JOHNSON
Jule wäre ihrer Freundin am liebsten sofort hinterhergeflogen, aber ihr Economy-Tarif sah keine Möglichkeit einer Umbuchung vor. Sie hätte zu ungünstigsten Konditionen einen neuen Flug buchen müssen – und rang mit sich. Einige Tage Abstand, fand sie dann, konnten die Situation nicht verschlimmern. Zwar plagte sie die Sehnsucht nach Johnson, aber längst nicht mehr so wie zu Beginn der Reise. Der Verlust von Lisbeth drängte alles in den Hintergrund, sogar den Kater, dem es laut Davids Auskunft ja gut ging, beinahe beleidigend gut. So schleppte sich Jule von Station zu Station eines Urlaubs, der keiner mehr war. Einmal telefonierte sie mit ihrem Sohn, der sie beschwor, noch zu bleiben, Berlin erlebe den härtesten Winter seit dreißig Jahren, das müsse sich niemand freiwillig antun. Seltsamerweise hatte David mit keinem Wort danach gefragt, warum Lisbeth ihre Zelte überstürzt abgebrochen hatte. Sie legte ihm sein Desinteresse als Zartfühligkeit aus. Einsam, immer in dieselben Gedankenschleifen versponnen, saß sie im gleißenden Licht, an Stränden, die ihr nichts bedeuteten, in Städten ohne Reiz. Sie saß die Zeit wie ein Häftling ab, erwartete voller Freude den Tag, an dem ihre Maschine endlich Richtung Europa abhob, sie war zwei Stunden zu früh an den Flughafen von Miami gekommen, um nur ja keinen Fehler zu begehen. Ständig hoffte sie auf eine Nachricht von Lisbeth, auf irgendein Zeichen zur Versöhnung.
Am 17. Februar, gegen zwei Uhr nachmittags, landete sie auf dem Flughafen Tegel, fuhr nach Hause, nahm eine Dusche, danach, der Anlaß war es wert, ein Taxi zu Davids Wohnung. Das sparte gegenüber der U-Bahn fast zwanzig Minuten Fahrzeit. Sie klingelte, und statt David öffnete ein junger Mensch mit mehrfach geflickten Jeans und Dreadlocks, der ihr die Hand hinstreckte und sich mit den Worten »Hallo, ich bin Adolf« vorstellte. Es hätte nicht viel gefehlt, und Jule hätte die hingestreckte Hand verweigert, das Weite gesucht und die Polizei alarmiert. Adolf erklärte ihr dann, daß David leider verhindert sei, und er ihn, seinen Assistenten, darum gebeten habe, sie zu empfangen. Das ist ja wie eine Audienz beim Papst! entfuhr es Jule. So schlimm sei es sicher nicht, entgegnete Adolf, er jedenfalls habe von David den Auftrag erhalten, ihr Kekse und Tee anzubieten. Jule legte darauf keinen Wert. David habe kurzfristig ins Ausland verreisen müssen, erklärte der junge Mann mit der zerschlissenen Lederjacke. Wo Johnson sei, fragte sie und erhielt zur Antwort, der Kater sei leider, leider verstorben. Adolf benutzte das Wort verstorben, weil es respektvoller klang als das einsilbige und schlichte »tot«. Er drückte ihr sein Mitgefühl, sein Beileid aus. Wie das geschehen sei, fragte Jule flüsternd, und Tränen liefen ihre Wangen herab. Adolf antwortete, daß David ihm nur das Nötigste habe mitteilen können, er habe mitten in der Nacht angerufen, hörbar aufgewühlt. Was hat er denn genau gesagt, fragte Jule. Bitte sagen Sie mir ganz exakt, was er gesagt hat. Er sagte: Du mußt meiner Mutter schonend beibringen, daß ihr Kater tot ist und daß ich keine Schuld daran habe. Johnson wollte einfach nicht fressen, er hat – und Adolf konnte die Worte Davids nicht ohne eine entschuldigende Geste wiedergeben – auf klassisch römische Art Suizid begangen.
Jule sah auf. Was sei das denn für ein Scheißdreck? Ein kastrierter Kater begeht auf klassisch römische Art Selbstmord? Und David will mir nicht ins Gesicht sehen müssen, haut einfach ab, schiebt seinen Assi vor? Sie war so wütend, daß sie zitterte. Sie wußte nicht, worin ein klassisch römischer Selbstmord bestand, und Adolf hätte ihr auch keine exakte Auskunft geben können. Er fand, daß sein Auftrag so weit erledigt war. Zwar hatte David ihm noch anvertraut, wo Johnsons leblose Reste lagerten, für den Fall, daß seine Mutter auf die Herausgabe des Kadavers pochte. Aber ohne Not darüber Auskunft zu geben, schien wenig angebracht.
Jule nahm ihr Handy, als wäre sie allein im Raum, und schrieb Lisbeth eine SMS.
johnson ist tot.
Drei Worte. In Großbuchstaben. Und plötzlich, während Adolf ihr eine Hand auf die Schulter legte und eine banale Abschiedsfloskel formulierte, erkannte Jule einen tieferen Sinn in Johnsons Tod. Lisbeth würde antworten. Auf diese drei Worte hin würde sie eine Antwort senden. Senden müssen. Nach nur drei Minuten kam die Antwort. DU ÄRMSTE. Nicht mehr, nicht weniger. DARF ICH BITTE – Jule zitterte so sehr, daß sie sich etliche Male vertippte – ZU DIR KOMMEN?
GUT. KOMM!