Kapitel 9

Susan

»Wir hatten Viertel vor sieben abgemacht, nicht halb sieben!«, rufe ich durch die Gegensprechanlage. David ist zu früh. Hektisch stopfe ich die weiße Bluse in den knielangen, grauen Rock und drücke auf den Türöffner. »Komm kurz rein, ich bin noch nicht fertig.« Im Schuhschrank fische ich nach passenden Pumps.

»Hatte ich sowieso vor«, tönt es aus dem Hörer.

Er nimmt immer zwei Treppenstufen auf einmal und steht wenig später mit einem breiten Grinsen vor mir. In der einen Hand hält er einen kleinen Blumenstrauß, mit der anderen zieht er mich zu sich heran und drückt mir einen stürmischen Kuss auf die Lippen.

»Hey, konntest du es nicht abwarten?«, flüstere ich atemlos. Seine Leidenschaft ist deutlich spürbar.

»Sozusagen, ich habe mich extra beeilt. Lust auf einen Quickie? Vierzehn Minuten bleiben uns, bis wir losmüssen – das dürfte ich schaffen!«

»Angeber!«, kichere ich. »Danke für die schönen Blumen, das wäre doch nicht nötig gewesen. Ich stelle sie schnell ins Wasser.«

Er folgt mir in die Küche, seine Arme halten mich dabei von hinten umschlungen, sodass wir fast über unsere Füße stolpern. Der bunte Strauß landet in einer Vase, die ich im Eiltempo unter den rauschenden Wasserhahn stelle. Dann drehe ich mich zu ihm um und schaue in seine funkelnden Augen.

»Du bist also absichtlich früher hier aufgetaucht, um vor der Verabredung mit deinem Bruder noch ein kleines Schäferstündchen einzulegen?«

»Korrekt«, antwortet er, öffnet den Reißverschluss meines Rocks und schiebt ihn samt Slip zu Boden. Zielstrebig gehen seine Finger auf Wanderschaft, während ich ihm aus der Hose helfe. »Das nennt man effizientes Zeitmanagement. Zuerst Liebe, dann Essen, später kannst du in Ruhe deinen Job erledigen.«

»Du denkst ja wirklich mit«, sage ich und lasse mich mitten in der Küche nehmen. »Oh, David …«

Typisch Mann. Er hatte übertrieben und brauchte mehr als vierzehn Minuten, weshalb wir zu spät bei dem italienischen Restaurant am Stadtrand ankommen. Mit quietschenden Reifen hält David in einer Parkbucht und schaltet den Motor aus.

»Da wären wir. Das Da Capo ist unser Stammlokal, Alexander und ich treffen uns hier in unregelmäßigen Abständen, wenn wir zu faul zum Kochen sind«, erklärt er, steigt aus und kommt um den Wagen herum, um die Beifahrertür für mich zu öffnen. »Darf ich bitten?«

»Sehr gerne. Hoffentlich ist dein Bruder nicht sauer, dass wir unpünktlich sind. Ich finde so was jedenfalls ziemlich unhöflich. Bestimmt hat er jetzt einen schlechten Eindruck von mir.«

»Ach, das kann doch mal vorkommen. Ihm ist es garantiert egal, Männer sind da nicht so kleinlich. Außerdem haben wir einen triftigen Grund fürs Zuspätkommen.«

»Über den wir aber kein Sterbenswörtchen verraten. Das ist mir zu intim, außerdem gehört sich das nicht.«

»Ach, Gottchen«, murmelt er. »Du bist doch sonst nicht so.«

Statt mit einer schnippischen Antwort zu kontern, hake ich mich versöhnlich bei ihm unter. Wir betreten den Gastraum und werden von einem Mitarbeiter überschwänglich begrüßt.

»Hi, David, welch Glanz in unserer bescheidenen Hütte! Und so eine nette Begleitung. Guten Abend, Signorina.«

»Guten Abend«, sage ich.

»Hallo, Matteo, alles klar?« David zieht mich besitzergreifend an sich und lässt suchend den Blick schweifen. »Sag mal, ist mein Bruder schon da? Ah, hat sich erledigt. Da hinten sitzt er ja.«

»Sì, geht bitte durch.« Der dunkelhaarige Kellner deutet auf einen blonden Mann, der mit dem Rücken zu uns sitzt. »Ich bin gleich mit den Karten bei euch.«

Als wir an seinem Tisch ankommen, erhebt sich der Mann, dreht sich um und streckt mir die Hand entgegen. Verwirrt sehe ich ihn an. Ich erwidere den Händedruck und schüttle irritiert den Kopf.

»Hallo, ich bin Susan«, stelle ich mich mit einem unsicheren Lachen vor.

»Schön, dich kennenzulernen. Ich bin Alexander. Aber das weißt du ja bereits. Hi, David.«

»Hi, Alex. Setz dich doch, Süße.«

Er schiebt mir den Stuhl gegenüber von seinem Bruder zurecht und wählt für sich den Platz neben mir. Wir setzen uns alle drei und schauen von einem zum anderen.

»Ich bin überrascht«, eröffne ich das Gespräch. »Auf den Fotos in Ihren Büchern sehen Sie ganz anders aus. Hoffentlich ist es nicht unhöflich, dass ich Sie so anstarre, aber ich bin echt durcheinander.«

»Wollt ihr euch nicht duzen?«, schlägt David vor. »Wir sind doch sozusagen Familie.«

Wir nicken beide, und ich fahre fort. »Oder ist das ein riesengroßes Missverständnis und Sie, äh, sorry, du bist gar nicht derjenige, für den ich dich halte? Ich habe doch richtig verstanden, oder? Du bist der Bestsellerautor Alex Vento, der Krimis schreibt?«

»Na ja, Bestsellerautor ist relativ«, antwortet er bescheiden. »Aber ja, es stimmt, ich bin Alex Vento. Wobei das natürlich nur ein Pseudonym ist. Mein richtiger Name lautet Alexander Storm. Um Privat- und Berufsleben voneinander zu trennen, aber auch, um mir verrückte Stalker vom Leib zu halten, habe ich mir einen Künstlernamen zugelegt. Alexander gleich Alex. Und Storm gleich Sturm oder Wind … Nicht besonders einfallsreich, doch da kommt trotzdem kaum jemand drauf: Vento ist das portugiesische Wort für Wind.«

»Ach so«, sage ich. »Aber ich erkenne keinerlei Ähnlichkeit zwischen deinen Autorenfotos und dir. Ich habe sogar heute extra noch mal geguckt. Da bist du dunkelhaarig und … Na ja, völlig anders eben. Woran liegt denn das?«

Der Kellner bringt uns die Speisekarten, stellt eine Flasche Wasser in den Kühler und rauscht wieder davon.

»Ehrlich gesagt, habe ich ein Problem damit, in der Öffentlichkeit zu stehen. Ich will einfach nur schreiben – nicht mehr und nicht weniger. Aus mir wird in diesem Leben keine Rampensau mehr, auch wenn mein Verlag mich regelmäßig bedrängt und meint, dass sich das positiv auf die Verkaufszahlen auswirken würde. Dennoch bleibe ich mir in dem Punkt treu. Weder halte ich Lesungen ab, noch tummle ich mich auf Buchmessen. Mir liegt das einfach nicht, deshalb kennt auch kein Mensch mein Äußeres. Heutzutage braucht man so was allerdings, vor allem für die sozialen Medien. Um dort ein Gesicht zeigen zu können, habe ich vor einigen Jahren Fotos von einer Agentur gekauft.«

»Alex war schon immer ein schlauer Fuchs«, meint David lachend und tätschelt unterm Tisch mein Knie.

»Und das ist erlaubt?«, hake ich nach. »Kann das jeder machen? Sich einfach so als jemand anders ausgeben?«

»Klar, das ist überhaupt kein Ding. Solange die Bilder nur für solche Zwecke vorgesehen sind, kann ich schamlos behaupten, ich sei der sympathische, ziemlich durchschnittlich aussehende Typ auf dem Cover meines Buchs. Cool, nicht?«

Wir lachen uns an. Tatsächlich ist der reale Alexander attraktiver als der Fake-Alex. Die blonden Haare trägt er fast schulterlang, was er sich mit seiner muskulösen Gestalt und dem markanten Gesicht problemlos leisten kann. Er wirkt maskulin, sportlich und selbstbewusst. Der andere Alex hingegen sieht aus wie der nette Nachbar von nebenan, eher unauffällig und blass.

»Du siehst nicht nur deinem Profilbild nicht ähnlich, sondern auch deinem Bruder nicht«, stelle ich fest.

»Gott sei Dank«, sagt er grinsend.

»Würde mir noch fehlen«, stimmt David zu. »Wollen wir endlich was bestellen? Ich habe Hunger.«

Der Abend verläuft nett, die Atmosphäre ist locker. Wir essen, trinken und plaudern, als würden wir uns alle schon ewig kennen. Es ist leicht, sich mit David und seinem Bruder blendend zu unterhalten, denn sie sind intelligent und reißen immer wieder Witze, über die ich meine Pizza fast vergesse.

Mich interessiert, wie Alexander auf die Ideen für seine Romane kommt. »Woher nimmst du all die Einfälle? Mir würden irgendwann die Geschichten ausgehen.«

»Inspirationen gibt es eigentlich überall. Man muss nur Augen und Ohren offenhalten. Außerdem greife ich zur Not auf David zurück. Wenn man einen Bruder hat, der bei der Polizei arbeitet, ist das für einen Krimi-Autor durchaus von Vorteil«, antwortet er und trinkt einen großen Schluck Bier.

»Ihr habt wohl beide ein Faible für Mord und Totschlag. Ist das Zufall?«

David schüttelt den Kopf. »Mir reichen kleinere Delikte vollkommen aus. Ein harmloser Verkehrsunfall mit Lackschaden ist mir deutlich lieber als Frauenleichen. Zur Abwechslung ist so was vielleicht mal ganz aufregend, aber dauerhaft wäre das nichts für mich.« Zwinkernd sucht er meinen Blick und gibt mir einen Kuss auf die Stirn.

»Apropos Frauenleichen, Bruderherz.« Alex schiebt den leer gegessenen Teller von sich weg und beugt sich über den Tisch zu David hinüber. »Was gibt es denn nun für aktuelle Insiderinfos? Du hattest da am Telefon was angedeutet.«

»Aber das muss unbedingt unter uns bleiben, versprich mir das!« Davids Stimme senkt sich, und er schaut sich unauffällig um, ob an den Nachbartischen auch niemand zuhört. »Es handelt sich um streng vertrauliche Ermittlungsinterna. Niemand darf je erfahren, dass ich euch davon erzählt habe.«

Ich nicke zustimmend.

»Mann, David, mach es nicht so spannend. Als ob ich das nicht wüsste. Ich halte die Klappe, versprochen.«

»Okay. Also, ich bin wegen des hohen Ermittlungsdrucks heute einer Sondereinheit zugeteilt worden. Nicht als Einziger – einige Kollegen, die ebenfalls nicht dem Morddezernat angehören, sind mit dabei. Unsere zuständige Kommissarin scheint ziemlich auf Zack zu sein. Sie will keine Zeit verlieren, weil zwischen dem Mord an dem letzten Opfer, Gabriela Rizzoli, und dem aktuellen Fall nur wenige Wochen lagen.«

»Die Rizzoli war die Architektin?«

»Genau. Sie war Single. Und passte somit perfekt ins Muster des Täters. Alle diese Verbrechen wurden an ungebundenen, jungen Frauen verübt.«

»Ich hoffe, ich falle nicht mehr unter die Kategorie Single, das ist ja gruselig«, scherze ich und verziehe den Mund.

»Das hoffe ich auch, mein Schatz.«

Alexander rollt gespielt genervt mit den Augen. »Wenn ich die Turteltauben mal kurz stören dürfte – in erster Linie interessiert mich natürlich, ob es einen Verdächtigen gibt. Wen hat eure Kommissarin im Visier? Und wie heißt sie überhaupt?«

»Das sollte für dich eigentlich keine Rolle spielen. Wehe, du verwendest ihren Namen in einem deiner Bücher!«

»Entspann dich, ich bin nicht blöd. Außerdem dürfte das ja wohl kein Geheimnis sein. Deine ach so spannenden Interna finde ich morgen vermutlich allesamt in den Pressemeldungen des Polizeisprechers.«

»Dass sie Eva Bell heißt, könnte tatsächlich in der nächsten Pressemitteilung stehen. Wer als Serienmörder verdächtigt wird, allerdings nicht.« David lehnt sich mit hinter dem Kopf verschränkten Armen zurück und genießt seine Kunstpause. »Seine Identität kann ich selbstverständlich nicht preisgeben. Nennen wir ihn daher Mister X. Über Mister X haben wir ein beachtliches Detail in Erfahrung gebracht. Carina Jacobi, das aktuelle Opfer, hat ihn nämlich vor anderthalb Jahren angezeigt. Sie kannte ihn von der Arbeit, fühlte sich von ihm belästigt. So, und nun kommt’s: Wie sich herausgestellt hat, waren das vierte Opfer, Jessica Weinstein, und Mister X ebenfalls mal in ein und derselben Firma angestellt.«

»Hm. War’s das schon? Finde ich nicht wirklich bahnbrechend.«

»Nein, das war’s noch nicht ganz. Der Mann ist Handwerker. Unter Umständen ist er deshalb so geschickt darin, Schlösser zu knacken. Wenn es sich bei Mister X um den Killer handelt, sucht er sich seine Opfer möglicherweise bei seinen jeweiligen Jobs aus, um dann ohne Probleme ihre Türen zu öffnen.«

»Okay, danke. Ich nehme an, mehr rückst du nicht raus?« Alexander trinkt sein Glas leer und scheint es plötzlich eilig zu haben. Er schiebt David einen Schein zu. »Bezahlst du bitte für mich mit?«

»Klar, gerne. Du musst jetzt gleich los?«

»Ja, sonst wird es knapp. War nett mit euch.«

»Schade, dass du schon gehst«, sage ich. »Was hast du denn noch vor?«

»Ach du … nicht der Rede wert.« Er weicht meinem Blick aus und steht auf. »Ich wünsche euch noch einen angenehmen Abend. Und tu nichts, was ich im Beisein einer charmanten Frau nicht auch tun würde, David.«

»Du kennst mich doch.«

»Genau deswegen. Vielleicht sehen wir uns bald wieder? Meldet euch. Tschüss, ihr zwei.«

»Tschüss«, echoen wir und machen uns auch bereit zum Aufbruch.

Vor meiner Haustür knutschen wir in Davids Auto herum. Seinen Versuch, mir an die Wäsche zu gehen, wehre ich lachend ab. Mit der rechten Hand nestle ich am Türgriff, mit der linken schiebe ich David ein Stück von mir weg.

»Ich muss wirklich noch was tun.«

»Ach komm, genehmige mir noch ein Viertelstündchen.«

»Was aus deinem Viertelstündchen wird, habe ich vorhin gemerkt.«

»Ich kann halt nicht genug von dir bekommen«, raunt er. »Da vergeht dann schon mal die Zeit wie im Flug. Bitte, bitte! Außerdem solltest du irgendwann auch mal Feierabend machen.«

»Tja, als Selbstständige ist das nicht so einfach. Tut mir echt leid, aber das Webprojekt, an dem ich gerade arbeite, muss dringend fertigwerden.«

Seufzend löst er sich von mir und schaut mich an.

»Okay, ich werde dich nicht weiter nerven. Allerdings musst du mir versprechen, dass wir uns bald wiedersehen. Sonst gehe ich elendig zugrunde.«

»Das könnte ich unmöglich mit meinem Gewissen vereinbaren. Versprochen.«

Ein letzter Kuss, dann steige ich aus dem Wagen und gehe in meine Wohnung.

Kaum habe ich die Tür hinter mir zugezogen, greife ich zu meinem Handy und schicke David eine mit Herzchen gespickte WhatsApp-Nachricht.

Danke für den wunderschönen Abend. Nicht nur der Anfang war aufregend und sollte schnell fortgeführt werden. Auch dein Bruder ist sehr sympathisch. Wir können das Ganze gerne wiederholen. Ich fühle mich wahnsinnig wohl in deiner Nähe, Susan.