30.

ieses Mal verhält es sich andersherum.
So begann die Nachricht, die Walther von Ascisberg Isenhart hinterlassen hatte. Er hatte sie nicht auf Latein geschrieben, sondern auf Deutsch. Die Schriftzeichen waren klar, die Tinte verschwamm nur wenig in den feinen, gepressten Verästelungen des Pergaments.
Üblicherweise hat der Lehrer schon jenen Pfad betreten, über den er seinen Schüler führt. An dem Ort aber, an dem ich jetzt bin, warst du vor mir.
Isenhart war, als höre er mit jedem Wort, das er las, Walthers Stimme. Und erst jetzt, im Nachhall, bemerkte er, dass sich die Stimme seines Mentors im Alter nicht verändert hatte. Sie war nicht ins Knorrige oder Heisere umgeschlagen. Ebenso wie seine Augen, die zwar in ein feines Netz aus Falten eingebettet gewesen waren, hatte sich Walthers Stimme ihre jugendliche Frische bewahrt.
Isenharts Augen schweiften zum oberen Rand: Im Jahre des Herrn 1197. Walther hatte diese Schrift also während ihrer Abwesenheit verfasst.
Ich weiß nicht, ob Dein Vater noch am Leben ist. Ich habe gehört, er sei in Konstantinopel gewesen und Aleppo. Und natürlich in der Puente. Wie du sicher in der Puente erfahren hast, habe ich ihn nicht getötet. Nichtsdestotrotz verfolgte ich ihn zu genau jenem Zwecke. Und auch, wenn ich es letztlich nicht tun konnte, so ist es doch eine Wahrheit. Nur eine, die nie in die Tat umgesetzt wurde.
Nicht tun konnte? Was meinte er damit? Isenhart strich sich mit einer unbewussten Handbewegung über den Kopf. Cecilia und Zolner hatten ihn in einen Bottich verfrachtet, ihm die Haare geschnitten und ihn rasiert. Die Haare waren so verfilzt gewesen, dass Zolner das Messer einen Daumen breit über der Kopfhaut hatte ansetzen müssen. Zumindest behauptete er das, wobei er unangemessen belustigt dreinschaute.
Die Haarstoppel riefen ein leichtes Kitzeln auf Isenharts Handinnenfläche hervor, als er über seinen Schädel strich. Er lag auf der Bettstatt, die Walther von Ascisberg sich in seiner Arbeitskammer eingerichtet hatte. Das Leinen darauf roch noch immer nach ihm.
In keines Menschen Leben habe ich mehr eingegriffen als in Deines. Es geschah nicht, um Dich zu lenken und von außen zu bestimmen. Ich tat es, um Dich vor Deinem Vater zu schützen. Und noch viel wichtiger: vor seinen Gedanken. Sowohl Dein Vater als auch ich haben Dir nach Deiner Geburt etwas von unserer Seele eingehaucht. Ich war mir nicht sicher, zu welcher Seite Du tendieren würdest. Also habe ich das Meinige in die Waagschale geworfen, damit Du zumindest gewappnet bist, wenn Du seinen Gedanken das erste Mal begegnest.
Denn Sydal von Friedberg und seine Denkgebäude üben einen verführerischen Reiz aus, und man muss in sich ruhen, um diesem standzuhalten. Er kann den Geist anderer in Brand setzen. Das macht seine Gefährlichkeit aus. Daher beschloss ich, er könne am wenigsten anrichten, wenn er tot ist.
Aber als ich ihn stellte, habe ich es nicht über mich gebracht, diesen Zugewinn für die Welt – den er neben seinen verachtenswerten Taten zweifellos darstellte – auszulöschen. Er gab mir sein Wort, nie wieder zu töten, den Fuß nicht auf deutschen Boden zu setzen und Dich niemals aufzusuchen. Danach ließ ich ihn gehen. Dein Vater wusste, dass er für alle, die im Heiligen Römischen Reich je mit ihm in Kontakt gestanden hatten, als ein toter Mann gelten würde. Nur dadurch konnte die Gefahr, die von ihm ausgeht, gebannt werden. Sydal von Friedberg ist wie der Krebs. Er wuchert und wächst, und wenn man ihn nicht herausschneidet, dann befällt er gesundes Gewebe und schließlich den gesamten Organismus.
Ich hoffe, Du kannst mir diese Täuschung, die ich zu Deinem Guten betrieben habe, nachsehen.
Damit endete die erste Seite von Walthers Nachricht. Isenhart legte das Blatt neben sich, nachdenklich ließ er seinen Blick durch die Kammer schweifen, bis er auf dem Beryll zum Stillstand kam. Ja, Walther hatte ihn belogen, aber nicht aus Niedertracht, sondern aus Fürsorge. Es fiel Isenhart nicht schwer, ihm zu verzeihen. Aber er fragte sich, in welchen Bahnen sein Leben verlaufen wäre, wenn sein leiblicher Vater ihn aufgezogen hätte. Wer er dann heute wäre. Aus welchem Stoff sein Wesen bestünde. Die Frage hinter all diesen Erwägungen lautete: Was wäre, wenn? Und sie, das wusste Isenhart, weil er bereits bei anderen Gelegenheiten lange genug darüber gegrübelt hatte, war dazu angetan, einen direkt in den Wahnsinn zu treiben.
Also sammelte er seine Gedanken wieder und bändigte sie, indem er das zweite Blatt vor seine Augen hob.
Tutenhoven und all mein Hab und Gut sollen in Deinen Besitz übergehen. Falls Du die Dienste von Zolner und Cecilia nicht länger in Anspruch nehmen willst, erweise mir den Gefallen und entlasse sie großzügig.
Ich danke dem Herrn, dass unsere Lebenswege sich gekreuzt haben und für eine gewisse Spanne nebeneinander verlaufen sind. Ich wurde nie Vater, aber ich habe jetzt eine Ahnung, wie es ist, einer zu sein.
Möge der Schöpfer über Dich wachen, Dich schützen und Dir ein langes Leben und einen kurzen Tod bescheren.
Damit endete Walthers Brief.
Isenhart löschte das Licht der Talgkerze und schlang sich das Leinen um den Leib. Er atmete noch einmal den Geruch Walther von Ascisbergs, wollte ihm noch einmal nahe sein, ihn ein letztes Mal in die Arme schließen.
Der Morgentau hing in den Gräsern und auf den Blättern.
Isenhart hatte bei Sonnenaufgang die kleine Anhöhe bestiegen und warf von dort einen Blick auf das Land, das er nun sein Eigen nennen durfte. Er kniete vor der letzten Ruhestätte seines Mentors und übergab ihm den Heiligen Christophorus, indem er das Medaillon an die rechte Seite des Kreuzes hängte.
Auch am Grab war der Tau allgegenwärtig. In der Gestalt birnenförmiger Tropfen hing er am Kreuz und an den feinen Strängen des Netzes, das eine emsige Spinne in dem Winkel gewebt hatte, den das Längs- und das Querstück des Kreuzes bildete.
Das Wunder des Lebens, dachte Isenhart. Nichts hielt inne, weil ein geliebter Mensch von der Erde verschwunden war, nichts erstarrte voller Ehrfurcht. Alles nahm seinen gewohnten Gang; die Natur, die Schöpfung kümmerte es nicht. Walther von Ascisberg war nicht mehr, und sie war. Das war der entscheidende Unterschied.
Bevor er aufgebrochen war, hatte er die Notizen seines ermordeten Lehrmeisters in der Hoffnung durchsucht, etwas möge ihm einen Hinweis auf dessen Mörder geben. Anagramm, das war das letzte Wort, auf das Isenhart in den Niederschriften seines Mentors gestoßen war. Anagramm.
Er wusste sehr wohl, dass man es als Anagramm bezeichnete, wenn jemand aus den Lettern eines Wortes ein anderes bildete, aus Bier das Wort Brei, aus Donner Norden und aus Norden wiederum Dornen. Doch dieses Wissen half Isenhart nicht, weil er das Wort nicht kannte, in dem Walther von Ascisberg ein Anagramm entdeckt haben wollte.
Er atmete einmal tief durch und erhob sich. Er wagte den Blick mitten in die aufgehende Sonne, bis die Helligkeit des Gestirns erst einen stechenden Schmerz und dann ein pulsierendes Gebilde auf seinem Auge hinterließ.
Dieses Gebilde würde an Kontur und Intensität verlieren, eine Weile nachglühen und dann ganz verschwinden. Ebenso würde es ihm mit Walthers Antlitz ergehen. Schon jetzt, nach seiner Reise nach Toledo, konnte er nicht mehr jedes Detail von Walthers Erscheinung aus seinem Gedächtnis abrufen.
Das Phänomen des Verblassens der Bilder von Toten war für Isenhart nicht neu, er hatte es bereits mit Bestürzung nach Annas Verlust erfahren. Später hatte er sich einmal mit Walther von Ascisberg darüber unterhalten, der ihm versicherte, dass dabei keine Fehlleistung seines Geistes vorlag, es sich vielmehr um einen ganz normalen Vorgang handelte. Einem, dem möglicherweise die Güte des Herrn innewohnte.
So wurden die Umrisse vage, die Konturen flossen aus ihren Bahnen und gaben den Inhalten keinen Halt mehr, sie ergossen sich über die Ränder, und über alles legte sich Nebel.
Und wenn all jene, die Walther von Ascisberg persönlich gekannt hatten, ebenfalls vor ihren Schöpfer getreten waren, würde jede konkrete Erinnerung an ihn ausgelöscht sein, es wäre, als hätte er nie gewirkt, als hätte das Gedächtnis der Welt entschieden, ihn nicht länger beherbergen zu müssen, da er nichts mehr auszurichten vermochte und in diesem Sinne wertlos geworden war.
Isenhart durchfuhr ein Schauer ob dieses Gedankens, der eines Tages auch ihm gelten würde. Er warf einen letzten Blick auf das Grab, bevor er die Anhöhe hinabstieg und Zolner bat, das Gehöft in seinem Namen zu führen, solange er unterwegs war.
Am frühen Vormittag machte sich Isenhart auf den Weg nach Heiligster.
Er war überzeugt davon, dass Michael von Bremen nicht Annas, Ketlins und Liliths Mörder gewesen war. Und er glaubte auch nicht an den zufälligen Tod seines Mentors. Der Mann, der vermutlich auch den Mönch und Walther von Ascisberg auf dem Gewissen hatte, befand sich höchstwahrscheinlich noch auf freiem Fuß.
Isenhart erinnerte sich an Konrads Worte über das Muster, dem die bisher Ermordeten entsprachen. Jungfrauen, denen das Herz geraubt worden war. Der ermordete Mönch, sein Name war Jobst gewesen, fügte sich scheinbar nicht ein. Er war ein Mann, und ihm fehlten die Augäpfel, nicht das Herz.
Dessen ungeachtet bildete Jobst aus der Nähe betrachtet die logische Fortsetzung der Opferkette. Denn nachdem den Klerikern bereits 306 nach Christi in der Synode von Elvira die Enthaltsamkeit auferlegt worden war, der 1139 auf dem Zweiten Lateranischen Konzil der Zölibat folgte, also das Verbot der Ehe oder des Lebens an der Seite einer Konkubine – der Bischof von Passau wäre um ein Haar vom tobenden Klerus gelyncht worden –, waren Geistliche rein.
Die Reinheit hatten Ibn Al-Hariq und Sydal von Friedberg als das Kriterium der Wertigkeit festgelegt – diese Aussage Ibn Khamuds hallte in Isenharts Kopf nach.
Je reiner die Seele, desto wertvoller.
Das Geschlecht spielte für den Täter jedoch keine Rolle. Zudem vermuteten die Gelehrten in der Puente den Sitz der Seele hinter den Augen und nicht mehr im Herzen – worauf die fehlenden Augäpfel verwiesen. Und Jobsts Mönchstum garantierte Unbeflecktheit.
Während ihrer Zeit in Heiligster hatten sich in Spira diverse Totschläge und Morde ereignet. Kein einziger aber hatte es vermocht, das Interesse von Walther von Ascisberg zu wecken, geschweige denn, sich deshalb nach Spira zu begeben.
Für den ermordeten Mönch aber hatte er die Mühsal auf sich genommen, die ein Ritt von Tutenhoven nach Spira für einen 67-jährigen Mann bedeutete. In diesem Alter, in dem Bewegung zwangsläufig mit Schmerzen verbunden war, konnten nur höchste Dringlichkeit und unaufschiebbare Notwendigkeit Grund für von Ascisbergs Reise gewesen sein.
Isenhart fand sich nicht in der Lage, es zu beweisen, aber er war sich sicher, dass sein Lehrer Jobst, den Mönch, als ein Opfer des mehrfachen Mörders angesehen hatte. Mehr noch: Sein Mentor hatte der Mordserie ein Ende bereiten wollen.
Allzu gerne hätte Isenhart sich in all diesen Punkten der Ratschläge Ibn Khamuds und des Basars versichert, aber die Antworten würde ihn anderthalb Jahre Reisezeit kosten. Vielleicht würde die Verständigung auf Distanz durch kluge Erfindungen eines Tages weniger Zeit in Anspruch nehmen. Doch darauf konnte Isenhart natürlich nicht warten.
Und das musste er auch nicht.
Es gibt nichts Zwingenderes als die Logik.
Die Logik nahm ihm diese Wege ab. Dies und Isenharts Eingebung, die Vorgänge mit den Augen des Mörders zu betrachten, führte ihn näher zur Quelle. Beide Faktoren grenzten die Anzahl der möglichen Täter auf eine kleine Gruppe ein. Denn die Schlussfolgerung seiner Überlegungen lautete: Der Mörder musste Walther von Ascisberg gekannt haben.
In Gedanken begab sich Isenhart in der Gestalt des Täters nach Spira, er beobachtete Jobst, den Mönch, denn er nahm an, dass der Mörder niemals im Affekt zuschlug, dagegen sprach die Intelligenz, die er bei seinen bisherigen Taten an den Tag gelegt hatte. Affekt bedeutete Risiko. Und ein Risiko einzugehen, obwohl es vermeidbar war, blieb den schlichteren Gemütern vorbehalten.
Er verfolgte Jobst den Tag über, vielleicht richtete er sogar unter einem Vorwand das Wort an ihn, hörte ihn sprechen, vergewisserte sich des Tones seiner Stimme. Ganz bestimmt warf er einen Blick in die Augen des Mönchs, die er ihm später entnehmen würde.
Isenhart spürte die Allmacht, die der Mörder empfunden haben musste. Dem Opfer gegenüberzustehen, es nach dem Weg oder einer anderen Belanglosigkeit zu fragen und – im Gegensatz zu ihm – zu wissen, dass es die wertvollsten Stunden seines Lebens vor sich hatte, nämlich seine letzten.
Nachts, auf dem Rückweg nach Tutenhoven, erschlug er ihn. Nein, er tötete ihn mit einem einzigen Stich in den Hinterkopf. Isenhart sah in seinen Gedanken, wie der schlaffe, junge Körper des Mönchs tot aufs Pflaster aufschlug. Wie er, der Mörder, sich auf ihn schwang, als werfe er sich auf ein junges Pferd, das durchzugehen drohte, und ihm sogleich die scharfe Klinge an den Lidern ansetzte. Schnell musste es nun gehen, denn die Seele befand sich auf dem Sprung. Sie galt es rechtzeitig abzupassen. Mit zügiger Sorgfalt durchtrennte der Seelensammler das Gewebe und hob die Augäpfel aus ihren Höhlen, mit einem letzten Schnitt durch die Faser des Sehnervs trennte er sie vom restlichen Körper und bahnte Jobsts unbefleckter Seele den Weg.
Ein Gefühl des Glücks und eine Art göttlichen Schutzes dürfte er daraufhin empfunden haben, denn Gott hätte ihm jederzeit Einhalt gebieten und ihn in ewige Verdammnis stürzen können. Doch beides blieb aus – war dieses nicht ein Zeichen dafür, dass die Taten des Seelensammlers gottgefällig waren? Riefen sie, da ungesühnt und unverhindert, gar die Verzückung des Schöpfers hervor? Erntete der Mörder Gottes Wohlgefallen?
Isenhart wusste diese Frage nicht zu beantworten. Aber da der Schöpfer die Taten nicht verhindert und auch nicht gesühnt hatte, musste der Täter sich in seinem Handeln bestätigt fühlen. Bestätigt und womöglich angestachelt zu neuen Taten.
Gott hat den Fuchs geschaffen und den Hasen, hatte Walther von Ascisberg einmal gesagt. Und uns nicht wissen lassen, für wen von beiden sein Herz schlägt.
Walther, der dann in Spira aufgetaucht sein musste. Dem der Mord an Jobst keine Ruhe gelassen, der die Zeichen begriffen hatte. Reinheit und Mönch, Seele und Augen.
Aus der Perspektive des Täters, die Isenhart noch immer einzunehmen sich bemühte, während er sich Heiligster näherte, war dieser Mord eine bewusste Täuschung. Warum sollte er nach all den Jahren, in denen seine Opfer einander geglichen hatten, die Wahl der Unglückseligen, die seine Neugier mit ihrem Leben bezahlten, geändert haben?
Die Entnahme der Augäpfel statt des Herzens war dem neuesten Stand der Forschung geschuldet. Dass die Wahl aber statt auf eine weitere Jungfrau auf einen Mönch gefallen war, konnte kein Zufall sein.
Ein Täter, der sich unverfolgt und unentdeckt wähnt, schloss Isenhart, hat keinerlei Veranlassung, sich auf einen neuen Opfertyp einzustellen. Es hätte für Annas Mörder also überhaupt keine Notwendigkeit bestanden, sich von Jungfrauen auf Mönche zu verlegen – außer er wusste, dass man ihm auf den Fersen war.
Mit dem Freitod Michael von Bremens hatte diese über Jahre andauernde Mordserie endlich ein Ende gefunden. Der Mörder war gefasst, seine Taten waren gesühnt, zukünftige Opfer geschützt.
Scheinbar.
Denn in Jobst hatte er eine neue Seelenquelle gefunden, die niemand mit den Morden an den Jungfrauen in Verbindung bringen würde. Keiner seiner Jäger könnte bei der Nachricht des ermordeten Mönches Argwohn im Herzen tragen. Niemand wäre in der Lage, eine Verbindung zwischen der Tötungsserie und Jobst herzustellen.
Nur ein höchst wacher Geist. Nur einer, der über das Abstraktionsvermögen verfügte, Jungfräulichkeit und Enthaltsamkeit in diesem Sinnzusammenhang zur Deckung zu bringen, und der um den neuen Sitz der Seele wusste.
Derer gab es nicht viele.
Das Wagnis seiner Entdeckung war verschwindend gering. Es war nicht mehr als ein Stutzen Walthers, der den Tratsch zweier Weiber bei der Ernte auffing, den ein günstiger Sommerwind an sein rechtes Ohr trug, aus dem feine, silberne Härchen sprossen. Ein Tratsch über einen Mönch, über gestohlene Augäpfel – die Weiber bogen die Rücken unter wohligen Schauern –, der das Ohr Walthers in Schwingungen versetzte. Und direkt danach sein Kombinationsvermögen.
Gegen jede Unwahrscheinlichkeit begriff er in der Zeitspanne, die eine Ähre benötigte, um sich wieder aufzurichten, dass das Morden noch kein Ende genommen hatte. Dass der Seelensammler sich tarnte und hoffte, seine Taten unerkannt fortsetzen zu können.
Isenhart saß ab und führte sein Pferd zum Rhein, um es zu tränken. Die Sonne spiegelte sich auf der Wasseroberfläche, die Reflexionen ließen helle Flecken über Steine, Laub und Gräser flitzen und vibrieren.
Er setzte sich auf einen warmen Stein.
Während die Wachleute in Spira die Ermordung des Mönches für die abscheuliche Tat eines Wahnsinnigen halten mussten, die die offiziellen Nachforschungen in die falsche Richtung lockten, konnte der Täter sich in Sicherheit wiegen. Doch dann erschien Walther von Ascisberg in der Stadt. Er stellte Fragen, mit hoher Wahrscheinlichkeit begutachtete er auch den Leichnam, falls der noch nicht verscharrt worden war. Für den Außenstehenden war er ein alter, klappriger Kauz. Ein neugieriger Greis. Wer ihn nicht kannte, musste ihn als ungefährlich einstufen, dachte Isenhart. Was sollte der Seelensammler denn von einem neugierigen Alten befürchten? Nichts. Der gebrechliche Mann stellte keine Gefahr dar – es sei denn, der Mörder wusste, mit wem er es zu tun hatte.
Der Täter, der Walther von Ascisberg bekannt war, musste unfraglich seiner Entlarvung entgegensehen, die es unter allen Umständen zu verhindern galt. Vierteilung oder Rädern, was auch immer bevorstand, es brachte dem Täter mit Gewissheit den Tod.
Also, schloss Isenhart, während seine Augen stumpfsinnig auf die glitzernde Wasseroberfläche des Flusses gerichtet waren, geriet der Seelensammler unter Zugzwang – diesen Begriff entlehnte er aus dem Spiel der Könige, das Marco Ray ihn gelehrt hatte. Der Mörder musste handeln. Kaum hatte Walther von Ascisberg die Stadtmauern Spiras hinter sich gebracht, schlug er zu.
Und es sprach dabei nicht nur für seine Kaltblütigkeit und Intelligenz, dass er den Alten erschlug, es kündete Isenhart auch von der Disziplin des Mörders, die ihn an der Entnahme der Augen hinderte. Nur zu gerne hätte der Mörder sicherlich einen Blick auf die Seele dieses gebildeten Mannes geworfen. Ein Schatz möglicherweise, ein Schatz, dessen Anblick er sich versagte.
Die Art und Weise des Mordes an Jobst sollte jene, die ihm auf den Fersen gewesen waren, in ihrem Glauben, mit von Bremens Tod sei die Serie beendet, nicht aufschrecken. Die Tötung Walthers mit einem Stich ins Hirn, eine Methode, die der Seelensammler mittlerweile mit erschreckender Präzision beherrschte, kam nicht zur Anwendung. Er wollte seine Spuren verwischen.
Die Brise trug Wärme über den Rhein, die Sonnenstrahlen glitten über Unterarme, Hände und Gesicht, dennoch fröstelte Isenhart, als seine Gedanken ihm die Erkenntnis zutrugen, dass der Mörder nicht nur Walther von Ascisberg gekannt haben musste – sondern auch ihn. Nur wenn der Seelensammler Isenhart nahe war, nur dann ergab es Sinn, den Mord an Walther von Ascisberg als den zufälligen Raubmord einiger finsterer Gesellen erscheinen zu lassen.
Die Mordmethode war im Sinne einer Täuschung gewählt worden. Und bei oberflächlicher Betrachtung hätte der Seelensammler sein Ziel auch erreicht. Hätten seine Spuren ins Nichts geführt.
Aber Isenhart ließ sich nicht täuschen. Nicht ein drittes Mal.