Kapitel 8

Der Polizist

»Hast du eine Ahnung, was der Chef will?«, frage ich meinen Partner Marc. Zu Dienstbeginn hatte mir ein Kollege mitgeteilt, dass wir uns bei unserem Vorgesetzten melden sollen.

»Keinen Schimmer. Was hast du ausgefressen?«, antwortet Marc.

»Ich dachte eher an deine Schandtaten.«

»Da ist in den letzten Wochen nichts dazugekommen.«

Auf dem Weg witzeln wir weiter. Doch je näher wir der geschlossenen Tür kommen, desto wortkarger werden wir. Letztlich ist es wie in jedem anderen Job: Zum Boss will man nicht überraschend zitiert werden.

Marc klopft an die Glastür, und im nächsten Augenblick ertönt die tiefe Stimme des Mannes, der nächstes Jahr in Rente gehen wird.

»Hat Sie meine Botschaft also erreicht«, begrüßt uns Walter Frankowski.

»Jawohl!«, antworte ich schneidig.

»Schließen Sie die Tür und setzen Sie sich.« Er deutet auf die Besucherstühle vor seinem Schreibtisch.

Nichts in seinem Verhalten weist darauf hin, dass er verärgert ist. Ich entspanne mich.

»Worum geht’s?«, fragt mein Partner.

»Die Mordkommission hat heute Morgen offiziell um Unterstützung gebeten«, erklärt Frankowski.

»Wegen des Serienmörders?«, hake ich nach.

»Genau. Der Personaleinsatz soll deutlich intensiviert werden, deshalb hat der Polizeipräsident entschieden, dass aus jeder Abteilung zwei Vollzeitkräfte hinzugezogen werden. Wie Sie sich denken können, begeistert mich das nicht gerade. Die heimsen irgendwann die Lorbeeren ein, während ich mich rechtfertigen muss, wieso nicht genügend Streifenpolizisten durch die Straßen patrouillieren. Trotzdem habe ich Ihre Namen genannt. Ihre Schichten in diesem Monat passen gut in den Anforderungskatalog der Kollegen. Außerdem könnte ich mir vorstellen, dass Sie Spaß an der Tätigkeit haben.«

»Wie lange soll das dauern?«, will Marc wissen.

»Das wird jeden Tag neu festgelegt. Es gibt dem Vernehmen nach ein paar vielversprechende Spuren, die dieses Vorgehen notwendig erscheinen lassen. Sie sollen sich in der dritten Etage bei Hauptkommissar Junker melden. Er wird Ihnen dann auch mitteilen, wenn Ihr Einsatz nicht weiter benötigt wird. Machen Sie mich stolz!«

»Cool«, wispert Marc, nachdem wir das Büro verlassen haben.

»Allerdings«, entgegne ich. Cool und praktisch, füge ich in Gedanken hinzu.

Im dritten Stock des sechsgeschossigen Gebäudes nimmt uns eine ältere Kommissarin, die einen Kaffeebecher in der rechten Hand hält, mit in einen großen Besprechungsraum.

»Ich bin auch zu spät«, sagt sie und wirkt fast erleichtert, weil sich die Blicke der Anwesenden nun nicht auf sie allein konzentrieren.

»Marc Gunter und David Storm«, stelle ich uns vor, als ein Mann, bei dem es sich wahrscheinlich um Hauptkommissar Junker handelt, in seinen Ausführungen innehält und uns neugierig mustert.

»Schickt Frankowski Sie?«

Wir nicken, und Junker bittet uns, Platz zu nehmen.

In dem großen Raum sitzen etwa zwanzig Polizisten. Einige von ihnen kenne ich aus anderen Abteilungen – beispielsweise aus dem Raubdezernat oder der Sitte.

»Der Serienmörder hat allem Anschein nach das neunte Mal zugeschlagen. Aber diesmal sind wir auf ein interessantes neues Detail gestoßen. Carina Jacobi – das Opfer – hat vor achtzehn Monaten eine Anzeige wegen Belästigung gestellt. Und zwar gegen einen gewissen Richard Lieberman, der im selben Unternehmen gejobbt hat wie sie. Das wäre nicht weiter erwähnenswert, wenn wir nicht gleichzeitig ermittelt hätten, dass es ebenfalls eine Verbindung zwischen Lieberman und der vierten Toten gibt.«

»Was für eine Verbindung?«, fragt einer der Anwesenden.

»Lieberman und Jessica Weinstein haben vier Monate in derselben Firma gearbeitet. Das ist zwar fünf Jahre her, trotzdem könnte es ein Muster darstellen. Wir wissen über Lieberman, dass er regelmäßig den Job gewechselt hat, bevor er vor einem guten Jahr ein Gewerbe angemeldet hat. Mittlerweile bietet er Hausmeister- und Handwerkerdienstleistungen an.«

»So könnte er auch potenzielle Opfer finden«, ertönt eine nachdenkliche Stimme.

»Oder es erklärt, warum er die Schlösser ohne Probleme knackt.«

Junker hebt die Hände, um die beginnende Diskussion zu beenden. »Schön, wie wir in dieselbe Richtung denken. Dennoch bringt es nichts, wenn wir einfach ins Blaue hinein spekulieren. Stattdessen sollten wir Fakten sammeln. Wir bilden Dreierteams, jeweils unter Führung eines Kriminalkommissars aus dem Morddezernat, und suchen in der Vergangenheit der anderen sieben Ermordeten nach Hinweisen, ob sie Lieberman gekannt haben könnten. Also, ob sie irgendwann denselben Arbeitgeber hatten wie er oder aber die Dienste seiner Firma in Anspruch genommen haben. Ich erwarte Ihre Berichte bis heute Abend auf meinem Schreibtisch! Viel Glück!«

***

Marc und ich werden der erst dreißigjährigen Hauptkommissarin Eva Bell zugeteilt. Allerdings habe ich von ihr bereits mehrfach gehört beziehungsweise in der Zeitung gelesen. Trotz ihres jugendlichen Alters hat sie sich schon einen hervorragenden Ruf erworben. Sie ist knapp zehn Zentimeter kleiner als ich, hat ihre dunkelblonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und wirkt in dem hellgrünen T-Shirt und der dunkelblauen Cargohose extrem sportlich. Eine attraktive Erscheinung.

»David«, stelle ich mich vor und reiche ihr die Hand.

Ihr Händedruck ist für eine Frau ungewöhnlich fest.

»Eva. Freut mich, mit euch zusammenzuarbeiten.«

Auch Marc nennt seinen Namen, bevor Eva die Initiative an sich reißt.

»Falls die Kollegen aus dem Archiv nicht Schneckenpost spielen, dürften in meinem Büro mittlerweile zahlreiche Akten liegen, die wir aus dem Haus des Mordopfers Gabriela Rizzoli mitgenommen haben. Unsere Aufgabe besteht darin, Verbindungen zu finden, die Richtung Lieberman deuten. Sollten wir keinen Erfolg haben, fahren wir zum Haus des Opfers. Folgt mir! Zimmer dreihundertsieben.«

Eiligen Schrittes führt sie uns durch die verwinkelten Gänge der Mordkommission. Marc ist ziemlich beeindruckt, denn ihn würde ein Wechsel in diese Abteilung reizen. Ich hingegen hege solche Ambitionen nicht.

»Wunderbar!«, sagt Eva, nachdem sie die Tür aufgemacht hat. »Scheint alles da zu sein!«

Drei Kartons und vier Aktenordner stehen auf ihrem Schreibtisch und einem Besuchertisch bereit.

»Schnappt euch einen Stuhl, dann geht’s an die Arbeit.«

Anderthalb Stunden später ist ihre Euphorie allerdings verflogen. Obwohl wir jeden Zettel und jeden Kontoauszug überprüft haben, haben unsere Bemühungen nichts erbracht.

»Schade«, murmelt Eva. »Aber so einfach ist es fast nie. Wenn einer von euch noch pinkeln will: nur zu! Ansonsten Abmarsch!«

***

Nach einer rasanten Fahrt durch die Stadt, bei der die Kommissarin die Verkehrsregeln nach eigenem Ermessen ausgelegt hat, parken wir vor dem Einfamilienhaus, in dem Gabriela Rizzoli gelebt hat.

»Wow!«, sagt Marc. »Eigentlich müsste ich dir mindestens drei Strafmandate ausstellen. Was für eine Rallye!«

Eva öffnet das Handschuhfach, in dem schon einige Bußgeldandrohungen wegen Falschparkens liegen.

»Pack sie da rein!«, erklärt sie lachend. »Mein Chef kümmert sich um die Stornierungen.«

»Bei dem hast du wohl einen Stein im Brett.«

Sie zuckt mit den Achseln. »Ich habe ein Talent, das in unserem Job ziemlich hilfreich ist. Weswegen die Anzahl gelöster Fälle bei mir über dem Durchschnitt liegt.«

»Welches Talent ist das?«, fragt Marc augenblicklich.

»Ein besonderes Gespür bei Verhören. Meistens merke ich direkt, wenn sich ein Verdächtiger in Widersprüche verwickelt. Und manchmal gelingt es mir sogar, meinem Gegenüber Ungereimtheiten zu entlocken.«

»Also sollten wir in deinem Beisein aufpassen, was wir von uns geben«, folgert Marc.

»Besser ist das.« Sie zwinkert ihm zu.

Amüsiert beobachte ich ihren Schlagabtausch. Was Marcs Freundin wohl zu diesem Beinaheflirt sagen würde?

»Ich vermute, das Opfer hat allein hier gewohnt?«, erkundige ich mich, während wir auf das kleine Haus mit dem Flachdach zulaufen.

»Genau«, bestätigt Eva. »Alle Ermordeten waren Singles.«

»Lebt da inzwischen jemand anders?«, frage ich weiter.

»Ein Halbbruder hat das Häuschen geerbt. Er erwartet uns bereits.«

Ehe wir auch nur geklingelt haben, öffnet ein Mann mittleren Alters in schwarzer Jogginghose und weißem Hoodie die Tür.

»Hallo, Frau Kommissarin«, begrüßt er Eva.

»Guten Tag, Herr Buffon.« Sie gibt ihm die Hand und lächelt ihm verständnisvoll zu.

Der Halbbruder wirkt betroffen. Offenbar macht ihm Gabrielas gewaltsamer Tod zu schaffen.

»Sie haben das Schwein noch immer nicht verhaftet«, stellt er beinahe anklagend fest.

»Wir verfolgen aktuell eine vielversprechende Spur. Das sind übrigens die Schutzpolizisten Gunter und Storm.«

Er nickt uns eher gleichgültig zu. »Ich habe die Sachen im Gästezimmer bereitgelegt. Gabriela war selbstständig und hatte zahlreiche Auftraggeber. Da sind eine Menge Telefonnummern zusammengekommen.«

»Je mehr, desto besser. Ich finde den Weg, danke.«

Zielstrebig läuft die Kommissarin in die Diele. Anscheinend ist sie nicht zum ersten Mal an diesem Tatort.

»Also, Jungs. Gabriela war freie Architektin. Wir werden alle ihre Kunden aus den letzten vier Jahren anrufen. Meistens hat sie für Bauträger gearbeitet, gelegentlich aber auch für private Bauherren. Bei den Bauträgern lassen wir uns in die Personalabteilungen durchstellen, um zu erfragen, ob Richard Liebermann in der Vergangenheit Mitarbeiter der Firma war oder Hausmeisterdienste übernommen hat. Bei den Privatpersonen reicht es wahrscheinlich, wenn wir uns nach dem Hausmeisterservice erkundigen. Falls einer von euch einen Treffer landet, gehört der ganze Ruhm natürlich mir.«

Sie grinst – offensichtlich hat sie durch die Autofahrt ihren Optimismus wiedergefunden.

Eine Stunde später ist in unserem kleinen Team erneut Ernüchterung eingekehrt. Zwar haben wir erst etwa die Hälfte der Rufnummern abtelefoniert – es zeichnet sich jedoch keinerlei Erfolg ab.

Nachdem Marc sich bei einem Gesprächspartner bedankt und das Telefonat beendet hat, gähnt er laut.

»Tschuldigung«, murmelt er.

»Was haltet ihr davon, wenn ich Kaffee und Donuts besorge?«, frage ich. »Soweit ich weiß, gibt es hier in der Nähe eine Dunkin’-Donuts-Filiale.«

»Wunderbare Idee«, lobt mich Eva Bell, greift in ihre Hosentasche und wirft mir den Autoschlüssel zu. »Ich will einen doppelten Espresso und einen Double Choc. Und wehe, du fährst mir einen Kratzer rein.«

Marc nennt mir ebenfalls seinen Wunsch, und als ich auf dem Weg nach draußen Gabrielas Rizzolis Halbbruder begegne, biete ich pflichtschuldig an, ihm auch etwas mitzubringen. Er lehnt jedoch dankend ab.

Das Dunkin’ Donuts liegt etwa einen Kilometer vom Haus des Mordopfers entfernt. Rasch erreiche ich den dazugehörigen Parkplatz, wo ich zunächst nach meinem Handy greife und Alexanders Mobilnummer anwähle.

»Hi«, begrüßt er mich nach kurzem Klingeln.

»Es gibt gute Neuigkeiten.«

»Was denn?«, fragt er nicht sonderlich interessiert.

»Zumindest für einen kurzen Zeitraum bin ich der Sondereinheit zugeteilt.«

Sofort ändert sich seine Tonlage. »Ist das dein Ernst? Fantastisch. Erzähl mehr!«

In knappen Worten schildere ich ihm, was seit dem Vormittag vorgefallen ist und womit ich in den letzten Stunden beschäftigt war.

»Wie heißt der Verdächtige?«

»Alex, das kann ich dir nicht sagen. Und für deinen Roman ist das außerdem völlig irrelevant.«

»Stimmt. Entschuldige. Da sind wohl die Pferde mit mir durchgegangen. Hast du irgendwelche anderen supergeheimen Infos?«

»Ich hätte einen Vorschlag. Bei einem Treffen heute Abend wäre ich bereit, dir unter dem Siegel der Verschwiegenheit Einzelheiten mitzuteilen. Ich würde auch noch jemanden mitbringen.«

»Wen denn?«, erkundigt er sich überrascht.

»Eine Frau, die ich kürzlich kennengelernt habe und die ein großer Fan von dir ist.«

»Deine neue Freundin?«

»Sie könnte es werden«, antworte ich ausweichend.

»Jetzt hast du mich endgültig neugierig gemacht. Schafft ihr neunzehn Uhr? Ich müsste allerdings gegen einundzwanzig Uhr wieder los.«

»Was hast du vor?«

»Bruderherz, nicht nur du lernst gelegentlich Frauen kennen.«

Amüsiert über diese Entwicklung, schlage ich unser gemeinsames Lieblingsrestaurant vor. Anschließend rufe ich Susan an, um ihr die Neuigkeit mitzuteilen, erreiche jedoch nur ihre Mailbox.

Sie ruft genau in dem Moment zurück, als ich mit den Donuts und den drei Kaffeebechern auf dem Beifahrersitz gerade losfahren will.

»Hi, Süße. Hast du heute Abend schon was vor?«, frage ich ohne Umschweife, da ich die Kollegen nicht noch länger warten lassen will.

»Irgendwie ja. Ich muss dringend ein Projekt fertigstellen.«

»Shit! Ich bin nämlich mit meinem Bruder zum Essen verabredet und würde dich mitnehmen.«

»Alex Vento?«, hakt sie nach.

»Genau.«

»Um wie viel Uhr?«

»Hast du nicht gesagt, du hättest keine Zeit«, erinnere ich sie schmunzelnd. »Wir treffen uns um sieben. Alex muss aber schon um neun wieder weg.«

»Perfekt! Das kriege ich hin. Holst du mich ab?«

»Habe ich mir denn danach auch eine Belohnung verdient, weil ich die exklusive Signierstunde so zügig organisiert habe?«

Sie lacht. »Ja, hast du. Vorausgesetzt, du versprichst, nicht über Nacht zu bleiben. Das würde wegen des Fertigstellungstermins echt nicht gehen.«

»Kein Problem. Dann sei um Viertel vor sieben abfahrbereit.«