DAVID

19. Januar

– Ich habe Borten heute gesagt, wenn er Serge kündigt, gehe ich auch. Auf seinen besten Fotografen wollte er dann doch nicht verzichten. Warum ich das mache, hat Borten mich gefragt. Mich so ins Zeug zu hängen, für einen Kollegen, über den ich zuvor immer abfällig geredet habe. Was sollte ich antworten? Außer einem Schulterzucken fiel mir nichts ein. Borten hält mich jetzt für einen guten Menschen. Nur weil meine Interessen ihm nicht einsichtig sind. Aber womöglich ist das die beste Definition für einen »guten Menschen«. Ich glaube, daß nichts auf der Welt ganz selbstlos geschieht. Solange Serge in derselben Agentur arbeitet wie ich, halte ich indirekt Verbindung zu Kati. Eben hab ich ihr eine SMS geschickt, wider meinen Vorsatz. Es waren nur zwei Worte: Alles okay? Sie brachte es fertig, mit zwei Buchstaben zu antworten: JA. Immerhin hat sie geantwortet.

– Bist du verliebt?

– Nein, nur anhänglich. Und sentimental. Und besitzergreifend. Ich kann es nicht leiden, wenn ein Mensch einfach aus meinem Spielfeld verschwindet.

– Im Bett war sie ja gut, hast du gesagt.

– Das ist wieder alles, was dich interessiert. Ich muß jetzt zur Arbeit. Fünf nackte Frauen fotografieren, das würde dir gefallen, nicht? Hier liegt immer noch Schnee, es ist eisig, und immer mehr Berliner machen Witze über die Theorie der Erderwärmung. Dafür hasse ich diesen Winter noch mehr. Habs gut. Küss die Kids von mir. Ist Becky schon zu groß, um noch geküßt zu werden?

– Ich fürchte, bald wird sie groß genug sein, um anders geküßt zu werden. Das geht so verdammt schnell.

– Sie ist doch erst elf?

– Und wird bereits umschwärmt von den Jungs. Die sind heut mit elf wie wir damals mit vierzehn.

– Übrigens: Unserer Ma hab ich zwei Wochen Florida gebucht. Die muß mal raus aus diesem Land der Kälte und der Finsternis.

– Soll ich mich an den Kosten beteiligen?

– Laß gut sein. Ich habs ihr nur gebucht, bezahlen will sie selbst.

– Fährt sie allein?

– Nein, mit ihrer besten Freundin, ich glaube, eine Kollegin von der Schule. Mir drückt sie die Katze auf. Cheers!

David beendete den Skype-Chat mit seinem in Toronto lebenden, drei Jahre älteren Bruder, loggte sich aus und klappte den Laptop zu. Arved war ihm wichtig, obgleich sich die beiden nicht ähnelten. Arved hatte nach Kanada geheiratet, im fremden Land eine Ladenkette für Bioeiscreme gegründet und drei wunderschöne Kinder gezeugt, Rebecca (genannt Becky), Max und Lea, elf, sechs und drei Jahre alt. David war überzeugter Junggeselle geblieben, aber in letzter Zeit, besonders, wenn in der Weihnachtszeit aus allen Supermarktlautsprechern Driving home for Christmas zu hören war, stellte er eine gewisse Sehnsucht an sich fest, wie viele unaufhaltsam auf die vierzig zugehende Singles. Es genügte, sich an die Geschichte zu erinnern, als man der unter Verstopfung leidenden kleinen Lea einen Einlauf verabreichte, um jene vage Sehnsucht als Spinnerei abzutun. David führte ein privilegiertes Leben als gefragter Fotograf. Er sah blendend aus, ging locker für dreißig durch, acht Jahre jünger, als er war. Seiner gepflegten Erscheinung wegen wurde er oft für schwul gehalten, Frauen faßten auffallend schnell Vertrauen zu ihm. Er ging regelmäßig ins Fitneßstudio, bräunte sich im Solarium, benutzte eine Nagelfeile und trug bevorzugt Jeans und Turnschuhe, was seinem jugendlichen Auftreten umso mehr Glaubwürdigkeit verlieh. Und sein Beruf verschaffte ihm Frauen noch und noch. Sie zogen sich vor ihm aus, posierten, priesen ihre Körper an, fühlten sich erregt vom Klackgeräusch seines Auslösers. David war gewöhnt daran, freie Auswahl zu haben und davon Gebrauch zu machen. Daß Kati mit ihm Schluß gemacht und sich für ihre Beziehung mit Serge entschieden hatte, traf ihn tiefer, als er sich eingestehen mochte. Anfangs war er damit umgegangen, wie man mit so was umgeht, als gefragter Mann, selbstzufrieden und mit Stolz. Eine ging, andere würden kommen.

Es stand ein Nightshooting an, oben im extra dafür gemieteten Restaurant des Fernsehturms am Alex. Fünf fast nackte (er hatte gegenüber seinem Bruder bewußt übertrieben) Mädchen diverser Haut- und Haarfarben suhlten sich auf weißen Damasttischdecken, zwischen Früchtekörben und Champagnerkühlkübeln, und alle trugen nur Strümpfe der Firma Passion.

Die Fotos entstanden für jenen Auftrag, an dem Serge gescheitert war. Technisch gesehen war es ein schwieriger Job, die Körper der Mädchen gut in Szene zu setzen, ohne die nächtliche Skyline Berlins im Hintergrund zu einer diffusen Fernlichtorgie verkommen zu lassen. Wenigstens eine Herausforderung. Vielleicht konnte man durch Überlagerung zweier Bilder tricksen. Davids neuer Assi namens Adolf war ein Spitzenbeleuchter, ein Naturtalent, das für ein Volontariatshonorar die Hälfte der Arbeit erledigte. Adolf. Konnte man in Deutschland wieder jemandem diesen Namen geben? Es gab offenbar kein Gesetz dagegen. Adolf sagte, seine Eltern seien Neonazis aus Thüringen, und er habe lange mit dem Gedanken gespielt, sich auf dem Amtsweg einen neuen Vornamen geben zu lassen. Aber er habe achtzehn Jahre lang unter diesem Namen gelitten und wolle das nicht umsonst getan haben, was könne der an sich ganz schöne Name dafür, daß er von einem einzigen Arschloch diskreditiert worden sei. Irgendwann habe es ihm sogar gefallen, Dreadlocks zu tragen, einen Anti-Nazi-Button an der Lederjacke, und Adolf zu heißen, das sei eine gewisse Form von Einzigartigkeit und stelle seine Eltern eher an den Pranger, statt ihre ursprüngliche Absicht schamhaft unter den Tisch zu kehren. David, unter dessen Vorfahren ein jüdischer Urgroßvater war, hatte Gefallen an dem jungen Mann gefunden, der praktisch ohne Gehalt ein halbes Jahr für ihn arbeiten wollte. Sie waren Freunde geworden, und David unterstützte Adolf finanziell, indem sie nach den Jobs zusammen koksten. Den zusammengerollten Hunni ließ David jeweils auf den Klodeckeln liegen. Adolf war ein guter Junge, steckte den Hunni ein und sagte nie ausdrücklich Danke, nickte nur, als könne ein falsches Wort das Ritual des Almosens entwerten.

Um drei Uhr morgens war die Session erledigt, Adi packte den Kram zusammen und fuhr ihn mit dem Lieferwagen ins Atelier. David wollte die Nacht in einem Club ausklingen lassen. Ins Berghain konnte man nicht mehr gehen, das war inzwischen zu berühmt und voller Touristen. Nicht, daß David etwas gegen Ausländer gehabt hätte, aber man traf die meisten Leute dort nur einmal, und er haßte es, immer von Null an zu beginnen. Er hätte gerne so etwas wie eine Stammkneipe gehabt voller Freunde oder guter Bekannter. Aber immer, wenn er ein Lokal betrat, galt sein Blick dem nächsten schönen Frauenhals, es war eine Art Jagdinstinkt, der von ihm Besitz ergriff. Mit der Kamera auf der Brust fiel es David leicht, Sexkontakte zu knüpfen. Wildfremde Mädchen anzusprechen, vor allem die fitten, war er zu jeder Tages- und Nachtzeit gewöhnt. Selten ging er allein nach Hause. Im Zweifelsfall mußte er nur erwähnen, wen er schon alles fotografiert hatte, um einen glaubwürdig wichtigen Eindruck zu hinterlassen. Immer gab es Mädchen, die in ihm eine Chance erkannten, welche man nicht ungestraft vorübergehen lassen durfte. Abgesehen davon gab es auch Mädchen genug, die sich ohne karrieristische Hintergedanken in ihn verliebten. David befand sich in der seltenen Lage, für diesen Markt Überdruß zu empfinden, er wollte längst etwas anderes, auch wenn er sich dann doch noch oft, viel zu oft, für die Optik entschied, für eine schnelle Nummer ohne Zukunft, mit irgendwem, der den Hunger nach Nähe und Haut für Stunden stillen konnte.

Insgeheim beneidete David seinen Bruder längst mehr als der umgekehrt ihn. Zwar ahnte/hoffte/befürchtete David, niemals ein Familienmensch wie Arved werden zu können. Doch allein der Verdacht, irgendjemand könne auf lange Sicht mehr vom Leben haben als er selbst, verunsicherte ihn nachhaltig. Er wollte sich die Zukunft in jeder Richtung offenhalten, und gerade an diesem Abend stellte er eine lähmende Unlust an sich fest, auf Jagd zu gehen. Ob das schon das Alter sei, fragte er sich. Er spürte eine innere Sehnsucht, sich zu verlieben. Dachte an Kati. Als da was lief mit ihr, hätte er nie gedacht, sie jemals zu vermissen. Sie war ein Fick gewesen, sie war siebzehn Ficks gewesen, um genau zu sein, und er bekam diese Frau einfach nicht aus seinem Kopf, wofür es keine rationale Begründung gab, außer vielleicht, daß nie zuvor ein weibliches Wesen mit ihm Schluß gemacht hatte. Es ist also meine Eitelkeit, vermutete er zuerst, denn was genau soll es sonst sein? Tief gehende Gespräche mit Kati? Hatte es nie gegeben. War sie witzig gewesen? Auch nicht besonders. Vielleicht hatte es ihm gerade ihre Schlichtheit angetan. Kann man das heutzutage ernsthaft für jemanden ins Feld führen? Die Reinheit ihrer Seele? Wie pathetisch klingt das denn? Und doch war es etwas in der Art – wie sie beim Sex immer an Serge dachte, auf ihre ganz spezielle Weise loyal blieb. Nie hatte sie der Affäre irgendeine Chance auf mehr gegeben, sie hatte sich abgegrenzt, abgeschottet, das Erotische vom Amourösen getrennt.

David hatte es lange Zeit gefallen, wenn sich die Mädchen (alle auf ihn erotisch wirkenden Frauen nannte er Mädchen) in ihn verliebten, abhängig von ihm wurden, er genoß es sogar bis zu einem gewissen Grad, wenn sie ihm lästig fielen. Bei Kati hatte er nie das Gefühl bekommen, ihrer Herr werden zu können. Sie wußte zu exakt, was sie wollte und was nicht. Daß Kati einen nicht arg gut aussehenden psychisch Kranken ihm vorgezogen hatte, diese Niederlage nagte an David. Das Koks putschte ihn auf, er konnte und wollte die Nacht nicht mit trüben Gedanken an eine Niederlage ausklingen lassen. Er entschied sich für das Hello Sunshine, eine noch relativ neue Bar im jüngst hip gewordenen Stadtteil Kreuzkölln, nahe der Kottbusser Brücke. Ein halbwegs, soweit das in dieser Gegend möglich war, exklusiver Schuppen, der gleichermaßen von Kunstschaffenden wie Zuhältern besucht wurde. Die einen blieben oben am Tresen, tranken vor sich hin oder knüpften Drogenkontakte, die anderen spielten unten, in den Privaträumen neben der Toilette, Craps um viel Geld. Oben wurde manchmal getanzt, es gab ein kleines Areal, ein Parkett aus falschem Marmor, über dem eine altmodische Stroboskopkugel kreiste. Samstags hockte ein DJ in einem winzigen Eckchen und legte Platten auf, wobei er mit den Ellenbogen an die Wand stieß, wenn seine Bewegungen zu heftig wurden. Bier schenkte man hier nicht aus, nur sehr teures irisches Wasser aus blauen Flaschen und natürlich edlere Getränke, darunter eine beträchtliche Auswahl an Single-Malt-Whiskys. Man wollte das familiäre Ambiente nicht von studentischer Laufkundschaft durchseucht wissen. Bisher hatte das geklappt, und wenn sich doch mal der Falsche hierher verirrte, gab es eine Art Türsteher, der nur eben nicht vor der Tür stand, sondern drinnen, neben dem Vorhang, wie ein dezentes Empfangskomitee, das sich schnell in ein Verabschiedungskommando verwandeln konnte. David hatte an diesem Etablissement gleich Gefallen gefunden und alles richtig gemacht bei seinem ersten Besuch. Hatte allen Stammtresenhockern einen Drink spendiert, hatte dem Barkeeper erzählt, wer er war, was er tat – man muß aktiv werden und rausrücken mit der Sprache, will man Vertrauen gewinnen. Nach Mitternacht kamen in regelmäßigem Abstand die Koksdealer, eine Klientel ganz eigener Sorte. Natürlich nicht das Gesocks von der Straße, nein, die wären hier nie eingelassen worden. Davids geübter Blick konnte sie inzwischen sofort von anderen Gästen, die nur Entspannung oder Bekanntschaft suchten, unterscheiden. Es schien eine Art Code zu existieren, laut dem nie mehr als ein Dealer im Lokal sein durfte, um einander nicht ins Gehege zu kommen. Man erkannte sie an der Art, wie sie sich verstohlen, aber doch aufmerksam umsahen und die Menschen nach potenzieller Kundschaft musterten. Hin und wieder ging einer die Treppe hinunter und blieb am Zigarettenautomaten neben der Toilette stehen, als könne er sich nicht für eine Marke entscheiden. Dann mußte man ihn ansprechen, auf eine möglichst unverfängliche, bloß nicht zu plumpe Art, die dem Dealer Rückzugsmöglichkeiten beließ. Sich einfach an die Nase zu tippen, genügte bereits, um einen Blickkontakt herzustellen, ein wissendes Grinsen beiderseits machte die Sache klar, meist ging der Dealer dann, nachdem er genickt hatte, auf die Toilette und man folgte ihm. Hier wurde kein übel gestreckter Scheiß verkauft – das hätte sich schnell rumgesprochen. David fand es großartig, wie das Lokal, spinnwebenartig, von unsichtbaren und ungeschriebenen Gesetzen durchzogen war. Ein perfektes, zielsicher entworfenes Halbwelt-Biotop, maßgeschneidert für die etwas besser gestellten Nachtfalken, die darin verkehrten. Manchmal kamen sogar B-Prominente vorbei oder schickten wenigstens Strohmänner. Es war eng, es wurde viel geraucht, es war kein Etablissement für romantische Stunden, eher ein Männerclub, in dem Frauen zu schnell betrunken wurden. Manchmal hing am Tresen eine Nutte ab, während sie auf ihren Luden wartete, der im Keller gerade die Tageseinnahme verzockte. Um einen niveauvollen One-Night-Stand zu finden, war dies keine geeignete Adresse, sah man von den zwei, drei verzweifelten, weil überreifen Trinkerinnen ab, die nur darauf warteten, sich für ein paar Cocktails abschleppen zu lassen.

Die meisten Männer, die sich darauf einließen, mußten Geduld haben und bekamen vielleicht am frühen Morgen etwas für ihr Geld, sofern sie dann nicht selbst zu betrunken waren, und die Frauen, ausnahmslos Ausdaueralkoholikerinnen, taten dann ohnehin nur noch das Nötigste, das, was sie eben tun mußten, um sich keinen üblen Ruf als leere Versprechung einzufangen.

Was für ein erbärmliches Verhältnis von Aufwand und Ertrag, dachte David, es gibt so schöne und saubere Bordelle in Berlin, und mit den Frauen dort konnte man ja auch reden, sie küßten sogar. Ich werde alt, dachte er, wenn mir das Tierische viehisch vorkommt.

David schüttelte mehrere Hände, bestellte einen doppelten Aardbeg und eine Montechristo-Zigarre. Er hätte gern einmal am unerlaubten Glücksspiel teilgenommen, unten im Keller, traute sich aber immer noch nicht, den Barkeeper um Erlaubnis zu fragen, aus Angst vor einer erniedrigenden Absage. Gern hätte er einen Fotoband nur mit Ludengesichtern und ihren Lieblingshuren publiziert, dergleichen existierte seines Wissens nicht auf dem Markt, und dabei war er doch sicher, daß die Eitelkeit der Luden ihm ins Blatt spielen würde, wäre erst einmal Vertrauen hergestellt. David ging die Wendeltreppe zur Toilette hinab und wartete neben dem Zigarettenautomaten, bis jemand vorbeikam und ihm zwei Gramm Kokain verkaufte, die Höchstmenge, die man am Körper tragen durfte, wollte man keine Anklage wegen Drogenhandels riskieren. Daß jemand, sobald er das Lokal verließ, an fiese Zivilfahnder geriet, war vorgekommen. Razzien hatte es im Hello Sunshine bislang nicht gegeben, anscheinend verfügten die Betreiber über gute Kontakte. David zog, noch unten, auf dem Klodeckel, eine dicke Line, um ohne Getaumel mehr Whisky trinken zu können. Den Gedanken an eine Frau hatte er längst über Bord geworfen, das war keine Nacht, um zu vögeln, mehr um loszulassen, sich selbst zu bedenken und einzukreisen. Eine süß-melancholische Nacht, der man nichts beweisen muß, der man sich aussetzen darf. Ihm wurde eigenartig zumut. Binnen weniger Minuten wurden seine Knie weich. Sein Herz raste, und alle Muskeln schmerzten. Etwas Sonderbares geschah. Davids Kopf löste sich vom Hals. Todesangst und Resignation stritten um einen erschöpften, zitternden Körper, der doch fern war, weit weg und ganz schlaff. Schwarz. Dann grelles Licht, das in die Augen stach.

David bemerkte gar nicht, daß er auf dem Boden neben dem Pissoir Platz genommen hatte.

Er strich mit dem Handrücken über kalte Kacheln. Und freute sich über die Kühle an den Knöcheln und Fingerspitzen, ein willkommener Kontrast zur Hitze im Bauch. Darüber explodierte sein Herz, in einem schnellen Takt. Wie der Motor eines Wagens, dessen Räder durchdrehen. Die Tür, die verbotene Tür, öffnete sich, laut schimpfend trat ein Mann auf den Flur, stampfte zur Toilette, echauffierte sich über irgendwas – und nachdem er des grinsenden Davids gewahr wurde, öffnete er den Reißverschluß seiner Hose, holte seinen Schwanz heraus und pisste auf den Duftstein. David bekam ein paar Spritzer ab – und fluchte laut. Der Lude, ohnehin schon denkbar schlechter Laune, glaubte sich beleidigt, zog eine Fratze und richtete seinen Urinstrahl direkt auf Davids Gesicht, aber er hatte sich schon ausgepisst, da kam zum Glück nichts mehr, nur ein Tritt, in die Leiste. Proforma. Wie man einen Punkt hinter den Satz setzt. David wischte sich die verschwitzte Stirn, schüttelte den Kopf. Peace! murmelte er und vergab seinem Peiniger. Der sah ihn an und nickte überraschend, als habe er es sich anders überlegt und sei bereit, Davids Entschuldigung zu akzeptieren. Der Lude war die falsche Adresse für einen Konflikt. Jetzt nicht, und wenn es ein Später gab, auch nicht. Der Dealer war schuld. Dieser widerliche Mensch, den David schon nicht mehr hätte beschreiben können, hatte es gewagt und ihm Dreck verkauft. So viel zu den spinnwebenartig im Raum schwebenden, unsichtbaren und ungeschriebenen Gesetzen. David zog in Betracht zu sterben, er schob drei Finger in die Kehle und übergab sich. Ihm kam die Idee, Adolf an- und um Hilfe zu rufen, aber das Handy zu bedienen überforderte seine Motorik, als würde er versuchen, mit Hufen eine Nummer einzutippen. Endlich, nach etlichen Stunden (in Wahrheit dreißig Minuten), nachdem mehrere Gäste sich neben ihm erleichtert, aber weiter nichts unternommen hatten, kam Lukas nach unten, der Türsteher. Scheiße, David, was soll das? David wollte sich verteidigen, brachte aber nur Gebrabbel zustande. Kati. Und ein Speichelfaden hing ihm vom Mundwinkel herab. Brauchst du einen Arzt? Ich hol dir einen Arzt, aber vorher schaff ich dich an die frische Luft, ich will nicht, daß du den Club in Mitleidenschaft ziehst! David hörte die Worte von ferne, ein Wort wie Mitleidenschaft aus dem Mund des bulligen Lukas belustigte ihn beinah. Kn Rzt. Sgut. Es folgten Verhandlungen, die in der Hauptsache Lukas für ihn führte. Der Taxifahrer, der mit hundert Euro bestochen werden mußte, so teuer war Davids Gestank (und etwas Blut lief ihm übers Gesicht) – ich habe für hundert Euro gestunken, würde er dem Bruder erzählen, mach mir das mal nach, das schafft sonst nur der U-Bahn-Penner mit den offenen Beinen, vor dem alles davonläuft, was ne Nase hat –, brachte ihn gegen halb sechs Uhr morgens in seine Wohnung, ansonsten David erfroren wäre. Im Schnee vor dem Hello Sunshine. Das hätte was gehabt. Und die hundert Euro waren in der Tat nur ein Schmerzensgeld, eine lächerliche Aufwandsentschädigung für einen grundgütigen, turbantragenden Taxifahrer, der den letzten Gast seiner Nachtschicht bis zum Savignyplatz fuhr, ihm Tempotaschentücher für sein Nasenbluten gab, der in Davids Hose nach einem Schlüsselbund suchte und den fahrig zuckenden, partout besserwisserischen Körper zwei Stockwerke hinauf bis in dessen Bett bugsierte, bevor er sich endlich Gedanken um die Reinigung seines Benz machen konnte.

Als David erwachte, erinnerte er sich jener Geschehnisse nurmehr in groben Zügen, doch reichte das Wenige schon aus, um den Entschluß zu fassen, nie wieder in ähnlicher Weise sein Leben zu riskieren. Er aß ein wenig Toastbrot und behielt es bei sich.

Irgendwas in seinem Schädel hämmerte und meißelte, um ins Freie auszubrechen. Es schabte von innen an seinen Augen, als ob es dort den geringsten Widerstand vorfinden würde. Wenn es da durchbricht, dachte David, werde ich blind sein, und meine Augen werden wie Gallert aus den Höhlen hängen, zerstoßen, zerfetzt. Er rief Borten an und sagte den einzigen Termin für heute ab. Wonach es ihm plötzlich besser ging.

Gegen Abend kam Adolf vorbei und wollte Details für das morgige Shooting wissen. Es sollten Fotos an der East Side Gallery entstehen, für die Pelzindustrie, mit vier billigen, aber gutaussehenden ukrainischen Models, die leider kein Wort Deutsch und nur wenige Brocken Englisch sprachen. Außer diversen Pelzen sollten die Models nur dünne Kleidchen tragen, also mußten starke Heizlüfter herangeschafft werden. Außerdem war Schneefall angesagt, und feucht gewordene Pelze würden scheiße aussehen. Sprich, es waren Planen nötig, doch niemand hatte bislang beim Gerüstbauer einen Termin ausgemacht. Ein wenig Catering in Form einer heißen Gulaschsuppe konnte auch nicht schaden. Und ein Wohnwagen mit Toilette, damit die zarten Frauen nicht gezwungen waren, in den Schnee zu pinkeln. Nicht mal ein Visagist war benachrichtigt worden, wie sich nach Rückruf bei der Agentur herausstellte. Das alles mußte nun über Nacht organisiert werden, würde immense Zusatzkosten verursachen. Wer hatte da geschlafen? Adolf maßte sich einen deutlich zu mürrischen Tonfall an, nicht zuletzt, weil er strikter Pelzverächter war und unbedingt etwas über seine ethischen Prinzipien loswerden mußte. David fand das lächerlich, es war ein Job, und solange es auf der Welt Frauen gab, die bereit waren, echte Pelze zu tragen, trugen die die Schuld, niemand sonst. Für das Koordinationschaos zeichnete Borten verantwortlich, ganz klar. Doch Borten war der Chef, somit tabu für den Moment. David litt immer noch unter Kopfschmerzen, als er Adolf bat, die Situation zu retten, unter Aufbietung all seiner Kräfte. Es sei nun an ihm, Potenzial zu beweisen. Adolf reagierte eigenartig. Statt die ihm übertragene Chance als solche zu begreifen, deklarierte er die Lage als von vornherein aussichtslos, zuckte mit den Schultern, griff zum Mantel und verließ die Wohnung. David war sich bewußt, daß das entstandene Schlamassel ihm angelastet werden würde, vielleicht sogar zu Recht, denn er, als Stabschef vor Ort, hätte eine Checkliste erstellen, Bortens Versäumnisse rechtzeitig voraussehen müssen. Ihm oblag letztendlich das Set, und wenn er jetzt den schwarzen Peter seinem Assi weiterreichen wollte, kam das einer selbstgefälligen, ja erbärmlichen Flucht aus der Verantwortung gleich. Er konnte nicht umhin, Adolf für seine konsequente Haltung zu bewundern. Die leider nur nicht weiterhalf. Morgen würden vier ukrainische Models vor den letzten Resten der Berliner Mauer auf ein Honorar hoffen, magerer als sie selber, und David würde ihnen mit Händen und Füßen mitteilen müssen, daß sie weder einen Job noch Schwarzgeld bekämen, nur weil die Agentur und/oder er etwas verbockt hatten und sein ansonsten bewährter Assistent für diesmal nicht über sich hinausgewachsen war. Die Pelzfirma, die die Models vorgeschlagen und per Bus ins Land transportiert hatte, würde der Agentur mit Klage drohen, Reise- und Verpflegungskosten zurückfordern, aber man würde sich irgendwie einigen. Borten würde einen Sündenbock brauchen – und Adolf war ja erst noch ein Zicklein. Es wird an mir hängen bleiben, dachte David. Nicht, daß das alles besonders wichtig gewesen wäre. Er würde morgen zum Set kommen und jeder der vier Ukrainerinnen einen Hunni in die Hand drücken, gegen das schlechte Gewissen ihnen gegenüber. Blieb noch das schlechte Gewissen sich selbst gegenüber. Trotz seines Lebenswandels hatte er sich in der Branche einen gewissen Ruf erworben. Schlamperei und Launenhaftigkeit konnte ihm keiner nachsagen. Es hallte noch was nach von der preußischen Erziehung, die Generationen seiner Ahnen geprägt hatte. Selbst noch seine Mutter, Jule, die nach dem Unfalltod ihres Mannes den kleinen David allein erziehen mußte, die links eingestellt und während der Apo-Zeit in der marxistischen Studentenschaft aktiv gewesen war, hatte auf einer strikt autoritären Erziehung bestanden, als dem einzigen verläßlichen Mittel, aus kleinen Monstern Menschen zu machen. Und immer hatte David funktioniert. Jule hatte ihm früh eingetrichtert, daß er doppelt so gehorsam sein müsse wie andere Kinder. Um das Fehlen des Vaters auszugleichen und sie, die Mutter, zu entlasten. Er war früh schon kein Kind mehr gewesen, sondern ein kleiner Mann, den die Mutter mit viel Eigenverantwortung beschenkt hatte, belastet hatte, je nachdem, wie man das werten wollte. Davids Ausbrüche aus der Ordnung, die Frauen, die Drogen, die Exzesse – waren stets so überschaubar geblieben, daß er am nächsten Morgen wieder einen klaren Kopf besaß und die Scherben von letzter Nacht rechtzeitig zusammenfegen konnte. Ich ende noch einmal wie Serge, dachte David, um sich sogleich über das, was er da gedacht hatte, zu wundern. Ist Serge denn schon am Ende? Warte ich darauf, daß Serge am Ende ist, damit Kati zurückkehrt und frei ist? David schaltete den Fernseher ein, um sich abzulenken. Wieso stellte er sich Kati in einem weißen Kittel vor?

In diesem Moment begriff er, worin genau sein Neid auf Serge – und der feine Unterschied von Neid und Eifersucht – bestand. Es ging nicht darum, daß Kati toll aussah oder gut im Bett war oder vor Esprit sprühte, Letzteres stimmte ja gar nicht – sondern daß sie ein mütterlicher Typ war, daß sie ihre Energie voll und ganz in die Pflege des kranken Serge investieren konnte, ohne sich um etwas beraubt zu fühlen. Darauf lief es hinaus.

Jule hatte ihm, wenn er jemals krank gewesen war, das Gefühl gegeben, er halte den Betrieb auf. Von pragmatischer Seite besaß das auch was Gutes, er war immer etwas schneller gesund geworden als andere Kinder, hatte die Windpocken in zwei Wochen besiegt statt in drei, selbst der Mittelhandknochen, den er sich beim Skateboardfahren gebrochen hatte, war in rasender Geschwindigkeit zusammengewachsen, als würde er sich für seinen desolaten Zustand schämen. Interessant, dachte David. Wie klar mir das plötzlich wird.

Eine Woche später traf er sich mit Jule im Noi Quattro, einem relativ schicken italienischen Restaurant am Südstern. Jule wollte von ihm mit Vornamen angesprochen werden, bestand aber nicht darauf – und David bevorzugte es, Ma zu ihr zu sagen. Manchmal, wenn er etwas mehr Distanz in seine Worte legen wollte, nannte er sie auch Mutter. Was dann wie ein Vorwurf klang. Es lag kein besonderer Grund für ihr Treffen vor, außer daß sich Jule von ihrem Sohn Tipps für die bevorstehende Reise nach Florida geben lassen wollte. David war beruflich schon weit in der Welt herumgekommen, auch in den Staaten, und er erklärte Jule unter anderem, wann und wie viel Trinkgeld sie geben mußte, auch wenn hochoffiziell kein Zwang dazu bestand. Jule würde in Miami Beach Strandurlaub machen, dann in den Süden fahren und etliche Ausflüge unternehmen, auch in die Sümpfe. Vor Alligatoren hatte sie großen Respekt, und Geschichten, wonach immer mal wieder vereinzelte Tiere in den Vorstädten auftauchten, gar in Swimmingpools badeten, ließ Florida in ihrer Vorstellung zu einer unzivilisierten, ja beinahe apokalyptischen Landschaft werden, in der an jeder Ecke eine ganz altmodische Todesart drohte. Jule war in ihrem Leben erst dreimal geflogen, immer innerhalb Europas, und der lange Flug nach Miami machte ihr zusätzlich Sorgen. Sie habe sich Kompressionsstrümpfe besorgt, um keine Thrombose zu bekommen. David sollte ihr geeignete Reiselektüre empfehlen, am besten einen dicken Schmöker, fesselnd, ohne zu viel Anspruch. David, der selten las, wenn, dann Sachbücher, keine Romane, lenkte das Gespräch bald nach dem Hauptgericht auf Themen, die mit Jules Reise nicht so viel zu tun hatten, die ihn mehr betrafen als sie. Wie sie es sich denn erklären könne, fragte er, daß Arved und er sich so unterschiedlich entwickelt hätten, ob es vielleicht daran lag, daß sie Arved immer bevorzugt behandelt habe, während er selbst oft das Gefühl haben mußte, ein hungriges Maul zu viel an Bord zu sein. Jule hob die Augenbrauen und nannte das Quatsch, sie habe ihre Kinder stets gleichermaßen gut behandelt, und wenn nicht, sei doch er, David, das umsorgte Nesthäkchen gewesen. Wie könne er etwas anderes annehmen? Sie klang empört, unwillig, in dieser Frage eine Diskussion zuzulassen. Natürlich sei es für eine Frau mit wenig Einkommen schwierig, alleine zwei Kinder großzuziehen, aber habe es ihm je an etwas gefehlt? David schwieg. Er hatte sich vorgenommen, einiges anzusprechen, und mußte einsehen, daß seine Mutter ihr ganz eigenes Spektrum besaß, in dem sie Wahrnehmungen aufarbeitete und einsortierte. In diesem Spektrum war kein Einspruch vorgesehen, es wurden selbst leise Zweifel als undankbare Spekulationen abgeschmettert. Hab du nur erst mal selbst Kinder, lautete Jules Standardspruch, dann wirst du sehen, wie das ist, es ist nämlich nicht leicht, ganz und gar nicht. David wunderte sich. Konnte Jule noch allen Ernstes annehmen, daß er mit 38 Jahren aus dem Nichts heraus eine Familie gründen, Kinder in die Welt setzen würde? Wieso hatte sie ihn nie, nicht ein einziges Mal danach gefragt, ob er eine feste Freundin besaß? Er nahm seinen Mut zusammen.

Sag mal, Mutter, hältst du mich für schwul?

Jules Gesicht erbleichte, und ihre Lippen verkrampften. Bist dus?

Aha. Sie hielt es demnach für möglich.

Nein, ich bin nur bindungsunfähig. Keine Angst. Da gibt es sehr viele Frauen. Bloß nicht die Richtige für mich.

Kommt noch, kommentierte Jule. Gibt für alles im Leben eine Zeit. David stocherte enerviert ob der billigen Weisheit in seiner Creme brulée. Die Frage, die er nun stellte, hatte er schon immer stellen wollen.

Warum hast du dir nach Vaters Tod eigentlich nie einen neuen Freund gesucht?

Seine Mutter sah ihn kurz an, dann sah sie weg, als könne sie seinem Blick nicht standhalten.

Hat sich halt nichts ergeben. Murmelte sie in ihre Serviette. Es war mehr als deutlich, daß sie das Thema nicht weiter vertiefen wollte. Gibt es denn niemanden, sagte sie nun, wie um von sich abzulenken, der dich einfangen kann? David meinte, es habe da eine Frau gegeben, er habe sie anfangs nicht recht ernst genommen, die einem anderen gehörte, dem er sie erst ausspannen müsse. Und er wisse nicht recht, ob er diese Frau wirklich haben wolle oder sie nur jenem anderen mißgönne. Jule schüttelte vehement den Kopf. Es gebe so viele Frauen auf der Welt, und er sei doch ein schmucker, erfolgreicher Junge, da müsse er sich weißgott keine aussuchen, die problematisch sei. Ich bin kein Junge mehr, Mutter. Bald bin ich vierzig. Es gibt Clubs, da lassen sie mich nicht mehr rein, nur weil die denken, ich bin über dreißig.

Was willst du auch in solchen Clubs? Fragte Jule, zog alles ins Lächerliche, und ihr war kaum zu widersprechen, denn so salopp, wie David seinen gesammelten Weltschmerz formulierte, konnte es auf sie gar nicht anders als lächerlich wirken. Er sah ein, mit seiner Mutter das, was ihm auf dem Herzen lag, nicht bereden zu können, es war schlicht unmöglich. Hatte er zuvor noch auf einen ernst gemeinten Ratschlag gehofft, fand er sich nun mit Phrasen abgespeist, hinter denen kein echtes Interesse zu entdecken war. Er redete quasi mit einer lebenden Leiche, einem banalen, asexuellen Wesen, das alles Irdische hinter sich gelassen hatte, das einfach nur noch existierte, auf eine äußerst wohlfeile Weise mit sich selbst im Reinen. Der Kellner räumte die Desserttellerchen ab, fortan erschöpfte sich die Konversation darin, die Küche zu loben. Nach dem Espresso ging man auseinander, ohne daß noch irgendetwas von Belang zur Sprache gekommen wäre.

27. Januar

– Ich war gestern mit Mama essen und hab ein paar Dinge angesprochen, ohne genau zu wissen, worauf ich hinauswollte. Überhaupt ist das mein Problem in letzter Zeit, nicht zu wissen, worauf ich hinauswill. Die vielen Frauen, die ich gehabt habe, oder was man so haben nennt – ich glaube, ich könnte eine Therapie vertragen, und ahne doch, was dabei herauskäme.

– Was denn?

– Daß mir unsre Mutter nicht genug Liebe gegeben hat.

– Wie bitte?

– Ich will nicht sagen, daß ich sexsüchtig bin, ich kann nur kein Angebot ausschlagen, das mein Beruf so mit sich bringt. Aber es bietet immer weniger Befriedigung. Ich bin an dem Punkt, wo der Torso Apolls mich anstarrt, verstehst du? Obwohl da kein Gesicht ist, kein Mund, der explizit etwas sagt. Und ich denke, alles hat damit zu tun, daß ich mir unwillkommen vorkam, daß Ma immer so tat, als sei ich eine Belastung zu viel für sie.

– Du redest kompletten Quatsch, Brüderchen. Auf Händen hat sie dich getragen. Herrgott, wir waren nun mal Belastungen. Ich mußte viele Aufgaben übernehmen im Haushalt, du wurdest gehegt und gepflegt. DU warst doch ihr verklärter Wonneproppen, und wenn jemand Grund hatte, eifersüchtig zu sein, dann war ICH das.

– Ehrlich? Hast du das wirklich so empfunden?

– Na klar. Du warst immer schon eine Mimose. Leicht kränklich und voller Selbstmitleid. Hattest auch stets eine Ausrede parat. Entschuldigung, wenn ich dir zu nahe trete. Aber als du schon sieben warst, glaubtest du tatsächlich noch, du seist vielleicht ein Mädchen, weil du im Sportunterricht mit den anderen Jungs nicht mithalten konntest.

– Spinnst du? Das denkst du dir aus!

– Nein, das war so. Ich schwörs dir. Und ich als dein älterer Bruder hab dir dann erklärt, daß du bestimmt kein Mädchen bist, weil du nämlich was in der Hose hast, was Mädchen nicht in der Hose haben.

– Darf ich dich noch was anderes fragen?

– Bitte.

– Als Papa starb, warst du sechs. Du mußt viel mehr Erinnerungen an ihn haben als ich. Haben sich unsere Eltern gut verstanden?

– Ich hab zwar etliche Erinnerungen an Paps, aber wie soll ich denn bitte diese Frage beantworten? Sie haben sich nie vor mir gestritten, glaube ich. Aber was heißt das? Tatsache ist, daß Mama nie mehr einen anderen Mann ins Haus gelassen hat. Das spricht schon für sich.

– Ich glaube, ich bin verliebt. Was blöd ist, denn diese Frau ist weder in mich verliebt, noch ist sie frei, noch würden wir zusammenpassen.

– Woher weißt du das?

– Daß wir nicht zusammenpassen? Keine Ahnung. Ist so eine Vermutung.

– Vergiss sie einfach. Schreib ihren Namen auf eine Tafel, und streich ihn durch. Hast dus mal mit einer Kontaktanzeige probiert?

– Nee. Meinst du das ernst?

– Selbstverständlich. Du bist doch der von uns beiden, der im Leben alles mal ausprobieren will.

Anfang Februar hatte David Kati endlich aus seinen Gedanken verbannt und mußte sich mit einem ganz anderen Lebewesen herumschlagen. Seine Mutter war nach Florida geflogen und hatte ihm zuvor ihre Katze vorbeigebracht. Die Katze war ein schwarzer kastrierter Kater namens Johnson, elf Jahre alt, verschmust, ein echter Stubenhocker, der die Wohnung seines Frauchens nur ganz selten einmal verlassen hatte und auf seiner gewohnten Umgebung bestand, der gegen die unerwünschte Auslagerung protestierte, indem er sofort auf den Wohnzimmerteppich pinkelte. David haßte das Vieh. Aber es gab niemanden sonst, bei dem seine Mutter Johnson hätte unterbringen können, ihre einzige Freundin, Lisbeth, begleitete sie ja in die Staaten. Beide, seine Mutter und Lisbeth, hatten an der Oberschule unterrichtet und waren im letzten Sommer verrentet worden. Seine Mutter hatte das in eine kleine bis mittlere Sinnkrise gestürzt, und weil der Winter so lang und frostig ausfiel, schlug er ihr die weite Reise vor, wobei er nie geglaubt hätte, daß sie den Vorschlag auch nur erwägen würde. Aber das sei doch der Sinn des Ruhestands, sagte sie (überraschend, denn sie war ein Ausbund an Sparsamkeit), endlich reisen zu dürfen, wenn andere malochen müßten. David solle ihr im Internet was Schickes buchen, sie würde gleich ihre Freundin fragen, ob sie nicht mitkommen wolle. Und Lisbeth sagte prompt zu. David buchte den Frauen eine zweiwöchige Rundreise mit Leihwagen und relativ hochklassigen Hotels. Kurz hatte er überlegt, Jule die Reise zu spendieren, aber um derlei Geschenke anzunehmen, war seine Mutter zu stolz. Sie hatte fünfunddreißig Jahre lang verbeamtet unterrichtet, ohne sich je viel zu gönnen, und verfügte von daher über genügend Rücklagen. Sie bat ihn einzig darum, einfach weil es wirklich niemand anderen gab (außer einer Tierpension, was für sie nicht infrage kam), daß er für die zwei Wochen Johnson zu sich nehmen würde. Er hatte in einem schwachen Augenblick sein Okay gegeben, jetzt hatte er das Vieh am Hals. Wenigstens kackte Johnson in die dafür vorgesehene Kiste, beim einzigen Mal, da er überhaupt kackte. Denn fressen wollte er nicht. Jule hatte eine Liste geschrieben, mit allen Sorten Katzenfutter, die Johnson mochte. Es schien sich bei ihm um einen heiklen Kater zu handeln, der längst nicht alles akzeptierte, was auf dem Markt war. David kaufte, um seine Ruhe zu haben, das Beste vom Besten. Aber Johnson wollte nicht fressen. Freunde, die David um Rat fragte, meinten, er müsse Geduld haben. Käme der Hunger, käme der Selbsterhaltungsinstinkt. Doch vier Tage lang blieb die Schüssel mit dem Sheeba unberührt, bis es schon roch und David eine neue Packung Hühnchen öffnete. Er probierte es auch mit Thunfisch und Lachs, mit Leber und Gänsebrust, aber an nichts fand Johnson Gefallen. Wenigstens trank er hin und wieder etwas Wasser. Widerwillig nahm David ihn auf seinen Schoß und streichelte ihn, es war offensichtlich, daß der Kater unter Jules Abwesenheit litt. Da müsse man eben eine neue emotionale Bindung herstellen, rieten die Freunde, dann würde er irgendwann schon wieder fressen. Johnson ließ sich die Streicheleinheiten zwar gefallen, aber in Begeisterung brach er nicht aus, schnurrte nicht einmal, lag lethargisch auf Davids Schoß und stierte ins Leere. Er war ein schönes und gesundes Tier, agil für sein Alter, und bei normalem Verlauf würde er noch vier bis acht Jahre zu leben haben. Am fünften Tag der Nahrungsverweigerung bekam David Panik. Seine Mutter würde ihm nie verzeihen, wenn das Tier unter seiner Aufsicht einginge. »Nie« klang vielleicht etwas übertrieben, aber Jule hing sehr an dem Tier, behandelte es wie ein Vollmitglied der Familie.

David rief beim tierärztlichen Notdienst an, bat um Hilfe, man sagte ihm, er solle Johnson vorbeibringen. Aber David schaffte es nicht, den sich sträubenden Kater in seine Transportbox zu bugsieren, also mußte am Abend ein Tierarzt in die Wohnung kommen. Der junge Mann untersuchte Johnson und stellte keinen physischen Defekt fest. Ob man ihn nicht irgendwie zwangsernähren könne, fragte David. Da konnte der Arzt ein Grinsen nicht unterdrücken, redete was von der Verhältnismäßigkeit der Mittel und daß Katzen ihren eigenen Kopf haben. Und für so eine Auskunft, fragte David, hundertfünfzig Euro Anfahrtshonorar?

Der junge Mann seufzte entschuldigend.

Schließlich vertraute sich David seinem Bruder an, womit eine gewisse Gefahr verbunden war, denn Arved und Jule telefonierten hin und wieder, und die Sache mußte unter allen Umständen geheim bleiben.

5. Februar

– Johnson will nicht fressen. Falls er es sich nicht noch anders überlegt, wird er sterben. Aber wenn ich das Mama erzähle, bricht sie den Urlaub ab, kehrt nach Hause zurück. Ich halte sie dessen für fähig.

– Du mußt es ihr erzählen, denke ich.

– Das werde ich nicht tun. Ich hab sie zu diesem Urlaub mit Engelszungen überredet. Sie hat sich ewig nichts gegönnt. Und sie ist ja nicht alleine in Florida, sie wird von einer Freundin begleitet. Ich halte unsere Mutter für fähig, daß sie ihre Freundin zurücklassen würde, nur um das Leben dieser Scheißkatze zu retten, die schon elf Jahre alt ist und ohnehin nicht mehr lange leben wird.

– Kann man das Vieh nicht irgendwie zwangsernähren?

– Genau das hab ich gestern einen Tierarzt gefragt. So was ist anscheinend nicht vorgesehen. Er sagte was von Verhältnismäßigkeit der Mittel.

– Gibst du ihm vielleicht zu wenig Zuneigung?

– Ich täusch ja schon Zuneigung vor, so gut ich kann. Und der Kater läßt sich auch von mir kraulen, er hockt sich, wenn ich fernsehe, auf meinen Schoß und maunzt. Aber er frißt einfach nicht.

– Von Katzen kenn ich solche Geschichten nicht, höchstens von Hunden.

– Ist eben eine sehr hündische Katze. Noch ein paar Tage, und das Tier ist tot. Das wird Ma im Nachhinein den ganzen Urlaub verderben. Und mir wird sie die Schuld geben.

– Hast dus schon mit Fisch probiert?

– Mit Fisch, mit Hühnchen, mit Felix Senior, Whiskas DeLuxe, Kitekatt, mit allem. Johnson will nicht fressen.

– Falls er stirbt, sagst du einfach, daß ihn ein Auto überfahren hat.

– Blödsinn, das Vieh betritt nicht mal den Balkon, geschweige denn eine Straße.

– Vielleicht solltest du ihm eine Katzendame besorgen?

– Johnson ist kastriert. Wahrscheinlich ahnt er nicht einmal, daß es außer ihm noch andere Katzen gibt. Ich frage mich gerade, ob so ein Bewußtseinszustand zu beneiden oder zu bedauern ist.

– Das weiß ich leider auch nicht.

– Und wenn er stirbt, was mach ich mit ihm?

– Ihn irgendwo im Park begraben?

– Der Boden ist tiefgefroren, aber darum gehts doch nicht. Ich werde Ma sagen müssen, daß ich an ihrem Haustier versagt habe.

– Da kannst du aber nichts für.

– Das weiß ich. Dennoch – er tut mir leid. Was soll ich nur machen? Ich bin ganz verzweifelt.

– Bleib mal am Boden. Es handelt sich um eine Katze. Elf Jahre alt, hast du gesagt? Wenn Johnson nicht fressen will, stirbt er eben, das ist allein seine Entscheidung. All things must pass. All beings auch. Cats and dogs. Ma wird darüber hinwegkommen, kauf ihr eine neue Katze, und gut ists.

– Du redest dich mal wieder leicht.

– Das ist eben so. Nenn es leicht oder schwer.

– Ich will aber nicht, daß irgendwer oder irgendwas in meiner Wohnung stirbt. Außer einer verreckten Zimmerpflanze hatte ich so was bisher nicht im Haus.

– Dann ruf Ma an, und sag ihr das. Dann ist es ihre Entscheidung, nicht deine.

– Kann ich nicht.

– Dann mußt du eben experimentieren. Flöß dem Vieh Flüssignahrung ein, mit einer Spritze. Hast du das schon ausprobiert?

– Hab ich nicht, nein.

– Weil es dir zu albern vorkommt?

– Weil es mir zu gewalttätig vorkommt.

– Was willst du denn eigentlich?

– Meine Ruhe haben.

– Da willst du definitiv zu viel vom Leben.

– Klopfst du jetzt Weisheiten oder was?

– Sorry, aber die Kinder wollen Frühstück. Linda hat ihre Tage und befragt dauernd den Badezimmerspiegel, ob sie noch als lebendig durchgeht.

– Tut mir leid, dich mit so was Trivialem belangt zu haben.

– Muß dir nicht leidtun. Ich kann dir nur einfach nicht helfen. So ist das.

– Ciao einstweilen.

– Sag Ma schöne Grüße, wenn sie anruft.

– Mach ich.

David beendete die Verbindung, klappte den Laptop zu und ging ins Wohnzimmer. Johnson lag auf seinem Wolldeckchen, auf der Seite, streckte alle viere von sich. Wie reagieren Katzen wohl auf Koks? Wenn man ihnen ganz wenig gibt. Wars den Versuch wert? Vielleicht. David streute drei, vier Körnchen auf ein Stück Alupapier und hielt das Johnson vor die Nase. Der bewegte kaum den Kopf, interessierte sich nicht für den ungewohnten Geruch und kniff die Augen zu. Sein Schwanz schlug einen langsamen Takt gegen die Sofalehne. Nicht gerade ein Zeichen völliger Teilnahmslosigkeit. David wertete es vorsichtig optimistisch. Der Kater schien auch gar nicht zu leiden, obwohl er vor Hunger längst hätte schreien müssen. Vielleicht, dachte David, frißt er heimlich, wenn ich nicht zusehe. Aber was? Der Gedanke war wohl absurd, doch für ein paar Stunden tröstlich.

Zu allem Überfluß hatte David eine SMS seiner Mutter erhalten. Sie habe vergessen, ein Foto von Johnson mit in den Urlaub zu nehmen, er solle ihr doch bitte eins per Handy schicken. Erst regte er sich auf über dieses Theater, diesen schlecht kaschierten Kontrollversuch, und er zögerte zwei Tage, überlegte, was er tun sollte. Dann nahm er Johnson auf den Schoß und machte das verdammte Foto. Aber im letzten Moment beschloß er, seine Mutter zu ärgern, und sandte die SMS (Liebe Mutter, tut mir leid, daß ich das mit dem Katzenfoto verschwitzt habe. Im Anhang also das gewünschte Porträt, wie du siehst, hat Johnson sich an mich gewöhnt, und wir vertragen uns. Dir noch eine gute Zeit, dein David) ohne Anhang ab. Er wollte Jule zwingen, noch einmal nachzufragen, zu insistieren, vielleicht würde ihr dabei klar werden, wie nervtötend ihr Ansinnen war.

Zwei Tage später sah Johnson immer noch ganz gesund aus, sein Fell glänzte, seine Bewegungen blieben, obschon er abgemagert war, graziös und elegant, von einer bemerkenswerten Nonchalance, die keinerlei Leiden vermittelte. Alles schien völlig in Ordnung mit ihm, und daß er nicht fressen wollte, wirkte auf David wie eine einmal getroffene, aber nicht spektakuläre Entscheidung. Es war etwas Erhabenes an jener Kreatur, im Grunde nicht viel anderes als das, was Menschen an Katzen immer schon bewundert und beneidet hatten, die absolute Freiheit des Willens, durch nichts zu brechen oder zu korrumpieren. Dieser Kater hatte offenbar den Entschluß gefaßt zu sterben, aus welchen Gründen auch immer. Und er machte kein Gewese darum, fügte sich klaglos in sein selbstgewähltes Schicksal, als gäbe es nichts Natürlicheres für ein gealtertes Tier, dessen Zeit gekommen war. David packte Johnson im Nacken, schob ihn gewaltsam in die Transportbox, nahm, vor Wut schreiend, ein paar Schrammen in Kauf und brachte das Tier, das kaum noch Kraft besaß, um sich zu wehren, in ein hochtechnologisiertes Labor, in der Hoffnung, es würde dort irgendeine versteckte organische Krankheit festgestellt, ein Krebsgeschwür am Magen, ein Leberschaden, ein Hirntumor oder Würmer im Darm. Doch wieder blieben alle Untersuchungen, darunter sogar ein großes Blutbild, ohne Befund. Man könne das Tier, meinte der Arzt, eine Zeit lang über Infusionen ernähren, aber das sei teuer und keine echte Lösung. Alternativ bot er eine Einschläferung an, die sei schmerzlos und schnell. David lehnte beides ab, und Johnson erhielt nur eine Beruhigungsspritze, damit man ihn ohne weitere Schrammen zurück in die Box schieben konnte.

– Ich war mit ihm beim Arzt, bei einem richtigen Spezialisten. Mit allem Pipapo.

– Und?

– Er meinte, wenn Johnson jeden Tag eine Infusion bekommt, hält er vielleicht länger durch, aber das ändere nichts am eigentlichen Problem.

– Welches was ist?

– Keine Ahnung. Es hieß, ich solle ihm jeden Tag frisches rohes Fleisch hinstellen, am besten Tatar in warmem Wasser, dann würde er schon irgendwann fressen. Jedes Tier frißt, bevor es verhungert.

– Na dann.

– Weißt du, ich möchte Johnson zu nichts zwingen. Ich möchte auch nicht rumtricksen und unsrer Mutter auf Teufel komm raus eine halbtote Katze überreichen, bei der jede Rippe hervortritt. Was würde sie von mir denken?

– Du machst dir echt viele Gedanken, Brüderchen. So bist du doch sonst nicht.

– Was soll das denn nun heißen?

– Sorry, war nur ein Flachs. Ich möchte nicht in deiner Haut stecken. Aber trotz allem – es ist eine Katze. Just a cat. Remember that.

– Danke für diese hilfreiche Bemerkung.

– Ich mach mir ein paar Sorgen um Becky. Sie hat neuerdings zwei Verehrer.

– Ach echt?

– Beide sind zwei Jahre älter und etwas, naja – nerdig. Eigenartig. Kannst du dir vorstellen, wie man sich als Vater fühlt, wenn die Tochter beginnt, auf eigenen Füßen durch die Welt zu gehn? Und Dinge vor dir zu verheimlichen sucht?

– Wie sollte ich? Aber das muß wohl mal so sein, nicht wahr?

– Ja. Die Kinder werden so verflucht schnell erwachsen. Gestern hab ich Becky erklären müssen, was Jungs an ihr so anziehend finden. Das war vielleicht heikel, und ihr war es grottenpeinlich.

– Wenigstens nimmt sie Nahrung zu sich.

– Ah. Ja. Das tut sie. Gottseidank.

– Machs mal gut.

David meldete sich bei Borten krank und verbrachte jede Minute zu Hause. Ging nicht einmal vor die Tür, um die Zeitung aus dem Briefkasten zu holen. Er sah dem Kater lange in die Augen, was dieser nicht mochte, stets drehte er den Kopf weg, und wenn David ihm den Kopf festhielt, schloß Johnson die Lider, dann wirkte er ein wenig verärgert, enerviert. Und gab doch keinen Laut von sich. Nur wenn David ihn streichelte, lange streichelte, legte sich Johnson leise schnurrend auf die Seite, gab seinen Bauch frei, eine große Geste des Vertrauens. David kraulte ihm den Bauch und bat das Tier, erst in Gedanken, dann mit gemurmelten Worten, um seine Freundschaft. Johnsons müder, etwas herablassender Blick schien zu antworten: Die hast du doch schon. Du willst in Wahrheit mein Leben. Das nun mal mir gehört. David führte imaginäre Dialoge, interpretierte in die fast unbewegliche Mimik der Katze mancherlei bis allerlei hinein, und wenn er sich dabei in einem lichten Moment ertappte, knurrte er und seufzte, stöhnte auf und verließ den Raum, um etwas Rotwein zu trinken. Wodurch er noch melancholischer wurde und sentimentaler. Er redete auf das Tier bald wie ein Lehrer, bald wie ein Vater oder Arzt ein, zuletzt wie ein Freund, der Verständnis heuchelt und doch nur um einen Gefallen bettelt, einen Aufschub. Johnson hörte sich das alles geduldig an, wobei er immer müder wurde, kraftloser. Kein lebendes Wesen hatte je in Davids Empfinden so viel Gleichgültigkeit ausgestrahlt, wenngleich da nichts mehr strahlte. Johnsons Zustand ging schnell in ein langsames Verdämmern über, und nur ganz selten hob er noch einmal den Kopf, schien sich nach etwas umzusehen, bis sein Blick nichts mehr festhielt. Dann schlief er ein, wie so viele Male zuvor, hörte zu atmen auf, träumte nicht mehr, und sein Körper erkaltete, wurde steif. Die ehemals geschmeidige Eleganz verwandelte sich binnen weniger Stunden in starre Klobigkeit, in eine plumpe Puppe des Todes. David bekam einen Weinkrampf, für den er sich schämte. Ihm war, als habe er eine Lektion in Stil und Vergänglichkeit erhalten, müsse nun eine Lehre daraus ziehen. Seine eigene Existenz kam ihm mit einem Mal niveaulos vor, vertändelt unter Wert. Nie hatte er etwas Sterbendes im Arm gehalten, und auf eine stundenlange Phase der Trauer folgte eine des Trotzes und der Dankbarkeit. Wem würde er davon erzählen können? Seine Freunde, selbst die wenigen, die wirklich welche waren, würden bestimmt Emphase vortäuschen, ja, aber dann, hinter seinem Rücken, würden sie sich mokieren, lustig machen über einen, der ob eines toten Haustiers die Fassung verliert. David blieb lange neben dem Kadaver sitzen, erboste sich darüber, wie schnell – es dauerte keinen halben Tag – das tote Tier zu riechen begann. Er warf der Verwesung mit lauten Worten Gier und mangelndes Taktgefühl vor, erschrak über sich selbst, konnte nicht glauben, daß er sich wie ein verrückter Pädagoge gebärdete, der dem natürlichen Zersetzungsvorgang mit Zornesreden entgegentrat. Und doch gefiel ihm genau das, wenn er ein zweites Mal darüber nachdachte. Es erinnerte ihn daran, wie unbekümmert, unbelastet von Erfahrungen, Kinder sich mit dem Unabänderlichen befassen, als bliebe da noch Spielraum für Verhandlungen und nichts müsse für gegeben genommen werden, nur weil es eben ist. Es war ein kurzes Zurückschnuppern in eine lang vergangene Zeit. David begriff den kurzen Schauder als sentimentales und flüchtiges Geschenk. Er gab sich einen Ruck, trug den toten Johnson, der jetzt steif war, struppig und häßlich, in die Küche.

Am nächsten Tag, dem 8. Februar, traf eine Mail ein, mit der er absolut nicht gerechnet hatte.

Hallo David. Wie gehts dir? Gib doch mal kurz Bescheid. Ich bin immer noch in Malta. Wenn du mir schreiben willst, schreib bitte an Katisch123@yahoo.de. Die bisherige Mailadresse verwende bitte nicht, da auch Serge Zugriff darauf hat. Grüße, Katharina

David zögerte mit der Antwort. Er hatte Kati schon verloren gegeben. Obwohl er sich über ihre Nachricht sehr freute, wußte er nicht, inwieweit er sich erneut auf sie einlassen sollte. Und was sie genau von ihm wollte. Nur ein kurzes Lebenszeichen? Einfach plauschen? Eine Wunde brach auf. Er dachte nach. Bis ihm einfiel, daß er Kati ja eine ganz gute Botschaft überbringen konnte. Das war sicher nicht verkehrt.

Liebe Katharina,

es wundert mich, daß du mit vollem Namen unterzeichnest. Hast du nicht immer gesagt, du würdest diesen Namen verabscheuen? Ich solle, hast du stets gefordert, Kati zu dir sagen. Jetzt bin ich verunsichert, aber ich freue mich, daß du dich meldest. Gestern ist ein lebendiges Wesen in meinen Armen gestorben, und wenn es auch nur eine Katze war, so wars das erste Erlebnis dieser Art für mich. Ich bin traurig und hilflos, der lange Winter deprimiert mich einfach nur, und ich müßte meiner Mutter, die mir diese Katze anvertraut hat, die Wahrheit sagen, aber ich kann es nicht und bin sauer auf den blöden Kater, der lieber gestorben ist, als von mir Nahrung anzunehmen. Ich will meiner Ma nicht den Urlaub verderben, eben hat sie angerufen, und ich entschloß mich, sie zu belügen, es sei alles in Ordnung mit Johnson – so heißt der schwarze Kater, vielmehr, so hieß er. Ich hab ihn in eine Plastiktüte und dann in mein Tiefkühlfach gelegt, das somit endlich mal Verwendung findet. Ma macht Urlaub in Florida, mußt du wissen. Serge soll sich keine Sorgen machen, Borten wollte ihn rauswerfen (sag ihm das bitte nicht), aber das hab ich zu verhindern gewußt. Seine Stelle wird ihm immer noch freigehalten. Habs gut derweil, es grüßt dich, herzlich, David.

In der folgenden Nacht schrieb Kati ihm erneut. David hatte den ganzen Abend zu Hause verbracht, so gespannt war er darauf, welchen Ton sie anschlagen würde.

Lieber David,

das mit dem Kater tut mir sehr leid. Aber warum steckst du das tote Tier in dein Tiefkühlfach? Damit deine Ma Abschied von ihm nehmen kann, wenn sie zurückkommt? Das ist doch gruselig. Danke, daß du dich bei Borten für Serge eingesetzt hast. Und ich dachte, du könntest ihn nicht gut leiden. Manchmal habe ich den Wunsch, dich wiederzusehen. Wäre das auch in deinem Sinn?

Einen lieben Gruß zur Nacht sendet Kati (du hast recht, die Kurzform ist mir lieber, aber auch ich werde älter und immer mehr zur Katharina).

Distanziert klang das, vorsichtig. Als wäre auch sie sich nicht im Klaren darüber, inwieweit das alte Verhältnis wieder aufgewärmt werden dürfte. Gern hätte David ihr gestanden, unter der Trennung gelitten zu haben. Aber sich so bloßzulegen, wollte er ihr und sich selbst nicht zumuten.

Liebe Kati,

das dauert hoffentlich noch lang, bis eine Katharina aus dir wird. Die Katze im Tiefkühlfach – nein, nicht, daß ich sie meiner Mutter präsentieren will, Gott bewahre, aber sie wird mich fragen, ob ich Johnson anständig bestattet habe. Derzeit liegt meterhoch Schnee, der Boden ist tiefgefroren, ich könnte Johnson einfach in den Müll schmeißen oder bei der Tierkadaverentsorgung (heißt das so?) abliefern, aber ich will die Sache nicht noch schlimmer machen. Du willst mich wiedersehen? Nichts lieber als das. Ich habs ja kaum zu hoffen gewagt, nachdem du dich so abrupt zurückgezogen hast. Wie geht es denn eigentlich Serge? Hat er sich erholt? Wie lange wollt ihr noch bleiben? Bleibt, solange ihr könnt. Das Wetter hier ist deprimierend. Wie ich dich um Malta beneide. Wenn hier nicht endlos Aufträge zu erledigen wären, käme ich sofort vorbei. Einen Kuß aus Frost und Finsternis sendet dir dein David.

Vierundzwanzig Stunden später traf Katis Antwort ein.

Lieber David,

verstehe ich dich richtig? Du willst deiner Mutter etwas vorgaukeln, bevor du ihr letztlich etwas gestehen mußt? Kenn ich gut. Meine Mutter anzulügen, war lange Zeit die einzig geeignete und angemessene Form, mit ihr zu kommunizieren. Haben wir je darüber geredet? Darf ich dich um was bitten? Sag doch mal, und bitte ganz ehrlich, was du aufregend an mir fandest und was nicht so.

Kuß aus dem sonnigen Süden, Kati

Das klang wie die Einladung/Einleitung zu ein wenig Dirty Talk. Nein, über ihre Mutter hatte Kati nie ein Wort verloren. Die Gespräche mit Kati waren nie in die Tiefe gegangen, das konnte man beim besten Willen nicht behaupten. David versuchte sich zu erinnern, worüber er mit Kati überhaupt je geredet hatte. Wenn sie nicht gerade aufeinanderlagen, hatte sie viel über Serge geredet, seine Macken und Marotten. Dann hatte er immer nur zugehört.

Liebe Kati,

fischst du nach Komplimenten? Du willst, daß ich dir schreibe, was ich an dir aufregend fand? Ich habe doch nur ein paar Stunden Zeit, bis der Wecker klingelt. Also gut, im Kurzdurchlauf, und weil ich ein oberflächlicher Mensch bin, erst mal das Visuelle. Ich fand deine Füße aufregend, du hast die schönsten Füße, die ich je gesehen habe. Deine Beine sind Weltklasse und was daran anschließt auch. Vorne wie hinten. Deine Brüste sind herrlich, und die Färbung ihrer Nippel, dieses zarte Blaßrosa, wenn ich nur daran denke, steht er mir. Dein schöner schlanker Hals mündet in einen Kopf, der es mit dem von Audrey Hepburn aufnehmen kann, meiner ersten großen Liebe. In diesem Kopf drin, um nun zum weniger Aufregenden zu kommen, war hauptsächlich Serge. Stets hast du mir klargemacht, daß das zwischen uns nichts Ernstes werden könne, weil es ihn gab. Anfangs war ich um diese Regelung froh. Ich glaube beinahe, daß ich über Serge mehr weiß als über dich. Über deine Mutter hast du jedenfalls nie geredet, nur pausenlos über Serge, den du wie einen Schild vor dir hergetragen hast. Manchmal hatte ich den Eindruck, du würdest dich für deine Orgasmen vor mir schämen. Das hat mich sehr abgetörnt, um die Wahrheit zu sagen. Darum sag ich dir auch noch Folgendes, und es fällt mir schwer: Wenn du wieder mit mir anbandeln willst, nur um ab und an Spaß zu haben, lass es mal lieber bleiben, ich suche derzeit nach etwas Festem, Wahrem. Ich habe dich vermißt, weitaus mehr, als du vermutest. Ich bin aber kein Pausenclown oder ein Lückenfüller. Hoffentlich verstehst du, wie weit ich mich aus dem Fenster lehne, indem ich dir das schreibe. Wenn du mich brauchst, bin ich für dich da. Wenn nur ein gewisser Körperteil von dir mich braucht, bist du an der falschen Adresse.

Das ist quasi eine Liebeserklärung, dachte David. Warum zögere ich noch, die drei wuchtigen Worte anzufügen? Er brachte es nicht über sich.