11.

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senhart erreichte den Neckar nur eine Stunde, nachdem Wilbrands Kuriere das Land des Hauses Laurin wieder verlassen hatten. Er stieg vom Pferd und sah sich um. Der Fährmann legte soeben auf der anderen Seite des Flusses an. Von dort stiegen Leute hinzu, drei an der Zahl. Und neben Isenhart warteten vier auf die Überfahrt. Ein altes Mütterchen, gestützt von der Tochter, und zwei Bauern, die schwere Leinensäcke neben sich abgestellt hatten. Sicherlich wollten sie drüben etwas von ihren Winterreserven verkaufen und hofften auf einen guten Preis.

Nichts Ungewöhnliches. Isenhart war erleichtert. Er wandte sich seinem Pferd zu, als von der anderen Seite des Flusses Hufgetrappel zu hören war. Isenhart erkannte etwa ein Dutzend Männer, die von ihren Pferden sprangen und hinab ans Ufer eilten.

Der Fährmann unternahm noch den Versuch abzulegen, doch er und die drei Fahrgäste wurden von den allesamt mit Kettenhemden bewehrten Männern überwältigt, geschlagen und fortgeschickt. Anschließend zogen sie das Floß an Land.

Isenhart konnte nirgends das Wappen von Mulenbrunnen entdecken, trotzdem war er sich sicher, dass diese Soldritter – denn das waren sie zweifelsohne – im Dienst des Abtes standen.

»Geht nach Hause!«, rief ihnen einer von drüben zu, Isenhart fiel die merkwürdige Betonung der Wörter auf.

»Aber wir müssen auf die andere Seite«, brüllte einer der Bauern zurück.

»Dann schwimmt!«, beschied man ihn. Ein paar Söldner lachten.

Die Strömung war zu stark, das Wasser eiskalt. Die Bauern schulterten ihre Leinensäcke und traten den Rückweg an, kurz darauf folgten die alte Frau und ihre Tochter.

Die Soldritter stellten zwei Mann als Wachen ab, zwei weitere schichteten Holz und Reisig auf, all das ohne viele Worte.

Sie sind eingespielt, dachte Isenhart, sie müssen sich nicht abstimmen, sie wissen, was zu tun ist. Er erschauerte bei der Vorstellung, dass diese Männer mit derselben leidenschaftslosen Effektivität in den Kampf ziehen könnten.

Wenn man jedes Anzeichen, das Sigimunds Späher zurück in die Burg trugen, für sich betrachtete, gab es nicht unbedingt Anlass zur Sorge. Wie einzelne Mosaiksteinchen, die sich zusammen- und aneinanderfügten, ergaben sie aber recht bald das konsistente Bild eines Hauses Laurin, das von der Außenwelt abgeschnitten war.

Wilbrands Ritter und die Söldner, die er hatte anheuern lassen, kontrollierten die Wege nach Grüningen und Westheim ebenso wie nach Fügingen und Bussingen. Sie hatten Posten am Neckar und an der Enz bezogen, ein loser Verband von drei Dutzend Soldrittern hatte bereits die Glems bei Swiebertingen überquert.

All das waren lediglich diejenigen Einheiten, die den Spähern nicht entgangen waren. Eine verlässliche Schätzung der Truppenstärke war also nicht möglich.

Sigimund hatte vorgehabt, seinen Stammhalter zusammen mit Isenhart in einer weiten Umgehung über das nördlich gelegene Helibrunna nach Spira zu entsenden, früher oder später würden sie dort auf Walther treffen und der ihnen Unterkunft und Schutz gewähren. Die winterlichen Umstände und die Geografie sollten Konrad und Isenhart einen ausreichenden Vorsprung ermöglichen.

Hannes von Lauffen, so kalkulierte Sigimund von Laurin, würde Mulenbrunnen erst am späten Abend erreichen und Wilbrand seine Leute nicht auf einen Nachtmarsch durch Schnee und Eis schicken. Daher hatte das Haus Laurin nicht vor Mittag des folgenden Tages mit einer feindseligen Reaktion des Abtes zu rechnen.

Knappe zwanzig Stunden also. Das sollte seinem Stammhalter reichen und würde ihn, Sigimund, darüber hinaus in die Lage versetzen, seine schützende Hand auch über seine Familie und das Gesinde zu halten, indem er den Glemsübergang in Swiebertingen mit einem starken Verband von dreißig Mann bestückte und so den Fluchtweg ins alemannische Bistum Konstanz sicherte, das dort seinen Grenzverlauf hatte.

Diese Planungen hatte Wilbrand von Mulenbrunnen frühzeitig durchkreuzt. Er benötigte nicht zwanzig Stunden bis zum Neckar, sondern nur eine. Was wiederum nur möglich gewesen war, wenn sein Kurier nicht den Weg bis zum Kloster hatte zurücklegen müssen. Keine Stunde nach dem Zusammentreffen mit Hannes von Lauffen hatte Isenhart die Söldner am Neckar gesehen.

Sigimund begriff, dass Wilbrand mit seinen Rittern längst bis an die Gemarkungen des Hauses Laurin vorgerückt war, bevor er seinen Kurier entsandt hatte. Er hatte Sigimunds Weigerung, seinen Sohn Konrad auszuliefern, vorhergesehen und in seine Planungen mit einbezogen.

Der Kopf des Hauses Laurin hatte seinen Gegner unterschätzt.

»Ich kann mich stellen, Vater«, schlug Konrad vor, »er hat Euch zuerst geohrfeigt, es gibt Zeugen.«

Die beiden standen im Herzen der Burg, dem Esssaal der herrschaftlichen Familie, den zwei grobe Wandteppiche schmückten und dessen unübertroffener Luxus der große Kamin an der Nordseite des Raumes darstellte, in dem die Holzscheite vom Feuer gefressen wurden. Über eine geschickt angelegte Lüftungsvorrichtung heizte das Feuer auch die darüberliegenden Schlafgemächer. In einem besonders harten Winter wurden diese Leitungen verriegelt, und Sigimund nächtigte mit seiner Frau und seinen Kindern in diesem Raum.

Zwei Tische und vier Bänke aus Eiche bildeten das Zentrum des Saales, der von den Ausmaßen her gar keiner war, belief er sich doch lediglich auf zwanzig mal fünfzig Fuß. Über schmale Öffnungen, die der Kälte trotzen sollten, wurde ein stetes Dämmerlicht gewährleistet, in dem Konrad auf und ab schritt.

Außer ihm befanden sich Isenhart, Vater Hieronymus und Rupert, der Bogner, in dem Esssaal. Isenhart hätte mit Konrad fliehen sollen, aber dieses Vorhaben war gescheitert, und niemand dachte daran, den Sohn des Schmieds fortzuschicken, während die weiteren Optionen, die ihnen blieben, durchgesprochen wurden.

Sigimund schüttelte vehement den Kopf. »Wilbrand von Mulenbrunnen ist nicht deinetwegen hier«, erwiderte er ruhig, »was er will, sind unsere Weinberge.«

Während Konrad und Rupert mit Überraschung reagierten, war diese Begründung für alles, was sich seit der Ohrfeige ereignet hatte, in Isenharts Augen die sinnfälligste Erklärung überhaupt. Sie beantwortete, weshalb Wilbrand auf Konrads Züchtigung nicht unmittelbar reagiert hatte. Wäre es ihm tatsächlich um Konrad und die durch ihn erlittene Schmach gegangen, wäre es ein Leichtes gewesen, Konrad noch innerhalb der Klostermauern festsetzen zu lassen. Wilbrand von Mulenbrunnen hätte nicht kostspielige Soldritter rekrutieren müssen, und darüber hinaus hätte die Ehrverletzung ebenso gut dem Bischof von Spira zur Klärung vorgetragen werden können. Stattdessen ließ Wilbrand seine Truppen aufmarschieren.

Er strebte nicht danach, über eine Ehrverletzung Gericht abhalten zu lassen. Er strebte nach Mehrung seines Besitzes. Die Weinberge der Laurins – verglichen mit anderen Winzergebieten zwar recht klein – lagen im Land am höchsten, die Trauben, vom längsten Sonnenstand des Landes verwöhnt, waren die besten.

Während also Sigimund von Laurin sich die Zeit mit dem Zeugen von Nachkommen vertrieb oder mit seinem Sohn durch die angrenzenden Wälder ritt, vermehrten die Trauben wie von selbst seinen Reichtum. Er musste keinen Finger rühren.

»Du kannst dich stellen, sooft du willst«, fügte Sigimund an seinen Sohn gerichtet hinzu, »Wilbrand wird uns trotzdem angreifen.«

Er wandte sich der schmalen Öffnung zu, die ihm einen Blick hinaus auf sein Land gewährte – und auf die Weinberge, über die sich der Raureif gelegt hatte.

Wilbrands strategische Maßnahme der Einkesselung begrenzte seine eigenen Möglichkeiten auf ein halbes Dutzend. Das war nicht unbedingt eine Quelle der Freude, erleichterte Sigimund aber dennoch, weil sich dadurch Überschaubarkeit einstellte.

Sicherlich gab es weiterhin die Chance, dass Isenhart und Konrad unbemerkt hinter die Linien der Söldner gelangten. Aber was dann? Der Abt musste vermuten, Konrad hier in der Burg stellen zu können – und würde seine Pläne also nicht ändern.

Schlimmer noch, die beiden könnten bei ihrer Flucht gefasst werden. Wilbrand von Mulenbrunnen würde Konrad den Prozess machen und doch wissen, dass sein Vater Sigimund niemals den Ausgang abzuwarten bereit wäre. Was Sigimund dazu zwänge, seinerseits gegen Mulenbrunnen zu ziehen. Doch mit zahlenmäßiger Unterlegenheit – davon ging er aus – bei dieser Witterung ein Kloster anzugreifen, das sich im Schutze Spiras und unter der Schirmvogtei des Kaisers befand, war – vorsichtig ausgedrückt – unklug.

Er konnte die Dinge drehen und wenden, wie er wollte, bei Licht und von allen Seiten betrachtet, konnte er sein und das Heil aller anderen nur in einer wirksamen Verteidigung der Burg suchen. Er wandte sich zu den anderen um.

»Wir werden niemanden finden, der uns hilft«, stellte der Herr des Hauses Laurin fest. Ein kurzes, mit einer Spur Grimmigkeit versehenes Lächeln glitt über sein Gesicht, als er fortfuhr: »Wir sind auf uns gestellt. Wilbrand hat die Verbindungen nach außen gekappt. Ein kluger Schritt – aber kein weiser. Denn es ist Winter. Seine Männer frieren, sie brauchen Holz, sie brauchen Fleisch, sie brauchen Getreide. Sie brauchen Unterkünfte mit frischem Stroh, damit sie nicht am Boden festfrieren.«

Ein Fürst kann im Frieden und im Krieg zwei völlig unterschiedliche Persönlichkeiten annehmen – das waren Walthers Worte.

Nun, auf Sigimund von Laurin traf das nicht zu, er blieb ein und derselbe Mann. Doch in einer Lage, in der andere vermutlich die Waffen gestreckt hätten, blühte er regelrecht auf. Sein Blick wurde hellwach, seine Bewegungen waren die eines Zwanzigjährigen, seine Anweisungen formulierte er knapp und präzise.

»Rupert, wir brauchen Pfeile und Armbrustbolzen, außerdem Öl – alles, was sich an Öl herstellen lässt. Vater, könnt Ihr Rupert dabei zur Hand gehen?«

»Ich wollte eigentlich beten und …«

»Das ist gut. Gleich anschließend könnt Ihr für unser aller Seelenheil beten. Mein Dank ist Euch gewiss. Isenhart, das Haupttor muss mit Querbalken verstärkt werden, Chlodio soll das … dein Vater soll das erledigen, danach fertigst du Pfeil- und Bolzenspitzen. Konrad, du gehst zur Siedlung. Es soll nichts zurückgelassen werden.« Dabei nickte Sigimund von Laurin sich selbst zu, als wolle er sich in dem, was er plante, bekräftigen.

Die Männer zogen los.

»Konrad, noch etwas«, sagte sein Vater, »der Steinmetz soll alle Karren mit Findlingen beladen und in den Burghof ziehen lassen. Isenhart.«

Isenhart hatte den Esssaal fast verlasen, als das Wort seines Herrn ihn einholte.

»Du bleibst noch«, fügte Sigimund hinzu.

Isenhart befürchtete, Sigimund von Laurin würde auf Anna und ihn zu sprechen kommen, auf den Bernstein, auf all die Stunden, die er mit Anna geteilt hatte, und während die anderen eilig den Raum verließen, beschloss Isenhart, ihm alles zu sagen. Ihm von der Schönheit der Tochter und von den gemeinsamen Momenten zu berichten, die ihn in einen Zustand der Glückseligkeit emporgerissen hatten. Diese Kraft der Wahrhaftigkeit verlieh seinem Stand Sicherheit und seiner Haltung Würde. Um Anna, um ihrer geflüsterten Schwüre willen war er nicht bereit, auch nur einen Fußbreit zu weichen oder sein Wohl in Ausflüchten zu suchen, die das Andenken an Anna entehrt hätten.

Und wenn er dafür sein Leben lassen musste – ja, was dann?

Niemand, der auf Erden wandelte, blieb dieser letzte Gang erspart. Und wenn er ihn jetzt antreten sollte, dann war es ihm süß, es ihretwegen zu tun.

Sigimund trat an ihn heran, seine Miene war ernst, er kniff die Augen zusammen.

»Ich habe Eure Tochter geliebt«, kam Isenhart ihm zuvor, und auch wenn sein Herz ihm vor Angst bis zum Hals schlug, gab ihm die Erinnerung an Anna die nötige Kraft fortzufahren, »ich tue es noch immer. Und ich werde unter keiner Strafe der Welt dieses Bekenntnis zurücknehmen. Versteht Ihr? Ich werde meine Hand nicht von Annas lösen und …«

»Ja, schon gut«, knurrte Sigimund von Laurin. Isenhart hätte nicht geglaubt, dass es seinem Herrn möglich war, noch näher zu rücken. War es aber. Er konnte Sigimunds Atem spüren, ihn riechen.

»Was war, ist nicht mehr«, sagte Sigimund mit leisem Ernst, »dass ich dir nicht Arme und Beine breche, das ist, weil Anna es nicht gewollt hätte. Und weil ich das respektiere, obwohl sie eine Frau war. Und das, Isenhart, ist das letzte Mal, dass wir beide über meine Tochter gesprochen haben.«

Isenharts Unterkiefer begann zu zittern, er fürchtete, wenn er noch länger in diese dunklen Pupillen blickte, würde er in diesen Blick hineinfallen und für immer verschwinden.

Sigimund von Laurin trat wieder zurück. »Was ist mit deinem Kiefer?«

»Nichts, Herr.«

»Gut. Und jetzt erzähl mir von den Soldrittern.«

Isenhart hob den Blick wieder. Er lebte noch, es würde keine Strafe geben. »Es waren etwa ein Dutzend«, begann er, »sie kamen von Osten.«

»Ich will nur wissen, wie sie ausgesehen haben«, sagte Sigimund.

Isenhart versuchte, sich zu konzentrieren und möglichst detailliert das Aussehen jener Männer zu beschreiben, die er am Neckarufer beobachtet hatte. »Ihr Lederwams war mit Metall beschlagen, Eisen, schätze ich. Sie trugen Kettenhemden und Helme.«

»Waren sie mit Lanzen bewaffnet? Außergewöhnlich langen Spießen? Und Armbrüsten?«

Isenhart war, als wäre Sigimund von Laurin dabei gewesen und hätte ihm über die Schulter geschaut. Er nickte, denn genau darin bestand die Bewaffnung dieser Männer. Und jetzt, im Rückblick, erinnerte er sich auch wieder an ihre ungewöhnliche Betonung der Wörter, wovon er Sigimund berichtete.

Das nennt man Dialekt, hörte er Walther von Ascisberg sagen.

Sigimund von Laurin nickte: »So sprechen die Leute in Lothringen. Das sind Söldner aus Brabant, die dir begegnet sind: Brabanzonen.«

Isenhart entging weder Ernst noch Respekt, die in der Stimme seines Herrn mitschwangen.

Sigimund von Laurin wusste genug, um sich ein Bild von seinem Feind zu machen. Er trat wieder an die Maueröffnung und sog die frische Luft ein. Der Fürst genoss diesen Augenblick der Einsamkeit, es würde für lange Zeit der letzte sein. Wenn nicht der letzte überhaupt.

Die Brabanzonen waren keine eilig rekrutierten Bauernlümmel, die mit Knüppeln und Dreschflegeln ins Feld zogen, sondern auf den Kampf spezialisierte Söldner, das war weithin bekannt. Kunstfertig und furchtlos setzten sie ihre Piken gegen anstürmende Reiterei ein, die päpstliche Ächtung der Armbrust kümmerte sie nicht. Selbst wenn Ritterheere aufgeboten wurden, flohen sie nicht. Ihren Sold verdoppelten und verdreifachten sie durch Plünderungen, wobei ihnen in Hinsicht auf Gründlichkeit niemand das Wasser reichen konnte.

Auch Barbarossa hatte 1500 von ihnen für die Schlacht von Legnano rekrutiert, um sie den mailändischen Truppen entgegenzuwerfen. Sie wurden ebenso wie ihre Waffenbrüder, die Geldoni und die Armagnaken, von Königshäusern im Heiligen Römischen Reich und in Britannien eingesetzt.

Und nun bot Wilbrand von Mulenbrunnen sie gegen das Haus Laurin auf.

Mit der Achtung, vielleicht sogar der latenten Furcht Wilbrands vor einem Kampf mit Sigimund, die der Einsatz von Brabanzonen verriet, hielt der Burgherr sich nicht auf, vielmehr schloss er umgehend auf die taktische Information, die das Vorgehen des Abtes beinhaltete: Wilbrand stellte sich nicht auf eine lange Belagerung ein.

Drüben, in der Pfalz, aber auch in Sachsen war es zu bis zu vierjährigen Belagerungen gekommen, die letztlich auf ein Aushungern jener hinausliefen, die sich verschanzt hatten.

Wilbrand mochte ein reicher Mann sein, doch die Besoldung der Brabanzonen war kostspielig – und blieb sie aus, konnten die lothringischen Söldner schnell die Seiten wechseln. Das und die frostigen Temperaturen ließen darauf schließen, dass Wilbrand von Mulenbrunnen die schnelle Entscheidung suchte.

Das kam Sigimunds Gemüt entgegen, untätiges Abwarten war ihm eine Qual. Erleichtert und mit jener beherzten Entschlossenheit, mit der er Mechthilds Vater um die Hand seiner Tochter gebeten hatte, machte er sich ans Werk und traf die nächsten Entscheidungen.

Das Hab und Gut der Bauern- und Handwerkerfamilien, die im Umkreis der Burg lebten, war schnell auf Karren geladen, die Menschen besaßen nicht viel, einen Tisch, ein paar Kleider, Kleinvieh.

Einige wenige wollten sich zu Verwandten in benachbarten Fürstentümern durchschlagen und hofften – sofern sie nicht den Plünderungen der Soldritter oder dem Frost zum Opfer fielen –, dort aufgenommen zu werden.

Die Mehrheit der Menschen, denen Konrad begegnete und denen er den Schutz der Burg anbot, reagierte dankbar. Natürlich gab es die Möglichkeit, sich in ihren Behausungen zu verkriechen und zu hoffen, dass die Fehde an ihnen vorbei ausgetragen würde, dass es zu keinen Plünderungen, Vergewaltigungen und sonstigen Brutalitäten und Nachstellungen käme. Konrad war verblüfft, wie viele diese Unsicherheit gegen die die nicht minder zwiespältige Gewissheit einzutauschen bereit waren, die sein Vater ihnen bot: Tod oder Überleben. Ein Dazwischen gab es nicht.

Sie murrten nicht einmal, als Konrad den Männern, die ihn bereits bei der Festnahme von Alexander von Westheim begleitet hatten, befahl, die Hütten in Brand zu setzen. Auch wenn die Frauen, Kinder und Männer mit eigenen Augen die manchmal jahrelange Arbeit an ihren Behausungen in Flammen aufgehen sahen, sagte ihnen der gesunde Menschenverstand doch, dass es zu ihrem Wohl geschah. Kein Vieh, mit dem die Brabanzonen sich den leeren Bauch vollschlagen konnten, kein Strohlager, auf dem die Soldritter ruhen, und keine Feuerstätte, an deren Flammen sie sich wärmen konnten.

»Wir werden alles wieder aufbauen«, versprach Konrad einer Familie, denen der Vater fehlte.

Eine Bauersfrau, den Rücken gebeugt, mit Schwielen an den Händen und schweren Tränensäcken unter den Augen, die mit einer Schar von fünf Kindern den Weg zur Burg hinaufzog, nickte ihm zu. »Ihr seid Konrad von Laurin«, sagte sie, als sei sie sich nicht ganz sicher, weshalb Konrad ein Nicken andeutete, »wir legen unser Heil in Eure Hand. Und in die Eures Vaters.«

»Wir werden euch Schutz und Schild sein«, antwortete Konrad und bemerkte, dass er das Gefühl, das ihn dabei erfasste, bereits kannte. Er hatte es erlebt, als Isenhart sich entschlossen hatte, ihn in den Kreuzzug zu begleiten. Auch jetzt stellte es sich wieder ein und verband ihn mit den Gedanken seines Vaters: die schützende Hand über die legen, die einem anvertraut waren.

Der feste Glaube dieser Frau an den Schutz, den man ihr gewähren wollte, erschütterte Konrad in seinem Innersten und war ihm gleichzeitig Ansporn, dafür zu sorgen, dass niemand, wirklich niemand aus dem Gesinde zu Schaden kommen sollte. Und wenn es ihn sein Leben kostete.

Dunkle Rauchschwaden erhoben sich aus der Siedlung und verdunkelten die Burg, die weit oberhalb lag.

»Du machst nichts anderes, als diesen Gang zu bewachen«, hatte Sigimund von Laurin angeordnet und dann hinter sich auf zwei Türen gedeutet, »die Kammer deiner Herrin und die Kammer meiner Tochter Sophia.« Um ihm dann wieder in die Augen zu schauen, ihn kurz zu mustern und dann hinzuzufügen: »Solange du noch einen Atemzug tust, wird kein Mann lebend diesen Durchgang passieren.«

»Niemand, Herr.« Seine Antwort ging ihm mit solch grimmiger Entschlossenheit über die Lippen, dass selbst der Burgherr kurz stutzte, bevor er wieder seiner Wege ging und weitere Vorbereitungen traf.

Giselbert war sowohl aufseiten des Hauses Laurin wie aufseiten Wilbrands vermutlich derjenige, der sich am meisten auf diese Belagerung freute, die seinetwegen gerne bis zum Jüngsten Tag andauern konnte. Endlich war er unter Leuten!

Keine salzigen Tränen mehr auf das einsame Nachtlager, beinahe hätte er ein fröhliches Lied angestimmt, so sehr hüpfte ihm das Herz. Er schaute den Gang hinunter, in dem jetzt eine Tür aufflog, durch die eine junge Frau huschte und zur anderen Seite hin verschwand. Die Kammer von Sophia. Die an starkem Fieber litt, Sigimund von Laurin hatte es kurz erwähnt.

Das also war der Grund für das plötzliche Ausbleiben ihrer heimlichen Treffen. Sie war nicht etwa verstimmt, Sophia war krank. Und sie trauerte um ihre Schwester. Natürlich! Wie hatte er ihr nur etwas anderes unterstellen können?

Um sich für diesen widerwärtigen Gedanken, den er – wenn auch nur kurz und in höchster Verzweiflung – gehegt hatte, zu strafen, rammte er die Stirn gegen das Gemäuer. Nicht zu heftig, schließlich musste er einen klaren Kopf bewahren.

Erfreut über all die Flüchtlinge, die im Burghof eintrafen und deren Anblick ihm reichhaltige Zerstreuung bot, lehnte er sich mit den Ellenbogen auf den Sims und sog alles auf, was da unten vor sich ging. Diese Ansammlung von Gesichtern, es mochten bald an die hundert sein, war ihm nur bei Hinrichtungen vergönnt. Im Gegensatz zu solchen Anlässen, bei denen von einem Carnifex höchste Konzentration erwartet wurde, eröffnete sich für Giselbert nun die Möglichkeit, all das Treiben gelassen zu beobachten. Als Unbeteiligter sozusagen.

Ein zufriedener Seufzer ging ihm über die Lippen. Möglicherweise, dachte er und erschrak kurz über die Frohlockung, die ihm bei diesem Gedanken wohlig durch die Lenden fuhr, war dieses der Beginn einer Katastrophe. Einer Katastrophe, die das Haus Laurin verschlingen würde und in der ihm Sophias Rettung gelang. Weitab von hier, wo sie Menschen ohne Herkunft und Vergangenheit waren, konnte er den Fluch des Vaters abstreifen und mit ihr an seiner Seite von vorne beginnen. Konnte endlich Bestandteil einer Gemeinschaft sein und mit Sophia das Lager teilen. Wegen ihrer Rettung würde sie ihm bis an sein Lebensende dankbar sein. Ihn vielleicht sogar verehren.

Giselbert konnte sein Glück kaum fassen, die Vision dieser Zukunft lag zum Greifen nahe und wurde nur durch eine Gestalt, die unten im Burghof knappe Kommandos erteilte, gestört. Der Carnifex erkannte Hieronymus, der den eintreffenden Flüchtlingen ihre Unterkünfte zuteilte.

Die Stallungen, die ohnehin nur wenige Pferde beherbergten, konnten das Vieh, das die Familien mit sich führten, aufnehmen. Die Frauen mit den Kleinkindern brachte Hieronymus in den Stuben von Chlodio und dem Bogner unter, deren Unterkünfte sich noch am besten heizen ließen. Der Pinkepank, wie immer angetrunken, begann zu lamentieren, aber Hieronymus, der in Eile war, versprach ihm für alle Sünden des kommenden Jahres Ablass. Chlodio akzeptierte mit einem breiten Lächeln.

Ein gewisser Pragmatismus war manchmal unumgänglich.

Direkt neben der Schmiede, deren Ofen ein solches Maß an Hitze abstrahlte, dass Isenhart bei winterlichen Temperaturen mit freiem Oberkörper arbeitete, hieß er die Bauern ein Notlager aus Holz und Stroh errichten. Den Alten und Gebrechlichen gewährte er in der Kapelle Unterkunft, in der – so hatte Sigimund von Laurin es angeordnet – auch das Essen ausgegeben wurde, Bier und Getreidebrei, außerdem Milch für die Kinder. Keinem unter sechs Jahren sollte Bier verabreicht werden, nur gepanschter Wein.

In den Gewölben der Burg wurden außerdem Räucherfleisch, Dörrobst sowie getrockneter Fisch, Erbsen und Linsen bereitgehalten, um die Mägen zu füllen. Der Medicus wurde angehalten, seinen Vorrat an Heilkräutern auf ein Minimum zu reduzieren und den Hauptbestandteil dem Würzen der Speisen zu überlassen. Salz hatte der Burgherr gehortet, also kamen Petersilie, Minze, Dill und Kümmel hinzu.

Die Getreidekammern waren noch mehr als halb voll. Auf den Beständen an Weizen, Hafer und Roggen gründete sich die Zuversicht, alle über den Winter bringen zu können. In der Burg lebten in Friedenszeiten um die fünfzig Menschen, doch nun musste sie rund zweihundert Seelen Unterkunft und Schutz bieten.

Hieronymus warf noch einmal einen Blick hinüber zu Isenhart, der Eisenspitzen produzierte. Unablässig ließ er den Hammer auf den Amboss niederfahren, er schien in diesen Stunden niemals müde zu werden, und obgleich sein schmaler Oberkörper von einer Sehnigkeit durchzogen wurde, die ihn an Bruder Reinhold erinnerte, fragte Hieronymus sich doch, woher der Junge diese Kraft nahm.

Die Chancen standen schlecht, da mochte sein Ziehsohn noch so viele Pfeilspitzen fertigen, auch wenn Chlodio – gegen seinen Willen – von dem Stakkato der Schläge beeindruckt war. Er genehmigte sich einen ordentlichen Schluck aus seinem Krug und beobachtete das Treiben in der Burg.

Gesichter, in die sich die harte Feldarbeit gegraben hatte und in deren Augen nun die Angst nistete, zogen an ihm vorbei. Männer, Kinder, Alte, sie alle steckten in drei- und vierfach gefaltetem Leinen, um der Kälte zu trotzen. Einige wenige hatten Rinderhäute oder gar Tierfelle über die Schultern geworfen. Aus ihren Poren kroch die Angst und machte die Luft im Hof zum Schneiden dick, ein saurer Geruch breitete sich aus. Selbst die mitgeführten Tiere, Hühner, Schweine, Ziegen, sogar zwei Pferde und einige Rinder, schienen unruhig. Einige Schafe rannten blökend durch die Menge, verfolgt von zwei Bauerntöchtern, die erfolglos versuchten, sie einzufangen, bis ein Hund sie endlich stellte.

Dreißig Mann unter Waffen, das war es, was Sigimund von Laurin aufzubieten hatte. Kaum einer von ihnen hatte je an einem Kampf teilgenommen. Es waren Seiler, Bogner, Steinmetze, Färber, zwei Schmiede – und ein Hühnerzüchter. Aus der Schar der Flüchtlinge ließen sich vielleicht noch einmal drei Dutzend Mann rekrutieren. Aber die hatten ihre Zwistigkeiten bisher unter der Zuhilfenahme von Keulen oder Forken ausgetragen.

Was hatten die einem Brabanzonen entgegenzusetzen, das fragte Chlodio sich. Was sollten sie ausrichten gegen die sieben, acht Fuß langen Piken?

Sosehr das Bier ihm auch wohlige Mattheit verschaffte, wusste Chlodio doch nur zu genau, dass die Burg in dem Augenblick verloren war, in dem es Wilbrands Truppen gelang, die Mauern zu überwinden. Sigimund von Laurin würde alles daransetzen müssen, die Brabanzonen und Wilbrands Gefolgsleute auf Distanz zu bekämpfen.

So, wie Isenhart sich ins Zeug legte, hegte der offenbar noch die Hoffnung, dass das gelingen könnte. Chlodio hingegen, der den Burgherrn oben an der Brustwehr entdeckte, wo dieser sich einen Überblick über die Lage verschaffte, trat mit Sigimund in ein lautloses Zwiegespräch.

Von Schmied zu Herr, Sigimund, die Dinge haben einen schlechten Lauf genommen. Mir starben die Frau und das Kind, deiner Tochter hat man das Herz herausgerissen, der Abt belagert deine Burg, und – ohne kleinlich erscheinen zu wollen – auch die Ernte fiel dieses Jahr äußerst knapp aus.

Und wenn Gott dieses Haus und seine Menschen nicht verlassen hat, muss es dann nicht wenigstens einen Fluch geben, der sich über das Geschlecht der von Laurins gelegt hat? Ist die Häufung all dieser Widrigkeiten denn sonst zu erklären?

Nein, befand Chlodio. Und wenn man das Unvermeidbare nicht mehr abzuwenden in der Lage war, konnte man sich immerhin noch selbst vom Unvermeidlichen abwenden.

Den Querbalken hatte er am Tor angebracht, es gab nichts, was er dem Haus Laurin noch schuldete.

Henrick sah, wie sein Vater sich erhob und damit begann, ein paar Habseligkeiten zusammenzuklauben. Nach dem Tod seiner Mutter Ida gab es nur noch einen Menschen, für den er mehr empfand als für seine Hühner: seinen Bruder.

Sein Vater hatte sich schon früh von ihm abgewandt, was Henrick zunächst in ein Messen mit Isenhart trieb, bis er erkannte, dass auch dieser ohne die Zuneigung des Vaters aufwuchs. Chlodio hatte nur eine grobe Zärtlichkeit für Ida übrig, immer dann, wenn er sie sich nahm. Ansonsten erhielt niemand seine Zuneigung, weil Chlodio keine verspürte.

Isenhart kümmerte sich um alle. Sicher, er konnte einem hin und wieder zur Last fallen mit all seinen Fragen und merkwürdigen Gedanken. Doch niemals ließ er es an Fürsorge fehlen.

Henrick wusste sehr wohl von der Bereitschaft seines Bruders, den Burgherrn bis nach Kleinasien zu begleiten, um Konrad von Laurin zu retten. Er hatte dem Vater einen Großteil der täglichen Verpflichtungen abgenommen, um nach Idas Ableben die Schmiedearbeit ganz alleine zu verrichten. Und wenn Chlodio am späten Nachmittag volltrunken auf dem kalten Boden lag, war es Isenhart, der ihn in die Stube schleppte und aufs Strohlager bettete.

Ihm, Henrick, war er Freund und Berater zugleich. Isenhart – obwohl ein Jahr jünger als er selbst – hatte ihn nach dem Tod der Mutter getröstet und eines Abends großes Unglück von ihm abgewendet.

Sigimund von Laurin hatte Maximilian von Grundauf und seinem Sohn Dolph Unterkunft für die Nacht gewährt, es fehlte an Wildbret, also beauftragte er Konrad, unten im Hof vier Hühner von Henrick zu schlachten.

»Nein«, sagte Isenhart aus der Dunkelheit der angrenzenden Stube heraus und trat hinaus, um Konrad und Henrick gegenüberstehen zu sehen. Er hatte alles mit angehört.

Henrick war das Blut aus dem Gesicht gewichen, Konrad seufzte, mit seinen Zehen malte er Halbkreise in den Sand. »Es sind nur Hühner, Isenhart«, spielte er die Sache herunter, er wusste nur zu genau, wie sehr Henrick an den Tieren hing.

»Das sind sie nicht«, schleuderte Henrick ihm so entrüstet entgegen, dass sein Speichel fein zerstäubt im Hof niederging.

»Mein Vater hat es befohlen«, entgegnete Konrad.

Darauf wusste Henrick nichts mehr zu sagen, geradezu schmerzlich nahm er seine Beschränktheit wahr, die vieren seiner Hühner buchstäblich den Hals kosten würde.

»Herr und Knecht, hm? Der Herr befiehlt, der Knecht muss sich beugen«, sagte Isenhart. Er sagte es leise und ruhig, und doch war jede Silbe ein Stachel, der in Konrads Fleisch fuhr.

Er hatte es gewusst, zumindest geahnt, dass ihm für diesen einen Satz, der ihm damals über die Lippen gekommen war, eines Tages die Rechnung präsentiert werden würde. Und hier war sie. Es machte die Angelegenheit nicht einfacher, dass er Isenharts Blick auf sich gerichtet fühlte, auf jedes Heben des Lides oder Zucken des Mundwinkels.

»Schön, was soll ich jetzt machen?«

Isenhart verzog den Mund zu einem leisen Lächeln, er trat an Konrad heran. »Die Frage ist, wer Herr ist und wer Knecht.«

»Du bist nicht mein Knecht«, erwiderte Konrad vorsichtig und wandte den Blick zu Henrick, »aber dein Bruder ist es.«

»Dann bist du Knecht deines Vaters«, warf Isenhart ein, »dabei muss man nur zwei Dingen gegenüber Knecht sein, Gott und dem Gewissen. Also?«

Konrad wie Henrick waren konsterniert, sie konnten den Gedanken kaum folgen, geschweige denn den logischen Schluss artikulieren, den Isenhart mit dem Wort »also« eingefordert hatte.

»Also was?«, fragte Konrad verärgert.

»Also musst du dich entscheiden, ob du Knecht sein willst oder Herr.«

»Herr.«

»Dann geh und sag deinem Vater, dass wir keines der Hühner herausgeben. Natürlich machst du dich damit gegenüber deinem Vater zum Herrn, aber zu unserem Knecht.«

Konrads Verwirrung war komplett, Henricks Augenlider flatterten vor Nervosität.

»Wie soll ich ihm das erklären, Isenhart? Sag mir das mal.«

»Gar nicht. Ich erklär’s ihm.«

Konrad von Laurin fühlte sich wie ein kleines Kind, dessen Intellekt noch nicht ausgebildet genug war, um dem Gespräch von Erwachsenen zu folgen.

»Es könnte meinen Vater sehr wütend machen, wenn er zu dieser Stunde selbst ein paar Hühner besorgen muss.«

»Ich glaube nicht, dass er sich dem Zorn überlässt«, antwortete Isenhart gelassen, weil er Sigimund damit zitierte.

Konrad versuchte, mit einem besorgten Blick zu ergründen, ob sein Freund sich der Tragweite seines Verhaltens bewusst war. Dann überquerte er den Burghof wieder, um wenig später mit seinem Vater zurückzukehren.

Dieser richtete ohne Umschweife die Frage an Henrick, wo dessen Impertinenz herrührte, mit der er seinem Herrn die vier Hühner verweigerte, nach denen er verlangte. Henrick begann zu zittern, daraufhin ergriff Isenhart das Wort.

Sein Bruder hatte diverse Kreuzungen durchgeführt. Isenhart meinte anhand der Ergebnisse herleiten zu können, dass es – wie beim Menschen auch – Eigenschaften gab, die von den Vätern an die Söhne – in diesem Fall an die Töchter – weitergegeben wurden.

»Konrads zupackendes Wesen, wenn ich das sagen darf, stammt von Euch. Er hat die Augen seiner Mutter, er hat Euren Mund.«

Dann entführte Isenhart Sigimunds Geist – freilich, ohne es zu wissen – in die Grundlagen der Vererbungslehre. Isenhart machte ihm nachvollziehbar, dass die vier Hühner, um die es ging, zum Verspeisen viel zu schade waren, weil sie den Grundstock einer neuen Gattung von Hühnern bildeten, die das Doppelte an Eiern und Küken abwerfen würde. Raubte man seinem Bruder für den schnellen Genuss die Hühner, schnitt man sich auf längere Sicht ins eigene Fleisch, weil Henricks Bemühungen damit um gut zwei Jahre zurückgeworfen werden würden. Abschließend stellte er fest, dass man dem Herrn des Hauses Laurin niemals den Zugriff auf das Geflügel verwehren wollte.

Sigimund ließ die Augen lange auf dem jungen Pinkepank ruhen. Dann endlich nickte er, und Maximilian und Dolph von Grundauf wurden mit Bohnen, Kresse und Getreidebrei beköstigt. Der Traube Laurin lange und ausdauernd zusprechend, lobten sie sogar den Brei. Nie zuvor hätten sie erleseneren zu sich genommen.

Diesen ebenso klugen wie tapferen Beistand würde Henrick seinem Bruder niemals vergessen. Doch heute, wenn Gott sich gegen das Haus Laurin stellte, würde auch Isenhart die Hühner nicht schützen können.

Mithilfe der Spitzhacke trieb Henrick im Hühnerstall eine Grube in den Grund, etwa vier Fuß tief. Er beschichtete den Boden mit Lumpen und Stroh und ging bei der Vorbereitung des Verstecks für seine Hühner auch sonst mit größter Sorgfalt vor.

Sein Bruder hatte ihm geraten, das Federvieh mithilfe von hohlen Holzstäben mit Luft zu versorgen. Henrick musste lächeln: Woher nahm Isenhart nur solche Einfälle?

Sie warteten zusammengekauert auf der Brustwehr. Isenhart hatte zwischen Konrad und Rupert Position bezogen. Sie verfügten über sechs Armbrüste und achtzehn Bogen. Bolzen und Pfeile waren in ausreichender Menge vorhanden.

Konrad hatte die Armbrust, die sein Vater ihm reichte, an Isenhart weitergegeben, der in seinen Augen der bessere Schütze war.

Henrick rührte das Öl im Kessel um, der sich oberhalb des Tores befand. Ihm standen vier Bauern zur Seite, die gemeinsam die Kraft aufbrachten, die es benötigte, um den Kesselinhalt über die Brustwehr zu kippen.

Sigimund von Laurin starrte unentwegt ins Dunkel, hinab zu den Bäumen und Sträuchern, die den Weg zur Burg säumten. Um sich herum hatte er die Bogenschützen geschart, die aus dem Gesinde stammten. Deren Pfeilspitzen waren mit Stoff umwickelt.

Und dann kamen sie. Für alle unüberhörbar rückte etwas vor, näher an die Burg heran. Mit stoischer Stetigkeit kündeten das Rasseln von Kettenhemden, das Stapfen der Pferde und das Schnarren von Metall auf Metall, das entstand, wenn die Glieder von Plattenpanzern sich beim Gehen aneinanderrieben, von Wilbrands vorrückender Streitmacht.

Den Feind nicht zu sehen bereitete Isenhart Unbehagen. Und als er zu Konrad blickte, spiegelte sich dieses Gefühl in den Augen seines Freundes.

»Wie viele sind das?«, flüsterte Isenhart. Konrad konzentrierte sich einen Augenblick, dazu schloss er die Augen und hob den Kopf etwas, sodass sein Ohr über die Kuppe der Brustwehr reichte.

»Viele«, sagte Konrad.

Isenhart seufzte. So viel war ihm auch klar. »Mehr als zweihundert?«

»Bestimmt.«

»Dreihundert?«

»Vielleicht, ja«, raunte Konrad.

Seine Einschätzung sollte sich als recht exakt erweisen, Wilbrand hatte 320 Angreifer um sich geschart.

»Bolzen spannen, Pfeile anlegen«, befahl Sigimund, denn für den Bruchteil eines Augenblicks drang der Mondschein durch die Wolken und gab dem aufmerksamen Betrachter den Blick auf ein Gemenge aus Metall, Helmen, Piken, Armen und Beinen preis.

»Brandschützen, Pfeile entzünden.«

Die Bogenschützen tauchten ihre mit Stoff bespannten Pfeilspitzen erst in den Kessel mit Öl und dann in das kleine Feuer, das darunter loderte. Sofort entflammten die Pfeile. Der Burgherr musste den Männern kein weiteres Kommando erteilen, er hatte sie zuvor instruiert. Sie ließen die Pfeile von den Sehnen schnellen. Wie rasende Lichtkugeln zischten sie hinab in die Dunkelheit und schlugen ein. Im Boden, zwei davon in Baumstämme. Gemeinsam illuminierten sie ihre nähere Umgebung. Ritter und Brabanzonen wurden von den brennenden Pfeilen des Schutzes der Nacht beraubt. Ganz vorne marschierte ein Dutzend, das einen wuchtigen, länglichen Gegenstand trug.

»Sie haben einen Rammbock«, stellte Rupert fest und sprach damit das aus, was alle sahen. Den Rammbock und diese schwarz-silbrige Masse mit Dutzenden von Köpfen und Piken, gesichtslose Glieder eines Ungeheuers, das sich unaufhaltsam näherte.

»Konrad, zu den Steinen«, wies sein Vater ihn an, »Brandschützen, eine zweite Linie«, fügte er hinzu, denn die ersten Brabanzonen zertraten die Lichtsignale, die die brennenden Pfeile bildeten.

»Greift an!«, rief Sigimund von Laurin. Er selbst schoss den ersten Armbrustbolzen hinab in die Menge. Alle anderen folgten. Isenhart und die Bogenschützen visierten die Gegner grob an – an einen gezielten Schuss war bei dieser Distanz und diesen Lichtverhältnissen nicht zu denken – und schickten ihre Geschosse auf die Reise. Die meisten Pfeile zersplitterten beim Aufprall auf die Glieder der Kettenhemden oder dem Metall der Helme, zwei Armbrustbolzen fanden ihr Ziel.

Wie von Sigimund befohlen, setzten die Brandschützen eine zweite Feuerlinie in das abschüssige Gebiet unter ihnen. Die anderen spannten Bogen oder Armbrust und ließen die Geschosse hinabsausen. Dies war die Gunst der Stunde, das musste ihnen niemand erklären. Der schmale Weg, der sich in engen Kurven schlängelnd auf das Burgtor zubewegte, zwang die Angreifer zu einer engen Formation, sie gaben ein vortreffliches Ziel ab, ohne Chance, durch das Bilden einer lockeren Formation die Trefferrate der Schützen auf der Brustwehr zu verringern.

Diese griffen – kaum hatte sich ein Pfeil von ihrer Sehne gelöst – zum nächsten. Schnell lief ihnen der Schweiß über Stirn und Rücken, so emsig jagten sie ihre Projektile in die gegnerische Menge, in der mit einem Mal an die hundert Lichtquellen erstrahlten. Sie erhellten das Gebiet unterhalb der Burg und ermöglichten nun einen Blick auf das Heer, das gegen die Burg zog.

Fast gleichzeitig sausten die Lichter der Gegner empor, das hundertfache Vorschnellen der Bogensehnen war wie ein einziger, großer Flügelschlag eines Vogels, der in der Nacht erhallte. Über hundert Brandpfeile jagten knapp über die Brustwehr und gingen im Hof nieder. Eine Ziege, die getroffen wurde, schrie gellend auf und galoppierte im Burghof umher.

Isenhart blickte sich über die Schulter, er spürte das Erschauern der Männer ringsherum, deren Mut durch die bloße Anzahl der Pfeile gekühlt wurde. Einige Brandpfeile staken in Holzbalken oder Karren, Bauernweiber liefen umher und löschten sie, einige versuchten die Ziege einzufangen.

»Konrad, die Steine!«, brüllte sein Vater.

Konrad von Laurin hievte mithilfe des Steinmetzes und zweier Bauern einen zum groben Quader gehauenen Findling auf die Brustwehr und ließ ihn hinabfallen. Der Quader krachte auf den gefrorenen Boden, das abschüssige Gelände ließ ihn mit zunehmender Geschwindigkeit zu Tal poltern. Mit einer Urgewalt riss er eine Schneise in die Angreifer, tötete vier, fünf von ihnen, ließ Helme, Piken und Kettenhemden zerbersten und in einem wilden Reigen durch die Luft fliegen, bevor der Findling die Teile der Streitkräfte heimsuchte, die sich noch weiter unterhalb befanden.

Und während Konrad mit seinen Helfern den nächsten Quader über die Brustwehr stieß, während die ersten Schreie der Verletzten zu ihnen hinaufdrangen, schossen Isenhart und die anderen ohne Unterlass in die Menge der Angreifer.

Diese suchten nun Schutz hinter den Bäumen und Bodenwellen. Im ersten Moment schien es, als sei ihr Vormarsch ins Stocken geraten, bis zwölf Brabanzonen den Rammbock im Laufschritt die Anhöhe hinauftrugen.

»Armbrüste«, rief Sigimund von Laurin, »die Rammbockträger!«

Isenhart und die anderen Armbrustschützen setzten die Ellbogen auf der Brustwehr auf und visierten das Dutzend Feinde an, das den Rammbock unter ihren Blicken zum Tor befördern wollte. Eine Salve aus Armbrustbolzen ging auf sie nieder, tötete einen von ihnen auf der Stelle und verletzte zwei andere so schwer, dass sie zu Boden gingen, wo sie sich vor Schmerzen krümmten.

Inzwischen raste der vierte Quader zu Tal und traf auf ein Pferd samt Reiter, die er beide mit sich in die Tiefe riss. Aus der Deckung der Bäume liefen drei Brabanzonen zu dem Rammbock und nahmen die Position ihrer verletzten und getöteten Kampfgefährten ein.

Dass das Verharren der restlichen Söldner nicht aus Verunsicherung, sondern aus strategischem Grund erfolgt war, erfuhren sie recht bald, als sie die Rammbockträger erneut unter Beschuss zu nehmen versuchten. Es hagelte Armbrustbolzen.

Zwei davon trafen Rupert am Kopf und spalteten ihm den Schädel, Isenhart selbst trennte ein Bolzen den unteren Teil seines rechten Ohres ab. Wieder rauschten hundert Brandpfeile über sie hinweg und gingen im Hof nieder. Gleichzeitig donnerte der fünfte Quader in die Tiefe, so unberechenbar in seiner Flugbahn, dass er vier Brabanzonen im Vorbeiflug die Köpfe vom Hals riss.

Wann immer sie von der Brustwehr aus die Männer am Rammbock attackierten, wurden sie unter einen so dichten Beschuss genommen, dass sie es aufgeben mussten. Die Brabanter Armbrustschützen gaben ihren Kampfgefährten am Rammbock volle Deckung. Nur deswegen hatten sie sich hinter den Baumstämmen verschanzt.

Isenhart und den anderen blieb lediglich, die Armbrüste über die Burgmauer zu halten und die Bolzen blind von den Sehnen zu schicken.

Die Brabanzonen schmetterten den Rammbock gegen das Tor. Die Vibration nahm von dort ihren Ausgang, durchlief das Mauerwerk und fuhr den Verteidigern auf der Brustwehr in die Fußsohlen.

»Öl!«, brüllte Sigimund und marschierte geduckt – was in seiner Plattenpanzerung höchst unbeholfen wirkte – zum Kessel.

Drei Brandpfeile fanden den Weg in die Stallungen, das Stroh entzündete sich sofort, die angebundenen Tiere begannen zu schreien.

Unter Beschuss brachten Konrad und seine Helfer einen weiteren Quader auf den Weg, der die Hänge hinabrauschte, während Henrick und die Bauern den Kessel gemeinsam anhoben und an die Brustwehr lehnten. Im nächsten Sekundenbruchteil waren drei Bauern tot und einer verkrüppelt.

Der Kessel kippte zurück, Sigimund kam gerade rechtzeitig, um das schwere Gefäß zusammen mit Henrick aufzufangen.

Die Brabanzonen waren in Belagerungen versiert. Der Kessel verriet ihnen seine Position durch die Dämpfe, die in Form von blassen Wölkchen in den Nachthimmel aufstiegen. Zudem schien der Brand innerhalb der Burg immer größere Ausmaße anzunehmen, denn die Brustwehr wurde von hinten erhellt.

Als die Verteidiger den Kessel an die Brustwehr gedrückt hatten, um die Männer am Rammbock mit siedendem Öl zu übergießen, war dies den Brabanzonen also nicht verborgen geblieben. An die hundert Armbrustbolzen waren daraufhin den Bauern am Kessel entgegengeflogen.

Sigimund von Laurin warf einen Blick in den Burghof. Das Feuer, das sich im Stall ausbreitete, griff auf die Burg über. Die wenigen Kübel Wasser, die das Gesinde gegen die Glut schleuderte, konnten den Hunger der Flammen auf altes, getrocknetes Holz nicht eindämmen. Andererseits bestand das Gebäude größtenteils aus Gestein, der Brand würde auf den Stall und ein paar Nebengebäude begrenzt bleiben.

Wieder war die Nachtluft von dem Rauschen der Brandpfeile erfüllt, die in den Hof hinabregneten, viele verfehlten, aber drei Frauen beim Löschen trafen.

Eine Gestalt, vielmehr ihre Silhouette, von Kerzen erhellt, die am Fenster ihrer Kammer stand und das Geschehen verfolgte, erhaschte seine Aufmerksamkeit. Es waren die Umrisse Mechthilds, seiner Frau. Für einen kurzen Moment versanken der Lärm und das Feuer um ihn herum, kurz erinnerte er sich an sie als junge Frau, das Haar im Sonnenlicht schimmernd, an ihr zögerliches Lächeln, ihre schmalen Finger, die sich auf seinen Unterarm legten auf dem Gang zum Geistlichen, der sie in den Status von Mann und Frau erhob.

Dann schwoll der Lärm an, verjagte seine Gedanken aus der Welt der Erinnerungen und konfrontierte ihn mit dem Jetzt.

Der Aufprall der eisenbewehrten Spitze des Rammbocks auf das Holztor rief ein Dröhnen hervor, das ihnen allen in die Glieder fuhr. Sigimund sah in die vor Todesangst geweiteten Augen der Umstehenden.

Isenhart und ein paar andere fassten sich ein Herz, beugten sich bis zu einer Stelle über die Brustwehr, an der Wagemut und Leichtsinn einander die Hand reichten, und jagten die Bolzen von den Sehnen. Die Antwort ließ keinen Moment auf sich warten. Ein surrender Schwarm von mehr als siebzig Geschossen rauschte heran und schlug ein – in Burgmauer und Fleisch. Die Verletzten brüllten auf, die Masse an Bolzen ließ Gestein von der Brustwehr splittern.

Beim nächsten Quader fehlte es Konrad und seinen Helfern an Geschick. Sie beförderten ihn in einem so unglücklichen Winkel über die Kante, dass er neben den Brabanzonen am Rammbock auf den Boden schlug und lediglich einen Strauch unter sich begrub.

Den Rammbock von der Brustwehr aus aufhalten zu wollen, das erfasste Sigimund von Laurin nun, war aussichtslos geworden. Sie mussten sich darauf vorbereiten, die eindringenden Brabanzonen zurückzuwerfen. Deswegen zog er bis auf Henrick und zwei Bauern, denen er das Ausharren am Ölkessel befahl, alle Männer von der Wehr ab.

Wilbrand hatte derweil mit einem Trupp von drei Dutzend Soldrittern die Burg zur Hälfte umquert. Die Männer stapften durch nahezu komplette Dunkelheit, immer am Burggraben entlang. Wieder und wieder verhakten sie sich in Strauchwurzeln und stürzten.

Rogier van Heyden, Anführer der Brabanzonen und neben dem Abt der einzige Mann, der mit einem Plattenpanzer in die Schlacht zog, hatte jegliches Licht verboten. Neben der Dunkelheit boten der Brand im Burghof und der Kampfeslärm genug Deckung, um unerkannt zu jenem Tor zu gelangen, von dem Wilbrand von Mulenbrunnen berichtet worden war.

In Swiebertingen hatten sie eine Magd aufgebracht, die gegen ein paar Pfennige bereit war, die Schilderungen ihres Vaters wiederzugeben. Der hatte sich auf dem Feld zu Tode geackert, war aber zuvor bemüht gewesen, seine Nachkommen mit den Kenntnissen des Aufbaus der Burg Laurin zu beglücken, was zu Lebzeiten des Mannes niemanden ernsthaft interessierte. Demzufolge existierte, von Gestrüpp gut verborgen, eine massive Tür, hinter der ein Gang ins Innere der Burg führte.

Kein geheimer Fluchtgang, sondern eine Möglichkeit für das Gesinde, das in der Küche arbeitete, ohne großen Aufwand Lebensmittel ein- und auszuführen. Oder Unrat.

»Gesinde flieht«, sagte Rogier van Heyden, als sei dieser Umstand bei Belagerungen ein Gesetz. Und der Abt war gewillt, dem Lothringer zu glauben. Irgendwann, meinte der Mann, würden einige ihr Heil in der Flucht suchen. Und dann mussten sie zur Stelle sein.

Giselbert hatte im Wald Reisig gesammelt. Der Himmel war wolkenlos, es würde eine bitterkalte Nacht geben. Aber vielleicht, jeden Abend rief er den Herrn deswegen an, würde Sophia vorbeischauen. Ihm möglicherweise sogar die Hand halten.

Als er in seine Hütte trat, standen drei Männer vor ihm. Giselbert sah sich über die Schulter, es war der wichtigste Blick, den ein Henker beherrschen sollte. Zwei weitere Männer traten vor die Tür und versperrten ihm damit den Fluchtweg.

Wilbrand von Mulenbrunnen schritt vor und nah an ihn heran. »Über dreihundert Männer werden gleich auf die Burg vorrücken«, sagte er mit leiser Stimme, er war die Ruhe selbst, »wir werden das Haus Laurin schleifen.«

Es war die Gewissheit in der Stimme des Abtes, die den Henker erschreckte. Wilbrand sprach über etwas, was am nächsten Morgen nicht mehr sein würde.

»Wege und Furten sind besetzt«, fuhr der Abt von Mulenbrunnen fort und fixierte den Carnifex, »niemand wird entkommen. Es sei denn, ja, es sei denn, er hat einen Pakt mit mir geschlossen.«

Der Abt hielt ihn für dumm. Er las die Geringschätzung in seinem Blick.

»Was denn für einen Pakt?«, fragte Giselbert und mühte sich zu einem treudoofen Blick, um der Erwartung Wilbrands zu genügen.

»Ich gebe dir etwas, was niemand sonst dir bieten kann«, fuhr Wilbrand fort und durchquerte die Hütte, was ihn nach fünf Schritten zu einer Kehrtwendung zwang, »ich biete dir eine Zukunft.«

Es war dieses ein Wort, das Giselbert hellhörig werden ließ: Zukunft.

Das war in der Tat etwas, was er nicht hatte.

»Dein Herr wird seinen Stammsitz nicht halten können. Es gibt im unteren Trakt der Burg einen Versorgungsgang, der in einer Tür mündet. Ich will, dass du sie mir öffnest. Natürlich kannst du mein Ansinnen nun Sigimund von Laurin berichten. Er wird die Tür doppelt und dreifach verriegeln lassen, dennoch wird die Burg fallen – es wird bloß mehr Tote geben, als es geben müsste. Das ist der einzige Unterschied. Und klingt er in deinen Ohren vernünftig?«

»Nein.«

Wilbrand von Mulenbrunnen nickte zufrieden. »Nein«, sagte er, »das ist er auch nicht. Wir werden jeden erschlagen, auf den wir treffen. Jeden, der nicht klug genug war, sich auf unsere Seite zu schlagen. Ich biete dir zehn Goldmark und ein Stück Land im Norden, wo dich niemand kennt, wo du von vorne beginnen kannst. Als ein ehrlicher Mann. Du kannst ein Weib haben und Kinder, Carnifex. Du kannst Teil der Gemeinschaft werden. Wenn du mir diesen einen Dienst erweist und die Tür öffnest.«

Giselberts Mund war trocken. Sein Leben war an einem Scheideweg angekommen. Er mochte den Abt nicht, das Tuch um dessen Hals stank entsetzlich. Aber das durfte keine Rolle spielen.

»Was ist, wenn ich es nur für zwei Leben tue?«

»Welches ist das andere?«, fragte Wilbrand.

»Sophia.«

»Sigimunds jüngste Tochter?«

Giselbert nickte.

Der Abt bedachte ihn mit einem anzüglichen Lächeln. »Giselbert, Giselbert«, sagte er mit gespieltem Tadel, »blutet sie denn schon?«

»Sie ist zwölf.«

Das Lächeln verlor sich, Wilbrand von Mulenbrunnen war plötzlich stehen geblieben und starrte mitten in seine Augen. »Du und dieses Kind – wenn du die Tür öffnest.«

Mehr hatte er nicht gesagt, sondern eilig mit seinen Männern die Hütte verlassen.

Diese Begegnung rief Giselbert sich ins Gedächtnis, während das dumpfe Dröhnen, das der Rammbock erzeugte, über den Burghof bis zu ihm hallte. Die Burg fiel, daran gab es keinen Zweifel. Er sah an sich hinab. Seine Füße hatten ihn zur Treppe geführt, und er hätte nicht sagen können, wie er hierhergekommen war.

Giselbert blickte hinab. Die Stufen, auf denen er stand, führten ins Erdgeschoss. Dort, rechts um die Ecke und dann noch eine kurze Treppe tiefer, befand sich die Tür, von der der Abt Kenntnis erlangt hatte. Vermutlich wartete er dort bereits mit einem Stoßtrupp.

Zehn Goldmark waren ein kleines Vermögen, selbst für Giselbert, der als Carnifex über ein gutes Auskommen verfügte. Die Burg fiel, sagte er sich noch einmal. Und was würde wohl mit ihm geschehen, wenn die Brabanzonen einfielen? Und, noch schlimmer, was würden sie Sophia antun?

Giselbert gab sich einen Ruck und schlich die Treppe hinab. Er erschauerte bei dem Gedanken, sich in einer riesigen Gruft zu befinden, in der über hundert Menschen ihr Grab finden sollten. Zwei von ihnen konnte er retten.

Die Stallungen brannten, obwohl die Weiber Kübel um Kübel Wasser hineinwarfen. Isenhart spürte die enorme Hitze auf seinem Rücken. Einer der Männer, Isenhart erkannte in ihm Ruperts Sohn, verteilte auf Weisung Sigimunds Fackeln an die Männer, die einen Halbkreis um das Tor gebildet hatten.

Die Wucht des nächsten Rammbockstoßes löste etwas Mörtel aus dem Mauerwerk, das zu Boden polterte.

Sigimund von Laurin wandte sich an seinen Sohn, der neben Isenhart stand. Konrad war mittlerweile so groß wie sein Vater, seine Hände umklammerten das Schwert so energisch, dass die Handknöchel weiß hervortraten.

»Du gehst und beschützt deine Mutter und deine Schwester.«

»Aber Ihr braucht jeden Mann, um das Tor zu halten!«

»Was nützt mir ein Tor, wenn ich Weib und Kind verliere?«

»Aber Giselbert …«, entgegnete Konrad, wurde aber sofort von seinem Vater unterbrochen.

»Ich habe bereits eine Tochter verloren, die mir lieb war. Und jetzt geh.«

Diese letzten drei Worte verließen die Lippen des Burgherrn mit einer Sanftheit, die im Gegensatz zu seinen Augen standen, die sagten: Ich dulde keinen Widerspruch.

Es war Sigimunds Art, Lebewohl zu sagen, und Isenhart hoffte inbrünstig, dass Konrad das nicht begriff. Nicht hier, nicht jetzt.

Einen ewigen Augenblick lang standen sich Vater und Sohn noch gegenüber, und die ferne Ahnung, dieses könne ein Abschied sein, bestürzte Konrad mehr, als er geglaubt hätte. Er wandte sich ohne ein weiteres Wort ab und schritt über den Hof. Er blickte sich auch nicht mehr um. Konrad ging einfach, wie sein Vater es ihm befohlen hatte.

Sigimund von Laurin sah seinem Stammhalter nach, bis dieser über einen Durchlass im Inneren der Burg verschwunden war.

»Du«, wandte er sich danach an Isenhart, »weichst meinem Sohn nicht von der Seite. Wenn das Tor fällt, fliehst du mit ihm.«

»Ich glaube nicht, dass Euer Sohn …«

»Fliehst du mit ihm«, wiederholte Sigimund bestimmt.

Isenhart schluckte. Und nickte. Wie auch immer er das mit der Flucht anstellen sollte. Er wollte sich bereits abwenden, als ihm ein Gedanke durch den Kopf schoss. »Herr, wenn Ihr die Burg übergebt, zwingt Ihr den Abt zu Nachsicht.«

Sigimund von Laurin schien vor seinen Augen zu wachsen, in die Höhe, in die Breite. Ruhe kehrte in das Gesicht des Mannes ein, Haltung.

»Ich bin der Herr des Hauses von Laurin«, antwortete Sigimund ebenso feierlich wie bestimmt, »ich bin nur Gott und Kaiser untertan, und ich werde niemandem sonst irgendetwas überlassen.«

Giselbert erreichte die Tür.

So wie er vor zwei Jahrzehnten mit seinem kranken Vater die Burg erreicht hatte und einem großzügigen Herrn von Laurin begegnet war. Ihrer beider Väter siechten, und Sigimund gewährte Giselbert und dem Vater Unterkunft – ihnen, Carnifexen. Auch wenn Sigimund und er ihre Väter an unterschiedlichen Stätten zur ewigen Ruhe betteten, waren diese doch an ein und demselben Tag gestorben: am 25. März.

Es war Sigimund gewesen, der ihm Henkerarbeit in Spira verschafft hatte und Männer abgestellt hatte, um das Material für die Hütte zu liefern, die Giselbert sich am Rande der Siedlung errichtete.

Sigimund von Laurin war sicherlich ein gottesfürchtiger Mann, aber ein gottgefälliges Leben führte er nicht. Von diesem Makel einmal abgesehen konnte man Sigimund eines ganz sicher nicht nachsagen: dass er nicht für die Seinen einstand. Und damit war nicht nur seine Familie gemeint, sondern ein jeder, der auf seinem Land lebte. Hinter der starken Hand, für die er über die Gemarkungen des Hauses Laurin hinaus bekannt war, verbarg sich ein tiefes Verständnis und Mitgefühl für seine Mitmenschen. In guten wie in schlechten Zeiten, wie Sigimund zu sagen pflegte.

Dieses waren schlechte Zeiten für das Haus Laurin, konstatierte Giselbert. Tiefe Scham ergriff ihn, sich hier vor dieser Tür wiederzufinden, bereit, des eigenen Vorteils willen all das zu opfern, wofür sein Herr stand. Ihm jetzt, da es Giselbert gelegen kam und es mehr als schäbig war, die Hand zu entziehen. Er schüttelte den Kopf, als könne Sigimund ihn sehen, und kehrte um. So einfach konnte man ihn nicht kaufen! Außerdem war er immer noch Scharfrichter von Kaisers Gnaden, er genoss Immunität.

Als Giselbert auf seinem Rückweg die Treppe erreichte, stieß er auf Gesinde. Männer, Frauen und Kinder, die ihre wenigen Habseligkeiten bei sich trugen. Bereit für die Flucht.

»Ihr solltet euch schämen«, warf Giselbert ihnen mit jener Abscheu entgegen, die er sich selbst gegenüber empfand.

Beim nächsten Stoß krachte der Querbalken aus seiner linken Verankerung. Sigimund von Laurin sah noch einmal hinauf zu seiner Frau Mechthild. Sie schaute ihn an, wie er dastand in der Plattenrüstung, die seinen Körper komplett bedeckte und lediglich das Gesicht aussparte.

Dieser junge, drangvolle Mann mit den hellen Augen, die geglänzt hatten vor Tatendrang und Witz. Der um ihre Hand angehalten hatte, Jahre war das her, viele Jahre, acht Kinder waren ihrer Zuneigung entsprungen, zwei hatten überlebt.

An seiner Seite war sie durch diese Jahre gegangen, hatte zu ihm aufgeblickt voll echter Ehrfurcht. Einzig seine Kompromisslosigkeit hatte sie als gefährlich empfunden und gleichzeitig bewundert. Jeder Mann mit so wenigen Ländereien hätte sich geduckt, nicht so Sigimund. Nichts und niemandem war er gewichen, und vielleicht besiegelte diese Haltung jetzt den Untergang des Hauses. Aber wenn es so war, dann hätte es auf jeden Fall so kommen müssen, und dann war es auch unausweichlich, beschloss Mechthild.

Das Tor splitterte in der Mitte, es war so weit.

Sie tauschten noch einen Blick, dann ließ ihr Mann das Visier herunterfahren.

Das Tor maß gute zwanzig Fuß in der Breite und schwang nun auf. In einer Reihe von acht Mann marschierten die Brabanzonen in den Burghof, das Ende der Piken an die Oberschenkel gelehnt.

»Jetzt, Henrick!«, brüllte Sigimund.

Henrick und seine beiden Helfer stemmten sich mit aller Kraft gegen den Kessel und kippten den Inhalt in die Tiefe. Das siedende Öl flog durch die Winterluft und begrub die ersten beiden Reihen unter sich, die Soldritter brüllten unter Schmerzen auf, als das Öl ihnen die Haut unter den Kettenhemden verbrühte.

Unbeeindruckt von den unsagbaren Qualen ihrer Kampfgefährten rückten die weiteren Linien vor. Eine Reihe von sechs Bauern schoss aus nächster Nähe eine Salve aus Armbrustbolzen in die dritte Linie.

»Die Fackeln!«, rief der Burgherr und schleuderte die erste gegen die Eindringlinge.

Die Umstehenden folgten seinem Beispiel, und das Öl entzündete sich sofort, es gab ein Geräusch, als zische die Luft, dann standen drei weitere Reihen Brabanzonen in Flammen. Lichterloh brennende Gestalten, die hilflos umhertappten und dabei schrille Schreie ausstießen, zu Boden stürzten und die unmöglichsten Verrenkungen vollführten – sie alle bildeten eine Feuerwand, die für die nachrückenden Einheiten undurchdringbar war.

»Was macht ihr hier?«

Männer und Frauen wichen den Blicken des jungen Herrn aus, der am Fuß der Treppe stand, die zu den Kammern seiner Mutter und Schwester führte. Draußen, vom Burghof, gellten die schrecklichsten Schreie herüber.

In dem Augenblick hörten sie alle eine Art Scheppern und Klirren, das aus den Gemächern oberhalb stammte.

Du gehst und schützt deine Mutter und deine Schwester.

Konrad stürmte die Stufen hinauf. Kaum war er verschwunden, stieß Isenhart zu ihnen, verlangsamte bei dem Anblick der versammelten Menschen seine Schritte und musterte sie mit exakt jenem Gesichtsausdruck, den auch Konrad aufgesetzt hatte: den eines Verratenen.

Ganz offensichtlich wollten sie sich durch den alten Ausgang davonstehlen.

»Ihr dürft nicht gehen, wir brauchen jeden Mann!«

»Wir wollen nicht sterben!«, rief ihm eine Frau zu, während sich zwei Männer an der Verriegelung zu schaffen machten. Isenhart wollte voranstürmen, wurde aber von mehreren Armen festgehalten und zurückgeworfen. Er prallte mit dem Rücken gegen die Mauer.

An einer Gestalt blieb Isenharts Blick hängen. Es war die Gestalt seines Vaters, der ein paar Habseligkeiten in ein Tuch aus grobem Leinen gewickelt hatte.

Isenhart ging auf ihn zu. »Vater, wir müssen unserem Herrn zur Seite stehen. Wir müssen ihm …«

»Ich bin nicht dein Vater«, unterbrach Chlodio ihn zornig, »ich habe dich nur aufgezogen.«

Die Tür schwang auf, man spürte es an dem kalten Lufthauch, der an ihnen vorbeistrich, die Ersten flohen. Isenhart fühlte mit aufkeimender Panik die Abwesenheit seines Geistes.

Er war unfähig zu denken!

Das, worauf er sich stets verlassen hatte, hatte ihn verlassen. Kein Gedanke wollte sich formen, es war, als griffe er nach einem Schwarm Fische, der sich seiner Hand stets aufs Neue entzog, ganz gleich wie oft er es versuchte. So musste es sein, wenn man seinen Verstand verlor, verloren in der eigenen Einsamkeit, einem verglühenden Feuerscheit gleich. Und obwohl dieser Gedanke die schrecklichste Vision war, die sein Kopf ihm je präsentiert hatte, war er immerhin ein Gedanke!

Und dann, als habe alles nur einen Moment ausgesetzt, kam plötzlich alles wieder in Bewegung. Isenhart packte den Pinkepank, der sich anschickte, den anderen zu folgen, am Arm. Erschrocken wandte dieser sich um und starrte in das Gesicht seines Ziehsohns, der vor Aufregung und Konzentration grotesk schnell blinzelte.

»Warum habt Ihr mir das verschwiegen?«

»Weil Sigimund von Laurin es so befohlen hat«, antwortete Chlodio eilig. Er wollte sich losmachen, doch dieses Mal drückte ihn Isenhart gegen die Wand, seine Augen tauchten in die seinen, sein Griff war wie eine Eisenzwinge.

Man sah es Isenhart nicht an, Arme und Beine waren dünn, aber die Schwerstarbeit an Ofen und Amboss hatten ihm jene Sehnigkeit verliehen, die ihn in die Lage versetzte, seinen Ziehvater so lange hier festzuhalten, wie es ihm beliebte.

»Wer ist mein Vater?«

»Ich weiß es nicht. Deine Mutter hat unten in der Siedlung gewohnt. Sie … sie ist bei deiner Geburt gestorben. Mehr weiß ich nicht. Und jetzt lass mich gehen!«

An der Tür kam etwas in Bewegung. Eine Frau, die hinaus in die Dunkelheit schlüpfen wollte, wurde von etwas Schwerem am Kopf getroffen. Sie krachte gegen die Tür und sank dann zu Boden. Und mit einem Mal stand der Anführer der Brabanzonen, Rogier van Heyden, im Türrahmen. Das Gesinde stob auseinander.

Van Heyden brach einem Mann mit seinem gepanzerten Ellbogen den Schädel. Die Brutalität dieser Handlung entstand nicht aus der Schwere der Verletzung, sondern daraus, dass der Brabanzone den Mann im Vorbeigehen tötete. Wie ein lästiges Insekt.

Isenhart ließ Chlodio los und stürmte die Stufen hinauf.

Mechthild von Laurin war über den Schemel gestürzt und hatte keine Kraft mehr gehabt, den Becher, aus dem sie getrunken hatte, festzuhalten. Der Rest des Trankes, der in der Hauptsache aus den Früchten und Wurzeln des gefleckten Schierlings bestand, hatte sich über das Gestein ergossen. Dieses waren die Geräusche gewesen, die Konrad und das Gesinde am Fuß der Treppe vernommen hatten.

Konrad kniete neben seiner toten Mutter, deren Antlitz durch das Ringen nach Luft zu einer entsetzlichen Fratze entstellt worden war. Weit traten die Augen aus den Höhlen, der Mund war aufgerissen.

Konrad fühlte sich unfähig, irgendetwas zu tun, er spürte nur eine merkwürdige Kälte, die von ihm Besitz ergriff. Wie ein Panzer umschloss sie seine Haut, den ganzen Körper, auch seine Gedanken. Seine Welt zerbarst um ihn herum in Stücke. Nichts war mehr sicher, auf nichts konnte er mehr zählen, im nächsten Augenblick konnte sich alles ereignen, und seine Wehrlosigkeit, seine tiefe Ohnmacht, lähmte ihn.

Es war das Ende der Verlässlichkeit.

Nie mehr würde er sie an der Seite des Vaters über den Burghof schreiten sehen, nie mehr würde ihre Hand über seine Wange fahren, nie mehr ihr Lächeln ihn umfangen. Es stürzten mit einem Schlag so viele Nie-Mehrs auf Konrad ein, dass ihm das Herz verkrampfte.

Fast dankbar vernahm er Schritte hinter sich, die ihn von ihrem Anblick losrissen. Es war Isenhart, der atem- und fassungslos in der Türöffnung stand und die Situation mit einem einzigen Blick erfasst hatte.

Beide wussten nicht, wie sie mit dieser Situation umgehen sollten, die Ruhe und Sanftmut erforderte, wo doch die äußerlichen Gegebenheiten zu Eile und klaren Worten zwangen.

»Ich bin ein Carnifex! Und ich bin unantastbar!«, hörten sie die Stimme Giselberts.

Sophia.

Isenhart lief den Gang entlang und erreichte Sophias Kammer beinahe gleichzeitig mit Marie, die vom anderen Ende auf ihn zulief.

Einer der Brabanzonen hatte Sophia auf den kalten Boden gezerrt und ihr Nachthemd zerrissen. Er presste mit seinen Beinen die des fiebrigen Mädchens auseinander, um in sie einzudringen. Sophia wehrte sich nach Leibeskräften, aber vergeblich. Nur wenig weiter lag Giselbert in einer Blutlache. Neben ihm eine Streitaxt.

Isenhart fühlte sich einem Zweikampf nicht gewachsen, er hatte das Messen mit Waffen nie geübt, und der Brabanzone dort war ein richtiger Söldner. Kräftig, bärtig, eisenbewehrt.

Aber das war Makulatur, als er Sophias Gesicht sah, ihre vor Angst geweiteten Augen, die hilflosen Versuche ihrer dünnen Arme, den massigen Körper des Soldritters von sich zu drücken. Die gelbe Galle gewann die Oberhand in ihm, er dachte nicht mehr, wägte nicht ab, sondern ergriff den schmiedeeisernen Kerzenleuchter – sein Werk –, war mit einem katzenhaften Sprung über dem überraschten Mann und hieb ihm das Metall auf den Kopf. Eine Delle im Helm, mehr bewirkte der erste Schlag nicht. Der Brabanzone hob abwehrend den Arm, aber dann – und das war Sophias flehendem Blick zu verdanken – verwandelte Isenhart sich.

»In ein Tier«, sollte Sophia später ohne Abscheu sagen.

Marie, die Konrads Freund mochte, obwohl sie es noch nicht artikulieren konnte, war entsetzt über das, was sie sah. Isenharts ebenmäßiges Gesicht wurde von dem hässlichen Willen zu töten verzerrt, seine Augen waren die eines Fisches: leblos und kalt. »Als sei der Teufel in ihn gefahren«, sollte sie Vater Hieronymus später anvertrauen.

In einer nahezu übermenschlichen Schnelligkeit und Wucht fuhr der Kerzenleuchter binnen Sekunden ein Dutzend Mal nieder, brach dem Brabanzonen erst das Handgelenk, dann den Helm und schließlich Kiefer, Nase und Schädel.

Erst, als eine gräuliche, wässrige Substanz aus einem der Schädelrisse trat, ließ Isenhart den Leuchter sinken und zu Boden poltern, er war völlig außer Atem. Kurz ließ er sich dazu hinreißen, einen näheren Blick auf das zu werfen, was aus dem Kopf des Toten quoll, dann packte er Sophia und zog sie zu sich hoch.

»Kannst du gehen?«

Sophia liefen die Tränen über die Wangen, sie nickte. Isenhart sah zu Marie, die totenbleich neben der Tür stand.

»Kennst du den geheimen Fluchtgang?«

Marie zwang sich zu einem Nicken.

»Nimm Sophia mit. Am Ausgang des Stollens wartest du auf mich. Hast du verstanden?«

Marie nickte erneut.

Eigentlich hatte Konrad dem Freund in die Kammer seiner Schwester folgen wollen, doch als er aus dem Zimmer seiner Mutter lief, stieß er um ein Haar mit einem Mann zusammen, der eine Plattenpanzerung trug und gerade den Durchgang erreicht hatte, der den Gang und die Treppe, die ins Erdgeschoss führte, miteinander verband.

Es war Rogier van Heyden, der Lanze und Schwert trug. Mit der Lanze stieß er sofort nach dem jungen Mann und entnahm der geschickten Drehung, mit der Konrad von Laurin den Stoß ins Leere gehen ließ, dass sein Gegner keinesfalls seinen ersten Zweikampf bestritt. Dies unterstrich Konrad, der noch in der Drehung sein Schwert gezogen hatte, mit einem Hieb in den Unterleib des Brabanzonen, der wegen der Panzerung aber keinerlei Wirkung zeitigte.

Sein Vater hatte ihn die Schwachstellen einer Plattenpanzerung gelehrt, die in den Übergängen vom Torso zu den Gliedmaßen und dem Hals bestanden. Doch einen beweglichen Gegner dort mit der Kraft zu treffen, die es benötigte, um ihn ernsthaft zu verletzen, war schwierig. Bei Rogier van Heyden kam hinzu, dass dieser Mann auch noch mit Schwert und Lanze umzugehen verstand.

Konrad wusste auch um seinen eigenen Vorteil: die Schnelligkeit. Und er hätte sie dazu nutzen können, vor dem schier unbesiegbaren Feind davonzulaufen, denn van Heyden, der gut und gerne an die hundert Pfund an Rüstung mit sich trug, hätte ihn niemals einholen können.

Doch der Brabanzone stand höchst günstig in dem Durchlass, weil er ihn auch seinen Kampfgefährten versperrte. Je länger es also Konrad gelang, ihn an dieser Stelle durch seine Attacken zu fixieren, umso größer gestaltete sich Sophias und Maries Chance auf eine erfolgreiche Flucht.

Wie aus dem Nichts tauchte Isenhart plötzlich neben ihm auf, im Schein der Fackeln traktierte er Rogier van Heyden mit der Streitaxt, die er in Sophias Gemach aufgelesen hatte. Gemeinsam droschen sie auf den Brabanzonen ein, freilich ohne ihn in Bedrängnis bringen zu können. Die Schneide der Axt wie auch Konrads Klinge wurden schnell schartig, da sie an dem viel härteren Eisen der Rüstung ein ums andere Mal abprallten.

Das Feuer am Burgtor bildete noch immer ein wirksames Hindernis, obschon die Flammen an Höhe verloren, zu deren Füßen die verkohlten Leiber von rund zwanzig Soldrittern lagen und unter der enormen Hitze, die nach und nach Zähne und Knochen bloßlegte, immer weiter zusammenschrumpften.

Wilbrands Männer schickten Pfeile und Armbrustbolzen durch die Flammen. Sigimund und sein Gefolge suchten daher zu beiden Seiten des Tores Schutz vor den Geschossen, als Gesinde aus der Burg in den Hof strömte, von zwei Dutzend Brabanzonen vor sich hergetrieben, die alles niederschlugen oder aufspießten, was in ihre Reichweite geriet.

Sigimund hatte insgeheim damit gerechnet, die Burg nicht halten zu können. Mit dem Auftauchen der Brabanzonen, die offensichtlich einen anderen Zugang ins Innere gefunden hatten, wurde das zur Gewissheit.

Aus den Augenwinkeln nahm er das Zurückweichen seiner Männer wahr. Sigimund von Laurin umschloss den Zweihänder fester und schritt alleine auf die Gegner zu, von denen einige bei dem Anblick dieses Mannes nun zögerten.

Sigimund schlug die ersten Piken, die ihn zu verletzen suchten, mit dem Schwert beiseite und überraschte die Männer mit einem Ausfall nach links, der Zweihänder fuhr nieder und verletzte zwei von ihnen stark.

Als Sigimunds Gefolge sah, wie der Burgherr mithilfe des Schwertes eine regelrechte Bresche in die Brabanzonen schlug, griff sein Mut auf sie über, und sie stürmten auf die Feinde zu.

Von ein paar Kratzern abgesehen, die Schwert und Streitaxt auf dem Plattenpanzer hinterlassen hatten, war es Isenhart und Konrad nicht gelungen, Rogier van Heyden zu verletzen. Dieser ließ das Schwert in einem Halbkreis in Isenharts Richtung sausen, wodurch er Konrad seine rechte Flanke offenbarte. Der junge Laurin holte aus und begriff zu spät, dass es sich um eine Finte handelte. Der Brabanzone legte so viel Kraft in den Lanzenstoß, der Konrad an der Hüfte verletzte, dass die Metallspitze auf das Hüftgelenk traf, dort abrutschte, ihm durch die Eingeweide fuhr und an seinem Rücken wieder austrat.

Der Schmerz durchfuhr ihn mit einem Augenblick Verzögerung, dennoch erstarrte er sofort, das Schwert wurde ihm schwer, mit einem Klirren fiel es zu Boden. Van Heyden wollte den Hilflosen mit einem Schwertstreich töten, der von Isenhart mit der Streitaxt pariert wurde. Der Brabanzone riss die Lanze aus Konrads Körper, dem nun die Beine nachgaben. Er sackte auf die Knie, sein Kettenhemd rasselte.

Isenhart erschrak über die Schwere von Konrads Verletzung. Er begriff sofort, dass er dem Freund nicht helfen konnte, solange er gleichzeitig den Brabanzonen daran hindern musste, den Durchgang zu passieren.

Mit dem Mut der Verzweiflung sprang er vor, den Dolch gezückt, warf sich gegen den Mann, packte mit der Linken das Visier und drückte es mit einem Ruck, in den er all seine Kraft legte, nach oben. Und dort sah er, worauf er gehofft hatte – schlechte Schmiedearbeit. In diesem Winkel überlappten der Rand des Visiers und der des Brustpanzers einander nicht mehr. Ein Stück Haut schimmerte im tanzenden Licht der Fackeln, und Isenhart trieb die Dolchklinge hinein in diese Stelle, in die Gurgel des Mannes, der nach der ersten Überraschung nun zu reagieren begann. Er packte Isenharts Arme mit seinen Eisenhandschuhen, doch sosehr er dem jungen Schmied auch die Haut zerquetschte, ließ dieser doch nicht davon ab, ihm mit der Klinge durch den Hals zu fahren.

Isenhart spürte das Erzittern des Mannes, er konnte seinen Schweiß riechen, das Rasseln aus seiner Luftröhre hören, in die immer mehr Blut hinabrann, und endlich wurde der eiserne Griff lockerer, lösten sich die Hände ganz, schwangen hinab. Isenhart stemmte sich rechtzeitig gegen die bald 200 Pfund, die ins Wanken geraten waren, und ließ den Mann rücklings zu Boden krachen.

Sigimund von Laurin sah über sich die Sterne, denn man hatte ihn zu Fall gebracht, und gleich einem auf dem Rücken liegenden Käfer war es ihm unmöglich, aus eigener Kraft wieder auf die Beine zu kommen. Die Brabanzonen erschlugen sein Gefolge. Sieben von ihnen standen um ihn herum, pressten ihn mit ihren Füßen an den Grund und zogen an seinen Armen und dem Kopf, bis auch sie wie zuvor Isenhart fündig wurden.

Mit ihren Piken stießen sie in seinen Hals und die Schultergelenke. Einmal durch Haut und Muskeln gefahren, drehten und wendeten sie die Piken in alle Richtungen. Das eigene Blut rann Sigimund warm über die Haut, bis sich endlich jemand an den Verschlüssen zu schaffen machte und ihm grob den Helm vom Kopf zog.

Es war Wilbrand von Mulenbrunnen.

Im gleichen Augenblick wurden die Piken aus seinem Körper gezogen. Der Blick des Abtes ruhte in seinem, ringsherum herrschte das Stöhnen der Verwundeten, hier und da prallten noch Waffen aufeinander.

»Ich werde Eurem Sohn ein faires Gericht halten und Eure Frau und Tochter zu einem anständigen Preis verkaufen, dass sie bei guten Menschen Dienst tun«, versprach Wilbrand, bevor er das Schwert hob und Sigimund von Laurin den Kopf vom Hals trennte.

Isenhart spürte den Schweiß am ganzen Körper, als er mit der Fackel in der rechten Hand den Weg im Stollen ausleuchtete. Er trug Konrad über der Schulter, seine Knie zitterten unter dem Gewicht. Ständig stieß er mit dem Körper des Freundes links oder rechts gegen die Stollenwände.

In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Konrad brauchte dringend Hilfe – aber wo und vor allem durch wen? Eine Reise nach Spira würde er nicht überstehen, das war Isenhart klar. Dass die Wunde den Freund vermutlich das Leben kosten würde, daran wollte er nicht denken.

Als er den Ausgang erblickte, warf er die Fackel zu Boden und trat sie aus. Den letzten Abschnitt legte er im Halbdunkel zurück, schob den Efeu beiseite und trat hinaus.

»Konrad!«

Der Schrei ließ ihn erschauern, denn es war Marie, die ihn von sich gegeben hatte. Die Dienerin, die einen erstaunlich kühlen Kopf bewiesen hatte – Isenhart sah Sophia in Decken gehüllt auf einem Pferd kauern, außerdem Proviant, ein weiteres Pferd aus dem verborgenen Unterstand, in dem Giselbert sich um die Tiere gekümmert hatte –, kam ihm entgegen. Die an Entsetzen grenzende Angst, die sich in Maries Zügen spiegelte, verriet Isenhart, wie unverzichtbar Konrad in ihrem Leben geworden war.

Sophia ging binnen Momenten durch ein Wechselbad der Gefühle. Zunächst war sie erleichtert, den jungen Schmied zu sehen, bemerkte dann den großen, dunklen Blutfleck, der sich von seiner Schulter bis fast zur Hüfte hinab ausbreitete, worauf sie annahm, er müsse schwer verletzt sein. Und sie spürte, dass sie seinen Tod nicht auch noch ertragen wollte. Erst als Isenhart den Körper ihres Bruders aufs Pferd hob, begriff sie, von wem das Blut ursprünglich stammte. So empfand sie gleichzeitig Erleichterung über Isenharts Unversehrtheit und Bestürzung über Konrads Zustand.

Trotz der Fieberschübe, die kamen und gingen, ließ sie sich vom Pferd gleiten. »Mein Bruder muss versorgt werden.«

»Wir können nicht zurück«, erwiderte Isenhart knapp und achtete darauf, Sophia dabei nicht in die Augen zu schauen. Hoch oben über ihnen konnte man die Flammen sehen, die in den Nachthimmel schlugen.

»Und meine Mutter? Mein Vater?«

Dieses Mal hob Isenhart den Blick und sah ihr in die Augen. Sophia las in ihnen das Mitgefühl dessen, der einen Wissensvorsprung besaß.

»Wir können nicht zurück«, wiederholte Isenhart. Und in diesen vier Worten lag das ganze Schicksal des Hauses Laurin.

Die Pferde waren zwar ausgeruht, aber sie trugen das doppelte Gewicht.

Marie und Isenhart hatten Konrad in Decken gehüllt und an jenem Pferd festgebunden, auf dem Isenhart ritt. Er orientierte sich an dem dunklen Halbrund, das sich in die Nacht erhob: den Ascisberg. Marie, die das andere Pferd führte, das Sophia und sie trug, folgte ihm dicht auf.

Sie bewegten sich im Trab, eine schnellere Gangart wäre bei den Lichtverhältnissen selbstmörderisch gewesen, und Isenhart, der Teile von Wilbrands Truppen in der Nähe vermutete, verzichtete aus diesem Grund auf eine Fackel.

In Grüningen lebte ein Medicus, der keinen besonders guten Ruf genoss, doch Isenhart war überzeugt, dass Konrad mit einer schlechten Versorgung seiner Wunde besser gedient war als mit gar keiner. Natürlich konnten sich auch dort Männer des Abtes aufhalten, trotzdem wollte Isenhart es wagen, denn die Vorstellung, nicht alles für das Überleben des Freundes getan zu haben, war ihm unerträglich.

Erst war es ein Wispern hinter ihm. Dann vernahm er Sophias Stimme deutlicher. »Reiter«, sagte sie.

Isenhart stoppte sein Pferd und lauschte. Tatsächlich war Hufgetrappel zu hören.

Als habe selbst der Mond sich mit dem Abt aus Mulenbrunnen verbündet, trat das Himmelsgestirn hinter einigen Wolken hervor und warf sein Licht auf die Fliehenden. Isenhart entdeckte zwei Reiter, deren Helme und Kettenhemden den Mondschein reflektierten.

Ohne Zweifel hatten die Verfolger sie nun ebenfalls entdeckt, denn sie gaben ihren Rössern die Sporen und jagten heran. Isenhart und Marie sprengten davon. Wegen einiger Äste, die über den Pfad reichten, auf dem sie flohen, zogen sie die Köpfe ein und beugten sich weit nach vorne.

Doch zwei Biegungen weiter hatte sich der Abstand zu den beiden Brabanzonen bereits um die Hälfte verkürzt. Sie konnten ihnen unmöglich entkommen. Mitten im Galopp einen Angriff von hinten abzuwehren und auch noch Marie und Sophia zu schützen, erschien Isenhart ohne die geringste Aussicht auf Erfolg.

Also reichte er Sophia die Zügel seines Pferdes, denn wenn seine Erinnerung ihn nicht trog, mussten sie jeden Augenblick einen Steg erreichen, der über die Glems führte. Es war der Weg, den Walther von Ascisberg vor vielen Jahren mit ihm eingeschlagen hatte, um ihm das Wasserrad zu zeigen.

»Reitet«, rief Isenhart, als der Steg in Sichtweite kam, »reitet und haltet nicht!«

Er packte die Streitaxt und ließ sich vom Pferd fallen. Bei dem Sturz auf den Pfad und ins Unterholz schlug er sich das Knie an einem Baumstamm an. Der Schmerz fuhr Isenhart ins Hirn, aber dann machte er eine außergewöhnliche Erfahrung: Kraft einer Willensanstrengung schob er den Schmerz einfach beiseite wie einen Vorhang. Er gestattete ihm nicht zu sein.

Der Steg bildete die Engstelle, die auch die Verfolger passieren mussten. Dort konnte er sie aufhalten. Und sich danach den Schmerzen hingeben.

Eilig humpelte Isenhart über das Holz, das unter seinen Schritten knarrte. Der Steg war breit genug für zwei Reiter, und genau so stürmten die Brabanzonen auf ihn zu. Isenhart warf einen Blick hinter sich, wo Marie, Sophia und Konrad im angrenzenden Wald verschwanden.

Dann waren die Verfolger da. Isenhart hob die Streitaxt, aber er unterschätzte die Erschütterung, die die Pferde hervorriefen, als sie über die Bohlen jagten, die dabei leicht ins Wanken gerieten und Isenhart zu einem Stützschritt zwangen. So geriet er zwischen die Leiber der Rösser, die ihn seitlich rammten und zu Boden warfen. Isenhart schlug hart auf, die Streitaxt schlitterte davon, der Schmerz im Knie meldete sich zurück. Sein Blick folgte den Brabanzonen, die den Steg überquert hatten.

Sie würden Sigimunds Kinder einholen und töten.

Er hatte versagt.

Doch dann wurde der erste Verfolger von einer riesigen, unsichtbaren Hand aus dem Sattel gehoben und fallen gelassen. Ein Wimpernschlag später erging es dem zweiten Mann ebenso. Während dieser liegen blieb, rappelte der erste sich auf und schleppte sich mit unsicheren Schritten zurück.

Das markante Surren von Armbrustbolzen, die durch die Luft zischten, drang bis an Isenharts Ohr. Der Brabanzone, dem ein Bolzen in der Hüfte steckte, wurde von drei weiteren Armbrustgeschossen getroffen und zu Boden gerissen.

Eine Gestalt auf einem Pferd schob sich langsam aus dem Wald, dann eine zweite, dritte.

Isenhart kniff die Augen zusammen: Was waren das für Männer? Hatten Wilbrands Ritter ihre Armbrüste versehentlich gegen Verbündete eingesetzt?

Ein Mann ohne Kettenhemd und Helm stieg vom Pferd und hockte sich neben den Verfolger, der soeben getötet worden war. Dort verharrte er nur kurz, dann wandte er Kopf und Blick zum Steg und wurde auf Isenhart aufmerksam.

Dieser spielte kurz mit dem Gedanken, sich in den Fluss zu werfen und von der seichten Strömung der Glems davontragen zu lassen, doch dann erkannte er zu seiner maßlosen Erleichterung in dem Mann, der sich ihm nun näherte, Walther von Ascisberg. Isenhart zog sich am Geländer des Stegs hoch, sein Knie erschien ihm glühend heiß und sandte ein Pochen aus, das in wellenartigen Schüben seinen Körper durchlief.

»Bist du verletzt?«, fragte Walther, sein Gesicht war voller Sorge.

»Nein«, brachte Isenhart hervor, »aber Konrad. Er …«

»Ich weiß«, unterbrach Walther ihn sanft, »ist der Fluchtgang noch unbesetzt?«

Isenhart nahm an die vier Dutzend Ritter wahr, die sich nun näherten. Das war es also: Walther von Ascisberg hatte sich um Verstärkung bemüht. Als sich ihre Wege in Grüningen getrennt hatten, hatte er bereits vorausgesehen, was nun geschehen war.

»Das Haus Laurin ist gefallen«, stellte Isenhart matt fest, und als er seine eigenen Worte hörte, schnürte es ihm die Kehle zusammen.

Ein tiefes Seufzen drang aus Walthers Mund. »Und Sigimund?«, fragte er dennoch.

Isenhart schüttelte den Kopf.

1190 verlor das Heilige Römische Reich zwei überragende Männer. Der eine war Sigimund von Laurin, den die Geschichte vergessen sollte. Der andere war Kaiser Friedrich Barbarossa, der auf seinem Kreuzzug ins Heilige Land im Saleph ertrank. Er bekam keine Luft mehr, ganz so, wie Sophia es prophezeit hatte.