32.

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ie Feste Weinsberg befand sich, man konnte es ahnen, auf dem Scheitelpunkt eines Berges, der sich bestens für den Weinanbau eignete. Nach allen Seiten fielen lange Reihen von Reben dem Tal und dem Betrachter entgegen.

1140 hatte der erste Stauferkönig Konrad III., dessen Haus mit dem der Welfen über die Herrschaft im Heiligen Römischen Reich über Kreuz lag, in der Schlacht von Weinsberg Herzog Welf VI. von Bayern eine empfindliche Niederlage bereitet. Die Verteidiger – den Herzog ausgeschlossen – erwartete der sichere Tod, als sie endlich kapitulierten.

Isenhart und Konrad kannten jedes Detail dieser Geschichte, denn der Großvater Zolners von Tutenhoven stand damals in den Diensten der Welfen.

Den Weibern gewährte Konrad III. den freien Abzug mit allem, was sie auf ihren Rücken zu tragen vermochten. Als die Tore sich daraufhin öffneten, bildete sich eine nicht enden wollende Linie von Frauen, die ächzend und keuchend ihre Männer bergab trugen. Der staufische König zögerte, ließ dann aber nicht attackieren.

Eine ritterliche Geste, die ihm auch Anerkennung aus dem feindlichen Lager zuteilwerden ließ. Und die Zolners Großvater das Leben geschenkt hatte.

Die Bauern der umliegenden Gehöfte lieferten gerade den Zehnten ihrer Erzeugnisse an die Ministerialfamilie, die die Staufer mit der Verwaltung des Schlosses betraut hatten, als Isenhart eintraf. Daher gelangte er unbehelligt in den Burghof, der jenen des Hauses Laurin in seiner Größe um das Doppelte übertraf.

Jung und Alt waren versammelt, häufig waren es die Frauen, meist Töchter im gebärfähigen Alter, also zwölf oder dreizehn, die den Zehnten abtraten. Zum einen nutzten ihre Väter und Brüder die Zeit für die Arbeit, statt sich im Hof die Beine in den Bauch zu stehen, zum anderen täuschte ein kokettes Lächeln oder ein wohlgeübter Augenaufschlag womöglich über eine dürftige Abgabe hinweg.

Milch und Käse, Bier und Wein, manchmal gar ein ganzes Huhn, oftmals aber auch Becher und Schalen aus Ton, geflochtene Körbe, gesponnene Decken und allerlei mehr, was das Gesinde mit seinen Händen fertigte, wurde dem Herrn im Tausch gegen dessen Schutz und dessen Land, das sie bewirtschaften durften, abgetreten.

Das Warten nutzten die Leute für einen Plausch. Wer war schwanger und von wem, wen hatte der Schnitter geholt, und wer hatte spätnachts wieder an die falsche Tür geklopft? Man ließ sich aus über das Wetter, die Kleider der Edlen in der Stadt und die Last des Zehnten, Letzteres natürlich im Flüsterton.

Isenhart band sein Pferd an und betrachtete einige Augenblicke lang das Treiben, das keineswegs bunt war, denn die meisten Bauern leisteten sich kein gefärbtes Leinen.

Aus den Augenwinkeln nahm er eine Gestalt wahr, die sich auf dem ummauerten Brunnen abstützte und mithilfe eines Holzeimers Wasser schöpfte. Er erkannte ihn, obwohl er Isenhart den Rücken zugewandt hatte.

Auch er trug seine schwarzen Haare stoppelkurz, eine Gemeinsamkeit, die Isenhart kurz verwunderte. Das Gesicht des Freundes wirkte sehr gereift, er war in den vergangenen anderthalb Jahren viel älter geworden als nur achtzehn Monate, so schien es. Seine Miene war bedrückt, und er zog das linke Bein ein wenig nach. Das Schuldgefühl, Henning in Tutenhoven zurückgelassen zu haben, zog in Form eines sanften Glühens über Isenharts Wangen, verflüchtigte sich aber umgehend, als Henning von der Braake so abrupt abstoppte, als sei er gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen, dann mit heller Freude auf ihn zuging und ihn so innig herzte, dass es eine Freude war.

»Endlich«, stieß Henning etwas gepresst hervor, »du lebst!«

Er packte Isenhart an den Schultern und musterte ihn. Diese Vertrautheit, die Isenhart dabei verspürte, erinnerte ihn an das Quäntchen, das Seelenverwandte Freunden voraushatten. Er hatte es anderthalb Jahre nicht mehr empfunden, und mit Walthers Tod war die Zahl derer, die diese wundervolle Regung in ihm wachzurufen wussten, auf eine sehr überschaubare Schar geschrumpft, im Grunde gab es neben Henning niemanden sonst.

»Du hast es auch überlebt«, stellte Isenhart fest.

Henning nickte, sein Lächeln verschwand plötzlich und wich der Sorge: »Und Konrad?«

»Er ist unversehrt«, beeilte er sich zu antworten.

Henning von der Braake ließ ihn jetzt los, aber seine Augen waren unverwandt auf Isenhart gerichtet, ganz so, als hätte er dessen Anblick zu lange vermisst. »Ich bedaure aufrichtig die Momente, die ich nicht mit dir teilen konnte«, sagte er.

Dieses Bekenntnis berührte Isenhart. Umso mehr, da ihm erst jetzt bewusst wurde, dass er ebenso empfand.

»Du hast sicher von Walther gehört«, wechselte der Sohn des Medicus das Thema.

»Ja. Und das ist auch ein Grund, warum ich mich auf den Weg hierher gemacht habe«, unterrichtete Isenhart ihn, »denn ich weiß jetzt, dass Michael von Bremen nicht der Mann war, den wir gesucht haben.«

Henning von der Braake sah Isenhart verblüfft an.

»Henning!«

Beide wandten sich zur Seite. Dort, am Einlass eines Wehrturmes, stand ein kräftiger Kerl, größer als Konrad. Er winkte Henning eilig zu sich.

»Das ist Simon von Hainfeld«, ließ Henning Isenhart wissen, »komm mit, mein Vater liegt im Sterben.«

Isenhart erschrak. Er war gekommen, um Henning vor seinem eigenen Vater zu warnen, was nun offenbar nicht mehr nötig war.

Sie eilten zum Turm, Simon von Hainfeld musterte Isenhart aufmerksam.

»Isenhart von Laurin«, sagte Henning, um sie einander vorzustellen, »Simon von Hainfeld.«

Der Hüne nickte und lächelte ein wenig: »Henning hat mir schon viel von Euch erzählt.« Von Hainfeld strahlte etwas Kindliches aus.

»Ist es so weit?«, fragte Henning. Das Lächeln von Hainfelds verlor sich. Er nickte. Henning schien nicht überrascht zu sein. Er ging auf jenen steinernen Stufen hinab, auf denen Isenhart ihm folgte. Mit jedem weiteren Schritt wich das Tageslicht und kroch ihnen die Dunkelheit der Gewölbe, in die sie hinabstiegen, entgegen.

Einige Tage zuvor war Isenhart in Hieronymus’ Kammer getreten, die langsam den Geruch annahm, wie ihn ein alter Mann verströmte. Die Muffigkeit ging sicher auch vom Schimmel aus, der sich in grünlich schwarzen Wucherungen über die Mauern zog. Doch Isenhart hatte schon früher wahrgenommen, wie frei von Intensität der Geruch war, den ein Neugeborenes ausströmte. Und wie Atem und Körpergeruch wie alles andere auch dem Wandel der Zeit unterworfen waren.

Seine Kammer hatte der Geistliche mit vier Kruzifixen ausgestattet, für jede Himmelsrichtung eines. Er studierte den Span vom Kreuz Christi, den Alexander von Westheim ihm einst überantwortet hatte, als Isenhart eintrat. Dieser hielt ein dünnes Hanfseil in der Hand.

Wie so oft wurde Hieronymus aus dem Gesichtsausdruck Isenharts nicht schlau. Nicht vollständig zumindest, denn jetzt, da er ihn auf diese respektlose Art fixierte, ihm also direkt in die Augen blickte, stand mit ziemlicher Sicherheit zu befürchten, dass er mit seinen nächsten Worten Hieronymus’ Ader auf der Stirn in schmerzhaftes Pochen versetzen würde.

Es war vor allem die Logik, die Isenhart hierhergeführt hatte.

Mit Walther von Ascisberg hatten Konrad und Isenhart Aristoteles’ – frisch aus dem Arabischen übersetzte – Analytica priora studiert, eine stellenweise gespreizt zu Pergament gebrachte Abhandlung über die Logik, insbesondere über die Syllogistik, über das Verfahren also, aus zwei Prämissen eine Schlussfolgerung abzuleiten, die – sofern die Prämissen Gültigkeit besaßen – ebenfalls legitimen Charakter besaß und als Prämisse für weitere logische Schlüsse Verwendung finden durfte.

»Ich kenne diese Miene an dir«, holten Hieronymus’ Worte ihn zurück nach Heiligster, »sie verheißt nichts Gutes.«

»Nichts Gutes für wen?«, fragte Isenhart.

»Nichts Gutes für niemanden«, erwiderte der Geistliche mürrisch. »Was hat es mit dem Hanfseil auf sich?«

»Ich möchte Euch etwas über die Logik erzählen.«

»Du siehst mich gespannt«, erwiderte Hieronymus mit leichter Ironie.

»Alle Raben sind sterblich«, begann Isenhart, um Vater Hieronymus mit dem aristotelischen Weltbild vertraut zu machen, »das ist die erste Prämisse. Gweg ist ein Rabe. Das ist die zweite Prämisse. Also, das ist die conclusio, ist Gweg sterblich.«

»Oha, eine beeindruckende Erkenntnis«, lächelte Hieronymus, »Raben sind sterblich. Der Heilige Stuhl wird außer sich sein. Wir müssen umgehend einen berittenen Kurier entsenden.« Er stieß ein heiseres Lachen aus. »Also wirklich.« Vater Hieronymus schlug sich auf den Schenkel vor Freude.

»Und jede Schlussfolgerung kann man wieder als Prämisse verwenden, weil sie wahr ist«, fuhr Isenhart fort, dem nun seinerseits eine Ader auf der Stirn zu pulsieren begann, »auf diese Art ist es möglich, das ganze Leben, ja, die ganze Welt auf Wahrhaftigkeit zu überprüfen.«

»Nun ja, Isenhart, das klingt mir doch sehr vermessen.«

»Aber wieso? Man kann jede Aussage zurückführen auf genau zwei Zustände. Sie ist wahr oder sie ist unwahr. Hell oder dunkel. Ja oder nein.«

»Und wo bleibt Gott dabei?«, wollte Hieronymus wissen.

Isenhart räusperte sich vernehmlich. »In der Welt der Logik ist Gott ohne Bedeutung«, stellte er trocken fest.

»Du weißt, ich bin als sehr junger Mann zur See gefahren«, rief der Geistliche ihm zu, »das war, bevor der Schöpfer mich zu seinem Diener bestimmt hat. Ich habe die unseligsten Kreaturen getroffen, Isenhart. Den Abschaum unter Gottes Augen. Der Abschaum vertraut nicht auf den Herrn. Der Abschaum stellt Fragen. Die Ratio stellt Fragen. Die Logik auch. Und all das wird weggefegt von Gottes Antwort: Liebe. Nichts sonst zählt.«

Kurz senkte sich das Schweigen zwischen sie wie die Stille nach einem Unentschieden.

»Und was sagst du dazu?«, hakte Hieronymus nach. Sein Kopf ruckte dabei angriffslustig nach vorne. Er war von dem sanftmütigen Lächeln Isenharts überrascht – immer, wenn man meinte, ihn in eine Ecke gedrängt zu haben, aus dem es kein Entrinnen mehr gab, verblüffte er einen aufs Neue.

»Deshalb bin ich eigentlich hier, wegen des Syllogismus natürlich, aber vor allem – weil Ihr zur See gefahren seid.«

»Ach. Habe ich das nicht gerade selbst vor zwei Wimpernschlägen erwähnt? Hörst du mir überhaupt zu?«

»Ihr seid zur See gefahren. Dann müsstet Ihr einen Augspleiß kennen.«

»Den kenne ich«, erwiderte Hieronymus, während er in Gedanken seine eigenen Worte überprüfte, sie nach Schwachstellen und Flanken absuchte, in die dieser Logikgläubige – der Herr sei seiner armen Seele gnädig – einzufallen drohte. Er überprüfte seine eigenen Gedanken! So weit war es gekommen.

Isenhart nickte, als habe er mit dieser Antwort gerechnet. Natürlich, der Mann tat ja nicht mal einen Atemzug, sofern sein Geist ihn nicht vorher analysiert hatte. Er schnitt die Welt in so dünne Scheiben, dass sie transparent wurden. Wenn man durch ein Tor in einem Denkgebäude trat, war Isenhart schon dort gewesen.

Dieser hielt ihm das Hanfseil entgegen. »Ich bitte Euch, mir einen Augspleiß zu binden, Vater.«

»Und wozu?«

»Tut mir den Gefallen.«

Hieronymus deutete ein Achselzucken an. Was war schon dabei? Er nahm den groben Hanf, konzentrierte sich einen Moment lang und verknotete mit zunehmender Freude das Seil zu einem Augspleiß. Ungeheuerlich, mit welcher Güte der Schöpfer ihn auf die Erinnerungen aus seiner Jugend zurückgreifen ließ. Dieser Umstand, diese Liebe Gottes, war der Quell für Hieronymus’ Freude, während er den Augspleiß fertigstellte, den er schließlich, nicht frei von einer Prise Eitelkeit, Isenhart reichte. Dieser nahm ihn zwar entgegen, löste ihn allerdings sofort wieder und hielt ihm erneut das Seil hin. »Bindet ihn mir mit einer Hand, Vater.«

Hieronymus blies die Wangen auf. »Das Maisfeld gehört bewässert, der Kanal ist voller Schlamm«, ließ er Isenhart wissen.

Er besaß nicht eben übermäßig Zeit für diese Spielereien, noch dazu nahm er Marie häufig den kleinen Sigimund ab, um an ihm das zu vollbringen, was er bei Konrad versäumt hatte, nämlich ihm frühzeitig Demut und Gottesfürchtigkeit einzutrichtern, auf dass aus ihm ein guter Mensch werde. Schnell war damit ein ganzes Tagewerk vollbracht.

»Bitte«, sagte Isenhart und blickte ihm dabei unverwandt in die Augen.

»Wenn das eine Narretei ist, die mich …«

»Ist es nicht«, unterbrach Isenhart ihn, ohne dabei die Stimme zu heben, »ist es nicht, Vater. Ich versichere Euch, dass es nicht dazu angetan ist, Euch in Verlegenheit zu bringen. Ihr dürft den Mund zu Hilfe nehmen, den Fuß, alles – nur nicht die zweite Hand.«

Hieronymus erwiderte den starren Blick dieses jungen Mannes, der seinen Fuß schon auf ein Land gesetzt hatte, das allen anderen erst nach ihrem Tode eröffnet wurde. Dann nahm er das Hanfseil erneut in die Hand und versuchte, den Augspleiß zu knüpfen, was ihm aber auch mithilfe seines Kiefers nicht gelang. Schließlich warf er das Seil erzürnt zu Boden.

»Man kann den Augspleiß nicht mit einer Hand knüpfen«, entfuhr es ihm voller Wut über sein Misslingen, »was ist das für eine blödsinnige Idee? Hat es wieder mit den Blättern zu tun und dem Saft? Starr mich nicht an, sprich!«

»Nein, keine Sorge«, antwortete Isenhart ernst und bedrückt. Um dann zu seufzen. »Eine letzte Frage noch«, fuhr er fort.

»Nein«, unterbrach der Geistliche ihn, »keine letzte Frage mehr und keine fragwürdigen Kunststückchen.«

»Doch«, entgegnete Isenhart und trat näher, sehr viel näher, sie konnten den Atem des anderen über ihre Haut streichen spüren, »wenn ich noch eine letzte Frage in diesem Leben an Euch stellen dürfte, wäre es diese: Habt Ihr je einen Mann gesehen oder je von einem gehört, der in der Lage gewesen wäre, einen Augspleiß ohne eine zweite Hand zu binden?«

»Nein«, antwortete Hieronymus ruhig, »ich habe niemals jemanden gesehen oder von jemandem gehört, der den Augspleiß nur mit einer Hand binden kann. Warum?«

Aristoteles’ Syllogistik gab die Antwort, die Isenhart zwar geahnt, aber gerne vermieden hätte. Die Logik präsentierte ihre Kehrseite, sie war frei von jeglicher Rücksicht.

Die erste Prämisse lautete also, wie Isenhart sich vergegenwärtigte, dass Michael von Bremen sich nicht selbst gerichtet haben konnte. Die zweite Prämisse kam in Form einer Frage daher: Wer von ihnen vieren – Isenhart, Henning, Konrad und Günther – war als Einziger für eine Weile alleine in der Burgruine zu Tarup gewesen?

Und die Conclusio lautete: Günther von der Braake war der Mörder von Michael von Bremen.

Was natürlich die Frage aufwarf, weshalb er das getan hatte und wieso er seine Tat als Selbsttötung von Michael von Bremen getarnt hatte. Was war sein Motiv? Endlich hatten sie ihn gefasst, endlich den vermeintlichen Mörder Annas und Liliths und von Britts kleiner Schwester in die Enge getrieben, endlich konnten sie ihn fragen nach dem Warum. Und Günther von der Braake, dieser besonnene Mann, hatte all das verhindert.

Isenhart erreichte nach Henning das Gewölbe. Seine Nase war allerlei Ausdünstungen gewohnt, doch der Geruch, der aus dem Dunkel in seine Nase kroch, war anders. Er roch Blut und Eiter, er roch Fäulnis und Kot und Urin. Und über alledem lag wie ein alles durchdringender Nebel noch etwas. Der Tod.

In einem Nebenraum warf eine Talgkerze warmes Licht an die Wände und erhellte indirekt auch jene Kammer, in die Henning trat. Isenhart blieb ihm dicht auf den Fersen, weil sich seine Augen noch nicht genügend an die Dunkelheit gewöhnt hatten.

Von irgendwo hörte Isenhart ein Husten, dann ein Stöhnen. Dazu gesellte sich ein so erschütternder Schmerzensschrei, dass er animalischen Ursprungs sein musste. Henning ging vor ihm in die Hocke. Und nun, im Dämmerlicht, nahm Günther von der Braake langsam Gestalt vor ihm an. Henning tauchte einen Stofffetzen in den Holzeimer mit Wasser und wischte dem Sterbenden damit über die Stirn.

Günther lag mit Schweiß bedeckt und nackt unter einer Decke, die einen Teil seiner eingefallenen Brust enthüllte. Die Nase des Mannes hob sich spitz aus dem Gesicht mit dem weit geöffneten Mund, durch den der Medicus schnell und stoßweise atmete, jedes Mal von einem kehligen Rasseln begleitet. Die Augen aufgerissen, aber nichts Bestimmtes fixierend rollte Günther in langsamen, schleppenden Bewegung den Kopf hin und her.

»Günther«, sprach Isenhart ihn an, während er neben Henning in die Hocke ging.

Von der Braake wälzte sein Haupt wieder von links nach rechts und zurück.

Henning warf Isenhart einen kurzen Seitenblick zu. »Er erkennt dich nicht«, flüsterte er und artikulierte damit das, was auch Isenhart hätte offensichtlich sein müssen. Der Mann befand sich im Todeskampf, mehr noch, es war der Anblick eines bereits erloschenen Geistes, eines Verstandes, der vor dem Unausweichlichen kapituliert hatte und es dem Körper überließ, der es nicht besser zu wissen schien und sich nach Kräften gegen das Unvermeidliche stemmte.

»Isenhart ist hier bei mir«, sagte Henning sanft, doch Günther von der Braake reagierte nicht mehr auf Ansprache.

»Simon, eine Fackel – schnell.«

Simon von Hainfeld, der hinter ihnen gestanden hatte, verschwand ohne ein weiteres Wort.

Erst jetzt nahm Isenhart die vier Hanfseile wahr, die von den vier Eckpunkten des Lagers an die Decke des Gewölbes verliefen, wo sie mit horizontal in die Wand eingelassenen, schweren Weidenruten verbunden waren. Auf diese Weise »schwebte« das Lager, auf dem der Körper des Sterbenden dem Schnitter immer noch die Stirn bot, über dem Boden. Aber wozu diese Apparatur? Warum hatte man das Lager nicht einfach auf dem Grund des Gewölbes ausgebreitet?

Unauffällig wollte Isenhart einen Blick unter das Lager erhaschen, als Simon von Hainfeld mit der Fackel zurückkehrte und sie über die Bettstatt hielt. Der Lichtschein des Feuers wurde vom Boden reflektiert, der gar keiner war. Es handelte sich vielmehr um ein rechteckiges Becken, das mit Wasser gefüllt war. Und einen Fuß über der Wasseroberfläche hing das Lager.

Das Licht der Fackel ließ weitere Lager erkennen, große und kleine, auch sie waren über Hanfseile an Weidenruten montiert, unter jedem von ihnen glitzerte das Wasser. Auf den kleinen Schlafstellen ruhten Tiere, vornehmlich ein paar Hunde, aber auch eine Ziege. Mit Seilen fixiert. Die größeren Schlafstätten wurden von Menschen eingenommen. Neben den schwebenden Lagern stand Geschirr, manchmal Schalen mit Essensresten, und nun, da das Licht kam, nahmen die Ratten Reißaus.

»Ich habe so etwas schon einmal gesehen«, wisperte Isenhart, der sich zu erinnern versuchte, wo genau das gewesen war.

»Es ist ein Experiment«, sagte Simon von Hainfeld.

»Schweigt«, befahl Henning ihnen sanft. Tatsächlich geriet Günthers Atmen nun aus dem Takt, verlor es die klare, direkte Linie, wurde zu einem lautlichen Schlingern und dann zu einem erstickten Keuchen. Man musste keinen Menschen sterben gesehen haben, um zu erkennen, dass der Moment gekommen war.

Henning fuhr seinem Vater noch einmal sanft über die Stirn. Der weit geöffnete Mund von der Braakes fiel in sich zusammen. Wider Isenharts Erwarten verformten sich die trockenen, schmalen Lippen des Medicus zu einem Lächeln. »Der Faden«, hauchte er nahezu unhörbar.

Isenhart verstand nicht.

»Dort«, wies Henning ihn auf einen Faden hin, der vom Rand des Lagers hinabhing und zum Teil ins Wasser ragte. Der Teil, der sich oberhalb der Wasseroberfläche befand, war schwarz, derjenige, der ins gefüllte Becken reichte, weiß.

Aber Isenhart begriff den Sinn der Markierungen nicht. Was hatte es mit diesem Stück gefärbten Hanfs auf sich? Warum rief er auf dem Gesicht eines sterbenden Mannes ein Lächeln hervor? Instinktiv hob er den Blick und entdeckte nun unter jedem der aufgehängten Lager einen zweifarbigen Hanffaden.

»Vater«, raunte Günther von der Braake, es war der letzte Hauch, der ihm über die Lippen kam, kraftlos sackte sein Kopf zur Seite, und es gab nichts mehr, was seinen Blick noch hielt.

»Der Faden«, sagte Simon von Hainfeld und hielt die Fackel näher. Isenhart registrierte, wie sich ein kleines Stück des weißen Teils aus dem Wasser erhob.

Günther war von ihnen gegangen und stand nun vermutlich bereits seinem Schöpfer Rede und Antwort über sein Leben. Wenn Isenhart nicht alles täuschte, brannte er alsbald in der Hölle.

Und während Henning seinem Vater die Lider schloss, ihn auf die Stirn küsste und seine Hände über dem Brustkorb faltete, blickte Isenhart hinauf zur Decke, zu den Weidenruten, an denen die Aufhängung befestigt war.

Weidenruten wurden zur Errichtung von Gebäuden nicht verwendet, denn sie waren elastisch. Diese Eigenschaft ermöglichte es allerdings, dass sie sich je nach Gewichtszunahme oder – abnahme spannten oder entspannten. Sobald sie Günthers Leichnam vom Lager hoben, würden die Ruten sich noch mehr entspannen und auf diese Weise das Lager anheben, was den Hanffaden noch weiter aus dem Wasser ziehen würde.

Das war es. Das Lager war so aufgehängt worden, um jede Gewichtsveränderung mittels der farbigen Teile des Fadens sichtbar machen zu können. Und im Augenblick des Todes war Günther von der Braake leichter geworden. Die gedehnten Weidenruten hatten das Lager um ein Minimum angehoben, um diese Winzigkeit, die der weiße Teil des Hanfes symbolisierte. Menschen und Tiere ruhten nicht auf Lagern – sondern auf Waagen.

»Sydal von Friedberg«, sagte Isenhart tonlos.

Henning, der vor seinem Vater verharrte und stumm ein Gebet sprach, richtete die Augen auf ihn.

»Wie viel Grän?«, fragte Isenhart. Dieser unglaubliche Gedanke, den Henning und sein Vater hier in diesem Gewölbe in die Tat umgesetzt hatten, hatte ihn mit jeder Faser erfasst.

»Du … hast begriffen, was hier vor sich geht?«, fragte Henning von der Braake erstaunt.

»Elastische Weidenruten«, antwortete Isenhart, »die Markierung des Fadens. Ihr messt kleinste Gewichtsveränderungen. Und wenn Ihr das messt, was ich glaube, dann lasst Euch nicht dabei erwischen.«

Über Hennings Mund zog ein kurzes Lächeln, er sah zu Simon von Hainfeld. »Jetzt weißt du, wovon ich gesprochen habe«, ließ er den Hünen nicht ohne eine Spur Stolz, die er aufgrund Isenharts zügiger Auffassungsgabe hegte, wissen. »Wir werden geschützt«, beruhigte er daraufhin den Freund, »der Burgherr hält seine Hand über uns.«

Henning hob die Decke und bedeckte das Antlitz seines Vaters, aus dem jede Spannung gewichen war. »Wir müssen exaktere Messmethoden entwickeln«, räumte er ein, »aber wir messen mit geringen Abweichungen nach oben und nach unten eine Veränderung um fünfzig Grän.«

Isenhart hatte nicht viele Momente in seinem Leben erlebt, in denen er sprachlos war. Doch dieses war so ein Augenblick. Er bewunderte die kühle Klarheit von Hennings Gedanken ebenso wie die Unverfrorenheit, mit der er trotz des Risikos eines klerikalen Gerichts über ihn und die Ahndung seiner Vergehen unbeirrt seinen Weg verfolgte.

»Das ist großartig«, platzte es aus Isenhart heraus, und er konnte nicht umhin, Hennings Hand in die seine zu nehmen und zu pressen, »fünfzig Grän.«

Henning von der Braake nickte, und obschon die warme Leiche seines Vaters neben ihm lag, entlockte ihm Isenharts ehrliche Begeisterung ein Lächeln.

»Egal, ob Mann oder Frau?«, fragte Isenhart.

Henning nickte: »Und egal ob Kind oder Greis.«

»Die Tiere?«, fragte Isenhart und deutete mit dem Kopf zu der Ziege.

»Kein Gran«, antwortete Henning.

Isenhart durchliefen feierliche Schauer. Er sah in die Runde. »Was machen die Leute hier?«

»Sie sterben, Isenhart. Sie sind todkrank. Wir versorgen sie, sprechen ein beruhigendes Wort und sind bei ihnen in der letzten Stunde. Und im Gegenzug messen wir. Messen und halten Ausschau.«

Was Isenhart an das Lager in der Puente erinnerte, in dem die Medici ihre neuesten Errungenschaften an den Todkranken erprobten. »Hast du eine Seele gesehen?«, wollte er wissen, sein Herz schlug ihm dabei bis zum Hals.

Der Sohn des Medicus deutete ein Kopfschütteln an: »Wir haben den Sterbenden Wasser in die Münder gefüllt, aber der Pegel blieb konstant. Nichts, was durch das Wasser aufstieg. Eigentlich gar keine Bewegung. Wir haben es auch mit Rauch versucht, ohne Erfolg. Aber möglicherweise ist die Seele nicht nur unsichtbar, vielleicht hat sie gar keine Gestalt, Isenhart. Aber eines ist sicher: Sie wiegt etwa fünfzig Grän.«