruder soll ihn dabei gefälligst unterstützen, meint er. Ich sehe das allerdings etwas anders, das habe ich ihm auch gesagt. Daraufhin wurde er stinksauer und kramte alte Familiengeschichten hervor. Dann gab ein Wort das andere, du kennst das bestimmt. Am Ende weiß man gar nicht mehr genau, wie es überhaupt angefangen hat.«
»Oh ja, der Klassiker.«
»Er denkt halt, weil er Freiberufler ist und seine Einnahmen stark schwanken, müssten ihm sämtliche Verwandte und Freunde helfen. Dabei hat er sich selbst für den Beruf entschieden. Ich kann ihm außerdem gar nicht mit Interna dienen, weil ich nichts Spektakuläres weiß, und selbst wenn, dürfte ich es ihm nicht erzählen. Andernfalls würde ich mindestens ein Disziplinarverfahren riskieren, schlimmstenfalls verliere ich sogar meinen Job.«
»Versteht dein Bruder das denn nicht? «
»Keine Ahnung«, sagt er mit einem Seufzer. »Manchmal werde ich aus ihm nicht schlau. Na ja, es gibt Wichtigeres als diesen albernen Bruderzwist.«
Langsam lasse ich mich gegen die Rückenlehne sinken und lande sanft in seiner Armbeuge. Wir sitzen nun ganz nah beieinander. Vom Stimmengewirr um uns herum bekomme ich kaum noch etwas mit.
»Die Berichte über die getöteten Frauen machen mich jedenfalls immer fix und fertig. Das ist alles so grauenhaft, aber jetzt weiß ich ja, wo ich Schutz finden kann. An der Seite eines starken Polizisten bin ich in Sicherheit.« Ich wage einen tiefen Augenaufschlag, der seine Wirkung nicht verfehlt. Seine Lippen nähern sich meinem Mund. Bevor er mich küsst, gehe ich in die Offensive. »Wollen wir zu mir in die Wohnung gehen? Dort sind wir ungestört.«
Statt eine Antwort zu geben, greift er nach meiner Hand und zieht mich zu sich hoch.
»Lass uns von hier verschwinden.«
David kommt ohne Umschweife zur Sache, sobald wir meine Wohnung betreten. »Welche Tür?«, fragt er, während er sich seiner Schuhe entledigt, ohne sich zu bücken, und sie lässig in eine Ecke kickt.
»Zweite Tür rechts«, sage ich und winde mich aus seiner Umarmung. »Ich gehe noch kurz ins Bad.«
Vorm Spiegel checke ich mein Äußeres und ziehe mir anschließend Kleid und Sandalen aus. Die Klamotten lege ich über den Rand der Badewanne, dann sprühe ich mir Parfüm hinter die Ohrläppchen. Nur noch in Dessous gekleidet, gehe ich ins Schlafzimmer, wo er in T-Shirt und schwarzer Boxershorts vor dem Bett steht und auf mich wartet. Er ist gut gebaut, und seine Erregung ist deutlich zu erkennen. Sein anerkennender Pfiff und die selbstbewusste Haltung erinnern nicht im Geringsten an das abweisende Verhalten zu Beginn unseres Dates. Bewundernd wandert sein Blick von meinem Kopf bis zu meinen Füßen, während er näher kommt und mich rücklings aufs Bett drückt.
Wir sagen beide keinen Ton, was ich normalerweise nicht mag. Jetzt passt es. Die Stimmung ist dermaßen aufgeheizt, da bedarf es nur weniger Worte.
»Ich hoffe, du lässt dich gerne fallen.«
Es klingt mehr nach einem Befehl als nach einem Wunsch. Zielstrebig dreht er mich in die Stellung, in der er mich haben will, und ich lasse mich wie eine Marionette positionieren. Blümchensex sieht anders aus, doch seine dominante Art gefällt mir. Ohne mir ernsthafte Schmerzen zuzufügen, gelingt es ihm, mir einen Orgasmus nach dem anderen zu bescheren. Seine Ausdauer ist gigantisch. Erschöpft und verschwitzt genieße ich seine routinierten Griffe. Absolut klar – hier weiß jemand, wie man Liebe macht. Ich kann gar nicht genug davon bekommen, biege mich ihm entgegen, verliere sämtliche Hemmungen.
»Du hast ziemlich viel Ahnung von Frauen, hm?«, frage ich, als wir nach dem dritten Mal pausieren und ich mich an seine glatte Brust schmiege. Gleichzeitig streichle ich seinen muskulösen Bauch.
»Nein, schön wär’s.« Sein Lachen wirkt befreit. »Ich werde Frauen nie verstehen.«
»Ich bin ganz leicht zu durchschauen«, behaupte ich.
»Zumindest für mich.« Er richtet sich auf und beugt sich über mich. »Was du jetzt möchtest, ahne ich zum Beispiel.«
Mit einem Ruck befördert er meine Beine über seine Schultern und macht mit der Zunge da weiter, wo wir vorhin stehengeblieben waren.
»Dein Einrichtungsstil ist toll. Nicht so mädchenhaft wie der vieler Single-Frauen, sondern richtig erwachsen. Fast schon nüchtern«, meint er beim Verlassen des Betts.
Ich beobachte von der Matratze aus, wie er unbekleidet durch mein Schlafzimmer spaziert und jede Ecke neugierig inspiziert. Ungewöhnlich. Den meisten Männern ist so was völlig egal.
»Du kennst also viele Single-Frauen?«, kontere ich. »Suchst du womöglich am Schluss die Beste aus?«
Er dreht sich zu mir und hebt spöttisch die Augenbrauen. Seine unterschiedlichen Facetten faszinieren mich.
»Nein, ich bin ein langweiliger Polizist, dessen Leben gestern beim Tanken eine aufregende Wendung genommen hat. Normalerweise säße ich jetzt mit einem Käsebrot und Cola vorm Fernseher. Öde, oder?«
»Du bist ganz und gar nicht öde,«, gurre ich, stehe auf und tapse nackt zu ihm.
»Apropos Cola«, flüstert er mir ins Ohr, »hast du was zu trinken?«
»Klar, komm, wir setzen uns ins Wohnzimmer. Ich möchte zumindest den Anschein erwecken, als wäre ich eine anständige Person und würde dich nicht ausschließlich ins Schlafzimmer verbannen.«
»Och, damit hätte ich grundsätzlich kein Problem.«
»Dachte ich mir.«
Wir ziehen uns etwas über und gehen nach nebenan, wo er sich wiederum interessiert umschaut. Er denkt, dass ich nicht merke, wie er prüfend den Zeigefinger in die Blumenerde einer Topfpflanze steckt, doch ich sehe es genau. Ist er etwa ein Kontrollfreak?
»Du hast es sehr schön, Susan. Ich fühle mich pudelwohl bei dir.«
Ich bringe ihm ein Glas Cola. »Danke. Ja, ich bin auch gern zu Hause und habe mir nach und nach alles genauso eingerichtet, wie ich es schon immer haben wollte. Wenn man wie ich häufig von daheim aus arbeitet, ist das besonders wichtig.«
Nachdem er einen Schluck getrunken hat, gibt er mir einen Kuss auf die Nasenspitze, stellt das Glas auf den Couchtisch und geht zum Bücherregal.
»Du bist eine Vielleserin.« Sein Blick wandert von Regalbrett zu Regalbrett. »Oh, du hast ja ein ziemliches Faible für Krimis und Thriller.«
»Stimmt, ich mag es spannend.«
»Ungewöhnlich. Keine schnulzigen Liebesromane und keine heitere Frauenliteratur. Oder das, was man so Literatur nennt.« Plötzlich hält er inne und zieht ein Buch heraus. Es ist einer der Krimis von Alex Vento. »Das ist von meinem Bruder«, sagt David überrascht. »Du hast ja lauter Bücher von Alex. Unfassbar!«
»Was?«, frage ich erstaunt. »Alex Vento ist dein Alexander?«
»Ja! Sag bloß, du liest den regelmäßig?«
»Klar. Ich liebe seine Bücher. Sie sind absolut fesselnd und führen mich jedes Mal in die Irre. Ich liege grundsätzlich falsch, wer der Mörder ist.«
Lachend geselle ich mich zu ihm und greife nach einem weiteren Buch des Autors.
»Dann macht er wohl was richtig, mein Brüderchen«, murmelt David und steckt das Buch zurück ins Regal.
»Diese Zufälle im Leben sind faszinierend«, stelle ich fest. »Niemals hätte ich damit gerechnet, dass sich mir einmal die Gelegenheit bieten würde, einen meiner Lieblingsschriftsteller kennenzulernen. Meinst du, es wäre möglich, dass wir uns vielleicht mal zu dritt treffen? Ich würde ihn unheimlich gerne persönlich unter die Lupe nehmen.«
»Können wir machen, gar kein Problem.«