18.

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b im Diesseits oder Jenseits, ganz egal – dafür werdet ihr brennen.« Konrad von Laurin schüttelte mit grimmiger Miene den Kopf. Er stand mit Henning und Isenhart oben am Wachturm, von hier gewährte die erhöhte Position einen ausgezeichneten Blick über die Stadt und das umliegende Gelände, das, bestrichen von dem satten Schein der Abendsonne, Ruhe ausstrahlte.

»Begreifst du nicht …«, setzte Isenhart an.

Aber Konrad fuhr herum, er war einen halben Kopf größer als er und auch sonst von eindrucksvoller Gestalt, der beste Wachmann, den der Hauptmann unter sich wusste. »Hör auf, das zu fragen«, unterbrach er barsch, »dir und deinem Freund mag ich dumm erscheinen …«

»Das hat niemand gesagt«, stellte Isenhart fest, der nun seinerseits spürte, wie die Wut in seine Blutbahnen kroch.

»Mund und Kopf sind zweierlei«, erwiderte Konrad, »und es stimmt ja auch. Ich bin nicht klug. Ich bin nicht so wie du, Isenhart.« Seine Augen wanderten zu Henning von der Braake, der abwartend an der Brüstung stand: »Oder wie Henning«, fügte er dann hinzu, und in seiner Stimme schwang eine Portion Bitterkeit mit.

»Niemand hat das je behauptet, niemand hat je …«

»Schweig.«

Henning von der Braake verstummte, als Konrad an ihn herantrat und ihm mit seinem Körper das Licht der Abendsonne nahm.

»Das Gift ist nie in den Worten, es versteckt sich immer in den Gesten«, sagte Konrad.

»Ich weiß nicht, welcher Simpel das von sich gegeben …«, begann Henning.

»Mein Vater«, antwortete Konrad, bevor Henning von der Braake sich um Kopf und Kragen redete, »mein Vater, der Simpel, hat das gesagt.« Die Drohung, die in seinen Worten mitschwang, war unmissverständlich.

Henning schwieg. Konrad von Laurin sah zu Isenhart, seinem Freund. War er das noch?

»Das hatte ich nicht gemeint«, stellte Henning fest.

Ihm war nicht entgangen, wie Konrad von Laurin auf die Momente reagierte, die er mit Isenhart verbrachte. Sie debattierten über Dinge, denen Konrads Geist nicht gewachsen war. Er war in aller Regel ausgeschlossen von jenen Welten, in die sie sich so wissbegierig aufmachten.

Und mit jedem Schritt, den Isenhart in diese Fremde tat, die ihm, Konrad, unzugänglich war, entfernte er sich auch von ihm.

Aber nur, weil es Konrads Geist nicht gegeben war, Isenhart zu begleiten, konnte dieser nicht einfach weiter auf der Stelle treten, befand Henning. Der Wundschmerz pochte in seinem Finger.

»Wenn ihr die Totenruhe stört, vergeht ihr euch an Gottes Schöpfung.«

»Es ist nur noch ihr Körper«, wandte Henning von der Braake ein.

Konrad seufzte. »Ihr dürft sie in ihrem ewigen Schlaf nicht stören«, entgegnete er gereizt und deutete auf Hennings Stumpf mit dem blutigen Leinen, »wenn man euch erwischt, bleibt’s nicht bei Fingern, begreifst du das nicht?«

»Wir wollen ja nur nachsehen«, erwiderte Isenhart, »das ist keine Störung. Nicht im eigentlichen Sinne jedenfalls.«

Er wusste selbst, dass Otto II. von Henneberg diesem feinen Unterschied keine Bedeutung beimessen würde. Und auch Konrad ging ihm nicht auf den Leim. Er winkte verärgert ab.

»Ihr beide habt am Osttor Wachdienst«, kam Henning von der Braake auf ihr eigentliches Anliegen zurück, »das ist keinen Steinwurf vom Friedhof entfernt. Wir wollen dich nur bitten, uns zu warnen, falls du jemanden siehst.«

Isenhart nickte bekräftigend: »Du musst uns nicht zur Hand gehen.«

»Das hab ich schon begriffen«, antwortete Konrad. Die Wut, die er mühsam unterdrückte, schwang nichtsdestotrotz in seinen Worten mit. Es verhielt sich schließlich nicht so, als könne er ohne Hilfe nicht alleine geradeaus gucken. »Wer war sie?«, fragte er unvermittelt, und Henning und Isenhart begriffen diese Frage zu Recht als ein Einlenken.

»Sie hieß Ketlin«, sagte Isenhart, »mehr wissen wir nicht. Nur, wo sie beigesetzt wurde.«

Konrad stutzte. »Ketlin?«

Henning und Isenhart sahen ihn aufmerksam an, nickten.

»Hatte sie eine Schwester?«

»Wissen wir nicht«, antwortete Henning, »nur, dass man ihr das Herz genommen hat. Wieso?«

Konrad blickte zu Boden, in einem Kopf arbeitete es. »Weil es im Hurenhaus ein Weib gibt, deren Schwester Ketlin hieß«, er hob den Blick, »ihr Name ist Brid. Sie hat einmal ihre kleine Schwester erwähnt. Und dass die ums Leben gekommen ist.«

Ketlin war kein besonders häufiger Name, dachte Isenhart, es war nicht unwahrscheinlich, dass Brid tatsächlich die Schwester des Mordopfers war – und ihnen vielleicht etwas über Aberak von Annweiler erzählen konnte.

Henning und Isenhart hatten doppelt Glück.

Zum einen hatte man Ketlins Leichnam nicht irgendwo verscharrt oder in den Fluss geworfen, sondern in dem Bericht auch den Ort ihres ewigen Schlafes vermerkt. Zum anderen lag die Parzelle, auf der man Ketlin begraben hatte, im Windschatten des Beinhauses, in dem der Totengräber die Gebeine jener aufschichteten, die auf dem Friedhof den Körpern der frisch Verstorbenen weichen mussten.

Weitgehend vor neugierigen Blicken geschützt konnten sie mit Schaufel und Spitzhacke das Grab ausheben. Der prasselnde Regen, der in dieser Oktobernacht pünktlich zum Sonnenuntergang eingesetzt und seitdem nicht mehr nachgelassen hatte, sondern sich vielmehr anschickte, sie bis in den Morgen zu begleiten, war ihnen dabei dienlich und übertünchte die Geräusche, die sie beim Graben verursachten.

Konrad hatte unter dem weiten Bogen des Osttores Position bezogen und regte sich nicht. Nur hin und wieder drehte er den Kopf ein wenig, um sie mit einem vorwurfsvollen Blick zu bedenken.

Auf dem Weg über den Friedhof war Isenhart zum ersten Mal in seinem Leben bewusst geworden, wie nah an der Oberfläche die Toten ruhten. Der Regen führte zu Auswaschungen im Erdboden, Schemen von Körpern erhoben sich aus dem Dreck, Hände, Gliedmaßen, der Teil eines Rückens wurde der Erde vom Regen abgetrotzt, den Ratten und Mäusen dargeboten, die sich daran gütlich taten und vor Henning und Isenhart flohen, als sie zu der Parzelle schritten.

Einige Körper schienen sich zu bewegen, im Todesschlaf zu kauen und zu schmatzen. Isenhart erstarrte zur Salzsäule. Er meinte, sie wispern hören zu können.

Henning hielt ebenfalls inne und bemerkte Isenharts vor Angst geweitete Augen. »Sie sind tot«, sagte er daher.

»Ich höre sie flüstern.«

Mit einem Mal war die Vorstellung, Aberak von Annweiler sei ein Draugr, der sich aus seinem Grab erhoben hatte, gar nicht mehr so abwegig.

Henning trat näher. »Es sind Gase, die entweichen. Faulgase«, präzisierte er.

Die Worte des Freundes drangen durch seine Angst und beruhigten Isenhart ein wenig.

»Das erste Mal hab ich mich auch erschrocken. Aber mit den Jahren …«

Er ließ es unausgesprochen. Isenhart konnte sich aber auch so problemlos vorstellen, wie in den Jahren, die Henning an der Seite seines Vaters verbracht hatte, sich beim Anblick von Leichen zunehmend Erträglichkeit eingestellt hatte.

Isenhart hatte sich gezwungen, Henning zu der Parzelle neben dem Beinhaus zu folgen, wo sie jetzt gruben und binnen einer Viertelstunde auf die ersten Knochen stießen. Die Zehen eines Fußes, dann das Schienbein und das Kniegelenk, weiter hinauf zur Hüfte und den Rippenbögen, die an der Seite eingedrückt waren, verbogen.

»Wahrscheinlich wurden die inneren Organe verletzt oder sogar durchbohrt«, wie Henning kommentierte, während Isenhart den aufkeimenden Würgereiz unterdrückte, indem er den Blick von dem Skelett, an dem noch Stofffetzen klebten, ab- und ihn Konrads Gestalt unter dem Torbogen zuwandte.

Eine weitere Viertelstunde später hatten sie vier Skelette aus der schwarzen Erde gehoben, deren Knochen der Regen wusch. Ketlin war noch nicht darunter, denn zu dem Zeitpunkt, an dem sie ihrem Mörder zum Opfer gefallen war, zählte sie erst zwölf Lenze. Sie durchsuchten die Grablege nach einem kleinen Gerippe.

Als sie endlich darauf stießen, es war das siebte Skelett, pochte Isenharts Herz vor Wut über den Mann, der ein wehrloses Mädchen ermordet hatte. Behutsam befreiten sie die Knochen von der Erde, während sich am Grund des Loches langsam das Regenwasser sammelte.

Henning winkte Konrad heran, so war es verabredet. Konrad von Laurin schnappte sich die Fackel neben dem Tor, deren Flamme sich zischend der Regentropfen erwehrte, und kam auf sie zu. Selbstverständlich sah er bei jedem Schritt über die Schulter und auch zu beiden Seiten, er hing an seinem kleinen Finger.

Isenhart und Henning, beide bis auf die Haut vom Regen durchnässt, hockten neben dem feinen Knochengerüst und mussten abwarten, bis Konrad ihnen die Fackel übergab. Isenhart las Bedauern in dem Blick, mit dem Henning den Schädel Ketlins betrachtete.

Dann endlich hatte Konrad sie erreicht. Missbilligend nahm er zur Kenntnis, was Isenhart und sein neuer Freund hier angerichtet hatten. Sieben Tote lagen im Schlamm. Wenn in diesem Moment jemand vorbeikam, war die Zeit zu knapp, um noch etwas zu vertuschen. Sie würden fliehen müssen.

Mit einer barschen Bewegung hielt er Henning die Fackel hin, der sie mit einem Nicken entgegennahm und nah an das kleine Skelett zu ihren Füßen führte. Das erste Indiz war bereits beredt genug: Der Torso ließ in Höhe des Herzens ein klaffendes Loch in den Rippenbögen erkennen. Jemand hatte sie durchtrennt.

Isenhart zauderte einen Augenblick, aber dann packte er so sanft wie möglich den Schädel der Toten, nahm ihn in beide Hände und neigte ihn nach vorn, sodass das Licht der Fackel auch das Schädelinnere beleuchtete.

Mit einem Knacken, das ihm seltsam hell erschien, brach der Kopf von der Wirbelsäule. Isenhart erschauderte so sehr, dass ihm der Totenschädel entglitt und die Grube hinabpurzelte, um in der Schlammpfütze zu landen.

»Großartig, Isenhart«, brummte Konrad, »jetzt kommt auch noch Grabschändung dazu.«

Henning drückte Isenhart die Fackel in die Hand und tastete sich nach unten vor, ließ einen Finger durch die Augenhöhle fahren und hob den Schädel hoch ins Licht.

Isenhart, der sich wieder einigermaßen gefangen hatte, führte die lodernde Fackel nahe an den Totenkopf. Vier Strahlen von winzigem Durchmesser entsprangen dem Hinterkopf. Vier symmetrisch angeordnete Löcher, jedes von ihnen kreisrund. Etwa dort, wo sich einmal Ketlins Haaransatz befunden haben musste.

Im Schein der Fackel, mit der freien Sicht in den Schädel der Zwölfjährigen, beim Erblicken der vier Stichwunden und angesichts der zertrümmerten Rippenbögen, war Isenhart frei von jedem Zweifel. Er hob den Kopf, aber Konrad wandte sich ab, damit Isenhart nicht in seinem Gesicht lesen konnte. Alexander von Westheim hatte zwar nach einem Schäferstündchen mit Anna getrachtet, aber er hatte sie nicht getötet. Sie hatten einen unschuldigen Mann lebendig begraben.

Konrad entfernte sich, er schaute sich kein einziges Mal um, bis er das Osttor erreicht hatte und im Wachraum verschwunden war. Sein Gang war nicht ganz sicher, einmal hatte er die Stadtmauer gestreift.

»Meinst du, er kannte Ketlin?«, fragte Henning.

Isenhart schüttelte den Kopf: »Nein. Ich sehe kurz nach ihm.«

Im Wachraum brannte eine Kerze, im Stockwerk über ihnen huschten Ratten über den Boden. Als Isenhart das Zimmer betrat, saß Konrad auf einem Schemel und starrte mit weggetretener Miene in die Kerzenflamme. Isenhart ließ sich auf einem zweiten Schemel nieder. Der Regen fiel mit sanftem Trommeln gegen die Mauer. Isenhart sprach Konrad nicht an, er kannte ihn viel zu lange.

Aberak von Annweiler hatte mindestens dreimal getötet. Wozu das Herz? Er tötete dafür, er riskierte auch, dafür entdeckt zu werden. Und es gab einen neuen Gedanken, der durch die Zahl der Ermordeten ausgelöst wurde – er benötigte nicht nur ein Herz. Er benötigte mehrere. Brauchte Aberak von Annweiler eine bestimmte Anzahl von Herzen? Oder taugten diejenigen, die er raubte, nach einem bestimmten Zeitraum nicht mehr für seine Zwecke, weshalb er sich frische beschaffen musste?

Und weshalb hatte er sich auf eine neue Art des Tötens verlegt? Weshalb hatte er Lilith und Ketlin nicht auch mit einem Schnitt durch die Kehle das Leben genommen? Er trieb ihnen, das erinnerte Isenhart, weil er der toten Lilith einen Strohhalm ins Hirn geführt hatte, einen spitzen, sehr dünnen Gegenstand in den Hinterkopf.

Konrad unterbrach Isenharts Gedankengänge, weil er urplötzlich mit einer solchen Kraft emporschoss, dass sein Schemel umkippte. Seine Faust krachte auf den Tisch, der Kerzenleuchter vollzog einen kleinen Hüpfer, Staub schoss zu allen Seiten.

Es war lange her, dass Isenhart den jungen Laurin so resolut erlebt hatte.

»Lass ihn uns jagen, Isenhart. Ich will ihn töten.« Konrad wartete die Antwort gar nicht mehr ab, sondern ging zur Tür.

»Möglicherweise haben wir es mit einem Draugr zu tun«, antwortete Isenhart, der erleichtert war, endlich wieder einen gemeinsamen Weg zu beschreiten.

»Ist mir einerlei«, sagte Konrad, ohne sich umzudrehen, und schon marschierte er voller Tatendrang hinaus in die regnerische Nacht.

Eine Menge Dinge sprachen dagegen, jetzt belustigt zu sein, aber Isenhart konnte ein Schmunzeln dennoch nicht unterdrücken.

In aller Eile hatten sie Henning geholfen, die Toten wieder in der Grube abzulegen und sie mit Erde zu bedecken. Nun redeten Isenhart und Henning auf Konrad ein, während sie Spira zu Fuß durchquerten.

Dass man vielleicht noch einmal alles überdenken sollte.

»Es ist doch alles klar.«

Dass es mitten in der Nacht war.

»Das seh ich selbst.«

Dass es womöglich sinnvoll sei, sich ein paar Stunden Schlaf zu gönnen.

Konrad stoppte so abrupt ab, dass sie beide – Henning und Isenhart – in ihn hineinliefen. Konrads Augen schienen zu glitzern, er reckte den Kopf angriffslustig nach vorne. »Schlafen könnt ihr, wenn es vorbei ist. Oder von mir aus auch jetzt. Dann geh ich eben alleine.« Schnellen Schrittes eilte er weiter.

»Was ist denn in ihn gefahren?«, fragte Hinning verwundert.

Isenhart lachte, was Hennings Irritation nur steigerte. »Das ist eben Konrad«, antwortete er, »Aberak hat einen Unschuldigen auf dem Gewissen, der für seinen Mord an Anna von Laurin hingerichtet wurde. Und dafür wird er jetzt zahlen müssen. Und das nicht zu knapp.«

Das Frauenhaus, in dem die Hübschlerinnen ihrer Arbeit nachgingen, lag nicht etwa am Stadtrand vom Spira, sondern im Zentrum der Stadt. Aus dem zweiten Stock – Konrad wusste das – konnte man sogar den Dom sehen. Die Kirche im Heiligen Römischen Reich schob dem Treiben keinen Riegel vor. Ganz im Gegenteil. Das Frauenhaus in Spira war Eigentum der Kirche, die es wiederum an einen Frauenwirt verpachtete, damit sich der fleischliche Notstand der unverheirateten Männer nicht in Form von Notzucht an den ehrbaren Frauen entlud.

Das kleinere Übel, wie man es im Vatikan zu nennen pflegte.

Zu Vergewaltigungen kam es natürlich trotzdem – allerdings nicht im Frauenhaus, denn falls jemand über die Stränge schlug, bekam er es zuerst mit dem Frauenwirt zu tun und dann mit dem Gericht.

Zwar war der Zutritt Juden, Geistlichen und verheirateten Männern strikt untersagt, aber auch der Nachtwächter hatte eine Familie, die es durchzubringen galt. Bruno, der Frauenwirt, steckte ihm einmal in der Woche ein paar Pfennige zu, und dann überkamen auch den Nachtwächter regelmäßig Zweifel an der Striktheit dieses Verbots.

Konrad marschierte mit Henning und Isenhart im Schlepptau auf die Rückseite des Gebäudes zu, in dessen Zimmern noch Licht brannte. Sie durchquerten einen kleinen, ummauerten Hinterhof, in dem sich sechs Kreuze erhoben, bevor Konrad an der Hintertür klopfte.

Isenhart war erst einmal hier gewesen – und dann nie wieder. Der Rausch der Ekstase, den er mit Anna gekostet hatte, wollte sich bei ihm einfach nicht einstellen, wenn die jeweilige Frau ihn nicht teilte. Lieber erleichterte er sich dann und wann alleine, obwohl auch hier höchste Vorsicht geboten war, denn wer seinen Samen zum tausendsten Mal vergoss, bezahlte seine Sünde mit dem Tod.

»Wer wurde hier denn beigesetzt?«, fragte er.

»Eine Meretrix darf nicht auf geweihtem Boden bestattet werden«, erklärte Henning mit gedämpfter Stimme. Konrad nickte beifällig. Er lauschte, ob sich nicht endlich Schritte der Tür nähern wollten.

Isenhart wandte sich um und betrachtete die Kreuze jener Huren, denen die Kirche verwehrt hatte, neben den anderen, den Ehrbaren, beigesetzt zu werden.

Ein Mann, über dessen Kinn eine breite, schlecht verheilte Narbe verlief, öffnete die Tür: Bruno. Er hatte eine finstere Miene aufgesetzt, die sich aber zu einem Grinsen verzog, als er in dem nächtlichen Besucher Konrad erkannte.

»Freunde?«, fragte Bruno mit einer Kopfbewegung in Richtung von Henning und Isenhart.

Konrad nickte: »Wir müssen zu Brid.«

»Alle drei?«

»Ja.«

Bruno machte erfreut den Weg frei, schließlich erhielt er ein Drittel des Geldes oder der Lebensmittel, die die Huren einnahmen. Über die Jahre war auf diese Art nicht nur für sein leibliches Wohl gesorgt, er hatte neben der Pacht, die zu entrichten war, sogar etwas auf die hohe Kante legen können.

Henning und Isenhart folgten Konrad und Bruno über einen schmalen Gang, wo sich – immer der Nase nach – in einer Einlassung zur Linken die Kloake befand, in den Gemeinschaftsraum, in dem die stärkste Lichtquelle vom Ofen ausging. Drei junge Burschen saßen beim Würfelspiel an einem Tisch zusammen.

Sie erschraken wegen Konrads Uniform, die ihn als Wachmann der Stadt Spira zu erkennen gab, aber Bruno beruhigte sie. Fünf der acht Huren waren hier im größten Raum des Hauses versammelt und flochten Körbe, sofern sie keinen Gast zum Trinken oder zur Liebe animieren konnten. Auch an den Körben verdiente Bruno sein Drittel, aber um den Nebenerwerb kümmerte er sich nicht weiter, das oblag seiner Frau, der ältesten der versammelten Hübschlerinnen, die Konrad freudig begrüßten. Die jüngste war die Tochter des Seilers, Iris.

Sie sprang von ihrem Platz auf und schmiegte sich gleich an Konrad. »Wann kommst du und heiratest mich?« Dabei legte sie ihre Hand auf seinen Schritt und bewegte sie sanft hin und her.

Sie war ein hübsches Kind, wie Isenhart fand. Feine Züge und ein freches Grübchen, wenn sie lächelte. In ihren Augen spiegelte sich echtes Entzücken. Aber das war nur eine Täuschung, wie Isenhart sich schnell besann, die Leidenschaft war nur gespielt. Wenn auch bemerkenswert gut.

»Wo ist Brid?«

Das Lächeln des Mädchens wandelte sich zu einem Schmollen, an der Nasenwurzel bildete sich eine feine Falte, die Ausdruck ihrer Verärgerung über diese Zurückweisung war. Brid war immerhin schon neunzehn Jahre alt!

»Oben«, sagte Bruno.

Als sei dies das Stichwort, öffnete sich über ihnen eine Tür, und ein Mann trat hinaus.

»In dem Zimmer?«, fragte Konrad. Bruno deutete ein Nicken an.

Konrad ging voraus und stieg die Treppe, die unter dem Gewicht der drei Männer bedenklich knarrte, hinauf.

Er hatte es seit dem Anblick von Lilith geahnt. Geahnt, dass Alexander von Westheim seine Schwester nicht ermordet hatte. Tief in seinem Innern hatte er auch gewusst, wie goldrichtig Isenhart mit seiner Theorie lag. Aber das anzuerkennen hätte auch bedeutet, sich der eigenen Schuld zu stellen. Konrad hatte sich an den Bernstein geklammert, in seinen Gedanken wurde aus den Indizien ein Beweis. Doch der Mord an Ketlin ließ Konrad von Laurin kapitulieren. Er sah den lachenden von Westheim vor sich, wie er Isenhart und ihm von seinen Reisen erzählte. Und demselben Mann hatte er nicht die Hand gereicht, als sie sein Gesicht mit kalter Erde bedeckten.

Gott hatte in der Kapelle der Burg das falsche Urteil gefällt.

Über die Schuld hinaus, die Konrad nun verspürte und ihn nur kurz lähmte, um dann seinen Willen, den wahren Mörder zu stellen, noch zu festigen, erschütterte ihn der Irrtum seines Schöpfers. Ihm war, als trage Aberak von Annweiler die Schuld für den Tod des Händlers, und deswegen hatte Konrad es sich zur Mission gemacht, diesen Mann bis zum letzten Atemzug zu jagen. Darin bot sich in seinen Augen die einzige Möglichkeit, sich von diesem Makel zu befreien. Und seinen Schöpfer.

»Drei gleich«, sagte Brid wenig begeistert, als sie Konrad und die beiden anderen, die hinter ihm in der Tür standen, erblickte. Sie hockte über einem kleinen Bottich mit Wasser, wobei ihr Kleid ihre Blöße verbarg, und wusch sich mit einem Schwamm.

Das Gesetz schrieb Huren vor, keinen Mann abweisen zu dürfen, der ihre Liebesdienste in Anspruch zu nehmen gedachte. Brid war hochgewachsen, hohlwangig und blond. Das natürlich gelockte Haar fiel ihr weit über die Schultern hinab. Ihr Becken hatte gebärfreudige Ausmaße, ihre Brüste waren voll, und sie war auch zu allerlei Dingen bereit, die der Klerus verbot, sofern der Preis stimmte.

Im Alter von elf Jahren war sie von ihrem Vater entjungfert worden. Mit dreizehn vertraute sie sich einem Geistlichen an, der sie und ihre Schwester Ketlin in Obhut nahm. Ihrem Vater wurde auf dem Marktplatz von Spira der Kopf vom Hals getrennt, irgendeine traurige Gestalt von weit her, ein Mann namens Giselbert, übernahm diese Aufgabe und benötigte dazu nur zwei Schläge.

Ketlin und sie waren Vollwaisen. Der Geistliche, von dem sie annahm, er würde die Vergehen ihres Vaters an ihr oder Ketlin fortsetzen, tat nichts dergleichen, sondern steckte sie beide in ein Kloster, damit sie Jesu dienten und mit Gottes Sohn die lebenslange Ehe führten.

Doch sie sah nicht ein, weshalb sie sich wegen der Verfehlungen ihres Vaters in ein Leben voller Trostlosigkeit fügen sollte. Sie nahm Ketlin mit und verdingte sich bei Bruno als Hübschlerin. Auf diese Weise machte sie genug Geld, um ihre Schwester und sich durchzubringen. Sicher, Bruno konnte seine Finger nicht von ihr lassen, aber er zahlte für jedes Mal.

Und er brachte Ketlin bei seinem Bruder unter, dem Lederer. Wenn der vom Abdecker seine Häute bezog, war es Ketlins Aufgabe, die Fleischreste von den Tierhäuten zu schaben.

Zweimal erst war Brid auf eine Engelmacherin angewiesen, die der reifenden Frucht in ihrem Unterleib, deren Vater sie nicht einmal hätte benennen können, mit Seifenlauge und Nadeln ein vorzeitiges Ende bereitete. Zwei der sechs Holzkreuze im Hof waren die Folgen von Abtreibungsversuchen. Ansonsten führte Brid ein gutes Leben. Bruno schützte sie, die Männer machten ihr Komplimente, und sie holte sich auf den Feldern bei Frost oder sengender Hitze keinen krummen Rücken.

Vom Dom her schlug es halb zwei in der Nacht. Konrad nahm auf dem Strohlager Platz, auf dem Brid vor wenigen Minuten noch dem Fährmann die Wünsche erfüllt hatte, die ihm von seiner Frau verweigert wurden, a tergo, wie die Gelehrten sagten, die des Lateins mächtig waren.

Viele Male hatte sie mit Konrad hier gelegen, die Nacht verbracht und manchmal nur den halben Preis verlangt. Dann nämlich, wenn er sie im Schlaf in den Armen hielt, wenn die Geborgenheit, die er vermittelte, ihre Seele berührte. Er war ein gut gebauter Kerl, das Frauenhaus hatte er gewiss nicht nötig, und nicht zu Unrecht bildete sie sich etwas darauf ein, ihn bei seinen Besuchen meist in ihrer Kammer vorzufinden.

Großzügig übersah sie dabei, dass Konrad eine ehrbare Frau, die er befleckte, umgehend hätte heiraten müssen. Insbesondere, wenn er sie dabei schwängerte.

Heute Nacht war er allerdings von einer Ernsthaftigkeit, die sie noch nie bei ihm erlebt hatte. »Das sind Henning von der Braake und Isenhart«, stellte er seine Begleiter vor.

Hennings Augen verfingen kurz an ihren Rundungen, das war Brid gewohnt. Der Blick des anderen, schmächtigen aber galt ihren Augen, er musterte sie ohne jede Wollust, nur mit Interesse. Sie hatte Angst vor ihm.

»Wer will zuerst?«, flüchtete sie sich auf gewohntes Terrain.

»Wir sind hier, weil wir dich etwas fragen wollen, nicht zum Vergnügen«, wandte Isenhart sich an sie. Er kam näher, seine Augen erschienen ihr dunkel.

Sie warf Konrad einen fragenden Blick zu, aber der nickte lediglich. Brid richtete ihre Augen erneut auf den, den Konrad ihr als »Isenhart« vorgestellt hatte. Seinen Blick konnte sie nicht halten, sie meinte, einen kalten Luftzug zu spüren.

»Es geht um den Mord an deiner Schwester Ketlin«, fuhr Isenhart fort, »wir glauben, dass dieser Mann wieder getötet hat. Und es erneut tun wird. Wieder und wieder. Bis wir ihn stellen. Aber dazu müssen wir wissen, ob es jemand war, den Ketlin gekannt hat – oder du?«

Brids Augen wanderten zu Konrad, der die Maserung der Holzdielen studierte und schwieg. Darum also waren sie hier. Und deshalb war ihr der Schmächtige unheimlich gewesen. In den Gesichtern der Männer, die hierherkamen, las sie für gewöhnlich wie in einem Buch – davon abgesehen, dass sie des Lesens natürlich nicht mächtig war. Sie las die Lust und die Gier in ihren Augen, mit der sie zu spielen verstand. Brid beherrschte es, ihr Begehren mit Gesten und Blicken anzustacheln, bis sie bereit waren, absurd hohe Preise für recht überschaubare Gegenleistungen zu zahlen. Sie steuerte die Männer ganz nach ihrem Willen, überließ sie der Illusion zu entscheiden und war in Wirklichkeit diejenige, die die Entscheidungen fällte.

Nicht so bei diesem jungen Kerl vor ihr. Natürlich war er anfällig für weibliche Reize, denn er war ein Mann. Aber er war anders. Er schob es beiseite, er streifte das Körperliche von sich, ließ sich nicht beirren noch ablenken, sondern war einem Ziel verpflichtet.

»Aberak von Annweiler«, ergriff Henning das Wort, »kennst du ihn?«

»Es ist wichtig für uns«, fügte Konrad hinzu.

»Nein«, sagte Brid.

»Denk nach!«, befahl Konrad. Er saß zwar auf dem Strohlager, aber jede seiner Sehnen war gespannt, in seinen Augen lag keine Zuneigung, wie sie es sonst von ihm gewohnt war.

Nein, wollte sie sagen, nein, ich kenne ihn nicht, Aberak von Annweiler – diesen Namen habe ich nie gehört.

Aber Isenhart hob die Hand. Seine dunklen Augen ruhten in den ihren. »Nimm dir Zeit«, sagte er mit einer Stimme, die Geborgenheit versprach, »nimm dir Zeit. Du bist die einzige Spur, die wir haben. Wir sind hier, um den Tod an Konrads und deiner Schwester zu sühnen.«

Brid war überrascht: »Du hattest eine Schwester?«

»Zwei. Hör ihm zu.«

Unwillkürlich sah sie Isenhart wieder an. Etwas an ihm zog sie an, etwas, was weit über dem Geschlechtlichen lag; sie fürchtete, sich zu verlieren, wenn sie zu lange in seine Augen schaute – und etwas stieß sie ab. Etwas, was sie schwerlich benennen konnte.

Sie hatten Ketlin, die sich geweigert hatte, im Frauenhaus zu arbeiten, weil diese Männer, die hierherkamen, stark rochen und unsagbar schwer waren, dass es einem die Luft raubte, wenn sie auf einem lagen, in einem Verhau unten am Fluss gefunden. Mit Blut besudelt, den Mund weit offen, als richte sie ihren stummen Schrei an Gott, die Augen vor Entsetzen weit geöffnet. Bruno schwor beim Leben seiner Mutter, diesen Teufel zu finden, allerdings lebte seine Mutter nicht mehr, und kaum zurück im Frauenhaus hatte er frisch Gebrannten in sich hineingeschüttet und war für die nächsten zwei Tage nicht zu gebrauchen gewesen.

Den Namen Aberak von Annweiler hatte Brid noch nie gehört. Auch hatte keine der anderen Huren je von ihm berichtet. Dabei tauschten sie sich über jeden Freier aus. War er gefährlich? Spendabel? Wurde er aus nichtigem Anlass schnell zornig?

Der erschreckende Gedanke, sie selbst könnte einem Freier von ihrer Schwester erzählt haben – so wie auch Konrad von Ketlin wusste –, der ihr dann in der Nacht auflauerte, sie in den Verhau zerrte und ermordete, schoss Brid durch den Kopf. Aber ein Aberak von Annweiler hatte nicht das Lager mit ihr geteilt, da war sie sich sicher. Also schüttelte sie den Kopf.

Während Isenhart seine Augen auf einen weit entfernten Punkt richtete, befiel Konrad eine innere Unruhe, die er immer dann empfand, wenn er nicht wusste, was er mit all der Energie, über die er verfügte, anfangen sollte. »Bist du dir ganz sicher?«, fragte er noch einmal.

»Ja«, antwortete Brid.

Henning wandte sich zur Tür, legte die Hand auf das runde Türeisen und sah zu Isenhart: »Ich fürchte, wir kommen hier nicht weiter.«

»Wir können die anderen Huren fragen«, warf Konrad von Laurin ein.

»Ja«, stimmte Henning zu.

»Das wird zu keiner anderen Antwort führen«, stellte Isenhart fest, »keine der Hübschlerinnen kennt Aberak von Annweiler. Weil er – sollte er je hier gewesen sein – einen anderen Namen benutzt hat.«

»Einen anderen Namen?«, sagte Konrad und sprach damit das aus, was auch Brid sich fragte.

»Aberak ist nicht sein wahrer Name, das wissen wir«, führte Isenhart aus, »denn Aberak von Annweiler ist schon lange tot. Wenn ich der Mörder wäre, würde ich mich nur dann als Aberak von Annweiler ausgeben, wenn ich vorhabe zu morden. Alles andere wäre ein unnötiges Risiko. Und jemand, der sich mit einem fremden Namen tarnt, ist nicht dumm. Und wer nicht dumm ist, geht kein unnötiges Risiko ein. Falls er also hier war, in diesem Frauenhaus, dann ganz gewiss nicht als Aberak von Annweiler. Aber vielleicht unter seinem richtigen Namen.«

Konrad wurde fast schwindlig bei dem Tempo, mit dem Isenhart seine kausalen Schlüsse zog. »Und was bedeutet das?«, fragte er.

»Das bedeutet, dass wir Aberak von Annweiler vergessen müssen. Wir suchen jemanden mit sehr auffälligen Äußerlichkeiten.« Isenhart wandte sich erneut Brid zu, er ging vor ihr in die Hocke. »Wir suchen einen Mann, von dem wir zwei Dinge wissen: Er hat rote Haare und nur einen Arm.«

Mit einem Schlag empfand Brid keine Furcht mehr vor ihm. Sie spürte, Isenhart würde diesen Mann jagen und nicht aufhören, bevor er es vollbracht hatte. Und überdies war sie erleichtert, ihm endlich helfen zu können.

»Michael von Bremen«, sagte sie, »er ist ein Einarmiger mit roten Haaren.«

Die drei Männer erstarrten.

Konrad schwang vom Lager hoch. »Und er ist einarmig?«

Brid nickte.

»Und er hat rote Haare?«, versicherte Henning von der Braake sich.

»So ist es«, antwortete Brid, »er war vor drei Jahren hier. Bruno hat ihm seine Narbe zu verdanken.«

»Erzähl uns von ihm«, forderte Isenhart sie mit leiser, aber eindringlicher Stimme auf.

Es war keine schöne Erinnerung, die er damit bei ihr wachrief.

»Es war vor drei Jahren, da tauchte er hier auf, schmiss mit Geld um sich, und seine Wahl fiel auf mich«, gab sie fast mechanisch wieder. Dass er sie den anderen Hübschlerinnen vorgezogen hatte, erfüllte sie immer noch mit einer Spur Stolz.

Krüppel, Entstellte und zahnlose Greise kehrten hier ein, kurzum Männer, denen sich ohne Gegengabe keine Frau mehr hingab. Brid war das gewohnt, und gerade jene, denen Gliedmaßen amputiert worden waren, machten ihr am wenigsten aus. Bein- und Armstümpfe schienen stets dorthin zu deuten, wo sich einst Hände oder Füße befunden hatten. Meist waren es bemitleidenswerte Gestalten, die ihren Verlust nie überwunden hatten und sich bei ihr versicherten, doch noch ein ganzer Mann zu sein. Brid versicherte es ihnen und ließ sie später, kurz vor der Bezahlung, wissen, dass sie noch nie mit so einem wilden Liebhaber das Lager geteilt habe. Für gewöhnlich blühten die Krüppel dann auf und ließen es nicht an Trinkgeld mangeln.

Bei Michael von Bremen hatte es sich anders verhalten. Er betrat das Frauenhaus und beherrschte den Raum. Wegen seiner imposanten Größe und seiner feuerroten Haare richteten sich alle Blicke auf ihn.

»Bestimmt sechseinhalb Fuß«, ergänzte Brid auf Isenharts Nachfrage.

Er hatte lange keine Frau mehr gehabt, das spürte sie damals. Seine ungestüme Art verriet es. Und er war trotz seines einen Armes, der unterhalb des Ellbogengelenks amputiert war, voller Kraft. Als es ans Bezahlen ging, wollte er anschreiben lassen. Sie rief nach Bruno. Ein Wort gab das andere, Bruno griff nach ihm, und dann, schneller als man sehen konnte, schlug Michael von Bremen die Arme des Wirtes beiseite, packte ihn mit der Rechten an der Gurgel und warf ihn mit solcher Wucht an die Wand, dass sich die Risse durch die Maserung zogen.

»Fang keinen Händel mit mir an«, hatte er gebrüllt, um Bruno dann die Treppe hinabzustoßen.

»Das alles mit einem Arm?«, fragte Henning von der Braake.

Brid nickte. Sie spürte, wie Ehrfurcht über die drei Männer kam.

»Kannte er Ketlin?«, wollte Konrad wissen.

»Ich weiß nicht«, antwortete Brid wahrheitsgemäß und wandte sich an ihn, »du denkst, er hat sie ermordet?«

»Ja«, sagte Konrad von Laurin knapp. Und, wie um sich zu vergewissern, schaute er zu Isenhart.

Dessen Muskeln und Sehnen waren gespannt, er fühlte sich trotz der späten Nachtstunde merkwürdig lebendig. Jetzt, sechs Jahre später, sechs Jahre, nachdem er den Herrgott um seinen eigenen Tod angefleht hatte, neben Annas Leiche im Schnee kniend, gab es so etwas wie einen ersten Kontakt. Sie jagten keinem Geist mehr nach, keinem Mann, der wiederauferstanden war und als Draugr Angst und Schrecken verbreitete – sondern einem Mann aus Fleisch und Blut.

Rote Haare und einarmig. Eine Verwechslung, dachte Isenhart, dürfte schwerlich vorliegen.

»Aber warum?«, fragte Brid. Sie erschauerte innerlich bei der Erinnerung an diesen Mann, an dessen fast übernatürliche Kraft, und bei dem Gedanken daran, wie wehrlos Ketlin ihm gegenübergestanden haben musste.

»Wo können wir ihn finden?«, fragte Henning, der immer noch an der Tür stand.

Er riss Isenhart aus seinen Gedanken. Was Brid ihnen erzählte, war immerhin drei Jahre her. Andererseits zeugte der Mord an der Wirtstochter von seiner Verbundenheit mit der Gegend um Spira.

»Ich weiß nicht«, bekannte die Hure.

»Denk nach, Weib«, herrschte Konrad sie an, »er muss doch etwas gesagt haben.«

Brid deutete ein Kopfschütteln an, als ihr doch noch eine Kleinigkeit einfiel: »Nur, dass er viel unterwegs ist, das hat er erzählt. Und beim ersten Kreuzzug dabei war.«

Isenhart merkte auf: »Bist du ganz sicher?«

»Ja.«

»Und weißt du sonst noch etwas von ihm? Oder jemanden, der uns sagen kann, wo wir ihn finden können?«, fragte Henning.

»Er war nur einmal hier und dann nie wieder. Aber vielleicht weiß Bruno mehr. Oder die anderen.«

Bruno und die anderen Hübschlerinnen meinten, bei Michael von Bremen den bösen Blick gesehen zu haben. Brunos linke Hand war damals angebrochen gewesen, ansonsten hätte er sich den Kerl natürlich zur Brust genommen.

Eine Hübschlerin wusste zu berichten, dass von Bremen ein eiskalter Lufthauch folgte, wenn er dicht an einem vorbeischritt. Und eine andere war felsenfest davon überzeugt, unter seinem dichten, roten Haar die Ansätze von zwei Höckern gesehen zu haben, wenn das Kerzenlicht günstig stand.

Isenhart begriff, dass sie alle auch nichts Substanzielles über den Mann zu berichten wussten.

»Ich kann mich an ihn erinnern«, sagte die Tochter des Seilers leise, als die drei sich schon zur Tür wandten, »aber da war ich noch ein Kind.«

Isenhart ging auf sie zu, packte sie am Oberarm, etwas fester als vorgesehen, und starrte ihr aus kürzester Distanz in die Augen. Einen Augenblick lang wusste das Mädchen nicht, vor wem sie mehr Furcht empfinden sollte. Vor dem, den die drei suchten, oder vor dem, der durch sie hindurchzusehen schien.

»Sprich.«

»Er hatte Zwist mit meinem Onkel, dem Flickschuster.«

»Wie heißt er? Wo finden wir den?«

»Er hat seine Werkstatt zwei Gassen von hier nach Süden«, erwiderte Iris, »sein Name ist Friedmann.«

Isenhart entließ den Arm aus seinem Griff, und das Mädchen begann, die Druckstelle zu massieren, die beim Zupacken entstanden war.

»Und worüber haben die beiden gestritten?«, wollte Konrad wissen.

Schnell zauberte das Mädchen ein Lächeln auf ihr Gesicht. »Das weiß ich nicht. Ich erinnere mich nur, was mein Onkel über ihn gesagt hat.«

»Und das war?«, fragte Henning interessiert.

»Dass Michael von Bremen ein Menschenfresser ist.«