TIFLIS
Wenn es in Tiflis etwas gab, was Greta und Ralf an Malta erinnerte, waren es die altersschwachen gelben Omnibusse. Aber das konnte ihr Heimweh nicht wirklich lindern. Sie hatten mit durchwachsenem Erfolg an einigen kleineren Pokerrunden teilgenommen und gerade genug verdient, um das winzige Pensionszimmer zu bezahlen. Der einzige Lichtblick war die georgische Begeisterung für das Backgammonspiel, und nachmittags im Kaffeehaus fand Ralf immer wieder Freier, die bereit waren, gegen ihn um dreißig Lari (etwas mehr als zehn Euro) den Punkt zu spielen, ein immens hoher Betrag für hiesige Verhältnisse. Und endlich war Ralf sogar an einen Goldfisch geraten. Das ist unter Berufsspielern (sogenannten Haien) die Bezeichnung für einen Freier (einen deutlich schwächeren Spieler) mit viel Geld in der Tasche. Ralf, der es gewohnt war, eine Error Rate von unter 3 zu spielen, hatte drei Stunden geackert, um mit 15 Punkten à 20 Euro vorn zu liegen. Sein Gegner, Surab, ein distinguierter älterer Sakkoträger um die fünfundsechzig, mit weißem Backenbart und eher mongolischer als kaukasischer Physiognomie, trug drei dicke Ringe an den Fingern der rechten Hand, und seine Angewohnheit, mit diesen Ringen, wenn er nervös war, gegen die marmorne Tischplatte zu trommeln, klack-klack-klack – wodurch die Hand des Georgiers ungewollt eine gierige Gib-mir-gib-mir-Geste vollführte –, zerrte an Ralfs Nerven. Einige lokale Spieler saßen um das Board herum, rauchten schwarzen Tabak und flüsterten sich etwas zu, mal debattierten sie auch laut. Kiebitze sollten sich, das war in Georgien nicht anders als sonst wo in der Welt, jedes Kommentars enthalten, und öfters einmal sah Ralf irritiert und mißbilligend in die Runde, dann aber sahen die Kiebitze irritiert und mißbilligend zurück, keckerten frech und grinsten sich eins.
Ralf fühlte sich nicht wohl, zeigte aber enorm viel Selbstkontrolle. Greta saß in zweiter Reihe hinter ihm und lenkte die Aufmerksamkeit der Kiebitze immer wieder auf ihr bewußt sehr spendabel gewähltes Dekolleté. Es folgte eine Partie, in der Ralf nach einem Blitzangriff den Dopplerwürfel gab, keineswegs zu früh, sein Gegner nahm die Verdopplung des Einsatzes fälschlicherweise an, ein Blunder (grober Fehler) – wie sich später in der Computeranalyse zeigte –, und gab den Würfel nach einem glücklichen Pasch, der ihm kaum mehr als ein vorläufiges Überleben garantierte, zurück. Das war nun ein surreales Freierstück, durch gar nichts zu rechtfertigen. Ralf konnte an so ein Geschenk kaum glauben und entschloß sich zu einem Beaver, er drehte also den Würfel nochmal auf die 16 und behielt ihn auf seiner Seite, und als er den Schuß, den der Georgier alsbald lassen mußte, getroffen hatte, gab Ralf ihm den Würfel mit einer mürrischen, leicht genervten Geste auf der 32. Das war nun beim besten Willen kein Take mehr, viel eher ein Mega-Monster-Pass. Unter normalen Umständen hätte Ralf 16 Punkte kassiert, hätte pro forma noch ein paar Spiele hinter sich gebracht und wäre, zufrieden mit der Beute, abends mit Greta gut essen gegangen, statt von belegten Broten zu leben. Doch genau jene genervte, etwas überhebliche und rechthaberische Geste, die er sich einfach nicht verkneifen konnte, erzürnte Surab, den backenbärtigen Goldfisch, einen für seine fragwürdigen Takes ebenso wie für sein Glück berüchtigten Holzfabrikanten – und einfach nur deshalb, weil er es sich schmerzfrei leisten konnte, akzeptierte er gegen jede mathematische Erwartung den Würfel, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Die Kiebitze johlten begeistert. Sie goutierten das gebotene Spektakel, das objektive Berichterstatter als reinen Irrsinn gewertet hätten. Ralf, der in der Stellung über 95 Prozent Gewinnwahrscheinlichkeit besaß, wurde dennoch blass, denn es ging nun um 640 Euro, und er hatte nur hundert in der Tasche. Greta, selbst eine Weltklassespielerin, bestellte sich trotz der frühen Uhrzeit einen Weißwein, ihr standen Schweißperlen auf der Stirn, obgleich es in diesem Moment noch keinen Anlaß dazu gab. Im nächsten aber schon, denn der Holzfabrikant würfelte einen Einserpasch, setzte drei Steine, die zuvor aus dem Spiel waren, auf dem Ace-Point ein, und Ralf würfelte, als habe ein grausamer Gott des Trauerspiels die Regie übernommen, genau jene 6-5, die dem Gegner die Möglichkeit eines Treffers bot. Mit jeder Fünf würde der Georgier nun den Spielverlauf auf den Kopf stellen und eine Sequenz von 1:1943 Wahrscheinlichkeit Wirklichkeit werden lassen. Aber er würfelte nicht, er schüttelte den Kopf, selbst ganz entgeistert, als ob ihm so viel Glück peinlich sei. Dann bot er Ralf in gebrochenem Englisch an, die Partie abzubrechen und unentschieden zu werten. Die Wahrscheinlichkeit auf eine Fünf betrug nur dreißig Prozent, und Ralf, der wie jeder ernsthafte Backgammonspieler eisern an die Gesetze der Mathematik glaubte, wandte sich an Greta, wie um sich bei ihr rückzuversichern. Greta fand es einerseits richtig, daß Ralf sie in die Entscheidung einbezog; früher hätte er, voller Selbstvertrauen, das unseriöse, auch etwas taktlose Angebot schlicht abgelehnt. Andererseits fühlte sie sich unangenehm in die Verantwortung genommen. Etwas in ihr, die Paranoia der Bad-luck-roll, die sogar Profis befällt, sah voraus, daß der Georgier die Fünf würfeln würde, dennoch wagte sie es nicht, Ralf dazu zu drängen, die Offerte zu akzeptieren. Dreißig Prozent sind nun mal viel weniger als siebzig, egal, was bisher schon schiefgelaufen war. Greta dachte nach, sie wollte nicht dumm dastehen, hinterher, als ängstliche Frau, die man ob einer vagen Bauch-Ahnung mit einem miesen Angebot über den Tisch ziehen konnte. Mach, was du willst, sagte sie nun, und Ralf zuckte zusammen. Er hätte sich von ihr ein klares Votum gewünscht, stattdessen schob sie ihm die Verantwortung zurück, und ihm blieb, nach menschlichem Ermessen, wollte er nicht jeden Respekt vor sich verlieren, gar nichts anderes übrig, als Surab zum Wurf aufzufordern.
Der erhob sich, schüttelte theatralisch den Becher – und würfelte einen Fünferpasch. Die Kiebitze schlugen sich kreischend auf die Schenkel.
Nachts, in der Pension, zog Greta Bilanz. Glücklicherweise hatte Surab, ein im Grunde gütiger und verständnisvoller Mensch, nicht auf Barzahlung bestanden, sondern sich mit hundert Euro und einer vorläufigen Stundung der Restschuld zufrieden gegeben, zuletzt deshalb, weil Greta ihn mit Kulleraugen darum gebeten hatte.
Nun sah sie den Punkt erreicht, da einfach nichts mehr schönzureden war.
Wir haben, sagte Greta, keine Kohle, keine Jobs, und ich hasse dieses Land.
Sie gehe jetzt nach Malta zurück, egal, was dort mit ihr geschehe. Im Grunde seien die ja viel eher an ihm interessiert, denn an allem sei nur er, Ralf, schuld.
Ralf nickte und seufzte, wie so oft in den letzten Wochen. Aber wer habe denn die dämliche Idee gehabt, denen den Deal mit den Kreditkarteninfos anzubieten? Obwohl wir überhaupt keinen Zugang dazu haben! Dadurch sind die erst auf den Geschmack gekommen. Wegen zehn Mille hätten sie uns nicht gleich die Beine gebrochen.
Wenn es dabei geblieben wäre! Ich hab das getan, um erst mal Zeit zu gewinnen. Aber du mußtest ja unbedingt noch zehn reinstecken mit deinem albernen Neujahrs-Aberglauben. Ich muß einfach zurück nach Malta und die Wohnung auflösen. Die kostet uns sechshundert kalt im Monat. Wenn ich alles Mobiliar verkloppe, bringt das auch ein bißchen was. Mein Notebook liegt noch da. Im Übrigen hätten wir unsere Handys nicht wegwerfen müssen. Sie einfach mal ne Weile nicht einzuschalten oder die Akkus rauszunehmen, hätte genügt.
Ralf schüttelte den Kopf. Die – er sprach immer nur von »die« und »denen«, ohne einen Namen zu nennen – würden im besten Fall, wenn sie guter Laune sein sollten, hundert Prozent Zinsen verlangen, also in summa vierzig Mille. Die kriegen wir höchstens rein, wenn wir ein großes Turnier gewinnen. Und das Startgeld dafür haben wir nicht. Gibt uns auch keiner. Also vergiß Malta. Endgültig. Die Flugkosten wären teurer als die paar alten Möbel und das Notebook. Wenn die Miete nicht mehr überwiesen wird, kündigt man uns die Wohnung, wir sind dann Mietnomaden, aber das ist gottseidank nichts, wofür man ins Gefängnis kommt.
Was er denn vorschlagen würde, fragte Greta müde und rieb sich die Augen.
Wir gehen nach Deutschland, suchen uns Jobs. Vielleicht kommen wir bei meinen Eltern unter. Fangen neu an, auf kleiner Flamme. Ich seh dazu keine echte Alternative.
Erst mal nach Deutschland kommen! Wir haben nicht mal das Geld, um die Pension zu bezahlen!
Pfeif drauf. Wir wenden uns morgen in aller Frühe an die deutsche Botschaft. Wir sagen, man hat uns beraubt, das stimmt ja sogar irgendwie – die zahlen einem dann auf Pump die Bahn zweiter Klasse, bequem ist das nicht, aber eine Aussicht.
Was denn für eine Aussicht? Greta traten Tränen in die Augen, sie sah sich bereits an einer Supermarktkasse. Wir hatten es, rief sie laut, so gut auf Malta. Mann, hatten wir eine schöne Zeit. Bis du Idiot beschließen mußtest, Black Jack zu spielen. Halt endlich die Klappe, dachte Ralf, enthielt sich aber jedes Kommentars. Dann herrschte Stille, für anderthalb Minuten, und diese Stille war um nichts besser als Gretas Lamento.
Vielleicht sind Serge und Kati ja noch da, und ich könnte sie bitten, mein Notebook und ein paar Kleider und Geschirr und so nach Deutschland mitzunehmen.
Die sind bestimmt längst nach Hause geflogen. Aber bitte – versuchs! Ralf war strikt dagegen gewesen, irgendwem mitzuteilen, wo sie sich genau aufhielten. Doch wenn sie morgen früh ohnehin die Zeche prellen und aus diesem Land verschwinden würden, war es egal.