DIE FARBE DER ORANGE
Die Leute, die nicht sofort aus der U-Bahn aussteigen, die sich erst mal nach links und rechts umsehen, in der Tür stehen bleiben und denen, die reinwollen, den Weg versperren: widerwärtig. Dabei tun sie noch lässig, umgreifen den Türflügel und schieben sich dann langsam nach draußen wie Cowboys, die sich an einer neuen Zugstation, bevor sie den Bahnsteig betreten, nach Scharfschützen umsehen müssen. Die leider nie da sind, um das Gesockse abzuknallen. Manche Menschen sind nur auf der Welt, um anderen auf den Sack zu gehen. Lebende, doch letztlich leblose Hindernisse und Schikanen. Sie stehen auf den Rolltreppen links, sind mit großen Rucksäcken in der Buchhandlung unterwegs oder mit Kinderwagen auf Floh- und Obstmärkten. Und haben wahrscheinlich nicht die geringste Ahnung davon, daß man ihnen mehrmals am Tag die Ausrottung wünscht. Eben in der Videothek stand einer vor der Kiste mit gebrauchten DVDs und beugte sich drüber. Fast zehn Minuten brauchte der, um die Kiste zu durchsuchen, und stand so massiv davor, daß ich nicht einmal von der Seite mitgucken konnte. Oder gestern beim Chinesen, wo es Zweier- und Vierertische gibt. Wie viele Paare flätzten sich da einfach fett an Vierertischen, und selbst wo es fast voll war, nur noch ein Zweiertisch frei – keines der Pärchen kam auf die Idee, an diesen Zweiertisch zu wechseln, wo sie doch sahen, wie eine Gruppe von vier Personen murrend darauf wartete, daß was frei wurde. Da wünscht man sich dann schon mal den Flammenwerfer in die Hand und laxere Gesetze. Eklig vor allem die Twen-Typen mit Fünftagebart und Schal, mit ihrer schmierigen Lache, ihren teuren, asymmetrischen Post-Oasis-Frisuren, darunter Koteletten, vielleicht sogar ein Ziegenbärtchen und inmitten von alldem nichts in der Birne. Ihre Mädchen sind oft ganz hübsch. Was mich noch mehr zur Verzweiflung treibt.
Seit gestern versinkt Berlin im Schnee. Manche mögen das idyllisch finden, spanische und italienische Touristen zum Beispiel, schnell frierende Menschen, sonnenverzärtelt, die sich gegen die Kälte mit grotesken Verkleidungen rüsten. Vor gut einer halben Stunde wartete ich auf die letzte U-Bahn, die um ein Uhr nachts vom Adenauerplatz Richtung Neukölln fährt. Ich war noch lange im Büro, hatte über mein neues Projekt nachgedacht, ohne eine Lösung zu finden. Ich stand an der Bahnsteigkante; in drei Minuten, so verhieß es mir die Leuchtschriftanzeige, würde der Zug kommen. Es warteten noch andere Personen neben mir, und ich hatte nichts zu lesen dabei, sah auf die Gleise hinunter, wo man oft Mäuse beobachten kann. Manchmal denke ich darüber nach, wie es wäre, mich einfach vor die einfahrende Bahn zu werfen. Das hat nichts zu bedeuten, ich bin als Selbstmörder ein Möchtegern und Schaffesnicht, aber mir die direkten Konsequenzen auszumalen macht Spaß. Wer auf meine Beerdigung käme, wer welche Reden halten würde, wer sich mit wem um mein bißchen Erbe stritte, falls mein Testament verloren ginge, etcetera. Dann sah ich, leuchtend kupferfarben, einen Cent zwischen den Schienen liegen. Ein frisch geprägter Cent – und binnen einer Sekunde wußte ich, daß dies mein Glückscent war. Welch blöde Idee – aber stark, sie hielt mich fest und redete auf mich ein. Schnapp dir diesen Glückscent, dann wird dein gesamtes künftiges Leben problemfrei verlaufen. Ich sah auf die Leuchtschrift. Noch zwei Minuten. Ich konnte schnell aufs Gleis springen, den Glückscent an mich nehmen und wieder auf den Bahnsteig, ohne Gefahr. Aber da waren die Leute. Was würden die Leute von mir denken? Was gingen diese Leute mich an? Etwas in mir sagte: Spring, hol dir das Glück, und alles wird gut. Aber ich zögerte, wollte mich vor den Leuten nicht rechtfertigen müssen, obwohl denen das wahrscheinlich ganz egal gewesen wäre. Sie hätten mich schräg angeglotzt, na gut, vielleicht wäre irgendein Kommentar gekommen, eher aber nicht. Dann gewann eine andere Stimme in mir die Oberhand. Das ist nur ein blödes Geldstück von geringem Wert, du spinnst, deswegen dein Leben aufs Spiel zu setzen. Und die erste Stimme: So ein Quatsch, du hast noch zwei Minuten, das ist eine kleine Ewigkeit, und du würdest die einfahrende Bahn ja hören, wenn sie wirklich früher käme, spring! Das waren keine Stimmen, wie Verrückte sie hören, natürlich nicht, es waren stumme Stimmen, zwei Fraktionen meines Innen, die stritten, und die Leuchtschrift wechselte von der Zwei auf die Eins. Jetzt wäre es schon wirklich gefährlich, die Münze an mich zu nehmen. Aber – ich konnte ja einfach warten, bis die Bahn eingefahren war, die Leute, die mich störten, eingestiegen waren und abtransportiert. Und dann – könnte ich ganz gefahrlos und unbeobachtet den Cent einstecken und mir ein Taxi nach Hause nehmen. Die andere Stimme sagte: Bist du komplett durchgeknallt? Diese U-Bahn bringt dich in einer Viertelstunde nach Hause, willst du stattdessen sechzehn Euro für ein Taxi berappen? Aber da unten liegt ein Glückscent! Schäm dich, weil du irgendetwas auf den imaginären Kommentar von Menschen gibst, die du gar nicht kennst, du hättest sofort da hinunterspringen sollen, dann hättest du den Cent bereits. Aber das ist doch nur ein kleines Kupferstückchen, seit wann bist du abergläubisch? Steig in die Bahn, fahr nach Hause, gönn dir noch zwei Gläser Wein und gut. Der Zug kam. Ich rang mit mir. Etwas in mir rang mit etwas anderem in mir. So. Endlich gewann etwas die Überhand, das ich Vernunft nennen möchte, weil die meisten, denen ich die Geschichte erzählen könnte, es so bezeichnen würden. Aber ich werde die Geschichte keinem erzählen. Ich stieg in den Zug und schämte mich. Nicht genug, um an der nächsten Station, dem Olivaer Platz, auszusteigen, durch den Schnee zurückzulaufen und mich doch noch in den Besitz dieses Geldstücks zu bringen. Ich schämte mich ja eher, über diese Sache so lange nachgedacht zu haben. Dauernd wechselten die Pespektiven. Mal hielt ich mich für abgedreht, mal für verloren, mal siegte die Einsicht, daß ich noch nicht ganz schrullig bin, mal trauerte ich der vergebenen Möglichkeit nach, ein Glückspfand in der Hand zu halten. Nein, das kann ich niemandem erzählen. Nicht einmal Kati, die es sicher spaßig finden würde. Ich bin dabei überhaupt nicht abergläubisch. Nur: Einen Glückspfennig, jetzt einen Glückscent, auf der Straße zu finden, nach dem sich andere Menschen nicht einmal bücken würden, hat mir stets das Gefühl gegeben, eine Weile behütet zu sein. Klingt bescheuert. Es fällt mir schwer, das aufzuschreiben, ohne mich über meine Marotte lustig zu machen. Indem ich die Episode aufschreibe, ist sie nicht so vorbei, wie sie es in der Wirklichkeit ist.
PS: Als ich nach einer unruhigen Nacht zur Arbeit fuhr und gegen neun Uhr morgens am Adenauerplatz ausstieg, sah ich nach – der Cent war nicht mehr da. Ein anderer hat ihn sich geholt. Sieh an. Er hat da gelegen, für mich, ich habe ihn gesehen, erkannt in seinem Wert – und verschmäht. Jetzt weiß ich, daß es Menschen gibt, die mutiger zupacken als ich.
*
Ich glaube nicht, daß wir zusammenpassen würden. Schon allein, daß sie die Freundin von Serge ist, spricht Bände – und nicht zu ihren Gunsten. Dennoch beginne ich Gefühle für diese Frau zu entwickeln, und meine Skrupel, sie einem Arbeitskollegen abspenstig zu machen, wären nicht sehr stark. Ich glaube, sie sehnt sich nach einer, mir fällt kein kürzeres Wort ein, Zuneigungsbekundung. Ein liebes Wort, könnte man sagen, aber das klänge zu harmlos. Eine Kampfansage. Ja. Die Ankündigung, oder, noch offizieller: die Verlautbarung, offen mit Serge in ein Konkurrenzverhältnis treten zu wollen. Genau das widerstrebt mir. Solange sie mich als Ventil benutzt, ist sie heiß, wie Frauen nur außerhalb einer Beziehung sein können. Aber hinter ihrer Lust lugt ihr Unglück hervor. Ich kann sie nicht mehr genießen, wie ich sie genossen habe, bevor sie begann, mich mit Geschichten über Serge vollzusülzen. Wie er sich dreimal pro Stunde die Hände in brühheißem Wasser wäscht. Oder auf dem Ausflug nach Potsdam kurz vor dem Ziel umdreht, um nachzusehen, ob er auch wirklich alle Kochplatten ausgeschaltet hat. Ich meine, das hat was von Verrat und ist auf Dauer wenig unterhaltsam, weil ständig dasselbe. Soll sie ihn doch verlassen. Ich habe für Serge recht wenig übrig, geb ich zu. Aber wenn sie so über ihn redet, wie sie mit mir über ihn redet, empfinde ich beinahe Sympathie für den Kerl. Einmal hab ich mich hinreißen lassen, hab gesagt: Du bemutterst ihn ja, bist seine Krankenschwester mehr als seine Freundin. Sie hat es mir zum Glück nicht übel genommen. Sexuell gesehen sind wir eine effektive Zweckgemeinschaft. Klingt kalt und funktional, kommt der Wahrheit dabei doch ziemlich nah. Oder kam der Wahrheit nah, bevor sich diese Gefühle dazwischendrängten. Die ich aber nicht zulassen werde. Basta. Die meisten Menschen setzen sich Gefühlen aus, als könne man nichts tun dagegen. Wie gegen eine Stechmücke oder einen herannahenden Schnupfen. Sie finden noch das allerblödeste Gefühl interessant und belebend und lassen es herein, wie einen Fremden, der an der Tür um Obdach bittet. Denn er bringt ja irgendetwas Neues, und sei es seine Fremdheit. Und später, wenn der Fremde die Wohnung geplündert und sich fortgestohlen hat, herrscht großes Wehklagen. Wie konnt ich nur? Was hab ich da getan? Die meisten Menschen sind überaus einladende Landeplätze für umherschwirrende Gefühle, die, genau besehen, wenig mehr als Einbildungen oder Wunschträume sind, Begehrlichkeiten. Hohle Versprechen. Männer, die mit einer Frau guten Sex haben, wollen diesen Zustand so lange wie möglich bewahren. Das ist verständlich. Und sie breiten ihre Seele wie einen Teppich aus, der betreten werden möchte, mit Füßen getreten, und seien diese noch so zierlich und schön wie die von Kati.
Kati ist noch nie zu spät gekommen, nicht ein einziges Mal in mehr als drei Jahren. Jetzt sind es schon fünf Minuten, daß ich allein im Restaurant sitze. Fünf Minuten – kann passieren. Es ist ihr noch nie passiert, aber immer gibt es ein erstes Mal, ich bin deswegen noch nicht sehr besorgt.
Sie ist mit dem Rad unterwegs und könnte einen Platten haben. Aber dann würde sie anrufen und mir mitteilen, daß sie später kommt. Das Handy könnte keinen Saft haben, okay, aber Kati lädt es jeden Abend auf vorm Schlafengehen, ihr Handy hat immer Saft. Und wenn es kaputtgegangen ist? Unwahrscheinlich, denn sie hat ein relativ neues Handy. Jetzt sind es schon zehn Minuten, und langsam werde ich besorgt, es ist glatt auf den Straßen, überfrierende Nässe, ich hab ihr immer gesagt, fahr mit der U-Bahn, es ist abzusehen, wann etwas passiert. Sie hat nie auf mich gehört. Kati spart am falschen Ende und fährt lieber Fahrrad statt U-Bahn. Selbst bei diesem beschissenen Wetter. Zwölf Minuten. Ihr muß etwas passiert sein. Jedenfalls muß ich etwas unternehmen. Einfach so herumzusitzen hielte ich nicht aus. Ich ruf bei ihr an. Nach zehnmal Tuten soll ich was auf die Mailbox sprechen. Ich klappe das Handy zu, stehe auf, ohne etwas bestellt zu haben, gebe dem Kellner ein Zeichen, daß ich vielleicht zurückkomme, später, wenn sich die Sache aufgeklärt hat. Wenn Kati keinen Unfall hatte. Ich überlege, welche Strecke sie genommen haben muß, aber die Strecke ist eigentlich, wenn sie von zu Hause gekommen ist, völlig klar. Sie braucht mit dem Fahrrad nur fünf Minuten vom Hermannplatz bis zur Bergmannstraße. Der Unfall muß also, da sie sicher pünktlich aufgebrochen ist, zwischen acht Uhr und fünf nach acht passiert sein. Der Notarzt trifft in dieser Stadt binnen weiterer fünf Minuten ein. Auch bei diesem beschissenen Wetter? Auch bei diesem beschissenen Wetter. Man wird sie sofort in ein Krankenhaus transportiert haben. Nach weiteren fünf Minuten ist vom Vorgefallenen schon fast nichts mehr zu sehen, außer der Blutlache. Die wird immer erst etwas später beseitigt, durch die Spezialreinigung. Aber es liegt Schnee, alle Spuren werden die so schnell nicht verwischen können. Wenn ich jetzt renne, auf den Hermannplatz zu, werde ich irgendwo Blut sehen, dann habe ich Gewissheit. Ich kann ja nicht wahllos irgendwelche Krankenhäuser anrufen. Ich muß Gewissheit haben. Ich renne. Es ist glatt, ich kann nicht rennen, wie ich will, nur schnell gehen. Es ist jetzt 23 Minuten nach acht, und ich erreiche die Gneisenaustraße. Das ist die logische Strecke. Mir ist schlecht vor Aufregung. Ich suche nach Blut. Ihrem Blut. Ich könnte die Polizei anrufen. Sie müßte wissen, ob hier vor Kurzem ein Mensch zu Tode kam. Oder schwer verletzt wurde. Ich kontrolliere mein Handy. Es ist auf Vibrator-Alarm gestellt, und manchmal, bei zu lauten Straßengeräuschen, überhöre ich den. Das Display zeigt nichts an. Nie würde sie mich so lange im Ungewissen lassen, ohne triftigen Grund. Sie wüßte, wie sehr mich das quälen würde, und ich nehme doch an, daß sie mich noch liebt. Jetzt, um zehn nach halb neun, bin ich am Hermannplatz angelangt, außer Atem, aber es war nichts zu sehen. Vielleicht hat sie sich das Genick gebrochen, ganz ohne Blut, das ist möglich. Kati wurde durcheinandergewirbelt, zerknickt und abtransportiert, wen interessiert das groß in dieser riesengroßen Stadt? Passiert eben. Ich wußte immer, daß mir das eines Tages nicht erspart bleiben würde. Nun ist es nicht direkt mir passiert, aber einer Frau, die ich liebe. Was viel schlimmer ist, sehr viel schlimmer. Was soll ich sagen an ihrem Grab? Man wird erwarten, daß ich das Wort ergreife und diesem wunderbaren Menschen ein würdiges Epitaph widme. Ich werde dazu nicht fähig sein. Werde wimmern und flennen. Ihre Eltern werden mir immer die Schuld an ihrem Tod geben, denn Kati wäre noch am Leben, hätte ich sie nicht zum Essen eingeladen. Ich habe Kati in den Tod gelockt. Aber das würde nach Absicht klingen. Es ist viel unerträglicher. Auf besonders tölpelhafte Weise habe ich Katis Tod verursacht, durch mein Versagen, weil ich die Situation und die damit verbundenen Risiken nicht korrekt eingeschätzt habe. Es ist Wahnsinn, bei diesem beschissenen Wetter eine fanatische Fahrradfahrerin zum Essen einzuladen. Sie war fanatisch, ja, aber das betone ich jetzt doch nur, um die Schuld von mir abzuwälzen. Plötzlich vibriert mein Handy, ich kann es nicht glauben, ihr Name steht im Display. Ruft mich die Polizei an, die nach Angehörigen des Unfallopfers sucht? Gleich wird etwas Wirklichkeit, was bis jetzt nur Möglichkeit ist. Ich gehe ran. Es ist Kati. Sie sitzt, sagt sie, seit zwanzig Minuten im Restaurant, wo ich bleibe? Ich bin schweißgebadet und stammle etwas, halte ein Taxi an, fahre in die Bergmannstraße, zahle mit einem Zehneuroschein, warte nicht auf das Wechselgeld, stürze ins Restaurant, schließe die Geliebte in meine Arme und sage dreimal, wie leid es mir tut. Und der Kellner kommt und sagt zu mir: Da sind Sie ja wieder! Dieser Vollidiot! Er bringt mich in eine peinliche Situation. Er soll sein indiskretes Maul halten. Ich bin in der Tat öfter mal hier, lalala, da bin ich also wieder. Zum Glück sagt er nichts mehr, und schnellschnell bestelle ich was. Irgendwas. Dann bin ich glücklich. Wie gerade noch einmal dem denkbar boshaftesten Schicksal entkommen. Ihr erzähle ich nichts. Kati ist eine sehr empfindsame Person. Nichts soll sie aufregen. Wenn sie wüßte, was ihr eben beinahe zugestoßen ist, bekäme sie die ganze Nacht kein Auge mehr zu. Meine Uhr, sage ich, meine Uhr ist kaputt. Ich habe sie im Taxi um dreißig Minuten zurückgedreht. Eine bessere Ausrede, warum ich zu spät komme, ist mir in dem ganzen Wirbel nicht eingefallen. Kati war auch gar nicht böse, weil sie ja selber zu spät gekommen ist. Warum eigentlich? Ich habe völlig vergessen, danach zu fragen. Es wurde dann noch ein sehr schöner, entspannter Abend. Wir sind zu ihr gegangen und haben geschmust, Wein getrunken, Fargo geguckt, und dann, als es gar nicht mehr abzusehen war, miteinander geschlafen. Am Morgen bin ich direkt von ihr aus zur Arbeit gefahren.
Gestern war ich mit Serge verabredet und kam um eine Viertelstunde zu spät, weil David nicht von mir lassen wollte. Ich schämte mich sehr dafür und hatte mir eine Ausrede (keine Luft im Vorderreifen) zurechtgelegt, aber als ich das Restaurant betrat, war Serge noch gar nicht da. Erst nachdem ich ihn angerufen hatte, kam er endlich, um vierzig Minuten verspätet, hetzte herein, bleich und verschwitzt, er sagte, seine Uhr sei stehen geblieben, es klang nach Ausflucht, und ich war für einen Moment tief erschrocken, weil ich dachte, daß Serge mich vielleicht heimlich beobachtet und verfolgt haben und hinter die Sache mit David gekommen sein könnte. Aber das ist bestimmt Unsinn, so etwas Abenteuerliches traue ich Serge nicht zu, und wenn es doch so gewesen wäre, hätte er mich sofort zur Rede gestellt. Ich fühlte mich dennoch unwohl, ertappt, und machte Serge den Abend so schön ich konnte. Nur schlafen wollte ich nicht mit ihm, an mir klebte ja noch Davids Geruch. Obwohl Männer, heißt es, sowas nicht riechen. Ich würde den Geruch einer anderen Frau an Serge sofort riechen, bild ich mir ein. Irgendwann ging ich ins Bad und schrubbte mich schnell mit dem Waschlappen ab. Serge wollte mich, und ich fand, daß ich ihm das nicht abschlagen durfte. Noch nie im Leben hab ich an einem Abend mit zwei Männern. Serge ahnt zum Glück nichts, nein. Ich würde ihn nicht ohne Not verletzen wollen. Auf Serge kann ich mich verlassen, er ist von Herzen gut, und David, der verspricht mir nichts, nutzt mich bloß aus. Obwohl er ja nur hält, was er mir nie versprochen hat. Ich beginne, von ihm körperlich abhängig zu werden. Er macht mit mir, was er will, und fast immer will ich das dann auch. Sind Sachen darunter, die ich nie für mich in Betracht gezogen hätte. David sagt, ich sei der beste Sex seines Lebens. Ich wette, daß er das jeder Frau sagt. Und alle hören es gern. Serge nimmt zu viel Rücksicht auf mich. Ich möchte, daß er einmal mit mir aus dem Rahmen fällt. Ich hasse es, wenn er fragt, ob es mir wehtut, vor allem, wenn es mir grade wehtut. Was soll ich denn sagen? Daß es mir wehtut, weil ein anderer mich dreimal hart rangenommen hat?
Daß es mir wehtut, weil ich Mitleid empfinde mit ihm und Scham wegen meines Doppellebens?
Ich arbeite in einer großen Werbeagentur und muß mir griffige Sprüche ausdenken, um die Produkte unsrer Kunden attraktiv zu vermarkten. Das ist ein guter, beneideter Job, der Kreativität verlangt. Ich bin, wenn man so sagen darf, ein Dichter mit goldenem Boden. Ungut wird der Job, wenn die Kreativität ausbleibt. Dezember ist nicht mein bester Monat im Jahr. Wenn es draußen so kalt ist und der Weihnachtswahnsinn wütet, streikt mein Gehirn. Die Bewegung 24. Dezember hat es gefangen genommen und in Dunkelhaft gesperrt. Erst im Januar, wenn es das heilige neue Licht gibt, an manchen klaren Tagen, kommen die Ideen wieder, ich kenne das. Jedes Jahr dasselbe. Man muß diese Durststrecke geschickt überspielen, das Nötigste der Routine überlassen und, wenn sonst nichts mehr hilft, bluffen oder eine Krankheit vortäuschen. Oder das kaum benutzte Gehirn eines Volontärs anzapfen, aber das ist wirklich der allerletzte Ausweg, denn mich mit fremden Federn zu schmücken, raubt mir den Schlaf. Mein Chef, Herr Borten, Dietrich Borten, ist ein Chef, wie man ihn sich wünscht. Stets korrekt, verständnisvoll, um Frieden und Ausgleich bemüht, liberal in allen Ansichten, ein Menschenfreund, ich sage das ohne jeden Anflug von Ironie oder Sarkasmus. Er nimmt fast immer Rücksicht auf meine kleinen Eigenheiten. Leider liegt in diesem Jahr ein gewisser Ausnahmezustand vor, da trägt er keine Schuld daran. Es geht um die neuen halterlosen Strümpfe von Passion. Ziel ist es, Frauen dazu zu bewegen, halterlose Strümpfe zu tragen, die normalerweise keine halterlosen Strümpfe tragen, erstens weil sie das für unbequem, zweitens weil sie das für nuttig, drittens weil sie das für ungesund halten. Unsere Werbung muß die Eleganz der Ware betonen, aber so tun, als wäre das Elegante auch praktisch und bekömmlich. Unsre erste Kampagne hat man rundweg abgelehnt, und nun hat der Chef mich, seinen besten Mann, wie er sagte, abgestellt, um den Karren wieder aus dem Dreck zu ziehen, mit einer vorzeigbaren Mappe, möglichst noch vor Weihnachten. Das bedeutet, in spätestens sieben, allerspätestens zehn Tagen müßte das Konzept innerbetrieblich vorgestellt werden. So ein Schwachsinn. Unfug. Gehudel. Wieso denn unbedingt noch vor Weihnachten? Borten meinte, er habe das dem Kunden versprochen. Basta. Auf seinem Gabentisch werde unser Konzept liegen. Ich weiß nicht, was es über Frauenbeine und halterlose Strümpfe Neues zu sagen gibt. Gestern habe ich Kati gefragt, ob ihr vielleicht etwas einfiele. Das tue ich sonst nie. Kati gegenüber Schwäche zeigen. Sie wird mich für einen Versager halten. Und wenn ihr tatsächlich etwas einfiele? Könnte ich das dann einfach so verwenden? Wie stünde ich da vor ihr? Zum Glück ist ihr nichts eingefallen. Sie ist nicht die Schlaueste. Obwohl ich in meinem derzeitigen Zustand nicht das Recht habe, über irgendwen so was zu sagen. Verwöhnen Sie Ihre Beine – und jeden, der sie ansieht. Scheiße.
Die Stadt zieht junge Talente in Massen an. Weil junge Menschen sich überschätzen, gehen sie dorthin, wo die Konkurrenz am größten ist und das Risiko zu scheitern in einem ganz unvernünftigen Verhältnis zur Erfolgsaussicht steht. Lauter kleine Idioten, aber manche schaffen es dann doch. Weil sie brillant sind. Ideen haben. Genie entwickeln. Viele von denen sind nur ein paar Jahre lang genial, aber das reicht, damit sie irgendwem den Arbeitsplatz rauben, der auch nur ein paar Jahre lang genial war. Ich bin gut. Vielleicht nicht mehr genial, wenn ich das je war, aber ich bin gut. Ganz gut. Beständig. Abgesehen vom Dezember. Ich habe Angst zu versagen. Angst, daß Borten Besuch bekommt von irgendeinem jungen Provinzschlingel, den er wahnsinnig aufregend findet. Neu und erfrischend. Vielleicht sogar, das ist sein höchstes Lob: originell. Der ihm Ideen auf den Tisch knallt wie aus einer Stalinorgel oder dem magischen Füllhorn. Ich würde Kati gerne heiraten. Aber sorglos heiraten kann nur jemand wie Dietrich Borten. Der muß nicht mehr kreativ sein, der muß nur noch beurteilen, was andere schaffen. Der ist aus dem Gröbsten raus, und wenn er mal was falsch beurteilt, gibt es keinen Schiedsrichter, der ihm Gelb oder Rot zeigt. Mich beunruhigt mein Wunsch, so zu werden wie Borten. Kann das das Ziel im Leben sein? Und wenn ich arbeitslos werde? Wenn man erst mal raus ist aus der Szene, ist man raus, und Kati in so ein Raus reinzuziehen, dazu liebe ich sie zu sehr. Sie singt im Opernchor an der Bismarckstraße. Auch nicht gerade ein Job mit enormen Aufstiegschancen. Wir beide sind Verlierer auf Abruf. Aber das gilt für alle menschlichen Existenzen, die nicht mindestens Borten heißen. Borten ist 56 Jahre alt. Er wird mit einer mathematischen Wahrscheinlichkeit von knapp siebzig Prozent früher sterben als ich. Und was er dann war, ist egal. Er wird weg sein. Kati und ich sind dann noch ein bißchen da. Ist das Zeit genug, um Kinder in die Welt zu setzen? Was mich an vielen Menschen so stört: Sie nutzen ihr kleines Zeitfenster, reproduzieren sich und hoffen auf das Beste. Und das Unverschämte ist: In vielen Fällen geht das gut. Als wär da weiter nichts dabei. Die Menschheit hat es sich immer zu einfach gemacht. Das kommt, weil sie Verluste leicht verschmerzen kann. Sie kann mit Schwund gut umgehen. Sonst gäb es auch nicht all die Kriege. Als Individuum kann man sich Schwund nicht leisten, man hat nur das eine Leben und gibt darauf acht. Was blödsinnig ist. Unsre kleine Kerze brennt im All neben riesigen Sternen, wir beschützen sie vor jedem Wind, der sie ausblasen könnte – und ihr doch frische Luft zufächern würde, gäb es Luft im Vakuum und würde eine Kerze darin brennen. Damit sie, wenn auch kurz, noch heller brennt. Immer, wenn ich trinke, werde ich heroisch. Am Morgen bin ich wieder feige.
Er hat nur gelacht und gesagt, den kennt er schon, den bring ich jedes Mal, wenn ich meine Tage kriege. Dieser arrogante Frosch. Er macht es mir einfach. Serge war gestern Nacht betrunken und hat wirres Zeug geredet über Sterne und Kerzen. Der Tenor war, daß er nie den Mut gehabt hat, so zu leben, wie einer lebt, der Talent hat und den Willen, etwas aus sich zu machen. Talent sprach er sich zu, aber am Willen habe es ihm immer gemangelt, und mutig seien vor allem die Idioten, die sich selbst überschätzen. Ich mußte mir das geduldig anhören und ihn trösten. Kommt in letzter Zeit immer öfter vor. Ich liebe ihn deshalb nicht weniger. Im Januar kommt das wieder in Ordnung.
Kati hat sich letzthin so rührend um mich gekümmert, so was ist reinen Engeln vorbehalten. Oder entstammt einem schlechten Gewissen. Sie hat mir zweimal gesagt, daß sie mich liebt – an nur einem Abend. Diese Überbetonung muß einen doch mißtrauisch machen. Es bedeutet vielleicht, sie liebt mich, auch wenn sie einen anderen fickt. Kati ist nicht der Typus eines reinen Engels, die sind auf Erden selten gestreut. Sie ist gutherzig, das schon, also nicht übertrieben böse. Im Übrigen kann ich nachvollziehen, wenn sie die Lust an wem verliert, der nicht einmal ein Highlight der Evolution – Frauenbeine – angemessen besingen und bewerben kann. Sie schläft meist nur mit mir, wenn ich drauf dränge oder darum bitte. Dann aber tut sie es immer. So was macht man doch nur, wenn man was zu vertuschen hat. Als wir neulich zusammen waren, merkte ich, daß es ihr wehtat, und ich fragte: Tut es dir weh? Und sie: Ach wo. Sie stritt es einfach ab, und so salopp. Fast frech. Wenn ich Kati fragen würde, warum sie nie aus eigenem Antrieb mit mir schläft, würde sie wahrscheinlich sagen, daß sie das zu aufdringlich fände, ich könnte mich genötigt fühlen und unter Druck gesetzt. Sie würde so tun, als würde sie meine Frage nur als Frage verstehen, gar nicht als Vorwurf. Ich muß das Positive sehen: Kati liebt mich. Oder bildet es sich wenigstens ein. Aber wie kann man jemanden wie mich lieben, wenn man nicht nebenbei gut gefickt wird? Als junge, gut aussehende Frau mit Bedürfnissen ist es ganz normal, heutzutage, daß man für sein leibliches Wohl sorgt. Sie ist ja keine Landpflanze. Kann ich mich damit zufrieden geben, daß sie mich nur liebt? In meinem Kopf schwappt vieles hin und her, ein Mordsdurcheinander, und ich weiß nicht mehr, welche Schlüsse zu ziehen sind. Ich will nicht in der Gosse landen ohne Kati. Und ich will Kati nicht da reinziehen, in meine Gosse. Ich muß mich von ihr trennen, weil ich sie liebe. Alles in der Zivilisation basiert auf Vertrauen. Vertrauen zu den Zeichen.
Ich vertraue dem Schild, das sagt, der Supermarkt öffnet um acht. Um sieben Uhr morgens gibt es da nichts zu holen, und man steht sich eine Stunde lang die Beine in den Bauch, vertraut man diesem Zeichen nicht. Ich vertraue der grünen Ampel, daß ich heil über die Straße komme.
Aber wenn das Vertrauen schwindet?
Was, wenn die Ampelmännchen lügen?
Was bedeutet: Ich liebe dich – ? Das kann sehr viel bedeuten.
Wenn die grünen Ampelmännchen die roten Ampelmännchen überwältigen, allen Straßen der Kreuzung freie Fahrt vorgaukeln. Einfach, um mal wieder einen großen Crash zu sehen.
Ich liebe dich, sagt Kati. Sie sagt es mal so, mal so. Mal mit Inbrunst, mal geflüstert. Immer kann es was bedeuten oder nichts. Ich glaube, daß es da ein rotes Ampelmännchen gibt, das seine Arme ausbreitet vor ihr. Ich wills ihr nicht beweisen. Noch hält die Unschuldsvermutung. Aber wenn ihr Handy vibriert, beschleicht mich eine Angst. Ich will sie nicht verlieren, dabei, wenn es so wär, dann hätt ich sie ja schon verloren. Will ich sie dann wieder? It is twenty years ago today, Sgt. Peppers Band began to play.
Sie ist so oft wie ein Supermarkt um sieben Uhr morgens, der erst in einer Stunde aufhat. Falls es nicht Sonntag ist, dann macht sie gar nicht auf. Und niemand weiß, ob heute Sonntag ist. Ich vertraue dem Staat, daß er denjenigen mit Strafe verfolgt, der mir Böses will. Ich stehe unter dem Schutz des Gesetzes. Alle anderen vertrauen ihm auch, die allgemeine Angst vor Strafe bewahrt das Gleichgewicht des Schreckens. Die Gesellschaft ist ein eiseskalter Krieg.
Serge redete heute davon, daß wir einfach nicht zusammenpassen würden. Er sagte mir auf den Kopf zu, daß ich niemals einen Orgasmus mit ihm gehabt hätte. Das stimmt, aber warum ist das so wichtig? Mir ist das weniger wichtig als ihm. Er tut wie ein Altruist, aber ich glaube, er bezieht aus dem Orgasmus der Frau die Bestätigung seiner selbst. Das ist nicht altruistisch, das ist eitel. Er bot mir an, unter uns einen Schlußstrich zu ziehen. Ich sagte, daß das für mich nicht infrage komme, denn mir läge viel an ihm. Diese Formulierung war absichtlich gewählt, um nicht pathetisch zu klammern und ihn mit einer Liebeserklärung schief dastehen zu lassen. Wenn jemand weg will, soll man ihn freigeben, bevor es häßlich wird. Man kann niemanden festbinden. Serge sah mich durchdringend an und meinte, daß es für eine Beziehung nicht genüge, wenn einem am anderen nur noch ›viel liege‹. Da wurde ich etwas zornig, denn er drehte mir ja die Worte im Mund herum und gab ihnen einen anderen Sinn. Ich sagte, daß er offensichtlich auf Krawall gebürstet sei und daß ich seine rhetorischen Spielchen nicht mitmache. Wenn er sich von mir trennen will, sagte ich ihm, soll er mir den Grund nennen, damit ich damit umgehen kann. Und er fragte mich, ob ich einen anderen hätte. Ich sagte Nein, und es wunderte mich selbst, wie gut und kaltblütig ich in diesem Moment, ohne auch nur eine Zehntelsekunde zu zögern, lügen konnte. Vielleicht, weil es genau genommen keine Lüge war, denn ich habe mit David ja Schluß gemacht. Serge sah mir tief in die Augen, dann schüttelte er wie wild den Kopf, begann zu weinen und bat mich um Verzeihung. Die Jahreszeit mache ihn verrückt, es gehe mit ihm bergab, er würde Dinge sagen, die er nicht so meine, und nichts wünsche er so sehr, wie nicht allein zu sein in seinem Elend. Er nahm mich in die Arme, bohrte seine Stirn zwischen meine Brüste und bat darum, ihn nicht ernst zu nehmen, wenn er so daherredet. Ich dürfe ihn, sagte er flüsternd, jederzeit verlassen, wenn ich es nicht mehr mit ihm aushalten könne, er sei dankbar für meine Liebe, auf mein Mitleid würde er aber lieber verzichten. Es ist schwer zu beschreiben, was dieser hemmungslos flennende Mensch in mir ausgelöst hat. Es war, als müsse ich mich in einem Augenblick zwischen Abscheu und bedingungsloser Empathie entscheiden. Wie eine Mutter, die ihr Kind zum ersten Mal in der Hand hält und sieht, daß es schwer behindert ist. In einer Sekunde entscheidet sie sich, so stelle ich es mir vor, ob sie es für immer lieben oder weggeben soll, für ein bequemeres Leben. Und es fällt mir schwer, das niederzuschreiben, aber: In meinem Innersten vertagte ich die Entscheidung. Mir war das zu viel. Ich habe Serge geküßt, überall, um irgendwas zu tun. Und zugleich verabscheute ich ihn dafür, daß er sich so vor mir gehen ließ.
Warum kannst du nicht einfach wieder so sein, wie du warst, habe ich ihn stumm angeschrien. Endlich beruhigte er sich, bekam eine Erektion, und es war, als würde er diese Erektion selbst als grotesk empfinden in der Situation, in der wir uns befanden. Ich hab ihm einen runtergeholt, während er teilnahmslos zur Decke sah, danach wirkte er von allen Sorgen befreit und schlief an meiner Brust ein, wie ein sattes Kind.
Weiß Gott, wie Männer ticken. Es wird mir für immer ein Rätsel bleiben.
Gottseidank.
It is twenty years ago today, Sgt. Peppers Band began to play – dieser Ohrwurm macht mich fertig. Er gefährdet mich physisch. Heute habe ich Karotten- und Ingwerstücke in den Mixer getan, um sie für eine Karotten-Ingwer-Suppe zu zerstückeln. Ich habe mich geärgert, weil der Mixer nicht funktionierte. Er pürierte weder die Karotten noch den Ingwer, ließ viel zu große Stücke übrig. Die Messer drehten sich wie vorgesehen, es war ihnen kein direkter Vorwurf zu machen. Und doch – da wurde kein Brei draus. Es war, als würden die Messer immer eine Lücke finden, um pflichtgemäß zu wirbeln – und doch nichts zerstückeln zu müssen. Eine große Verarsche. Das wurde einfach nicht heiß. Und ich prüfte die Temperatur – steckte meinen linken Zeigefinger hinein. Mann, tat das weh! Der halbe Fingernagel ab. Mit allem daran hängenden Fleisch. So viel Blut. Es spritzte aus mir heraus, eine rote Ejakulation. Beinahe hätt ich den Notarzt holen müssen. Ich konnte die Blutung dann stillen, mit einem Handtuch. Kam mir so blöd vor. Ich kann das nicht erklären. An rotierenden Klingen die Temperatur zu prüfen – erschien mir normal, selbst als es schon passiert war. Jetzt fehlt mir eine Fingerkuppe. Als Kati und ich in Venedig waren, in unserem ersten Jahr, da standen wir mal am Wasser und sahen hinein, und ich hatte so große Lust, Kati spontan einen Schubs zu geben, damit sie in den Kanal fällt. Ich wußte jedoch, ich darf das nicht tun. Aber vielleicht hätte sie mich genau dafür geliebt, wäre sie wieder trocken geworden. Ich hab ihr das Szenario geschildert, sie meinte, hätt ichs getan, wäre sie abgereist und nie wiedergekommen. Aber Frauen lügen, wenn es um elementare Dinge geht. Nicht, daß sie bewußt lügen, nein, man kann sich nur eben nie sicher sein, was sie wollen. Sie hassen nur die Langeweile. Obwohl sie ja von ihrer Natur her auf nichts so scharf sind wie Geborgenheit, Versorgtheit, Ödnis auf hohem Niveau.
*
Kati hat mal wieder mit mir Schluß gemacht. Ich habe das anfangs nicht ernst genommen, aber nun sind es schon neun Tage, da sie nichts von sich hören läßt. Rekord. Ich vermisse sie, wenn ich ehrlich bin, mehr als ich es für möglich gehalten hätte. Natürlich darf man da nicht aktiv werden, man muß nur warten, einfach warten, das ist das ganze Geheimnis. Da kommt noch was. Oder es kommt nichts, dann war es das. So einfach.
Aber ich vermisse sie. Sie hat von Anfang an darauf bestanden, daß das zwischen uns nur was Flüchtiges sei und was Körperliches. Das war mir sehr recht gewesen. Ganz hervorragend fand ich das. Sie ist ein guter Fick, ansonsten ein bißchen fade. Dachte ich. Aber es gibt langweiligere Frauen. Was sie an Serge findet, mag ihr Geheimnis bleiben. Der tickt nicht richtig, das hab ich immer geahnt. Heute Nachmittag beim Meeting, als er das Konzept für die Passion-Kampagne präsentieren sollte, dessen fotografische Umsetzung dann wohl an mir hängen bleiben wird, hat er viel Worte gemacht, über Sterne und Kerzen palavert und über den Mut, die erregende Schönheit einer perfekten Frauenbeinsilhouette sowohl schön als auch erregend in Szene zu setzen, ohne die Würde der Thematik bloßzustellen durch simple Erotik. (Hä?) Ihm schwebe eine Galaxie vor, deren Umriss genau einem von Picasso gemalten Frauenbein entspräche. (Das ist gar nicht Picasso, er meint Cocteau, glaube ich.) Nur daß die Sterne jener Galaxie aus kleinen Kerzen bestehen sollten, wie die Teelichte, die man am Altar einer Madonna aufstellt, als Votivkerzen für die kleinen und feinen Wünsche des Alltags. Er habe, sagte er, kein Bildmaterial, weil man das erst digital entwickeln müsse. Aber den Text, daß Sterne nur große Kerzen seien im All, und, sinngemäß, daß Frauenbeine von Passion-Strümpfen aufgewertet würden wie Kerzen zu Sternen, also das Heimelig-Kuschlige zeichensetzend triumphiere vor dem Hintergrund eines unendlich expandierenden Kosmos. So ungefähr. Niemand hat das verstanden, und jeder im Raum, einschließlich meiner selbst, fragte sich, ob er nicht richtig aufgepaßt hatte oder einfach erschüttert sein mußte. Borten hält immer noch viel von Serge, aber selbst er glaubte sich von ihm verarscht. Wie meinen Sie das denn genau, hat er ihn hilflos gefragt, wohl, weil er noch mit der Möglichkeit spielte, ein geniales, aber zu tiefgründiges Konzept nicht verstanden zu haben.
Borten zeigte sich dankbar, als ich aufstand und das alles einen Haufen unausgegorener Metaphysik nannte, um drei Ecken zu viel gedacht. Ja, genau, stimmte er mir zu, sehr erleichtert, so gehe es ihm auch. Plötzlich flippte Serge aus, er könne rund um Weihnachten, einem völlig verlogenen Fest dummer Christen, die tiefere Wahrheit eines Frauenbeins eben nur mündlich und andeutungsweise besingen, die Kampagne, seine Kampagne, basiere auf radikaler Optik, er zeigte mit beiden Zeigefingern auf mich, als fehle seinem Genie nur ein kongeniales Pendant der Veranschaulichung. Ich weiß nicht, ob er noch ganz klar im Kopf war, ob er im großen Stil bluffte oder alberne Spielchen spielte, aus purer Verzweiflung. Drogen trau ich ihm nicht zu.
Fast tat er mir leid. Dennoch stand ich auf und erklärte, mit solch diffusen Vorgaben bislang leider recht wenig anfangen zu können. (Eigentlich waren sie soo diffus gar nicht, aber sein Gehabe ging mir auf den Sack, und er fickt Kati. Und schlecht.)
Serge sah mich an und hob beide Hände, ein bißchen wie diese potthäßliche Statue in Rio. Am rechten Zeigefinger trug er ein dickes Pflaster. Und plötzlich pinkelte sich Serge in die Hose, seine hellblaue Jeans verfärbte sich dunkel, und rund um seine Füße entstand eine Pfütze. Uns allen stand der Schreck ins Gesicht geschrieben, Fremdscham auch.
Borten beendete das Meeting, vertagte es vielmehr, er bat alle, das Zimmer zu verlassen. Und Serge begann zu schreien. Nur Töne, keine Worte, er kreischte, in enormer Lautstärke, vor sich hin. Man kümmerte sich nicht um ihn, schloß ihn im Zimmer ein und rief einen Notarzt.
Einerseits verständlich, man mußte wirklich Angst vor ihm bekommen.
Andererseits – wir wären fünf gewesen, was hätte er uns schon tun können? Entgegen meinem Vorsatz habe ich Kati eine SMS geschrieben, daß wir uns doch noch mal unterhalten sollten, es sei grad eben mit ihrem Liebsten etwas äußerst Seltsames geschehen. Etwas Alarmierendes. Sie wollte natürlich sofort alles wissen. Und ich hörte ihre Stimme so gern.
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It is twenty years ago today, Sgt. Peppers Band began to play. FUCK! Plötzlich, fünf Minuten vor dem Treffen mit den Dränglern und Zänkern und Stänkern, war mir alles klar. Das Konzept für Passion muß gigantisch und verwirrend werden. Unfaßbar für Menschen nur mittlerer Gangart. Galaktisch. Es muß jedem, der es ansieht, Tränen in die Augen treiben ob der eigenen Vergänglich-/Unzulänglichkeit. Das Frauenbein an sich – der Altar des allzumenschlichen Begehrens, eine Chiffre ewig gültiger Lüsternheit, eine Stufe auf der Jakobsleiter –, hinan mit Goethes Worten, hier ists getan, hier wirds Ereignis.
Eroberung des Alls. Verehrung des Lichts. Das war so klar. So logisch. Ergreifend. Und ich begann zu reden vor den Zänkern und Stänkern und Eseln. Hatte sie schon in der Tasche. Bis einer, der Dümmstbockigste von allen, David Kleinmann, aufstand und Zweifel säte zwischen all die schönen Entwürfe. Um sich auf meine Kosten zu profilieren. Er sehe nichts, er sei blind. Ach, hab ich gesagt und nochmal ach, und ich wollte sagen und sagen, aber da war nichts zu sagen, nichts so schön zu sagen wie zu pissen auf alles, was er sagte, und ich pisste und lachte. Hallelujah. Man muß auch mal Stellung beziehen. Die Stille hinterher – wie ist die einzuordnen? Diese lange Stille.
Das Weihnachtsfest verlief so traurig wie noch nie. Serge ist immer noch nicht ansprechbar. Er ist sehr verwirrt, und die Medikamente scheinen ihn nur zu ermatten. Dr. Borten hat mit mir gesprochen und sich großartig verhalten. So eine Krise komme vor, gehe auch wieder vorbei, bei kreativen Kräften in ständigem Stress müsse man mit derlei rechnen. Es sei sein Fehler gewesen, ihn überfordert zu haben. Wenn Serge sich nur geäußert hätte, einmal etwas gesagt, einmal mit dem Zaunpfahl gewinkt hätte, aber leider … Er rückte dann noch nah an mich heran und forderte mich auf, für Serge da zu sein. Die Frau sei die natürlichste Heilung für den Mann. Ob er Serge eine neue Chance geben würde, fragte ich ihn, und er guckte wie ein Auto. Selbstverständlich, murmelte er, selbstverständlich. Seinen besten Angestellten wolle er doch nicht wegen einer solchen Lappalie verlieren. David ist sich wegen seiner provokanten Haltung keiner Schuld bewußt, und im Grunde kann man ihm auch nichts vorwerfen. Die Krise wäre, sagt der Arzt, sowieso ausgebrochen. Aber ich möchte mit David nicht reden. Nicht, weil ich böse auf ihn bin, sondern weil ich Sehnsucht nach ihm habe. So eine riesengroße Sehnsucht. Es klingt entsetzlich und ist entsetzlich. Weihnachten allein zu sein mit einem kranken Menschen, der mit den Augen rollt und jeden Moment so aussieht, als ob er dich anspucken möchte. Der stundenlang flüstert, gerade so leise, daß man nichts versteht. Oder was von den Beatles singt. Und wenn ich ihn küsse, wendet er sich ab von mir, nennt mich Scheißemama. Ich bin nicht sicher, wie lange ich das durchhalten kann. Die Ärzte raten, man soll im Winter den Kranken Orangen mitbringen. Nicht wegen der Vitamine, sondern wegen der Farbe. Die Farbe der Orange wecke Zuversicht.
In der Probe heute hat Hermannstein über den Chor abgelästert, der einer mitteleuropäischen Hauptstadt nicht würdig sei. Ein guter Dirigent, aber so brutal und gemein. Ich hatte vorher dreimal die Proben für die Gala geschwänzt, unter Ausnutzung aller möglichen Ausflüchte, deswegen mußte ich mitsingen, wenn ich den Job nicht riskieren will. Meine Stimme klingt brüchig und zerfasert, ich habe Angst, daß Hermannstein das raushört und mich vor allen Kollegen zur Schnecke macht, wie es neulich sogar einer Solistin passiert ist. Ich sang schon immer gern im Chor. Es ist das Gefühl, von der Gruppe behütet zu sein, nicht ausgestellt, exponiert, das ich so mag. Mein Ehrgeiz war nie ausgeprägt, aber er entsprach meinem Talent, ich muß mir nichts vorwerfen. Und doch kommt es mir nun so vor, als hätt ich mich in all den Jahren versteckt. Hätte mein Licht unter den Scheffel gestellt – was ist eigentlich ein Scheffel?
Heute ging es Serge viel besser, er nannte mich bei meinem Namen, bat darum, daß ich ihm das Mittagessen mache. Wie er das meine, fragte ich ihn, es bekämen doch alle Patienten dasselbe, entweder das vegetarische Gericht oder das andere. Es komme, sagte er, darauf an, daß ich es ihm bringe, er sagte: kredenze. Das machte mich glücklich. Er nannte mich Liebling und fragte, wie und wo wir ins neue Jahr gehen wollten. Das hab ich dem Arzt mitgeteilt, der runzelte die Stirn und meinte, daß es dauern könne, bis Serge die Klinik verlassen dürfe. Ich wurde pampig, doch wenn ich so drüber nachdenke, geht es mir vor allem darum, Silvester nach der Gala außerhalb der Klinik zu verbringen, mit Serge, irgendwo. Es geht mir um mich, nicht um ihn. Apropos Scheißemama. Ich habe es nie über mich gebracht, ihn über seine Eltern auszufragen, das Thema war tabu. Immer hat er massiv geblockt, wenn das Gespräch darauf gekommen ist. Ich liebe einen mir nur teilweise bekannten Menschen, diese Erfahrung zieht mich zu Boden. Es ist grauenhaft, vernünftig sein zu müssen. Im schlimmsten Fall werde ich für Serge sorgen, das ist klar, aber wie? Ich werde meine Eltern um Unterstützung bitten. David bot sich überraschend an, mir zu helfen, auch mit Geld, sieh an. Doch trau, schau, wem. Er stört.
Ich habe Kati meine Unterstützung angeboten und mußte mir Mühe geben, daß es nicht frivol klang, also hab ich gesagt: Wenn du Unterstützung brauchst, jeder Art, egal wie ich helfen kann, auch mit Geld, komm zu mir. Sie reagierte sehr abweisend, und ihr Gesicht sagte lautlos, daß ich sie ja nur wieder ins Bett kriegen wolle – und leider stimmt das nicht ganz. Ich wünschte, dem wär so. Wie sie denn Silvester verbringen wolle, fragte ich, und sie: Nicht mit dir. Für ihre Verhältnisse klang das beinahe brutal. Nie hat mich eine Frau so verächtlich und herablassend behandelt, jedenfalls keine, die vorher so lammfromm und sanft gewesen ist. Und nie hätte ich mir das gefallen lassen. Mein Bruder, dem ich davon erzählte, meinte denn auch, daß das ja ganz neue Töne seien. Es stimmt. Damit, gescheiterte Beziehungen und Affären schnell abzuhaken, hatte ich nie ein Problem. Aber wenn mich eine Frau in den Wind schießt wegen so einem Wrack wie Serge – naja.
Ich habe mitgesungen, unter Tränen, was hoffentlich niemandem auffiel, das Konzert ging um elf zu Ende, nach völlig unnötigen drei Zugaben, ich nahm ein Taxi zur Klinik und fand einen Serge vor, der lachte, mich umarmte, gar ein wenig Liebe machen wollte. Kurzerhand beschloß ich, daß wir von hier abhauen sollten. Das Personal war mit anderen Dingen beschäftigt, Serge zog sich an, packte sein Zeug, und wir bestiegen den Aufzug, niemand schritt ein. Das neue Jahr wurde eben bejubelt, und sonderbarerweise stand vor der Klinik ein Taxi, dasselbe, mit dem ich gekommen war. Ich nannte dem Fahrer meine Adresse, der Himmel füllte sich mit Feuerwerk, und Serge kicherte immerfort in sich hinein, verhielt sich aber, wenn man so sagen darf, regelkonform. Kaum auffällig, nein, er streichelte meine Schenkel, während wir zu mir fuhren, und daß er Hunger habe, sagte er. Ich hab ihm Brot und Spiegeleier gemacht, die wollte er nicht essen. Zu große Augen hätten die. Er wollte mich, und ich gab mich ihm.
Es ging schnell, und ich dachte an Bortens Worte: Die Frau sei die natürlichste Heilung für den Mann. So fanden wir ins neue Jahr. Zum ersten Mal liebte ich sein Schnarchen, es zählte einzig, daß er bei mir war und gern. Am Morgen kam mir eine Idee, wie Serges Heilung beschleunigt werden könnte. Wir könnten irgendwohin fahren, wo es nicht kalt ist, wo kein Schnee liegt und die Sonne scheint. Das schlug ich Serge vor. Medikamente hat er noch für zwei Wochen. Ich bat ihn auch, sein Tagebuch weiter zu führen, denn ich finde es sinnvoll, daß er seinen Tagesablauf reflektiert und vor sich selbst rechtfertigt. Er ist mit allem einverstanden und nennt mich seine Heldin. Ich habe Freunde in Malta, bei denen wir unterkommen könnten. Sie sind ebenso einverstanden, aber ich habe ihnen nichts über Serges Krankheit gesagt, was wohl nicht in Ordnung ist. Notfalls nehmen wir ein Hotel, ich habe noch dreitausend Euro auf dem Konto, mein Englisch ist gut, wenn gar nichts mehr geht, werde ich arbeiten, als Touristenführerin oder sowas.
Die kurzfristig gebuchten Flüge sind leider recht teuer.
Serge ist heilfroh, aus der Klinik raus zu sein, Krankenhäuser sind ihm verhaßt. Ansonsten ist ihm alles ganz peinlich, er hat Angst, wieder aus der Rolle zu fallen. Zwischendurch dann ist er wieder selbstbewußt, sogar zu Scherzen aufgelegt. Seltsamerweise kamen weder er noch ich auf die Idee, daß er ja auch finanzielle Rücklagen besitzt. So sehr überwog in meinen Augen der Eindruck, es mit einem in jeder Hinsicht auf Hilfe angewiesenen Mann zu tun zu haben. Wir sahen am Bankomaten nach. Sein Guthaben beträgt samt Dispo fast zwölftausend Euro. Wir können uns, ohne zu sparen, ein halbes Jahr Auszeit nehmen. Ich bin sicher, das ist es, was er braucht, und neue Medikamente werden dann nicht mehr nötig sein. Meinen Job an der Oper kann ich haken, aber das ist nicht wichtig, ich komme schon wieder irgendwo unter. Serge liebt es, wenn ich ihm ein Lullaby singe. Er sagt, ich hätte die weicheste, schokoladigste Stimme der Welt, und wenn er sie höre, sei es, als würde auf einem heißen Steak Kräuterbutter schmelzen. Es fließe ineinander, was ineinander gehört. Solche Vergleiche hätte er früher nie benutzt, und sie wirken merkwürdig aus seinem Mund, obwohl an ihnen vorderhand nichts auszusetzen ist.
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Kati hat mich überrascht. Man kann auch sagen, überrumpelt. Sie hat uns Flugtickets besorgt. Nach Malta, in die Sonne. Das soll mir guttun. Sie wollte dann ernsthaft wissen, wie meine Finanzen bestellt sind. Ist das nicht ein wenig indiskret? Ich wußte auch gar nichts über meinen Kontostand. Sie drängte darauf, daß wir gleich zum Bankomaten gehen und nachsehen. Es sei doch, sagte sie, wichtig für unsere Zukunft. Na gut, sie gab keine Ruhe, wir gingen zur Bank, und ich stellte fest, daß ich einschließlich Dispo über fast zwölftausend Euro verfügen kann. Kati wirkte ganz glücklich, fast euphorisch. Das hat mich, wenn ich ehrlich bin, gestört. Soll ich den Aufenthalt auf Malta alleine bezahlen? Wozu? Wozu tut sie das alles? Daß sie ihren sicheren Job an der Oper riskiert, als wäre sowas von keinerlei Bedeutung – ich verstehe es nicht. Sie sagt andauernd, daß alles nur meiner Gesundheit dient. Mir geht es doch wieder ganz gut. Ist es wirklich so wichtig, weit wegzufahren, wo mich niemand kennt und ich niemanden kenne? Kati hat jetzt die Hosen an, und sie liebt mich. Sagt sie. Ich muß ihr vertrauen. Wem kann ich denn vertrauen, wenn nicht ihr? Aber wenn sie mich nur benutzt, um aus ihrem eigenen Leben auszubrechen? Damit ich ihr ein paar Monate in Malta finanziere? Ich will so etwas nicht denken. Und muß es denken. Sie ist romantisch und leichtfertig. Dabei resolut. Sie zwingt mich in ihre Spur, verhält sich, als sei sie meine Mutter. Da rebelliert in mir alles. Vielleicht weiß sie einfach nicht, was sie tut. Ganz sicher ist es so. Sie weiß, daß ich sie liebe. Was ihre Position in Bezug auf mich über Gebühr stärkt. Sie nutzt meine Liebe aus. Alle Frauen tun das. Es liegt in ihrer Natur. Ob es ihnen bewußt ist oder nicht. Wenn es nur um zwei, drei Wochen ginge, müßte sie sich nicht nach meinen Vermögensverhältnissen erkundigen. Oder?
Kati hat mir eine Mail geschrieben: Fahre mit Serge für einige Zeit ins Ausland. Schick mir bitte keine SMS mehr. Gruß K.
Serge hat sich einfach aus der Klinik geschlichen, hat mir Borten erzählt, der es vom Chefarzt weiß. Dabei hätte man sowieso keine rechtliche Handhabe gehabt, ihn gegen seinen Willen dazubehalten. Alle, die Serge kennen, sollen ihm das sagen. Er soll sich melden, damit die Medikation weitergehen kann. Ich habe Kati gebeten, ihm das auszurichten. Borten meinte zu mir, es tue ihm sehr leid, er habe ein schlechtes Gewissen, aber er müsse Serge vielleicht doch kündigen. Wenn er nicht bald komplett wiederhergestellt sei und sich zur Arbeit melde. Wirtschaftliche Zwänge, so sei das Leben, rücksichtslos und grausam. Das habe ich Kati aber nicht erzählt. Die beiden sollen sich erst mal zwei Wochen entspannen, dann sieht vielleicht alles schon wieder ganz anders aus.
Kati zuliebe nehme ich die Tabletten weiter, obwohl ich glaube, daß sie meine Gedanken unterdrücken. Seit wir hier sind, ist in meinem Kopf nichts los, ich trage ein fettes Vakuum zwischen den Ohren spazieren, ein schwarzes Loch, das alles, was ich sehe und empfinde, aufsaugt und in Nichts verwandelt. Es ist, als wär ich nicht vor Ort. Mein Körper geht spazieren und sieht Dinge und meldet irgendeiner Instanz in mir, daß das an sich ganz hübsch sei, genossen werden müsse. Kati mag seltsame Häuser. Und ich – was von mir übrig geblieben ist – antworte: Jaja, und lenke meinen Körper dahin, dorthin. Wirklich seltsame Häuser. Es ist sonnig, zwölf Grad plus, wir wohnen bei Katis Freunden im Gästezimmer, schlafen auf einer aufblasbaren Matratze, was unbequemer klingt, als es ist. Greta und Ralf, so heißen die beiden, keine Ahnung, woher Kati die kennt, arbeiten hier für einen Pokerserver, in der Kundenbetreuung. Ich habe nie Poker gespielt und weiß nicht, was das für ein Job ist. Die Leute leben von weißgottwas. Geht mich auch nichts an. Ich bin freundlich gewesen, vielleicht etwas schweigsam. Was soll ich denn sagen? Wir waren in einem angeblich guten Restaurant, Greta sagte, es sei auf der Insel mit das beste. Kati bat mich, die Rechnung zu übernehmen, das gehöre sich so, weil die beiden uns bei sich aufgenommen hätten. Das wird seine Richtigkeit haben. Die alten gelben Busse hier haben mir gefallen, und als ich das erwähnte, sagte Ralf, man habe eben beschlossen, sie bald abzuschaffen. Der mag mich anscheinend nicht. Wie kann man auf Malta die alten gelben Busse abschaffen, deren Miniaturausgabe jedes Kind im Souvenirshop kaufen kann? Das ist doch idiotisch. Das Essen im Tarragon, dem angeblich besten Restaurant der Insel, war teuer, aber wohl okay, ich schmecke nicht viel, das kommt von den Tabletten. Wenn wir abends allein sind, Kati und ich, sehen wir uns DVDs an, aus der großen Sammlung von Greta und Ralf, obwohl man über Satellit deutsches Fernsehen empfangen kann. Kati will nicht deutsch fernsehen, dazu sei sie nicht nach Malta gekommen. Wozu sind wir denn nach Malta gekommen? Ist sie nicht wegen mir nach Malta gekommen? Ich war beleidigt, weil ich die Tagesschau sehen wollte. Allerdings hatte ich nicht laut gesagt, daß ich die Tagesschau sehen wollte. Ich vermeide es, gegenüber Kati laut zu werden. Sie könnte es für einen Rückfall halten. Greta und Ralf arbeiten meistens in der Nachtschicht. In ihrer Freizeit gehen sie in eins der vier Spielcasinos der Insel und zocken an den Pokertischen. Sie wollten mich überreden, sie einmal zu begleiten, aber ich verstehe doch gar nichts davon. Kati ging aber mit, als würde sie was davon verstehen. Geselligkeit, hat sie gesagt. Und mich hier allein gelassen. Keine drei Tage hier, und schon überläßt sie mich einer zugegebenermaßen umfangreichen DVD-Sammlung. Ich hab mir die Tagesschau angesehen. Deutschland leidet unter dem schlimmsten Winter seit 1978/79. In vielen Städten herrscht Mangel an Streusalz, und Fußgänger ziehen sich Knochenbrüche zu. En Masse. Siehste, würde Kati sagen, da ist es doch umso besser, daß wir hier sind, im Warmen, fünf Minuten vom Meer, und noch gebe es die alten gelben Busse ja, nächstes Jahr vielleicht schon nicht mehr. Sie dreht es immer so hin, daß alles gut ist, wie es ist. Als müsse man auf die Knie fallen vor Dankbarkeit. Jetzt, weit nach Mitternacht, sind die drei immer noch nicht zurück. Greta und Ralf werden zur Arbeit gegangen sein, also was macht Kati da draußen alleine?
Ich sehe mir eine DVD an, Man on Wire, über einen Typen, dessen Lebensziel es war, zwischen den Twin Towers ein Seil zu spannen, heimlich, heimlich, und darauf spazieren zu gehen. Auf was für Ideen Leute kommen. Irgendwie hat ers auch noch geschafft, bevor die Flugzeuge in die Wolkenkratzer krachten. Das ärgert mich. Obwohl die Story beeindrucken müßte, macht sie mich neidisch. Ich bin so elend, so hundeeinsam, jetzt höre ich einen Schlüssel, der sich im Schloß dreht, wie ein Messer in einem verhaßten Bauch, wie ein Flugzeug in einem Wolkenkratzer. Kati beugt sich über mich, streichelt meine Stirn, ich sage: Danke, Schatz. Nein, ich höre, wie etwas in mir das sagt. Ich selbst würde was ganz anderes sagen. Ich hab mich so gut amüsiert, du hättest, sagt Kati, mitkommen müssen. Immer Vorwürfe. Immer mir vor Augen halten, daß ich nicht wie die anderen funktioniere. Aber dank der Medikamente weiß ich, daß ich nicht wie die anderen funktioniere, diese Tabletten demotivieren mich wirklich, ich sollte sie nicht mehr nehmen. Nur Kati zuliebe – und es macht ja Sinn, Kati soll mich liebhaben, ich habe ein wenig Zuwendung verdient vor dem Tod. Morgen stürz ich mich vom Felsen, in die spritzende Gischt. Das ist eine gute Idee. Und nur, weil es Kati gibt, denk ich endlos dran herum. Sie ist der Klotz an meinem Bein. Mein Engel. Mein Alles, was ich noch habe. Sie klebt wie Scheiße an meinem Schuh, sie wacht über mich, ich liebe sie. So viel tut mir leid. Es ist unerlaubt in meinem Kopf. Jetzt schläft sie. Mondschein fällt durchs Fenster, und ich schnüffel rum in ihrem Haar. Das natürlich eine Maske ist, eine Tarnung. Klar. Ich säh ihr gern von Ohr zu Ohr. Morgen oder übermorgen, hat sie noch gesagt, besuchen wir eine Kirche, die schönste Kirche der Welt. Das bist du doch selbst, hat was in mir gesagt – und Kati lächelte mich an, sie zeigte ihre weißen Zähne, von einem Hai kaum mehr zu unterscheiden. Gott, sie ist so schön, wie kann sich jemand an ihrer Seite unwohl fühlen? Deplatziert? Sie krampfhaft zu vergöttern, ist der falsche Weg. Ich liege wach neben ihr, die ganze Nacht. Um halb sieben Uhr morgens kommen Greta, die Blonde, und Ralf, der Dünne, von ihrer Schicht zurück, kochen Kaffee, ach wär das schön, wenn der Kaffee da wär, die beiden aber nicht, ich würde laufen und im Laufen heißen Kaffee in meine Mundhöhle füllen, wie irgendein Neandertaler.
Der Aufenthalt auf der Insel hat Serge vom ersten Tag an gutgetan. Er ist ganz ruhig und freundlich, sagt nicht viel, starrt in die Sonne. Verhält sich auch zu unseren Gastgebern höflich. Gerne steht er am Meer und betrachtet die Gischt.
Mitten zwischen den Altbauten gibt es Häuschen, aus riesigen unverputzten Ytong-Blöcken gebaut. Das müßte häßlich aussehen, tut es aber nicht, die Gebäude wirken wie eine Mischung aus Atombunker und Burg, strahlen Stolz und Heimeligkeit aus.
Tun sie das? fragte Serge. Ihm kam es so vor, als seien Stolz und Heimeligkeit nicht die naheliegendsten Begriffe bei derlei Gebilden. Ich kann mich nicht sattsehen an den schmalen bunten Holzbalkonen, eigentlich eher Wintergärten aus Holz, die wie Schwalbennester an die Hausmauern angeklebt wirken.
Die ganze Stadt, bis auf Werbeflächen, ebenjene Balkone und ein paar ganz neue Gebäude, strahlt bei Sonnenlicht ein beruhigend monochromes Sandsteinbraun aus, das nur an manchen Stellen ins Morbide übergeht, genau dort, wo die Architektur monströse, ja phantastische Züge annimmt, als sei sie Piranesis Carceri-Zeichnungen entliehen. Es gibt riesige Häuser, ja Paläste, in deren Mitte ein Nichts gähnt. Über diesem Nichts finden aber steinerne Brücken Zugang zu anderen Häusern und Palästen, während viele Meter über diesen Brücken ganze Stockwerke noch bewohnt scheinen (vor ihre Fenster war zu trocknende Wäsche gespannt), obwohl sie über einem Abgrund hängen und nach meinem Empfinden längst hinabgestürzt sein müßten.
Abends sehen wir DVDs, und als Serge einmal die Tagesschau gucken wollte, riet ich ihm davon ab. Wozu Bilder aus Deutschland hierherholen? Erst war er etwas mürrisch, aber dann verstand er mich. Ich habe Greta und Ralf gesagt, was mit ihm nicht stimmt, also, daß mit ihm etwas nicht stimmt, sie reagierten wundervoll, vielleicht nahmen sie es auch nur auf die leichte Schulter. Die beiden sind keine sehr ernsthaften Menschen, spielen Poker, arbeiten für einen Onlinepokerserver, im Grunde sind sie Kinder Mitte dreißig, die sich hier eine lustvolle Existenz aufgebaut, Hobby und Beruf verbunden haben. Sie vögeln ein wenig laut, meistens am Nachmittag, aber deswegen kann ich sicher nicht zu ihnen hingehen und sagen, laßt das mal. Wir waren essen im Tarragon in St. Pauls Bay, und Serge lud uns alle ein, nachdem ich ihm einen kleinen Hinweis gegeben hatte. Er tat etwas empört, zum Spaß, so in etwa, wie er das finden soll, daß ich ihn darauf extra hinweisen würde, das verstehe sich doch von selbst. Nachts schläft er unruhig, und manchmal gar nicht, dann steht er auf, geht zum Fenster, um eine zu rauchen, womit er wieder angefangen hat, weil Greta und Ralf rauchen. Bitte sehr, wenn es ihn beruhigt. Nur einmal gab es eine kleine Szene, den Anflug einer Szene, als Ralf nämlich erwähnte, daß die alten gelben Busse bald abgeschafft werden. Da bemerkte ich einen kurzen Anfall von Wut und Ekel in Serges Mimik, beinahe wie bei einem zornigen Buben. Aber er drehte sich weg und sagte nichts. Tagsüber machen wir lange Spaziergänge, so ab zehn, wenn Greta und Ralf noch schlafen. Gegen eins dann stoßen sie zu uns, sind wirklich perfekte Gastgeber, haben Freude daran, uns die schönsten Stellen der Insel zu zeigen. Gestern Abend wollten sie in eins der Casinos und luden uns ein, sie zu begleiten. Serge wollte nicht, er sagte, er verstehe davon nichts. Ich verstehe davon ja auch nichts, aber man kann sich ja mal was Neues gönnen, bevor man es ablehnt. Das hab ich ihm so gesagt, und er: Geh nur, geh nur, ich kann mich auch mal einen Abend mit mir selbst beschäftigen. Wirklich? Jaja. Na gut. Vielleicht brauchte er seine Ruhe, ich ging also mit Greta und Ralf ins Dragonara, das ist das größte Spielcasino, auf einer Landzunge in St. Julians gelegen und schwefelgelb bestrahlt in der Nacht. Die beiden setzten sich an einen Pokertisch, damit machen die ein gutes Drittel ihres Einkommens, ich wußte gar nicht, daß sie in der Szene so etwas wie Koryphäen sind. Während sie spielten, sah ich etwa eine Stunde zu, und Greta flüsterte mir dauernd was ins Ohr, versuchte mir die Regeln zu erklären, sah dann aber irgendwann ein, daß das so en passant nicht funktioniert. Ich fing an, im Casino herumzuspazieren. Das Dragonara, erzählte Greta, sei noch vor wenigen Jahren ein stilvoll morbides, leicht heruntergekommenes Casino gewesen, das in jüngster Vergangenheit kaputtrenoviert worden sei, das allen Charme, alle Patina verloren habe und dennoch – oder gerade deswegen – seither ungeahnten Zulauf erhalte. Als hätten die Architekten den Geschmack des Proll-Publikums getroffen. Alles sei nun viel zu hell, zu steril, zu geschniegelt. Wo vorher Gelb, Gold und rötliche Farben dominierten, sei es nun das Dunkelblau der Sessel, das Grau des Teppichbodens und das Plastik-Weiß der mit Videokameras gespickten, tiefergelegten Decke. Ich kann mich dieser Meinung nur anschließen. Links und rechts der Eingangstür standen zwei alberne, ja peinliche pseudoägyptische Statuen. Es wurde ein Foto von mir gemacht, und ich bekam eine Players-Card, der Form nach einer Kreditkarte ähnlich und zehn Jahre gültig. Jeder Gewinn muß auf der Players-Card abgespeichert werden, bevor man damit zum Cashier geht. Der Bank ist es so möglich, das Spielverhalten ihrer Kunden bis ins Detail nachzuverfolgen. Ob Serge sich hier wohlgefühlt hätte?
Den überbelichteten Spielsaal umstellen Marmorsäulen primitiver Machart, die man eher im Wellnessbereich eines stillosen Hotels erwarten würde. In den Seitensälen gibt es viele einarmige Banditen, aber ohne die charakteristischen Hebel. Eigentlich armlose Banditen, die nur noch auf Knopfdruck funktionieren. Es gibt auch zwei abgetrennte Raucher-Bereiche. Auf etlichen Bildschirmen im Gebäude liefen Fußballspiele der italienischen Seria A.
Ich schmiss ein bißchen Kleingeld in die Banditen und gewann, ohne daß ich wüßte warum, zwanzig Euro, damit ging ich an die Bar und leistete mir einen Cocktail, einen Erdbeer-Daiquiri. Die Bar war schön, besonders die wuchtige Kassettendecke, deren Intarsienmalereien der Rauch der Jahrzehnte beinahe unkenntlich gemacht hat. Hier war noch ein wenig von der viktorianischen Grandezza zu spüren, die Greta erwähnt hat.
In der Bar gab es eine schmale, ringsum verkleidete Wendeltreppe aus Mahagoni, mitten im Raum, die irgendwohin führte, man konnte nicht erkennen, wohin, vielleicht nirgendwohin. Mysteriös.
In dem Moment wünschte ich mir, ich dürfte rauchen. Ich habe mal geraucht, als Teenager, habs mir dann abgewöhnt, als ich beschloß, Sängerin zu werden. Und seltsamerweise bot mir, gerade als ich drüber nachdachte, der Mensch neben mir eine Zigarette an, als hätte er meine Gedanken lesen können. Es war ein Malteser, um die fünfzig, braun gebrannt und kräftig, in Jeans und rotem T-Shirt, er trug braune Slipper dazu, was nicht paßte, aber er grinste ständig ohne Grund. Wir gingen drei Schritte weit auf die Terrasse, rauchten (ich paffte mehr) und unterhielten uns ein wenig auf Englisch. Er wollte wissen, ob ich Touristin bin oder auf Geschäftsreise, und ich weiß nicht, was mich trieb, zu sagen, daß ich nur halbe Touristin sei, daß ich vielmehr jemanden betreuen müsse, der aus Gesundheitsgründen ein paar Wochen hier verbringt. Dann sind Sie eine Krankenschwester – So you are a nurse? Hat er gefragt. Und ich, No he is my friend and a little bit crazy. Dann er: Crazy or not, he must be a lucky guy. Das ging über die Unverbindlichkeit ein wenig hinaus, und ich war froh, daß Greta und Ralf vorbeikamen. Sie hatten drei Stunden gezockt und zusammen hundertfünfzig Euro erwirtschaftet. Immerhin. Sie aber sprachen von einem schlechten Lauf und müßten nun zur Arbeit, ob ich mich amüsiert hätte? Jaja, sagte ich. Und der Typ am Bartresen hob sein Glas und nickte mir zu, irgendwie verschwörerisch, verrucht. Ich nickte kurz zurück und ging mit Greta und Ralf, wir nahmen ein Taxi, das mich bei ihrer Wohnung absetzte. Es war grad Mitternacht, ich wollte noch nicht heim. Die beiden Cocktails, die ich getrunken, die beiden Zigaretten, die ich geraucht hatte, machten mich gefühlvoll und elastisch. Vollmond war auch. Es wehte ein kühler Wind und ich war zu leicht bekleidet, dennoch ging ich bis zum Meer und sah dem Toben der Wellen zu. Immer, wenn ich aufs Meer sehe, denke ich, wie fantastisch es ist, am Leben zu sein, jetzt, in dieser ungefährlichen Zeit, ausgerechnet als Mensch auf die Welt gekommen zu sein, in Mitteleuropa, wenn man gesund ist und noch relativ jung und ein wenig intelligent, nicht völlig mittellos. So viel Zufall muß gefeiert werden. Ich war froh, keine Zigaretten bei mir zu tragen, ich hätte mir das Rauchen sonst angewöhnt. Wir verbrennen alle im großen Feuer, die einen leuchten, die anderen stinken, sagt Serge immer, und ich fand es plötzlich so folgerichtig, so überzeugend, selbst etwas in der Hand zu haben, das verbrennt, mit jedem Atemzug ein wenig mehr, ich fand mich plötzlich betrunken und fror. Lief den halben Kilometer zu Gretas Wohnung im Dauerlauf. Drinnen wars dunkel, aber Serge schlief nicht, er saß auf der Matratze, eine Hand unterm Kinn, wie der Denker von Rodin. Ich streichelte seine Stirn, er sagte: Danke, Schatz. Das streichelte mein Herz. Ich hab mich so gut amüsiert, du hättest mitkommen müssen, flüsterte ich in sein Ohr. Er brummelt was, vergräbt den Kopf im Kissen. Morgen besuchen wir eine Kirche, die schönste Kirche der Welt. Ich hatte solche Lust zu reden, schöne Dinge vorherzusagen. Das bist du doch selbst, sagt da Serge. Die schönste Kirche der Welt. Ein Mann, der so etwas zu einem sagt, verdient die Liebe. Schnell und überaus glücklich schlief ich ein.
Heute waren wir in der St. Johns Cathedral und sahen uns das einzige Gemälde an, das Caravaggio je signiert hat, die Enthauptung des heiligen Johannes. Kati kriegte sich kaum mehr ein, so schön fand sie die Kirche mit ihren vielen Kreuzgewölben und den sehr bunten, allzu bunten, beinah Comic-haften Gräbern, Marmormosaiken, die nebeneinander den Boden pflastern. Lückenlos. Dauernd tritt man auf wen, der unbedingt posthum auf sich hinweisen wollte. Der nicht versöhnt zu gehen gedachte und still. Der Farbrausch ist, verbunden mit dem Thema Tod, ungewohnt, von daher rührt wohl die Faszination des Gebäudes. Kati fand es toll, sie tänzelte über den Leichen, ganz so, als würde sie selbst nie zu einer werden. Vielleicht mögen es die Toten, wenn schöne Frauen auf ihnen tanzen. Wahrscheinlich ist es ihnen egal, weil ihnen das Hören und Sehen vergangen ist, ein für allemal. Kati sagte was von, wie fantastisch es sei, am Leben zu sein, jetzt, in dieser ungefährlichen Zeit, ausgerechnet als Mensch auf die Welt gekommen zu sein, in Mitteleuropa, wenn man gesund ist und noch relativ jung und ein wenig intelligent, nicht völlig mittellos. Ich nahm das als Aufforderung, mehr Lebensfreude auszustrahlen. Hatte ich keine Lust zu. Dabei hat sie im Grunde recht. Ich bin kein witziger Mensch, Bonmots fallen mir grundsätzlich erst ein, wenn ich wieder zu Hause bin, ich kann mir keine Anekdoten merken und Ideen habe ich, wenn überhaupt, dann nur am Schreibtisch, wenn es still um mich her ist oder leise Musik läuft. Eine Frau, die damit nicht klarkommt, die vor Freunden gern mit mir angeben möchte, stürzt mich in eine verzweifelte Situation. Denn ich leide darunter, ihr in diesen Momenten nicht dienlich sein zu können mit Charme und Esprit und sozialer Intelligenz. Eine Zeit lang hab ich versucht, mir schöne Aphorismen und gelungene Witze in ein kleines Büchlein zu schreiben, auch sogenanntes unnützes Wissen und Kuriosa aus aller Welt, das lernte ich dann auswendig, und wenn sich die Gelegenheit ergab, streute ich was davon in den Smalltalk. Aber das wirkte kindisch auf mich, ich möchte auch nicht, daß eine Frau mir was vortäuscht. Ich möchte geliebt werden, fühle zugleich, wie wenig ich zu bieten habe. Ich kann Kati weder zu einem Orgasmus noch zum Lachen bringen. Manchmal schaff ichs, daß sie kichert. Warum gibt sie sich so viel Mühe mit mir? Wo sie so wenig von mir bekommt. Und dann denke ich, so wenig ist es auch wieder nicht, eine schöne Zeit auf Malta, meistens bezahle ich für alles, und wenn ich betrunken bin, fallen mir krude Komplimente für sie ein, eigentlich fallen sie mir aus dem Mund, wie schlechtes Essen, das der Bauch nicht akzeptiert hat. Jemanden wie Kati hab ich nicht verdient, und sie hat niemanden wie mich verdient. Es wäre eine Geste echter Liebe, sie zu verstoßen. Damit sie was Besseres bekommt als mich. Dann wieder denk ich, naja, sie kann auf so viele stoßen, die schlimmer sind als ich. Der Notbehelfsgedanke aller Mittelmäßigen. Sie sinkt in meiner Achtung, mit jedem Tag, an dem sie länger mit mir zusammen ist. Und ich bin froh um jeden jener Tage, jede Stunde, jede Sekunde ist heilig. Wahrscheinlich will ich nur einfach nicht alleine sein. Aber das hieße, Kati herabzuwürdigen, als könne sie durch einen treuen Hund passabel ersetzt werden. Ich liebe sie und hasse mich, und manchmal hasse ich uns beide. Wird das jemals irgendwer verstehen? Übrigens hat man uns für den Eintritt in die Kirche pro Kopf sechs Euro abverlangt. Frechheit.
*
Wir waren in der St. Johns Cathedral, Greta und Ralf konnten mit dem Gebäude nicht arg viel anfangen, nannten es so lala, ganz nett, ein bißchen überladen, während mich die farbenfrohen Grabplatten beinah euphorisch stimmten. Ich fühlte mich leicht, beschwingt, war kurz davor, zu tanzen, doch Serge legte mir einen Arm auf die Schulter, wie um mich drauf hinzuweisen, wo wir sind. Er störte sich an meiner Exaltiertheit, völlig zu Recht. Ich bin kein junges Mädchen mehr. In einem Nebenraum sahen wir uns Caravaggios Enthauptung des heiligen Johannes an, und wie stolz war ich auf Serge, der uns beiläufig, nicht wie jemand, der protzen möchte, mit Hintergrundwissen übergoß. Er erklärte uns die revolutionäre Chiaroscuro-Technik des Malers, er wußte auswendig, wann das Gemälde entstanden war, 1607 nämlich, ich prüfte das im Katalog gleich nach, es stimmte exakt. Serge erwähnte auch einiges Wissenswerte über die (homo-)sexuellen Vorlieben des Malers und weswegen es ihn nach Malta verschlagen hatte, nämlich aufgrund einer Wirtshausrauferei, die mit einem Toten endete, Caravaggio mußte fliehen aus Rom und fand Zuflucht bei maltesischen Klosterbrüdern, für die er dieses Gemälde malte. Serge ist ein wandelndes Lexikon, und ich bemerkte, wie Greta und Ralf sich unwohl zu fühlen begannen, weil sie, die auf dieser Insel zu Hause sind, sich offensichtlich nie Gedanken über die Kathedrale gemacht haben. Neben Serge wirken Durchschnittsmenschen, ich will damit um Gottes willen nichts gegen Greta und Ralf sagen, so blaß und unbeleckt. Manchmal habe ich Schwierigkeiten damit, eine überzeugende Antwort zu finden, auf die Frage, warum jemand wie Serge sich mit jemandem wie mir zufrieden gibt. Ich kann viel von ihm lernen. Was umgekehrt könnte er von mir je lernen? Wir wollten an den Strand, leider blies uns ein heftiger Wind ins Gesicht. Ich schätze an Serge so sehr, wie schweigsam er sein kann, wo es nichts zu sagen gibt. Und wie er da stand, im Sand, im Wind, ganz, als sei er nicht von dieser Welt, liebte ich ihn ungeheuer. Greta und Ralf quatschten dauernd über Pokerblätter. So ermüdend. Das merkten sie bald selbst, begannen übers Wetter zu reden. Wie alte Leute. Ich sah den Ekel auf Serges Mund. Und litt mit ihm. Ich möchte seine Gefährtin sein in der Gefahr. Er traut mir nicht.
Kati funktioniert sehr einfach, wie ein Münzautomat. Man muß oben etwas einschmeißen, zum Beispiel: Ich liebe dich, ich brauche dich, du bist mir wichtig! – Schon wird sie unten feucht/freigebig. Das meine ich nicht so grob, wie es klingt, obwohl es auch auf jenem Niveau stimmt, leider. Sie bezieht, glaube ich, eine gewisse Erregung aus dem Umstand, gebraucht zu werden, nützlich zu sein. Sie leidet unter einem typischen Helfersyndrom, was die Hilfe, die sie mir bietet, in ihrem Wert – und in meiner Wertschätzung – relativiert. Immer muß ich denken, sie täte, was sie für mich tut, letztlich nur für sich selbst. Was genau hat sie denn sonst davon? Ich bin so ungerecht. Prompt empfinde ich gewaltige Reue, Kati solch egoistischer Motive zu verdächtigen. Jemand wie ich ist doppelt geschlagen. Ich weiß, was mit mir nicht stimmt, und wenn mir jemand hilft, reagiere ich paranoid, als wolle mich jemand bestehlen, wo doch, seien wir ehrlich, bei mir kaum was zu holen ist. Ich bin Müll und werde, wenn man mich einmal verbrennt, ein Sack voll grauer Asche sein. Die füllt man dann in eine Urne, und alles, was da einmal war, ist platzsparend untergebracht.
Ich kann Kati nicht lieben, solange ich krank bin. Ihr das zu sagen, wäre unhöflich. Manchmal wünsch ich sie weg, damit ich den letzten Felsen endlich betreten kann, und dann bin ich wieder so froh, daß sie mir ein Händchen hält, meiner Angst ein wenig – wenn auch sehr naive – Zuversicht beimischt. Liebe kann Belastung sein. Ich will nicht, daß Kati mich begleitet. Und wäre doch todtraurig, wenn sie geht.
Zwischen den Felsen lungern Katzen, durch Räude ausgezehrt, kaum Fleisch zwischen Haut und Knochen, sie sehen mich aus trüben Augen an. Nur vereinzelte Büschel Fell sind ihnen geblieben, sie haben eine Halbwertzeit von Tagen, nicht Wochen, sie symbolisieren alles Kranke dieser Welt, doch auch den Willen, dem Tod noch Zeit abzutrotzen, nicht freiwillig zu krepieren, die renitenten Viecher genießen mein Mitgefühl, ich bin sentimental, gönne jeglichem Leben den Wunsch nach mehr davon. Es ist großartig genug, einfach da zu sein, wo so viele andere längst tot sind.
Ein heftiger Wind biegt die Araukarien, jene ulkigen Bäume, mit denen Riesen ihre Pfeifen putzen. Von den Hinterhöfen der Kneipen her weht der Geruch von auf offenem Feuer gebratenem Fisch.
Was mich nervt, sind diese beiden netten Idioten, die dauernd über Poker reden und mit welchen Blättern sie im Casino knapp – immer ganz knapp und ungerecht – gescheitert sind. Es scheint ihnen nicht klar zu sein, daß weder Kati noch ich einen blassen Schimmer davon haben, worüber die beiden reden. Die sagen Zeug wie, sie checken nach einem Reraise und waren sucked out, under the gun, mit dem dritten König nach dem Turn gegen einen Nut-Flush-Draw und mußten wegen des Small Stacks All-In. Oder so ähnlich. Was soll das? Sie leben in einer ganz eigenen Welt, sind seit neun Jahren zusammen und glücklich miteinander. Das Wort Idioten nehme ich zurück. Sie sind sogar intelligent, lesen Bücher, aber, wie soll ichs sagen, sie existieren auf eine so schnippisch-kindliche Weise, haben einfach keine echten Probleme, das ist kaum auszuhalten. Diese Greta, eine kurvige Blondine mit enormem Vorbau, scheint von der halben maltesischen Männerwelt angeschmachtet zu werden. Sie ist witzig und freundlich. Es scheint so, als imponiere ihr mein komplettes Desinteresse an ihrem Körper. Ralf, der Schlacks mit der Retro-Hornbrille, soll, so heißt es, hin und wieder ausrasten am Pokertisch, weshalb er in zwei der vier Inselcasinos Hausverbot hat. Das macht ihn ganz sympathisch, aber eifersüchtig ist er wie Othello und beäugt mich mißtrauisch, kann nicht glauben, daß irgendjemand seiner Greta nicht sabbernd hinterherlaufen würde. Umgekehrt findet er, daß Kati zu mager ist, und fordert sie regelmäßig auf, mehr Kohlehydrate zu futtern, als wäre er ihr Arzt. Wir haben einen Ausflug nach Mdina gemacht. Viele alte schmucke Häuser standen dort und ein Folter-Museum, das das Eintrittsgeld kaum lohnte. Danach saßen wir auf den Klippen, hatten Brot und Wurst und Käse gekauft, auch ein Glas Essiggurken und sehr scharfen Senf, haben Picknick gemacht. Das hat mir gefallen, hat mich an Urlaube meiner Jugend erinnert. An die Zeit, als alle Zukunft vor mir lag, ein Zauberreich voller Verheißungen. Als man noch glaubte, Talent und Geduld seien ein unschlagbares Team auf dem Weg zu Reichtum und Ruhm. Wir sahen einen überfahrenen Igel, ich nahm einen Ast und stocherte in seinen roten Gedärmen, störte das Festmahl der Fliegen, was Ralf sonderbar fand. Kann ihm doch egal sein, was soll das? Jemand wie Ralf hat kaum das Recht, mich sonderbar zu finden, wo er doch recht wenig über mich weiß. Ich nahm Kati beiseite und schlug vor, ins Hotel zu ziehen. Sie meinte, das sei Quatsch, koste zu viel Geld, was mich denn stören würde? Und ich wußte nichts zu antworten. Es stört mich viel, doch ich weiß nicht was, beziehungsweise, ich weiß ganz genau, was, aber für, sagen wir, normale Menschen zählt das nicht als Argument. Vielleicht liebe ich Kati wirklich so sehr, wie ich es mir eingeredet habe. Ich bemühe mich, halte still. Erinnere mich der urältesten Scherze. Für wen, wenn nicht sie?
Wir unternahmen vorgestern einen Ausflug nach Mdina, sahen uns das Folter-Museum an, das einen sehr beklemmenden Eindruck auf mich machte. Immer wieder staune ich, was Menschen Menschen antun können, sind sie nur von einer Idee beseelt, die sie ins Recht setzt, über alle Mechanismen des natürlichen Mitgefühls hinweg. Serge hat viel über Napoleon erzählt, der Malta von der Inquisition befreit hat. Angeblich. Gab es so spät noch die Inquisition? Das muß ich mal googeln. Später saßen wir auf den Klippen, sahen aufs Meer und machten uns Brote. Serge wirkte sehr gelöst und riß Witze, wie hat mich das gefreut. Beim Rückmarsch zur Busstation entdeckte er einen überfahrenen Igel, fühlte sich zu dem irgendwie hingezogen, ich kann es anders nicht sagen, er schien ganz verliebt in den platten Kadaver und voller Forschungsdrang. Ralf hielt sein Mundwerk nicht im Zaum, ließ irgendeine Bemerkung fallen, auf der Stirn von Serge entstanden Gewitter, er zog mich beiseite, wir sollten ins Hotel ziehen, schlug er vor. Ich konnte ihn umstimmen, mit einem Hinweis auf die Kosten, die uns dadurch entstünden. Die Situation ist gereizt, und ich grüble, weswegen. Abends saßen wir auf der Terrasse, tranken Wein und spielten Backgammon. Greta und Ralf wollten uns Unterricht geben, dabei ist das Spiel ganz simpel, ich hatte die Regeln binnen einer Viertelstunde kapiert und gewann auch gleich die erste Partie, gegen Ralf, der sich darüber echauffierte, mit etlichem Gestöhn, mimischem Aufwand und Sprüchen, von denen ich die meisten nicht verstand. Serge, der nur zusehen, nicht selbst spielen wollte, blaffte Ralf an, ob er nicht wie ein Gentleman verlieren könne. Ralf verteidigte sich, er habe doch bloß Spaß gemacht. Greta rettete die Situation, sagte, das gehöre zum Spiel dazu, Backgammon sei im Endeffekt eine komplexe Variante von Mensch-ärgere-dich-nicht. Und Mensch ärgert sich halt doch. Wir tranken viel Rotwein, und ich dachte mir nichts dabei. Erst als um Mitternacht Greta und Ralf zur Arbeit aufbrachen und schon leicht labil wirkten, kam mir das seltsam vor. Können die ihren Job angeschickert ausüben?
Was müßt ihr denn da eigentlich genau machen? Fragte ich. Und sie erklärten mir das. Originalton Greta: »Die korrekte Berufsbezeichnung ist Sysop, Kurzform von System Operator, und wir sind zuständig für alle nervigen Kunden, Spackos, Kotzbrocken und gelangweilten Deppen dieser Welt.« Pokerspieler aus 150 Ländern spielen online bei ihrem Server, und die beiden sind für die Kundenbetreuung zuständig, hören sich Beschwerden an, schalten Konten frei oder eben nicht, wenn der Spieler das Limit seiner Kreditkarte überzogen hat. Meistens müssen einfach nur aufgebrachte Spieler beschwichtigt werden, weil sie nach einer schwarzen Serie (dem Suckout) an Betrug seitens des Servers glauben. Ich fragte, ob ein Betrug denn technisch möglich wäre, und Greta antwortete etwas ausweichend. Es gebe manchmal sogenannte Collusion-Fälle, heißt, Leute sitzen zusammen am virtuellen Tisch und zeigen einander ihre Blätter, verbünden sich gegen die Mitspieler. Karten zu manipulieren sei so gut wie unmöglich. Das Thema schien ihr unangenehm zu sein, ich hatte das Gefühl, sie wollte mir nicht alles sagen. Serge und ich gingen zu Bett, und ich teilte ihm meinen Eindruck mit. Er sagte, na klar, was Greta mir nicht habe sagen wollen, habe sicher damit zu tun, daß man Überweisungen per Kreditkarte rückgängig machen könne, während das überwiesene Geld längst verzockt sei, und es wäre für solche Firmen ein viel zu großer Aufwand, in jedem Fall vor Gericht zu gehen. Aha. Er moserte dann noch eine Weile herum über Menschen, die ihre Zeit auf Erden mit solchem Tand verschwenden. Es klang sehr arrogant, beinah ein wenig neidisch und gegenüber großzügigen Gastgebern unpassend. Wir hatten den ganzen Abend über guten Shiraz auf deren Kosten getrunken. Als ich ihm das sagte und hinzufügte, daß wir uns morgen revanchieren müßten, drehte er mir den Rücken zu und tat, als würde er schlafen. Ich möchte lieber nicht wissen, was in ihm vorgeht. Dachte ich. Und wüßte es jetzt doch ganz gern. Sein Schnarchen jetzt scheint aber echt. Sonst wärs eine Gemeinheit.
Das Licht ging an, und ich erwachte prompt. Mein erster Blick galt dem digitalen Wecker, es war kurz vor vier. In unserem Zimmer standen zwei Männer mit Skimasken, einer von beiden schwang einen Baseballschläger über unseren Köpfen. Ich nahm das für einen Traum, nicht ernst. Erst als Kati schrie und sich an mich klammerte, dachte ich um. Einer der Männer trat mir mit seinem Stiefel ins Gesicht. Das war real. Ich hatte keine Ahnung, wer die Männer waren, warum sie uns bedrohten. Und es mag sich unglaubwürdig anhören, aber daß Kati mich so fest umklammert hielt, tat gut, es gab keine Zeit, nachzudenken, irgendwie schien es möglich, daß wir zwei in der nächsten Minute sterben würden, gemeinsam – und von diesem Gedanken ging etwas sehr Tröstliches aus. Einer der Männer sagte etwas, auf Englisch, ich verstand nur zwei Wörter: LAST WARNING! Der andere Mann, der nichts sagte, kniete sich auf die Matratze, streckte seine Hand aus und kniff Kati in die Backe, dann schlug er ihr seine Faust in den Bauch. Mit voller Wucht. Das durfte er nicht tun. Ich schmiß mich auf ihn, erstaunlich, wie wenig Angst ich hatte, nur diesen einen naiven Gedanken: So was darf der nicht tun, nein. Ich spürte einen Hieb auf den Hinterkopf, doch keinen Schmerz, nur das Gefühl, außer Gefecht gesetzt zu werden, was mich mit enormer Wut erfüllte. Ohnmächtiger Wut. Ich lag herum, Blut floß mir am Hals herab, aber ich verlor mein Bewußtsein nicht. Dann kam der Schmerz, und wie. Ich weinte und schämte mich meiner Tränen. Kati legte sich über mich, bohrte ihren Kopf in meine Brust und schrie die ganze Zeit. Und plötzlich war es dunkel im Zimmer, und, als Kati nicht mehr schrie, ganz still. Ich wartete ein paar Minuten, dann schob ich Kati von mir, lief durch die ganze Wohnung, machte in allen Räumen Licht. Die Männer waren weg – und wir lebten. Im Bad sah ich mich im Spiegel an, schüttete Whisky auf die Wunde, rannte zu Kati, küßte sie, die Wimmernde, mit dem Gefühl, ihr nie mehr so nahe zu sein wie jetzt, in diesem Moment. Ich zögere, das niederzuschreiben, aber die Sekunden nach dem Überfall waren gut. Voller Ehrfurcht vor dem Leben – und Dankbarkeit. Wir haben alle Türen der Wohnung versperrt und Whisky getrunken. Der Gedanke, die Polizei zu rufen, kam uns spät. Wir verwarfen ihn als nutzlos. Gegen sieben Uhr morgens trafen Greta und Ralf ein, wir erzählten, was vorgefallen war. Sie hörten zu, und während wir über das Vorgefallene schon Witze machen konnten, sahen sie erschüttert drein. Ganz fassungslos und bleich. Es tue ihnen, sagten sie, so leid. Sie waren aber übermüdet und betrunken, ihre Leiber verlangten nach Schlaf, und nur das Entsetzen hielt sie notdürftig wach.
Wir, die wir an Schlaf nicht denken konnten, gingen zum Meer, als wollten wir uns in der Brandung reinigen. Kati zog die Schuhe aus, überließ ihre nackten Füße der Gischt. Kati hat so schöne Füße. Aber in spätestens fünfzig, sechzig Jahren wird sie tot sein, und niemand wird sich ihrer Füße erinnern. Das ist so.
*
Als wir eine Stunde später in die Wohnung zurückkehrten, waren Greta und Ralf noch wach. Hatten wohl Pillen eingeschmissen und starken Kaffee getrunken, sie entschuldigten sich für den Horror, den wir hatten durchmachen müssen. Sie würden das klarstellen, sagten sie, ohne auch nur in einem Nebensatz das Wort Verwechslung zu benutzen. Dann, während ich nach zwei Veronal endlich ein wenig schlafen konnte, verließen sie, statt selbst schlafen zu gehen, die Wohnung. In ihrem Zustand! Seither sind sechzehn Stunden vergangen. Ist den beiden was zugestoßen? Haben sie das Weite gesucht? Wir wissen es nicht und sind ein wenig sauer, dann besorgt, dann wieder sauer. Wenn ich auf dem Handy anrufe, geht nur die Mailbox ran. Serge möchte nicht, daß wir hierbleiben, will ins Hotel, aber nur, weil er denkt, daß ich hier keine ruhige Minute hätte. Ich dagegen empfände das als Flucht. Den Einbrechern, oder als was immer man sie bezeichnen muß, kann ich das nicht gönnen. Um Mitternacht, vor wenigen Minuten, bekam ich dann eine SMS von Greta.
Sind paar Tage unterwegs, was in Ordnung bringen. Ihr werdet nicht mehr belästigt werden, habt keine Angst. Macht es euch gemütlich. Entschuldigt uns bitte.
Serge meinte, die beiden hätten was ausgefressen und sich vorläufig in Sicherheit gebracht, und es sei schon ein starkes Stück, uns erstens so gar nichts weiter darüber mitzuteilen, zweitens uns derart selbstgefällig in Sicherheit zu wiegen, als läge unser Wohlergehen allein in ihrer Macht. Woher wollten die denn so genau wissen, ob wir Angst haben müssen oder nicht? Ich hab Serge selten so wütend erlebt. Er hat es nicht explizit zur Sprache gebracht, aber dauernd schwang in seiner Suada ein Vorwurf mit, der Vorwurf an mich, was ich für Freunde hätte, mit welchem Gesindel ich mich umgeben würde. Mit Greta bin ich zur Schule gegangen, so lange kenne ich sie schon, und wenn sie auch stets exaltiert war, das Gegenteil einer grauen Maus, ich habe nie schlechte Erfahrungen mit ihr gemacht. Ihre Seele, da hat Serge schon recht, die kenne ich nicht. Wir setzten uns auf das falsche Eisbärenfell vor dem Fernseher und diskutierten die Lage. Die Wohnung erscheint uns einigermaßen sicher. Die Schläger sind gestern Nacht vermutlich über die Terrassentür eingedrungen, die wir zu schließen vergaßen. Wir schnappten uns lange Küchenmesser aus dem Messerblock in der Küche, bevor wir schlafen gingen, legten sie neben unsre Kissen, und Serge forderte mir das Versprechen ab, diese Waffen im Zweifelsfall auch zu benutzen, volles Risiko zu gehen, denn wenn die Typen wiederkämen, dann um uns zu töten, eingeschüchtert hätten sie uns ja schon. Er redete ein bißchen wie ein Kind, das einen Western nachspielt, ich glaube gar, daß er insgeheim Gefallen an der Situation findet. Einzig seine Sorge um mein Wohlergehen raubt ihm den puren Jungens-Spaß daran. Es tut ja gut, seine Liebe zu spüren. Er will, sagt er, wach bleiben, Wache schieben, mich beschützen.
Ich bin aber schon ein großes Mädchen, kann auf mich selbst aufpassen. In seiner Fürsorge liegt etwas Herabwürdigendes. Ich fühle mich viel eher verpflichtet, auf ihn aufzupassen, hab Angst, er könnte aus einem falschen Impuls heraus auf die Straße laufen und irgendeinen Passanten, der ihm verdächtig erscheint, pseudo-präventiv verletzen. Eben stand er im Wohnzimmer, lugte durch die Lamellen hinaus und er trug das Messer am Gürtel, wie ein Seeräuber. Da kann er sich leicht ins eigene Fleisch schneiden, abgesehen davon, wie doof und albern es aussieht. Bedingt durch die undurchschaubare Situation, in der wir uns befinden, muß ich mir eingestehn, oder dessen eingedenk sein, immer, daß Serge nicht klar im Kopf ist, daß er nicht in gängige Raster einzuordnen, geschweige denn vorherzusagen ist.