SLIEMA

Kati kam eben von Huytens zurück. Ich weiß, daß sie alles weiß, auch wenn sie sich jede Mühe gibt, Harmlosigkeit zu heucheln. Sie wirkt so hilflos, wenn sie lügt. Sie nahm mich in den Arm, streichelte meine Stirn. Ich spürte, wie ihre Finger zitterten. Vor mir muß sie keine Angst haben. Wer wär ich denn, ihr wehzutun? Der Einzige, der vor mir Angst haben muß, bin ich doch selbst. Wir haben stumm zu Abend gegessen, ich wartete darauf, daß sie von sich aus erzählen, das Wort ergreifen würde, aber sie sah stur an mir vorbei. Zuletzt stand sie auf und ging in die Küche, machte den Abwasch, ohne mehr als drei Bissen gegessen zu haben. Was los sei, fragte ich sie. Und Kati meinte, das sei nicht so klar, leider. Sie wolle darüber nicht reden, nicht jetzt, ohne nachgedacht zu haben. Sie wolle früh zu Bett, reden könne man morgen. In Ruhe.

Ich habe dann eine Flasche Wein getrunken auf der Terrasse. Wird Kati jemals Ruhe finden mit jemandem wie mir? Wo sie nun alles weiß. Wieder fielen mir neue Details ein, aus jener Nacht, damals, vor über zwanzig Jahren. Sgt. Peppers Band began to play.

*

Ich kann nicht schlafen. Ich will gar nicht schlafen. Bin feige. Tränke das Laken mit meinem Schweiß. Was tut Serge, wenn er denkt, daß ich schlafe? Ich müßte nur nachsehen. Aufstehn, nachsehn. Eben klingelte das Telefon, das Festnetz, Greta war dran, sie lebt und hat mir einen Roman erzählt, hat sich tausendmal entschuldigt und mich nach ihrem Notebook gefragt. Das hast du doch mitgenommen, sagte ich. Sie: Hä? Hab ich nicht. Ich blick da nicht mehr durch.

*

Meine Mutter öffnete den Kleiderschrank, holte den Schulranzen hervor und stellte ihn auf den Kopf. Sachen purzelten heraus. Sie wollte fies und gemein sein, sie war an diesem Tag noch nicht auf ihre Kosten gekommen. Triumphierend hielt sie die Packung Zigaretten in der Hand und schlug mir ins Gesicht. Es war nicht wegen der Zigaretten, die boten ihr nur einen billigen Vorwand, sie haßte mich, weil ich ihrem Glück im Weg stand. Ich schlug zurück, zum ersten Mal. Wir kämpften, und als ich gewonnen hatte, fiel ihr Körper die Treppe runter. So war das, und jetzt weiß ich es wieder. Es wühlt in mir. Danach hab ich geraucht, und das kleine Feuer war mein Fackelzug. Ich muß etwas tun, einmal aus Liebe etwas tun, aus keinem anderen Grund.

Lieber David,

heute habe ich über Serge schlimme Dinge erfahren, sehr schlimme Dinge, ich habe Angst, daß er mir etwas antut, er ist verkorkst und böse, hinterhältig, hilf mir bitte, meine Adresse lautet: Sliema, Triq Blanche 57. Komm so schnell du kannst, bitte.

In Liebe, Kati

Eben, da ich diese Zeilen schreibe, steht Kati in der Tür und sieht mich an. Ich habe Gretas Schlafzimmer nicht abgesperrt, und jetzt steht Kati da und sieht mich an. Endlich. Gleich wird sie das Notebook nehmen und auf den Kopf stellen, wird triumphierend alle Mails lesen, die ich in ihrem Namen geschrieben habe, und von mir Abschied nehmen. Das wird das Ende von allem sein. Das Ende aller Lügen.

Liebe Kati,

was ist denn bloß vorgefallen? Ich habe eben nachgesehen, um sieben Uhr morgens geht eine Maschine, ich hab schon gebucht, bin gegen elf bei dir. Du geh bitte nicht das allergeringste Risiko ein, nimm dir ein Zimmer im Hotel. Ich hab dich eben auf dem Handy anzurufen versucht – kannst du nicht rangehen, oder hast du es nicht an? Ich komme dann zu der angegebenen Adresse – falls wir uns woanders treffen, schick ein sms.

Love, David