23.

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ennings Heilungsprozess und die damit einhergehende Gewissheit, ihn nach seiner Rückkehr lebend anzutreffen, ermunterten Isenhart zu seinem Vorhaben.

Henning von der Braake mochte ein Krüppel bleiben, aber Isenharts Anwesenheit hätte es nicht zum Besseren wenden können, außerdem würde sein Geist immer auf zwei flinken Beinen laufen. Seine Genesung war bei Walther und seinem Vater in denkbar besten Händen.

Am Morgen nach der Unterredung mit Walther von Ascisberg kniete er neben dem schlafenden Freund, dessen Gesicht von Schweiß bedeckt war. Mit einem Tuch wischte Isenhart ihm den Film von der Stirn, ohne dass Henning erwachte. Er weckte den Freund nicht, sondern gab ihm einen Kuss auf die Stirn, bevor er sich erhob und den Raum verließ.

»Schließ dich anderen Reisenden an, such den Schutz der Gruppe«, hatte Günther ihm geraten. Walther hatte – Isenharts Wunsch entsprechend – den Medicus nicht in die Einzelheiten eingeweiht. Günther von der Braake hatte er erklärt, Isenhart mache sich in seinem Auftrag nach Toledo auf. Die iberische Hauptstadt hatte auch der weit gereiste von der Braake nie betreten, wie er zugab.

Nichtsdestotrotz hatten die beiden alten Männer bis in den frühen Morgen über die günstigste Reiseroute beraten. Toledo lag im Herzen der iberischen Halbinsel, das war bekannt. Die eine Route bewegte sich über Strasbourg und weiter gen Westen durch Frankreich, sah die Überquerung der Pyrenäen vor und mündete in einer geschätzten Strecke von 150 Meilen, die zwischen den Gebirgsausläufern und Toledo lagen.

Die zweite Route – es war jene, die sie Isenhart schließlich ans Herz legten – barg ihre schwierigste Etappe, die in der Überwindung der Alpen bestand, gleich zu Beginn. Aber von Genova aus gab es eine Passage nach Barcelona oder sogar bis nach Valencia, wobei weder Walther noch Günther sicher Auskunft darüber erteilen konnten, in wessen Hand die Stadt sich gerade befand. El Cid hatte sie Ende des 11. Jahrhunderts den Mauren entrissen, und nach seinem Tod eroberten diese sie zurück, so viel war bekannt. Also rieten sie Isenhart, bereits in Barcelona von Bord zu gehen und sich über Zaragoza auf der üblichen Handelsroute bis nach Toledo zu begeben – man konnte nie wissen.

Die beiden schätzten die gesamte Wegstrecke auf 350 Meilen, womit sie gut 80 Meilen zu wenig veranschlagten. Ein Pferd, das nicht den lieben langen Tag im Stall oder auf der Weide verbrachte und den Ausritt gewohnt war, vermochte seinen Reiter etwa fünf Meilen pro Tag zu tragen. Rein rechnerisch war die Distanz für einen berittenen Mann also binnen 54 Tagen zu bewältigen, vorausgesetzt, er machte keine Umwege, wurde nirgends aufgehalten, schlief weniger als sechs Stunden und wurde von einem Pferd mit entsprechender Konstitution getragen, das immer dort, wo sein Reiter sich niederließ, Nahrung und frisches Wasser vorfand. Diese Bedingungen eingerechnet, die der Realität nicht standhielten, ergänzt um den Umstand, durch Umwege auf schwer zugänglichen Trampelpfaden tatsächlich eine beträchtlich längere Strecke zurücklegen zu müssen, kumulierte sich die Reisedauer auf 120 Tage. Das Übersetzen von Genova nach Valencia minderte diese Summe um geschätzte 30 Tage auf insgesamt 90. Hin und zurück 180, wie Isenhart überschlug, plus Nachforschungen in Toledo 200.

Mit etwas Fortune würde Isenhart den Jahreswechsel also wieder in Heiligster begehen.

Dessen Welt stand nach der Unterredung mit seinem alten Lehrer buchstäblich auf dem Kopf. Gegebenheiten, die ihm als Beiläufigkeiten erschienen waren, gewannen plötzlich an Bedeutung und andere, denen er Bedeutung beigemessen hatte, standen nun als Nichtigkeiten da.

Walthers Fürsorge war offenbar auch einer Sorge entsprungen, die dem Umstand galt, dass Sydal seinem Sohn etwas von seiner Seele eingehaucht hatte. Sollte Isenhart ihn wieder aus dem Totenreich zurück in die Welt der Lebenden holen? War etwas von Sydals Seele in ihm, Isenhart, haften geblieben?

Isenhart war nicht nur Schüler gewesen, sondern immer auch ein Objekt der Beobachtung, ein zweibeiniges Experiment, das jederzeit aus dem Ruder laufen konnte. Und was hätte Walther dann getan, schoss es Isenhart durch den Kopf, hätte er ihn ebenso getötet wie seinen Vater?

Walther von Ascisberg wäre zu einer solchen Tat nicht fähig gewesen, das spürte er in seinem tiefsten Innern, aber dann entsann er sich der Geschichte mit den entleibten Muselmanen. Um dann zu der Erkenntnis zu gelangen, dass auf viel weniger Verlass war in dieser Welt, als er bisher vermutet hatte.

Obschon Walther ihm versichert hatte, niemand sonst wüsste von seiner Herkunft, empfand er trotzdem das Stigma eines Untoten. Es war Sonderstatus und Ausgegrenztheit zugleich, Giselbert, der Scharfrichter, dürfte eine ähnliche Verlassenheit verspürt haben.

Loretta, seine Mutter, selbst Waise, war im Jahr vor seiner Geburt zum Reisigsammeln im Wald gewesen, als Sydal sie vergewaltigt hatte. Das war Isenhart: das Produkt einer Vergewaltigung. Wenngleich gut ein Drittel der Bevölkerung auf diese Weise gezeugt wurde, wie Walther von Ascisberg ihm erklärte, behagte ihm die Vorstellung nicht sonderlich, Ergebnis eines Gewaltakts zu sein.

»Deine Mutter war schön, Isenhart«, hatte Walther gesagt, »sie hatte ein breites Becken und volle Brüste.« Damit entsprach sie zwar den allgemeinen Vorstellungen von weiblicher Schönheit, aber die Beschreibung ihrer Formen sagte nichts über ihre Persönlichkeit aus. Wie war sie wohl gewesen? Ein phlegmatisches Gemüt oder ein wacher Geist? Bildeten sich freche Grübchen auf ihren Wangen, wenn sie lächelte? Oder war der Glanz ihrer Augen auch beim Anblick eines wundervollen Sonnenuntergangs stumpf? Über Loretta gab es nicht viel zu berichten.

Obwohl Isenhart so gut wie nichts über sie wusste, fühlte er sich ihr aufs Innigste verbunden. Wie sie war auch er ohne Wurzeln. Seine Identität lag ebenso im Dunkeln wie jene Lorettas. Wie seine Mutter hatte er in den Läuften der Geschichte an einem Punkt begonnen zu sein, um irgendwann an einem anderen zu enden.

Sydal dagegen stammte aus Hammaburg.

Laut Walther von Ascisberg spielten sich in der Schlacht bei Doryläum solch unaussprechliche Grausamkeiten ab, dass Sydal von Friedberg den Glauben an den barmherzigen christlichen Gott verlor. Ausgehend von den Erlebnissen bei Doryläum und angereichert durch die Jahre in Toledo an Al-Hariqs Seite, hatte sein Vater offenbar ein Weltbild entwickelt, das keinen Gott mehr brauchte und sich stattdessen auf die Erkenntnisse der Naturwissenschaften stützte.

Als von Ascisberg ihm davon berichtete, meinte Isenhart aus seinen Worten Verständnis für diese Haltung herauszuhören, vielleicht sogar Sympathie. »Aber Ihr glaubt an unseren Schöpfer?«, fragte er deshalb.

Von Ascisberg nickte: »Wie sonst hätte das Sein Einzug halten können in einen unbelebten Kosmos?«

Mit keinem Wort, keiner Silbe erwähnte Isenhart ihm gegenüber den Umstand, dass Walther seinen leiblichen Vater vom Leben zum Tode befördert hatte. Dessen ungeachtet verspürte von Ascisberg einen leisen Schmerz, der in Form einer unbestimmten Wehmut über ihn kam. Und die ihren Ursprung in Isenharts Verhalten hatte. Anstelle seiner Zuneigung – so sie existiert hatte und nicht der Einbildung eines senilen Alten entsprungen war – trat höflicher Respekt. Die Augen des jungen Schmieds, in denen Walther ohne Mühe zu lesen vermocht hatte, blieben ihm verschlossen, obwohl Isenhart seinem Blick nicht auswich. Es war, als habe sich ein unsichtbarer Vorhang über Isenharts Pupillen gesenkt.

Walther von Ascisberg hatte ihn in sein Arbeitszimmer geführt, um ihn dort mit Haller Silbermünzen zu versorgen. Erwartungsgemäß lehnte Isenhart ab.

»Gib einfach nur das Nötigste aus«, schlug Walther daher vor, »und bring den Rest zurück.«

»Ich kann das nicht annehmen«, erwiderte Isenhart.

Konnte er nicht, weil es ihm unangemessen erschien, oder wollte er nicht?

»Ich bin alt, ich besitze das Gut und die Ländereien. Ich brauche das Silber nicht.«

»Ich schaffe es auch so nach Toledo.«

Die Zurückweisung war unüberhörbar.

»Ich will es dir geben, weil ich dich selbst nicht mehr begleiten kann.«

Da war sie wieder, diese ruhige, überlegte Art, die er so sehr an Walther von Ascisberg schätzte und mit der es dem alten Mann unwissentlich gelang, wieder eine Saite in Isenhart zum Schwingen zu bringen. Aber noch sträubte er sich dagegen: »Wer weiß noch davon? Konrad? Sophia?«

»Niemand, der noch am Leben ist – außer mir.«

»Sigimund von Laurin«, sagte Isenhart. Es war mehr eine Feststellung denn eine Vermutung.

Sein Kombinationsvermögen ist schneller als meines, erkannte Walther neidlos an. »Ja, Sigimund. Aber er hat es mit ins Grab genommen.«

Die Gewissheit, in seinem alten Lehrer den einzigen Geheimnisträger vor sich zu haben, beruhigte Isenhart, ohne dass er den Grund dafür hätte benennen können.

»Ich habe nur eine Frage an dich«, fuhr von Ascisberg fort, »du kannst dich an Sydal nicht erinnern. Aber vielleicht, vielleicht ist es dir möglich …« Er schüttelte den Kopf und wandte sich wieder den Haller Münzen auf der Tischplatte zu.

»Fragt ruhig«, ermunterte Isenhart ihn.

»Ich bin ein alter Narr, Isenhart.«

»Fragt trotzdem.«

Von Ascisberg sah ihn von der Seite an. Nun, eine gewisse Ähnlichkeit mit seinem Vater war unübersehbar. Er hatte Sydals Augen. »Du warst tot. Du warst … auf der anderen Seite. Erinnerst du dich daran?«

Isenhart schüttelte den Kopf. Und Walther nickte. Er hätte es sich denken können, ja müssen und hatte sich trotz dessen zu dieser naiven Frage hinreißen lassen. Er sah nicht, wie Isenhart kurz schmunzelte. Es war nicht das innigste Band, das zwischen ihnen bestand, aber doch eines der stärksten: die Neugier. Die Frage nach dem Warum. Aus diesem Grund empfand Isenhart nicht nur Verständnis für die Frage, sie gebar auch eine neue Nähe, die er nicht empfinden wollte. Nicht hier, nicht jetzt.

»Ihr hättet es mir sagen müssen.«

Anders als erwartet, neigte der alte Mann nicht sein Haupt. Er reckte es auf seinem dürren, faltigen Hals, sein Blick war klar, als er antwortete: »Nein. Niemals.«

Es kursierten Theorien von der Übertragbarkeit. Ausgehend von körperlichen Merkmalen, die Eltern an ihre Kinder weitergaben und die für jeden Betrachter offensichtlich waren, lautete die Frage, ob auch anderes von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Das Temperament gehörte in der allgemeinen Wahrnehmung dazu. Auch einige meist nachteilig empfundene Eigenschaften, als da waren die Trunksucht und all ihre Gesellen, das aufbrausende Wesen etwa, der Hang zum Spiel, die Untreue und vielerlei mehr.

Walther von Ascisberg hatte die Angst umgetrieben, es könnte Sydal gelungen sein, sich mit der Beatmung des Säuglings in geistiger Hinsicht fortgepflanzt zu haben. Mehr noch: das Kind mit seinen ketzerischen und bestialischen Gedanken infiziert zu haben.

»Das ist der ganze Grund«, schloss Walther, nachdem er Isenhart seine Motive dargelegt hatte, »denn was hättest du gewonnen, wenn du es gewusst hättest?«

»Die Wahrheit.«

Walther lächelte mit freundlicher Nachsicht: »Die Wahrheit. Sie ist ein unbequemes Ding. Jeder meint, sie zu wissen, aber niemand mag sie gesagt bekommen. Und die halbe Wahrheit ist nie die Hälfte der ganzen. Du suchst die Wahrheit, seit du denken kannst, ich weiß – ich suche sie auch schon mein ganzes Leben lang. Aber wir neigen dazu, sie immer auch dort zu suchen, wo es für uns nicht mit Unannehmlichkeiten verbunden ist, sie zu finden.«

»Die Wahrheit ist, dass meine Mutter eine Waise war. Und mein Vater ein mehrfacher Mörder«, entgegnete Isenhart, »und die Wahrheit ist, dass Ihr mir beides verschwiegen habt.«

»Das ist die Wahrheit«, bestätigte Walther ihm, »aber die Wahrheit ist auch, dass du auf sie vorbereitet sein solltest, reif für sie und ihr gewachsen, wenn der Tag gekommen sein würde. Aber du bist ihr auch heute kaum gewachsen, du reagierst mit Trotz und Zurückweisung und verlangst, ich hätte sie dir sagen sollen, als du ihr noch viel weniger gewachsen warst. Ergibt das bei vernünftiger Betrachtung einen Sinn?«

Isenhart schluckte unwillkürlich. Es gibt nichts Zwingenderes als die Logik, das waren die Worte seines Lehrers gewesen, und vor der Logik ging Isenhart jetzt in die Knie. Wie ein lähmendes Gift waren die Erzählungen über seinen Vater in seinen Kopf gedrungen. Endlich kannte er einen Teil seiner Wurzeln, endlich war seine Herkunft nicht länger irgendein Punkt in einem undurchdringlichen Nebel. Die Erleichterung darüber hielt sich die Waage mit der Fassungslosigkeit, die die Taten Sydals von Friedberg in ihm auslösten.

Walther von Ascisberg hatte recht – mal wieder. Zu einem früheren Zeitpunkt hätte ihn die Wahrheit womöglich aus der Bahn geworfen.

»Das Silber, das ich nicht verwende, bringe ich Euch zurück«, sagte er daher.

Walther von Ascisberg hatte Zolner angewiesen, Isenhart ihr bestes Pferd zu überlassen, was zwar zwangsläufig Zolners Unmut hervorrief, ihn aber nicht daran hinderte, der Anweisung klaglos nachzukommen. Als Isenhart das Tier sattelte, trat Walther an ihn heran und reichte ihm ein Medaillon. Darin befand sich das kleine Bildnis eines Mannes, der ein Kind über einen Fluss trägt.

»Es ist der heilige Christophorus«, erklärte von Ascisberg. »Er schützt seinen Träger vor dem unerwarteten Tod. Ich habe es immer bei mir getragen. Aber jetzt scheint mir, du brauchst den Schutz dringender.«

Zögernd nahm Isenhart das Medaillon entgegen, drehte und wendete es in seiner Hand.

Von Ascisberg spürte seine Unentschlossenheit. Also nahm er es ihm ab, öffnete den Verschluss der Kette, an der es hing, und legte es Isenhart um den Hals. »Mein Vater hat es von meinem Vorvater geerbt, mein Vater hat es mir vermacht, und da ich selbst keinen Sohn habe …«

Er ließ es unausgesprochen. Aber die Umarmung, in die er Isenhart schloss, war umso beredter. Isenhart sträubte sich nicht länger und nahm seinen Mentor ebenfalls in die Arme.

Gegen Abend erreichten sie Heiligster. Sophia und Konrad hatten ihn begleitet, denn zum einen waren ihnen die Hände gebunden, was Henning anging, und zum anderen meinte Konrad nach einer ganzen Woche der Enthaltsamkeit ein Ziehen in seinen Lenden zu spüren.

Isenhart, dem nicht daran gelegen war, dass Henrick sich nicht mehr als sein Bruder empfand, wartete, bis er und Ursel vom kleinen Bachlauf sich zu ihren Hühnern zurückzogen, bevor er Konrad, Sophia, Marie und Hieronymus von dem berichtete, was ihn so erschüttert hatte. Der Ofen wärmte sie dabei stets von einer Seite, weshalb sie nach wenigen Minuten ihre Sitzhaltung änderten, um nicht zu erfrieren oder geröstet zu werden.

Entsetzen, Mitleid, Anteilnahme, all das und noch mehr las er dabei in ihren Mienen. Untot, so sagte er einmal über sich selbst, und bis auf Sophia rückten die anderen kaum merklich von ihm ab.

»Deshalb«, schloss er seinen Bericht, »mache ich mich morgen auf den Weg nach Toledo.«

»Wozu?«, fragte Konrad. Isenhart, dessen Blick eben noch in den grünen Augen von Sophia von Laurin geruht hatte, sah seinen Freund an.

»Der Mörder hat sich gerichtet«, sprang Marie dem Vater ihres ungeborenen Kindes zur Seite.

»Und dein Vater ist tot«, fügte Konrad hinzu, »es ist vorbei.«

Isenhart deutete ein Nicken an. »Du bist der Stammhalter, Konrad. Du und Sophia, ihr seid die Letzten der Laurins. Aber ihr könnt einen Stammbaum euer Eigen nennen. Ihr habt Wurzeln.«

»Die hast du auch«, sagte Sophia.

»Sicher«, pflichtete Isenhart ihr bei, »meine Mutter war eine Waise, mein Vater ein Mörder. Viel mehr weiß ich nicht. Ich muss herausfinden, was mit ihm in Toledo geschehen ist.«

»Ich würde sagen«, meldete Hieronymus sich zu Wort, »er ist vom Glauben abgefallen.«

Isenhart nickte: »Aber warum? Warum gehen zwei gelehrte Männer nach Toledo, von denen einer ins Heilige Reich zurückkehrt und damit beginnt, Jungfrauen zu töten und ihnen das Herz zu rauben?« Er sah in ihren Gesichtern sein eigenes Unvermögen gespiegelt, darauf eine befriedigende Antwort zu finden.

Nichtsdestotrotz beantwortete Isenharts Enthüllung ihnen jene ungelösten Fragen, die sie seit Jahren mit sich herumtrugen. Hieronymus verstand nun, weshalb Walther sich des kleinen Bastards angenommen hatte. Er wollte verhindern, dass er zu der Bestie heranreifte, die sein Vater gewesen war. Und selbstverständlich hatte er Isenharts Herkunft verschleiert, denn ein untotes Kind hätte wie ein Fluch über der Burg gelegen, und keine Ritterschar wäre in der Lage gewesen, dem panischen Mob Einhalt zu gebieten, der das Kind zum eigenen Schutz ertränkt oder verbrannt hätte.

Der Geistliche fragte sich insgeheim, warum Walther von Ascisberg den Säugling nicht getötet hatte. Er selbst hätte es um Jesu willen getan. Damals. Heute meinte er um den Fehler zu wissen, den er damit begangen hätte. Isenhart mochte ein untotes Kind gewesen sein, ein wenig unheimlich, äußerst wissbegierig und schlau. Aber er war kein schlechter Mensch. Es gab niemanden, den man vor ihm hätte schützen müssen.

Sophia dagegen begriff, weshalb sie von ihm als jemandem geträumt hatte, der bereits einen Blick ins Jenseits geworfen hatte. Das hatte sie damals Anna gesagt, ohne zu wissen, was genau damit gemeint sein könnte. Ihr damaliger Traum von Isenhart hatte sie nicht getäuscht.

»Die Reise ist viel zu gefährlich«, stellte Konrad mit echter Sorge in der Stimme fest, »und es ist dabei kaum mehr zu gewinnen als ein paar Geschichten über deinen Vater.«

»Mag sein«, erwiderte Isenhart, »wahrscheinlich wird es genau so kommen, wie du sagst. Aber ich brauche Gewissheit.«

Gewissheit – ein Gedanke, der auch Hieronymus umtrieb, wie Isenhart feststellte, als er vor die Tür trat und die nächtliche Winterluft ihn umfing. Der Geistliche war ihm gefolgt.

»Vermutlich warst du noch zu klein«, begann Hieronymus, »aber ich würde es trotzdem gerne wissen. Als du als Säugling auf der … anderen Seite warst, was hast du da gesehen?«

»Nichts«, antwortete Isenhart wahrheitsgemäß.

Hieronymus’ Gestalt, so meinte er, sackte vor Enttäuschung ein wenig zusammen. Straffte sich dann aber sogleich, um ihm ein wenig auf die Sprünge zu helfen: »War es womöglich ein schöner Garten mit einem Bach und fröhlichen Menschen, und …«

»Nein«, unterbrach Isenhart, der nun eine genaue Vorstellung davon hatte, wie Hieronymus sich das Paradies vorstellte: ein Garten mit einem Bach.

»Oder«, legte der Geistliche nach, »hast du vielleicht Flammen gesehen, hast du die Hitze gespürt und die Schmerzensschreie von verlorenen Seelen gehört?«

»Auch das nicht«, antwortete Isenhart ruhig, »ich habe keine Erinnerung mehr an das, was ich damals gesehen habe.«

»Natürlich nicht«, beeilte Hieronymus sich zu sagen.

Die entscheidende Frage, die es abzuwägen galt, war: Würde er überhaupt lebend nach Heiligster zurückkehren? Da deren Beantwortung ohne seherische Fähigkeiten unmöglich war, ging er pragmatisch an die Sache heran. Sollte er unversehrt aus Toledo zurückkehren, war die Frage ohne Belang. Damit galt es nur noch für den Fall vorzusorgen, dass er Heiligster nie wiedersehen würde.

Um Hieronymus und Henrick musste er sich nicht sorgen, die hatten ihren Weg eingeschlagen und waren auf ihn nicht angewiesen. Konrad würde Vater werden, und Isenhart war sich sicher, dass dies dem Freund auch jene Verantwortung bewusst werden ließ, die seinem Leben eine gewisse Ruhe und Gelassenheit angedeihen lassen würde. Unter dem Strich liefe es auf weniger durchwürfelte Nächte und weniger Prügeleien in Spira hinaus.

Blieben die Kolkraben und Sophia.

Gweg hatte zusammen mit Unnaba seine eigene Familie gegründet. Die Raben würden mit oder ohne ihn dasselbe Leben führen. Sicher, ein paar Leckerbissen weniger. Aber sie waren klug genug, sich selbst welche zu beschaffen. Ihnen galt die geringste Sorge, ganz abgesehen davon, dass ihr Flattern, ihr Landen auf seiner Schulter und ihr Krächzen ihm fehlen würden.

Isenhart beschloss, auf dem Heuboden zu übernachten. Er wollte nicht neben den anderen lagern, um ihnen den Abschied zu vereinfachen. Dieser hehre Gedanke erschien ihm bei den nächtlichen Temperaturen, die ihn in der Scheune empfingen, alsbald als ein wenig zu selbstlos. Der Wind, der die Kälte durch die Ritzen der Tenne presste, wischte jeden Gedanken an Schlaf beiseite, sodass er die Schritte, die sich seiner Schlafstatt näherten, schon von Weitem hörte. Es war Sophia.

Sie kniete sich neben ihn. »Mir ist kalt«, wisperte sie.

Isenhart schlug die zwei Kuhfelle, mit denen er sich vor der Kälte schützte, zurück, und Sophia kroch darunter. Im Winter, wenn sie sich allesamt neben dem Ofen versammelten und wie Schafe im Sturm aneinanderdrängten, wenn die Gerüche aus ihren Mündern und von dem getrockneten Schweiß, der aus ihren Kleidern drang, sie umfingen und ihnen Sicherheit und Wohlbehagen vermittelten, war die körperliche Nähe ganz natürlich.

Dieses Mal schwang noch etwas anderes mit. Ihre Arme und Beine umschlangen ihn nicht, und doch lagen sie so eng wie frisch Getraute.

»Reimar von Vogt hat wieder um meine Hand angehalten«, flüsterte Sophia.

Auch wenn Isenhart Erleichterung verspürte, weil ihm womöglich eine große Sorge genommen war, hinterließen Sophias Worte doch auch einen ziehenden Schmerz in seiner Brust.

Aus dem kleinen rothaarigen Trampel war eine recht hübsche Frau geworden. Ihre schmale Gestalt, die die weiblichen Formen nicht recht zur Geltung brachte, und ihre Sommersprossen, die sie dem Verdacht aussetzten, mit Kräften zu paktieren, die nicht von dieser Welt waren, machten sie zu einem Blickfang.

Das war auch Reimar von Vogt nicht verborgen geblieben, einem Mann aus dem niederen Adel, der die Geschäfte seines Vaters Jurgan von Vogt übernahm – dieses just zu dem Zeitpunkt, an dem auch der Bischof von Spira nicht länger die Hand über Simon Rubinstein halten konnte. Den Juden waren der Handel – mit Ausnahme der Geldwirtschaft – und andere Berufszweige in der Folge der Kreuzzüge weitgehend verboten worden.

Die Ausnahme, die man Rubinstein gewährt hatte, stieß im Rathaus auf das Unverständnis all derer, die ihm die lukrativen Fährübersetzungen neideten. Der Rat untersagte ihm dieses Geschäft und kaufte ihm unter dem Vorwand der Mildtätigkeit und Nächstenliebe die Fähren zu einem Spottpreis ab. Rubinstein traf buchstäblich der Schlag. Halbseitig gelähmt und kaum noch des Sprechens fähig verbrachte er seine letzten Tage in den eigenen vier Wänden. Bis auf Walther und seine Mutter Ruth wollte er niemanden mehr sehen.

Den so entstandenen monetären Engpässen begegnete Rubinstein mit der Veräußerung von Heiligster samt umliegendem Ackerland an die von Vogts – natürlich mit Walthers Hilfe, der nach außen als Besitzer auftrat. Das allerdings unter der Maßgabe, dass Konrad von Laurin und all jene, die dort mit ihm lebten, für den Rest ihres Daseins dort bleiben durften.

Reimar von Vogt erbat sich Bedenkzeit und suchte Heiligster auf.

Dessen Bewohner säuberten gerade den Kanal vom Schlamm, als er auf dem Hof auftauchte, fast fünf Fuß groß, auf einem Maulesel – eben niederer Adel –, und Sophia erblickte. Eigentlich hatte er Heiligster in Augenschein nehmen wollen, aber er fand sich außerstande, seine Augen von der Fürstentochter zu lösen. Noch am Abend desselben Tages machte er das Geschäft mit Simon Rubinstein vollkommen und sich damit zum neuen Herrn über Heiligster.

Das wiederum befand sich so abgelegen, dass sich kaum jemand dorthin verirrte. Die neunzehn Anträge, die Sophia bisher zurückgewiesen hatte, ließen erahnen, um wie viel mehr sie in einer Stadt wie Spira von Offerten bedrängt worden wäre. Bauernlümmel, Schäfer, Fischer, Binnenschiffer und auch ein Kaufmann waren darunter gewesen. Allesamt hatten sie Heiligster mit gesenktem Haupt wieder verlassen. Und jedes Mal, wenn Sophia dem Eheleben erneut eine Abfuhr erteilte, empfand Isenhart eine Erleichterung, deren Ursprung zu erkunden sein Bauch ihm abriet.

Bei Reimar von Vogt verhielten die Dinge sich anders. Er war Herr über Heiligster, und obwohl Simon Rubinstein dafür Sorge getragen hatte, dass Konrad und die anderen in keinerlei Pflichtverhältnis zum Grundbesitzer standen, so existierte doch unbestreitbar eine Bande der Abhängigkeit zwischen ihnen: Es war sein Land, und sie lebten darauf.

Das hätte Sophia in ihren Überlegungen, ob sie die Kinder dieses Mannes gebären und an seiner Seite alt werden wollte, nicht weiter beeinträchtigt, wenn sie nicht Zeugin des Versprechens geworden wäre, das Reimar von Vogt ihrem Bruder gegeben hatte: »Mein Vater Jurgan ist bekannt mit Walther von Ascisberg, und wir kennen die Gerüchte, die über den Herrn von Laurin im Umlauf sind. Von seinem heldenhaften Mut und seinem Sohn, der all diesem Unglück entgangen ist. Und von dem man annimmt, er halte sich in Frankreich auf. Ich gebe Euch mein Wort, dass das Wissen über Euren wahren Verbleib bei meinem Vater und mir gut aufgehoben ist. Ihr sprecht mit einem Mann, der Euch wohlgesinnt ist.«

Konrad hatte dem jungen von Vogt in die Augen gesehen und sogar ein wenig gelächelt. »Wilbrand von Mulenbrunnen und ich werden uns begegnen. Ob durch Zufall oder nun durch Euch – das macht keinen Unterschied. So oder so, er findet mich bereit.«

Konrads Freude über einen Kampf mit dem Abt war dabei unübersehbar gewesen. Doch während ihm dabei ein Zweikampf vorschwebte, in dem sich all sein sorgsam verborgener Zorn Bahn brechen und ihn den Mann, der seinen Vater ermordet hatte, in Stücke reißen lassen würde, ahnte Sophia, dass Wilbrand sich niemals stellen, sondern seine Schergen schicken würde.

Wie auch immer: Sein Leben lag nun in der Hand Reimars von Vogt. Willigte sie in die Ehe mit ihm ein, würde Konrads Aufenthaltsort ein gut gehütetes Geheimnis bleiben. Tat sie es nicht, waren die Folgen unabsehbar, und all ihre Sicherheit beruhte auf dem Wort eines Mannes, den sie mit ihrer Zurückweisung gekränkt hatte.

Isenhart wusste um die Umstände, als Sophia, die so nahe neben ihm lag, dass ihr Atem seine Wimpern zum Vibrieren brachte, ihn von dem Antrag wissen ließ.

Anders als die ihrer Schwester Anna roch Sophias Haut nach Lavendel und Erde, und zumindest Ersteres entsprang keinesfalls seiner Einbildung, denn die Mücken machten einen großen Bogen um sie. Einmal, während sie dicht um den Ofen geschart geschlafen hatten, war er mit seinen Nasenflügeln an ihrer nackten Schulter erwacht und hatte das Aroma ihrer Haut geatmet. Er träumte, ähnlich wie Giselbert vor ihm, von einer gemeinsamen Zukunft weit weg von Heiligster. Wie bei ihrem Vater fürchtete er manchmal, wenn ihr Blick sich in den seinen bohrte, er könne in ihre Augen fallen und für immer verschwinden.

Bei der Ernte bewegte sie sich mit – wenn man das sagen konnte – ungelenker Anmut, und es war diese besondere Anmut, die ihn bei ihrem Anblick zutiefst rührte. Sie vermochte ihren Hals so stolz zu recken, wie es nur den Hochwohlgeborenen vorbehalten war. Ihre Worte wählte sie mit Bedacht, ihre femininen Attribute verhüllte sie meist unter Leinengewändern – er wurde ihrer nur ansichtig, wenn sie den Fluss durchschwammen. Für das fleischliche Verlangen, das Isenhart in solchen Momenten bei ihrem Anblick verspürte, schämte er sich. Seit Anna war keine Frau von Bedeutung mehr in sein Leben getreten. Bis auf Sophia.

Auch wenn er jeden Zoll von Annas Körper gekannt hatte, war sie für ihn eigentlich unantastbar gewesen – das galt auch für Sophia. Sie war die Tochter eines Fürsten, und er war ein Schmied. Die Trennung ihrer Stände verbot eine Liaison und erst recht eine Ehe. Ganz davon abgesehen, wie Konrad wohl reagierte, wenn er erfuhr, dass Isenhart sich offenbar in der Reihenfolge ihrer Geburt in die Töchter des Hauses Laurin verliebte.

Sicher, Anna war das lockende Geheimnis der Weiblichkeit gewesen, bei genauerer – und ein wenig schmerzlicher – Betrachtung war sie in diesem Sinne austauschbar. Und natürlich wieder nicht, denn das, was sie verbunden hatte, war etwas Einzigartiges gewesen.

Wenn Isenhart erwachte, nachdem sie sich geliebt hatten, wenn er ihren Körper betrachtete, die Zehen, ihre verdeckte Scham, den Bogen der Schulter, den Schwung, den ihre Lippen nahmen, den engen Hof um ihre Brustwarzen oder die Struktur, die die Wirbelsäule in der Mitte ihres Rückens warf, dann war das alles gewesen, was er jemals hatte sehen wollen.

Und all das legte Sophia in einen einzigen Augenaufschlag, ohne um dessen Wirkung zu wissen. Lange glaubte Isenhart, er fühle sich zu ihr hingezogen, weil er Anna in ihr sah. Doch bis auf die Eltern und den Bruder hatten sie nichts gemein.

Das, was er für Sophia empfand und täglich aufs Neue unterdrückte, weil es für sie beide keine Zukunft gab, war reifer als jenes Gefühl, das ihn zu Anna hingezogen hatte. Seit Anna wusste er, wie eine junge Frau ohne Kleider aussah, wie es sich als Mann anfühlte, in sie einzudringen, kurz: all das Körperliche war durch Anna nicht länger terra incognita.

Sophia dagegen war noch Neuland, allerdings in einem anderen Sinne.

Jene Sophia, die ihm das Ansinnen von Reimar von Vogt anvertraute – in der Hoffnung, er, Isenhart, würde sie ehelichen und damit dem neuen Herrn von Heiligster zuvorkommen.

Aber Isenhart konnte nicht.

Schon früh hatte er bemerkt, dass er anders war. Er kam sich vor wie eine Gestalt, die für eine andere Zeit, eine andere Epoche vorgesehen gewesen war. Wie Walther und auch Henning. Er gehörte nicht hierher.

Lediglich eine Laune oder ein Irrtum der Schöpfung hatte ihn in diese Ära katapultiert, aus der auszubrechen ihm nicht gegeben war. Er war ein Gefangener seiner Zeit.

Die von ihm schon oftmals in Tagträumen ausgemalte Zweisamkeit mit Sophia war auch seinetwegen zum Scheitern verurteilt. Sie würde das Leben teilen mit einem Rastlosen, ewig Fragenden, mit einem, den die große Unruhe umtrieb, wie Walther von Ascisberg es einmal formuliert hatte – den Willen nämlich, sich nicht mit dem zufriedenzugeben, was war. Doch die Gegebenheiten seiner Zeit zwangen ihn, seinen Fragen nur im kleinsten Rahmen nachzugehen. Ihm war, als wäre er ein Rabe, der in der Lage war, an einem einzigen Tag an die siebzig Meilen zurückzulegen – und den man mit einem Stück Seil an einem Pflock befestigt hatte, der es ihm nur mehr erlaubte, einen Radius von sechs Fuß zu erkunden.

Mit ziemlicher Sicherheit würde aus ihm ein merkwürdiger, verbitterter Kauz werden, der seiner Umwelt mit galligem Spott begegnete. Ein unausstehlicher Griesgram, dessen Gesellschaft einem den Tag verhagelte.

Genau das hatte der Mensch, zu dem Isenhart sich am meisten hingezogen fühlte, nicht verdient. Und er, ein Diktum der Logik, aus diesem Grund diesen Menschen nicht. Sophia würde ganz gewiss zeit ihres Lebens ein wandelndes Mysterium bleiben, nie könnte er sie in Gänze ergründen. Nichtsdestotrotz war Isenhart mit ihr aufgewachsen und konnte ihre Reaktion daher vorhersehen. Sophia würde es trotzdem darauf ankommen lassen – und an seiner Seite direkt in ihr Unglück laufen.

Also sagte er: »Reimar von Vogt ist eine sehr gute Partie, ein Mann, der dir mit Achtung und Respekt begegnet. Ich wünsche dir mit ihm alles Glück dieser Welt, Sophia.«