Kapitel 7

Der Mörder

Verdammte Ungeduld!

Ich hätte länger warten müssen, das ist mir jetzt, zwei Tage nach der letzten Tat, endgültig klar. Aber nein! Ich wollte ja unbedingt die Enttäuschung wegen Michelle ausgleichen. Das ist jetzt meine Strafe. So früh haben sie keine der anderen Leichen gefunden. Gleich am nächsten Morgen. Fuck! Hätte ich Carina einen ganzen Monat beobachtet, wäre mir die Putzhilfe vielleicht aufgefallen.

Natürlich bedeutet das nicht automatisch, dass sie mir jetzt auf die Schliche kommen. Trotzdem habe ich ein ungutes Gefühl – zumal es ein weiteres Anzeichen gibt, das mir nicht gefällt.

Bin ich bloß paranoid geworden, oder ist mein Misstrauen berechtigt?

Während ich vor meiner Schatztruhe im Keller sitze, versuche ich die Situation so unaufgeregt wie möglich zu analysieren. Ich gelange zu dem Schluss, dass die eventuellen Beweise gegen mich offenbar nicht ausreichen, um mich zu verhören. Dennoch sollte ich ab sofort noch vorsichtiger sein – und jederzeit damit rechnen, ins Fadenkreuz der Mordkommission zu geraten.

Falls das tatsächlich passiert, werden sie zwangsläufig einen Durchsuchungsbeschluss erwirken. Und dann könnten mich meine kleinen Souvenirs lebenslänglich hinter Gitter bringen.

Schweren Herzens beschließe ich daher, sie übers Stadtgebiet verteilt zu entsorgen.

***

Kurz vor Mitternacht breche ich auf. Ich habe die Kleidungsstücke und den Schmuck einzeln in Küchenpapier eingerollt und alles zusammen in einen Abfallbeutel gesteckt. Den wiederum habe ich in einen Beutel mit meinem Haushaltsmüll gepackt, für den Fall, dass mir jemand im Hausflur begegnet. Dass so ein Verhalten wahnhaft wirken könnte, ist mir völlig egal. Ich werde nicht im Knast landen! Seelenruhig verlasse ich das Haus und gehe zu den Mülltonnen. Die Versuchung, das Ganze einfach hier zu entsorgen, ist riesengroß, doch so leichtsinnig bin ich nicht. Stattdessen nutze ich die Müllbehälter als Sichtschutz. Sollte mich jemand beobachten, kann er unmöglich erkennen, dass ich in den Plastikbeutel greife, um die Tüte mit den Souvenirs herauszuholen und in die Innentasche meiner Jacke zu stopfen. Erst danach werfe ich den normalen Müll weg. Gelassen schlendere ich anschließend zu meinem Fahrzeug, schaue in alle Richtungen und steige ein.

***

Für die ersten drei Andenken fahre ich insgesamt zwanzig Kilometer durch die Stadt. Ich verwende einen am Bürgersteig stehenden Müllcontainer, der morgen früh geleert wird. Außerdem einen Kleidercontainer des Roten Kreuzes und den Abfallbehälter an einer Bushaltestelle, an der zu so später Stunde keine Fahrgäste warten. Als Nächstes will ich einen Ring in den Fluss werfen, der sich durchs gesamte Stadtgebiet schlängelt. Also steuere ich einen Parkplatz in der Altstadt an. Nachdem ich die Hauptstraße überquert habe, laufe ich gut hundert Schritte bis zum Ufer. Unterwegs wickle ich das Schmuckstück aus dem Küchenpapier und stecke es in meine rechte Hosentasche. Je näher ich dem Wasser komme, desto dunkler wird es. Heute Nacht verdecken Wolken den Mond, und das Licht der Straßenlaternen reicht nicht bis hierher. Schließlich muss ich sogar die Taschenlampe meines Handys benutzen, um nicht über einen der Felsen am Ufer zu stolpern.

»Ciao, Gabriela«, nenne ich den Namen des Opfers, dem der Ring gehört hat, und schleudere ihn mit einer weit ausholenden Bewegung ins Wasser.

Nummer vier erledigt, denke ich zufrieden. Bleiben fünf übrig.

Plötzlich erfasst mich der Lichtkegel einer sehr hellen Lampe und blendet mich. Mein Herz setzt vor Schreck aus.

»Was haben Sie da gerade in den Fluss geworfen?«, will eine herrische Stimme wissen.

Ich habe überhaupt nicht gemerkt, dass ich verfolgt werde. Wie konnte das passieren?

»Könnten Sie bitte aufhören, mir mit der Lampe ins Gesicht zu leuchten?«, sage ich und halte mir eine Hand vor die Augen. »Das ist sehr unangenehm.«

Mein Gegenüber erfüllt mir den Wunsch, trotzdem dauert es ein paar Sekunden, bis ich wieder klar sehen kann. Ich entdecke eine im Boden steckende Angelrute. Die dazugehörige Schnur hängt im Wasser.

Wenigstens niemand, der mir gefolgt ist, tröste ich mich über meine Unachtsamkeit hinweg.

»Was haben Sie weggeworfen?«, wiederholt der Mann.

Da er die Lichtquelle mittlerweile auf die Steine gerichtet hat, kann ich ihn mustern. Er ist mindestens fünfundsechzig Jahre alt und wirkt nicht sonderlich kräftig. Kein Gegner für mich. Allerdings muss ich aufpassen, da Angler oft Messer dabeihaben, um ihren Fang zu töten.

»Wieso interessiert Sie das?«, frage ich zurück und gehe zwei Schritte auf ihn zu.

»Seit fünfzehn Jahren komme ich regelmäßig hierher«, erklärt er. »Doch so schlimm wie in den letzten Monaten war es noch nie.«

»Was denn?«, frage ich.

»Dieser verdammte Müll! Ständig habe ich Unrat an der Angel.« In seiner Stimme liegt Abscheu. »Die Leute haben keinen Respekt mehr vor der Natur.«

»Und jetzt fürchten Sie, ich hätte ebenfalls …«

»Ich bin mir sogar ziemlich sicher. Sie sollten sich schämen!«

Anscheinend deutet er meine ausweichende Antwort als Schuldeingeständnis.

»Aber vielleicht irren Sie sich. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setze?«

Mein Verhalten scheint ihn zu irritieren.

»Meinetwegen«, sagt er zögerlich. »Seien Sie vorsichtig. Ein paar Meter vor Ihnen befindet sich eine kleine Stolperfalle.«

Der Lichtkegel erfasst zwei nebeneinanderliegende Felsen, zwischen denen sich leicht ein Fuß verfangen könnte.

»Danke für die Warnung.« Ich bewege mich langsam vorwärts. »Sind Sie der einzige Angler hier?«

»Sehen Sie sonst noch jemanden?«

»Nein.« Was jedoch nicht viel heißen muss, denn in letzter Zeit scheine ich mit Blindheit geschlagen zu sein.

»Also bin ich wohl ein Unikat.« Er stößt ein spöttisches Lachen aus. »Meine Kollegen tauchen meist gegen fünf Uhr früh auf. Die wollen den Sonnenaufgang miterleben. Dass die Fische nachts besser beißen, kapieren sie nicht.«

»Oder der Müll«, spotte ich.

»Sehr witzig!«

In diesem Punkt versteht er offensichtlich keinen Spaß. »Wollen Sie mir nicht verraten, was Sie weggeworfen haben? Eventuell fische ich es wieder heraus und erinnere mich dann an Sie.«

Genau davor habe ich Angst, alter Mann.

Statt ihm die Frage endlich zu beantworten, betrachte ich im Licht der Taschenlampe den Bereich, den er sich gemütlich eingerichtet hat. Auf einer Fläche von ungefähr zwei Quadratmetern hat er – oder jemand anders – alle Steine beiseite geräumt, sodass ihm genug Platz zur Verfügung steht. Er benutzt einen Klappstuhl und einen schmalen Klapptisch. Außerdem hat er einen Koffer dabei, in dem er wahrscheinlich die Angelutensilien aufbewahrt. Neben dem Tisch liegt wie befürchtet ein Messer. Zudem besitzt er eine Kühlbox.

»Abfall war es nicht«, behaupte ich schließlich. Ich setze mich auf einen Felsen, der bis zu meinen Knien reicht, und recke meine Arme in die Höhe. Hoffentlich wirkt die Geste harmlos.

»Eine Goldmünze wird es auch nicht gewesen sein«, vermutet der Mann.

»Aber so etwas Ähnliches. Haben Sie den Namen gehört, den ich gerufen habe?«

»Welchen Namen?«

Kann ich ihm seine Ahnungslosigkeit abnehmen? Oder testet er mich?

»Gabriela.«

»Wer ist das?«

»Meine Ex-Verlobte. Ich habe sie mit einem anderen Kerl erwischt.«

»Ups.«

»Um genau zu sein, mit meinem besten Kumpel.«

»Das tut mir leid.« In diesem Moment scheint er mich fast ein wenig sympathisch zu finden. »Scheiß Weiber!«

»So ist es.« Unauffällig halte ich nach einem handlichen Stein Ausschau, dem ich ihn über den Schädel ziehen könnte. »Irgendwie fand ich es nun überflüssig, unseren Verlobungsring weiter zu tragen.«

»Also haben Sie einen Ring in den Fluss geworfen?«

»Ja.«

»In meinen Augen ist das auch Müll«, tadelt er mich.

»Silberschmuck«, entgegne ich.

»Wenn er so wertvoll ist, warum haben Sie ihn nicht verkauft?«

»So wertvoll war er nicht«, räume ich ein. »Ihn wegzuwerfen, hat mir mehr bedeutet als das Geld, das mir ein Juwelier dafür geben würde.«

»Scheiß Weiber!«, wiederholt er.

»Ebenfalls unangenehme Erfahrungen gemacht?«

»Reichlich. Oder glauben Sie, ich würde um Mitternacht angeln gehen, wenn in meinem Bett ein warmer Frauenkörper warten würde?« Der Angler öffnet die Kühlbox und deutet auf eine Flasche Bier. »Wollen Sie?«

»Sehr gern.«

Er reicht mir die Flasche, ohne sich bewusst zu sein, dass er mir damit eine Waffe überlässt. Dann holt er auch eine für sich heraus und stellt sie kurz ab. In seiner Weste steckt ein Flaschenöffner – offenbar ist er bestens ausgerüstet. Das Bier zischt verheißungsvoll, als er die Kronkorken ruckartig vom Flaschenhals trennt.

»Wohl bekomm’s«, sagt er.

»Petri Heil«, erwidere ich.

Er lacht, und ich merke, dass ich ihn endgültig auf meine Seite gezogen habe.

Das Bier ist angenehm kühl und herb. So wie ich es mag.

»Jetzt mal ehrlich«, beginne ich. »Beißen die Fische um diese Uhrzeit wirklich besser?«

Er ruckelt an der Rute. »Heute zumindest nicht.«

»Wieso sind Sie dann noch hier?«

Er seufzt unglücklich. »Wenn ich mich zu früh aufs Ohr haue, wache ich meistens um fünf Uhr wieder auf. Deshalb gehe ich lieber spät in die Kiste.«

»Andere Leute würden fernsehen.«

»Läuft doch eh nur Mist. Nein. Die frische Luft tut mir ganz gut.«

»Wohnen Sie weit weg?«

»Drei Kilometer.«

»Wow!«, entgegne ich beeindruckt. »Sagen Sie bloß, die laufen Sie jede Nacht?«

»Quatsch. Dafür bin ich zu alt. Mein Auto habe ich an der Hauptstraße geparkt.«

»Und ich dachte schon, Sie wären ein Vorbild, was den Umweltschutz anbelangt«, schmunzle ich.

Für eine Weile starren wir stumm zum Fluss und nippen an unserem Bier. Keine Ahnung, woran er denkt, ich hingegen wäge die Situation ab.

»Wie lange bleiben Sie normalerweise hier?«

»Bis zwei, halb drei.«

»Das wäre mir zu spät.«

»Tja, Sie müssen wahrscheinlich morgens früh zur Arbeit.«

»Leider. Deswegen sollte ich auch langsam nach Hause fahren.«

»Nehmen Sie es nicht zu schwer. Das mit Ihrer Verlobten. Sie lernen bestimmt schnell eine andere kennen.«

»Ständig«, sage ich lächelnd.

»Die Einstellung gefällt mir.«

Ich trinke den letzten Schluck und ziehe ihm in meiner Fantasie die leere Flasche über den Schädel. Tatsächlich reiche ich sie ihm jedoch völlig friedfertig herüber.

»Hat mich gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Ich erhebe mich, salutiere und klettere über die Felsen zurück in Richtung Straße. Ich frage mich, ob ich ihn nicht doch besser hätte erledigen sollen. Aber ihn an dem Ort zu ermorden, an dem ich eins meiner Souvenirs entsorgt habe, erscheint mir doch zu riskant.

***

Um Viertel nach zwei ist es endlich so weit. Von meinem Auto aus beobachte ich, wie er schwer beladen zu seinem Fahrzeug läuft, die Sachen in den Kofferraum packt und kurz darauf losfährt. Ich folge ihm im Abstand von knapp zweihundert Metern auf der Hauptstraße. Nach etwa zweieinhalb Kilometern setzt er den Blinker. Ich schalte die Fahrzeugbeleuchtung aus, biege ebenfalls ab und fahre durch diverse Seitenstraßen unbemerkt hinter ihm her. Schließlich sehe ich, wie er vor einem baufällig wirkenden Häuschen zum Stehen kommt. Er steigt aus und trägt sein Angelzubehör ins Innere. Als er die Haustür zuwirft, fällt mein Blick auf die Mülltonne des Gebäudes, vor dem ich geparkt habe. Ich beschließe, Julias Kette darin zu entsorgen. Bleiben vier Gegenstände übrig, die ich alle noch in dieser Nacht loswerden will.

***

Während ich im Bett liege und auf den Schlaf warte, treffe ich eine Entscheidung. Der alte Mann muss sterben. Obwohl mir dieses Todesurteil durchaus leidtut, habe ich keine andere Wahl. Im schlimmsten Fall wird er sonst irgendwann Gabrielas Ring aus dem Fluss angeln und eins und eins zusammenzählen. Die meisten Gegenstände, die ich mitgenommen habe, sind der Mordkommission als fehlend aufgefallen – und sie haben diese Details an die Öffentlichkeit gegeben. Nach jedem neuen Mord finden sich in den Medien Fotos von den Schmuckstücken.

Ausgeschlossen, dass ich ihn davonkommen lasse.

Im Gegenteil.

Ich muss mich zeitnah um ihn kümmern. Am besten bereits morgen Nacht.