21.

ilbrand von Mulenbrunnen vermutete Konrad in Frankreich, wie Simon Rubinstein von einem der zahlreichen Kaufleute erfahren hatte, die bei Spira übersetzten. Der Abt ließe schon lange nicht mehr nach Sigimunds Erben suchen. Da diese Nachricht mit dem Tod von Michael von Bremen zusammenfiel, fühlten sie sich in Heiligster von einer doppelten Umklammerung befreit.
Konrad befand sich nicht mehr in Gefahr, und leichten Schrittes begaben Isenhart und er sich auf die Jagd, bei der sie nun von Gweg, Unnaba und Dolph begleitet wurden.
Die drei Kolkraben deckten auf ihren Erkundungsflügen eine weite Fläche ab, sodass sie in Heiligster auch in den Wintermonaten keine Not leiden und kein frisches Fleisch entbehren mussten.
Verirrte sich ein Turmfalke oder ein Mäusebussard in ihr Revier, trieben die Raben ihren Schabernack mit dem Eindringling, sie schossen in gewagten Bahnen um ihn herum, zupften ihn am Schwanz oder stibitzten ihm die Beute aus dem Schnabel. Während Dolph, seinem Vater vertrauend, auch auf Konrads und Isenharts Schultern Platz nahm und sich an ihren Ohren und Augenbrauen zu schaffen machte, blieb Unnaba unnahbar.
Als Marie sich in den Tagen vor Weihnachten zum zweiten Mal erbrach, war Hieronymus voller Freude. Er zündete vor Begeisterung so viele Talgkerzen an, dass sie mehrere Nächte ohne Licht waren, bis Nachschub hergestellt wurde.
»War das wirklich nötig?«, fragte Sophia, die mit Ursel vom kleinen Bachlauf gezwungen war, im Dämmerlicht zu spinnen.
»Und ob«, strahlte der Geistliche, »und ob!«
Isenhart glaubte, Konrad etwas breitbeiniger auftreten zu sehen, manchmal bildete sich dieser Tage ohne ersichtlichen Grund ein Lächeln auf seinem Gesicht, und er schaute wie ein glückseliger Idiot in die Ferne.
»Komm rein«, sagte Isenhart, »es schneit.«
Konrad hockte draußen vor dem Brennholz, das er gehackt hatte, und starrte in den Himmel, seine Lippen waren schon blau.
»Ja«, sagte er ebenso abwesend wie sanft, »ist das nicht schön?«
Walther von Ascisberg hatte am Weihnachtstag den Weg von Tutenhoven auf sich genommen.
»Hieronymus benimmt sich, als würde er Vater werden«, vertraute Isenhart ihm an. Doch statt auf Verständnis stieß er auf ein Augenpaar, das gegen die Feuchtigkeit anblinzelte, die sich an ihren unteren Rändern gebildet hatte.
»Dem Herrn sei Dank setzt sich die Linie der Laurins fort«, merkte Walther an.
Als Konrad ihnen gut gelaunt über den Weg lief, fragte von Ascisberg ihn, wie sie den Bewahrer der Blutlinie zu nennen gedachten.
»Sigimund«, antwortete Konrad.
Walther wandte sich ab, damit niemand Zeuge seiner unmännlichen Tränen wurde.
»Ihr wisst doch überhaupt nicht, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird«, wandte Sophia ein.
»Es wird ein Junge«, ließ Konrad seine Schwester wissen, und in seiner Stimme schwang nicht der Hauch eines Zweifels mit.
»Amen«, sagte Gweg, der auf seiner Schulter saß.
Mithilfe der Frauen schmückte Hieronymus das Wohnhaus mit Tannenzweigen, wie er es schon Jahre zuvor in Bruchsal getan hatte, weil Walther ihn darum ersucht und das Leben von Sigimunds Sohn an einem seidenen Faden gehangen hatte. Darüber hinaus boten grüne Zweige Schutz gegen die bösen Geister, wie jedermann wusste.
»Annas Mörder ist tot«, eröffnete Isenhart, der mit Walther und Sophia am Kanal stand, »er hat sich selbst gerichtet.«
Für Weihnachten war es ausgesprochen mild, aber nichtsdestotrotz kroch ihnen die Kälte unter die Kleider.
»Wer war es?«
»Michael von Bremen, ein Nobile«, antwortete Isenhart, »in der Hungersnot 1191 hat man auf seiner Burg Menschen gegessen. Auch die Herzen.«
Und dann erzählte er den beiden die ganze Geschichte, ihre Entdeckung auf dem Friedhof zu Spira, den Hinweis von Brid, die Geschehnisse in Anselms Herberge und schließlich ihr Zusammentreffen mit dem Mann selbst.
Während er die beiden über die Einzelheiten aufklärte, meinte Isenhart zu spüren, wie Walther von Ascisberg sich zweiteilte. Seine Gestalt verharrte neben ihnen und schien zu lauschen, aber es war nur mehr eine Hülle, unbelebt und unbehaust, weil der Geist, der ihr innewohnte, sich entfernte, vom Wind dahingetragen wurde an einen Ort, den Isenhart nicht zu betreten in der Lage war.
Als er geendet hatte, schüttelte Sophia voller Abscheu den Kopf, und Walther war wieder ein Ganzes. Ein Ganzes, das ihm einen sehr ernsten Blick zuwarf. Von der anfänglichen Gebrechlichkeit, die sich ansonsten des Öfteren bei Isenharts Mentor bemerkbar machte, war nichts zu spüren.
»Gib mir zehn Tage, Isenhart«, sagte er, »dann komm nach Tutenhoven.«
»Wenn es etwas gibt, das Ihr wisst …«, begann Sophia, aber Walther vollführte mit der rechten Hand eine herrische Geste, die ihren Mund verschloss. »Schweig«, befahl er mit schneidender Stimme.
Diese Unerbittlichkeit kannten Isenhart und Sophia noch nicht an Walther.
»Warum erzählt er mir nicht, was er weiß?«, fragte Isenhart leise, nachdem von Ascisberg auf sein Pferd gestiegen und davongetrabt war.
»Ich habe von dir geträumt«, sagte Sophia.
Isenhart riss seine Augen von Walthers Anblick los. »Und was hast du gesehen?«, fragte er.
»Zwei tote Augen«, sagte Sophia, die dabei selbst leicht erzitterte, wobei nicht auszumachen war, ob das an ihrer Weissagung lag oder an dem eisigen Wind.
In der ersten Januarwoche 1196 jagte ein Sturm über den Südwesten des Heiligen Römischen Reiches. Neben den Gewittern, vor denen sie sich in Heiligster verschanzten, brachte er Böen mit sich, die ein paar Bäume entwurzelten – und Schnee. Der Kanal vereiste, Henrick und Ursel dichteten den Hühnerstall mit einer doppelten Schicht Stroh ab, und die Kolkraben suchten in der Nähe des Ofenrohrs Schutz und Wärme.
Unten, am Ofen selbst, bereitete Hieronymus höchstpersönlich jeden Abend das Lager für Marie. Marie hier, Marie dort, Marie hat gegessen, Marie hat nach Südwesten geschaut, Marie hat sich über den Bauch gestrichen. So ging es in einem fort und wuchs sich für alle anderen in Heiligster zu einer Nervenprobe aus.
Hatte der Geistliche in ihr dereinst einen ungünstigen Umgang für den jungen Laurin ausgemacht, verdrehte ihre Schwangerschaft seine Haltung ins Gegenteil. Das Beste war sie, was Konrad passieren konnte, was ihm in seinem nicht eben untadeligen Leben endlich Halt und Hafen bot. Marie selbst empfand Stolz und Geborgenheit. Sie würde – so Gott wollte – trotz ihrer profanen Herkunft die Blutlinie der Laurins erhalten, eine große Ehre, zweifellos.
Trotz der frostigen Temperaturen erschien Henning und Isenhart der Sturm als ideal für einen erneuten Flugversuch. Nach ihrer Rückkehr aus Tarup hatten sie eine Konstruktion ersonnen, um die beiden Flügel zu einem einzigen zu verbinden, anschließend die Häute erneut versiegelt – eine undichte Stelle hätte die »Unterluft« zu einem unkalkulierbaren Risiko gemacht –, danach den Rahmen wieder und wieder abgeschliffen, bis Henning vorschlug, die einzelnen Hölzer dieses Rahmens auszuhöhlen, um das Gleitgerät von überflüssigem Gewicht zu befreien. Isenhart ärgerte sich kurz, weil er nicht selbst auf diesen Gedanken gekommen war – so könnten sie ihr Konstrukt im besten Fall um knapp ein Drittel an Gewicht reduzieren.
Walther von Ascisberg würde erst übermorgen nach Tutenhoven zurückkehren, Günther von der Braake kümmerte sich um einige schwere Fälle in Spira, und Konrad wollte mit alledem nichts zu tun haben. »Es ist wider die Natur«, sagte er.
Sie standen oben im Heuboden der Scheune, wo sie vor neugierigen Blicken geschützt ihrem Vorhaben nachgehen konnten.
»Nein, eigentlich nicht«, entgegnete Henning von der Braake, während er wie Isenhart den Rahmen mit Fischfett einrieb, um den Flügel vor kleinsten Verwirbelungen der Luft zu schützen. »Wenn der Herrgott in seinem Weltenplan nicht gewollt hätte, dass wir die Grenzen des Seins erforschen, hätte er uns nicht mit dem ausgestattet, das uns über die Tiere erhebt: unseren Verstand.«
Trotz all der Spalten und Ritzen, durch die der Winterwind pfiff, hing der Fischgeruch drückend in der Luft sowie in den Kleidern und dem Stroh, das sie hier gelagert hatten.
Konrad von Laurin schüttelte den Kopf, warf Isenhart noch einen Blick zu und ließ sie dann in diesem abscheulichen Gestank zurück.
Einzig Sophia stand ihrem Vorhaben wohlwollend gegenüber, lauschte ihren nächtlichen Debatten um den Luftwiderstand sowie die Gefahr von Verwirbelungen und wurde Zeugin von Isenharts Bedauern, lediglich etwas zu konstruieren, das sich den Launen der Luftströmungen überlassen musste, statt aktiv Richtung und Höhe zu bestimmen, wie es mit beweglichen Flügeln vielleicht möglich gewesen wäre.
»Das eine kann der Schritt zum anderen sein«, tröstete Henning ihn.
So war es nicht weiter verwunderlich, dass Sophia die beiden am Morgen des 3. Januar 1196 beim Aufstieg zum Knorrigen Alten begleitete. Die Pferde, Eigentum Spiras, hatten sie mit dem Tod Michaels von Bremen abgeben müssen, da der Fall in den Augen des Hauptmanns der Stadtwache abgeschlossen war.
Also ließen sie den Karren, auf dem sich unter einer Plane die beiden Teile des Gleitflügels befanden, von zwei Maultieren ziehen, die sie für ihre Arbeiten in Heiligster besaßen. Nur zu gerne hätte Isenhart Walther an ihrer Unternehmung teilnehmen lassen, doch er war noch nicht nach Tutenhoven zurückgekehrt. Außerdem war Walthers Haut mittlerweile von hellbraunen Altersflecken übersät, seine Augen umrahmten schwere Tränensäcke und buschige graue Brauen. Das Gehen bereitete ihm Mühe, auch wenn er diesen Umstand vor anderen zu verbergen und mit seiner aufrechten Haltung auszugleichen versuchte. Isenhart wollte dem alten Freund so eine Strapaze – und das war sie – wie ihre Expedition zum Knorrigen Alten ersparen.
Der Knorrige Alte, der wegen seines Silbervorkommens erst drei Jahrhunderte später fast gänzlich abgebaut worden sein sollte, erhob sich eine halbe Meile südwestlich von Heiligster bis zu 210 Fuß in den Himmel. Der Ascisberg überragte den Alten um 90 Fuß, aber für ihre Zwecke war Letzterer allemal ausreichend.
Mühsam stapften sie durch den Tiefschnee, dessen Oberfläche immer wieder von heftigen Böen aufgewirbelt wurde, und trieben die Maultiere an, die bis zu den Kniegelenken in der weißen Pracht versanken. Die beiden Tiere trugen ein neues Geschirr, das Einzug ins Heilige Römische Reich gehalten hatte und sich von den jahrhundertealten Zuggeschirren dadurch unterschied, dass die Vierbeiner die Last nicht mehr mit ihrem Hals in die Vorwärtsbewegung zerrten – was der Mehrzahl der Ochsen auf den Feldern schlicht den Atem raubte –, sondern mit der Brust. Die Maultiere fanden sich also nicht länger in dem Konflikt zwischen den antreibenden Stockschlägen ihrer Besitzer und ihrer eigenen Strangulation wieder.
Gweg und Dolph waren ihnen gefolgt, mal kreisten Vater und Sohn über ihnen, mal pausierten sie auf dem Karren und ließen sich durch Schnee und Wind ziehen, reckten die Schnäbel und gaben Krächzlaute oder ein »Amen« von sich.
Gegen Mittag war es so weit.
Isenhart stand auf einem Felsvorsprung rund 60 Fuß über dem Boden. Henning und er hatten die Flügel huckepack bis hierher unter gepressten Flüchen getragen, gezerrt und geschleift und ineinander montiert, während Sophia unten bei dem Karren ausharrte. Sie führte die Maultiere herum, damit ihre Läufe nicht festfroren.
Die Böen griffen unter die Kalbshaut des Flügels, drückten und zogen und verlangten Isenhart alles an Standvermögen und Kraft ab, um sich dagegenzustemmen und nicht in die Tiefe gerissen zu werden.
Henning stand neben ihm, umtanzt von Schneeflocken, und hielt den Flügel fest. Isenhart sah zwei Linien blitzender Zähne, Henning lachte gegen den Wind. »Jetzt gilt es!«, rief er voller Begeisterung.
Isenhart spürte ein Kribbeln, das von seinen Füßen ausging, unter der Haut aufwärtsstieg und ihn schließlich komplett durchdrang. Ein ähnliches Wonnegefühl hatte ihn in seiner ersten Nacht mit Anna heimgesucht und dazu geführt, dass er sich so lebendig fühlte wie nie zuvor, intensiv durchdrungen von dem Bewusstsein der Körperlichkeit, dass es eine Lust war zu sein.
Er blickte hinab, Sophias und seine Augen trafen sich. Isenhart meinte, ihre grünen Augen von hier oben ausmachen zu können, als er gegen jedes warnende Signal seines Körpers das Unerhörte wagte und sich ins Nichts abstieß.
Von der Erhabenheit, die er sich erhofft hatte, sanft durch die Sphären gleitend, den göttlichen Funken erhaschend, war zunächst nichts zu spüren. Sofort wurde er von einer Bö erfasst, die ihn in eine aerodynamisch heikle Situation bugsierte. Mithilfe der Lederriemen, an denen er unter der Flügelkonstruktion hing, steuerte er dagegen, und wider alle Befürchtung gelang ihm dieses Manöver, er brachte den Flügel erfolgreich in jenen Wind, der ihm in den Ohren toste.
Sophia erschauerte bei dem Anblick, der sich ihr bot – Isenhart flog. Weit über ihr glitt er durch die Schneeflocken. Gegen jede Wahrscheinlichkeit und trotz der Widrigkeiten, die die Dogmen des Heiligen Stuhls ihnen bei ihrem Vorhaben auferlegten, hatte er seinen Traum vom fliegenden Menschen Gestalt annehmen lassen. Sie empfand einen ungeheuren Stolz auf diesen jungen, schmächtigen Mann, der sich prächtig im Wind hielt.
Henning, der an der Felswand verharrte, erging es nicht anders. Kaum hatte Isenhart sich ins Nichts gestürzt, waren Gweg und Dolph aufgeflattert, um ihm zu folgen. Das Konstrukt erwies sich in dem neuen Element, das sie nur im Ansatz erforscht hatten, als tauglich. Und wichtiger noch, viel wichtiger: Isenhart lebte.
Als der junge Schmied sich abstieß, schlugen zwei Herzen in Hennings Brust. Das eine, das den Schritt in die dritte Dimension wagen wollte und musste, weil es vor Neugierde sonst umgekommen wäre, und das andere, das Isenhart, diesen gewonnenen Bruder, um keinen Preis verlieren wollte.
Isenharts Herz hämmerte derweil bis zum Hals, zumal der Aufwind unter den Gleiter griff und ihn mit einem Schlag noch einmal zwanzig Fuß in den Himmel riss, so unvermittelt und urgewaltig, dass er um ein Haar die Balance verloren hätte. Der Flügel vibrierte unter der Last seines Körpergewichts und wegen der Verwirbelungen, die sich trotz der akribischen Versiegelung, die er mit Henning auf den Ober- und Unterseiten aufgetragen hatte, bildeten. Die Vibration griff erst auf die Lederriemen über, dann auf ihn.
Isenhart riss den linken Arm herunter, der Nurflügler neigte sich in die Windrichtung und versetzte ihm einen erneuten Schub. Dann ließ die Vibration nach, der Wind rüttelte nicht mehr an dem Gleitflügel, Isenhart schwebte. Ja, er schwebte!
Erhaben glitt er über die Winterlandschaft, während die Erde unter ihm davonrauschte. Und plötzlich wurde er von Dolph und Gweg eskortiert, die sich zu beiden Seiten des Flügels eingefunden hatten und in den Wind krächzten.
Nun war er eins mit ihnen. Nun wusste er, wie es sich anfühlte, wenn man durch die Lüfte glitt, vom Unterwind getragen, und die Welt von oben sah. Die Freude darüber rumorte in seinem Bauch, jagte die Kehle hinauf und entsprang seinen Lippen als wohliges Jauchzen, das sich im Tal brach und als Echo zu seinen Ohren zurückkehrte. Als Sophia es hörte, strahlte sie über das ganze Gesicht.
Am Mittag des 3. Januar 1196 hatte sich mit Isenhart – nach Ibn Firnas und Eilmer von Malmesbury – der dritte Mensch in die Luft erhoben.
Der 3. Januar 1196 war auch das Datum der dritten Bruchlandung der Menschheitsgeschichte.
Nachdem eine glückliche Fügung den Gleiter trotz des Überschlags, den Isenhart bei seiner Landekollision mit einer Tanne vollführte – der Nurflügler eignete sich nicht für schnelle Ausweichmanöver –, vor jeglicher Beschädigung bewahrt hatte, fanden sie wieder zusammen. Sophia, Henning und Isenhart sprangen in die Luft und lachten, sie fielen sich in die Arme, berauscht vom Gelingen und froh, dass Isenhart unversehrt war.
Dieses war der glücklichste Augenblick in seinem Leben, und obwohl sie es nicht aussprachen, spürte er in der ungezügelten Freude Sophias und Hennings, dass es sich bei ihnen keinen Deut anders verhielt.
Dann kam dieser Moment.
Henning stürmte zum Flügel, um die Verstrebungen zu lösen, sodass aus der Umarmung dreier eine Umarmung von zweien wurde. Ihr Lachen stob noch als weißer Schleier zwischen die Schneeflocken, aber da wussten ihre Augen es schon, und Isenhart ließ los. »Ich wünschte, Anna hätte das sehen können«, sagte er, um einen Keil zwischen sie zu treiben.
Was ihm gelang: Sophia ließ die Arme sinken, stand einen Augenblick reglos, um sich dann zu straffen und zu nicken.
Sie benötigten eine Stunde, um die beiden Flügelteile, die sie sich mit Hanfseilen um die Körper gespannt hatten, wieder auf den Knorrigen Alten zu hieven. Dieses Mal begnügte Sophia sich nicht mit einer Beobachterposition, sondern begleitete sie hinauf.
»Hier«, rief Isenhart gegen das Sturmtief, als sie die Felswand erreichten, von der aus er sich in die Tiefe gestürzt hatte.
»Höher«, rief Henning zurück, »viel höher!« Und schon umschloss seine linke Hand den nächsten Vorsprung.
Isenhart warf Sophia einen Blick zu, aber die quittierte ihn mit einem angedeuteten Schulterzucken.
»Der Flügel lässt sich nur schwer lenken«, brachte Isenhart hervor.
»Aber vielleicht verhält es sich bei den Luftströmungen weiter oben anders!«, bekam er zur Antwort.
120 Höhenfuß weiter hatte der eisige Wund ihren Schweiß in feinste Eisstrukturen verwandelt, die sich über ihre Gesichter zogen, selbst ihre Wimpern waren weiß.
Und während Isenhart und Henning die beiden Flügelteile mittels der Verstrebungen wieder zu einem Ganzen montierten, studierte Sophia die beiden. Ihre zupackenden Hände, die trotz der kleinen Verletzungen, die sie sich aufgrund ihrer immer starrer werdenden neun Finger zuzogen, unermüdlich den Start von der höheren Position aus vorbereiteten, die nahezu weißen Gesichter, in denen die Augen zweier kleiner Jungs zu leuchten schienen, und all die anderen kleinen Zeichen ihrer Entschlossenheit und Begeisterung ließen in Sophias Augen nur einen Schluss zu.
Die beiden würden sich auf dem Weg, den ihr Verstand und ihre Neugier ihnen wiesen, durch nichts und niemanden abbringen lassen. Und wenn ihr Leben der Preis dafür war, dann war es eben der Preis.
Henning, der den Flügel über sich stemmte, hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Der Winterwind stieß unter den Gleiter und zwang ihn mit unvorhersehbaren Böen zu Stützschritten. Isenhart und Sophia standen neben ihm, sie alle drei blickten hinab, wo sie rund 200 Fuß tiefer die Maultiere ausmachten, die zugeschneit wurden.
»Das ist sehr hoch!«, rief Sophia dem Sohn des Medicus zu.
Henning wandte ihr und Isenhart den Blick zu. »Ich weiß«, antwortete er. Obwohl er nur zwei Worte von sich gab, waren sie unüberhörbar von Furcht geprägt.
»Wir können wieder zum Felsvorsprung absteigen«, schlug Isenhart vor, der sich aus dieser Höhe nie und nimmer den Elementen überlassen hätte.
Henning von der Braake nickte. »Aber dann kehren wir ohne Antworten zurück«, rief er zurück und sprang.
Isenhart und Sophia erschraken.
Aber Henning hätte kaum eine günstigere Luftströmung erwischen können. Der Nurflügler trug ihn sanft durch das Schneetreiben. Von der Braake zog den Gleiter auf der rechten Seite nach unten, der Wind erhielt links eine größere Angriffsfläche, und so gelang ihm ein nahezu vollendeter Halbkreis, während die Kolkraben ihn oberhalb der Konstruktion aus Fichtenholz und Kalbsleder eskortierten.
Angst und respektvolle Bewunderung hielten sich die Waage bei Isenhart, der wie Sophia Hennings Weg durch die Lüfte aufmerksam verfolgte. Es war erst eine Stunde her, dass er am eigenen Leib erfahren hatte, was es hieß, sich dem Wind zu überlassen.
Der Halbkreis trug Henning wieder in Richtung des Knorrigen Alten. Sophia und Isenhart hätten das, was dann passierte, mit keinem Begriff bezeichnen können: Der Flügel sackte zur Linken weg, als Henning den Anstellwinkel der Tragfläche so sehr in die Vertikale hob, dass keine Luft mehr griff, wurde vom Sturm erfasst, geriet ins Strudeln und beschrieb eine rasende Spirale in die Tiefe.
Isenhart warf sich zu Boden und robbte eilends an die Kuppe, von der Henning ins Ungewisse aufgebrochen war. Der Sturm ergriff den Gleiter und schleuderte ihn mitsamt seiner menschlichen Fracht mit einer Wucht gegen den Knorrigen Alten, die Isenhart noch einmal verdeutlichte, mit welcher Naturgewalt sie sich eingelassen hatten.
Henning war regungslos, als sie ihn endlich erreichten. Er starrte in den Himmel, die Reste des zerborstenen Gleiters neben sich. Sein Blick war trüb, auf Ansprache reagierte er seltsam verzögert. Aber angesichts seiner aufs Merkwürdigste verschlungenen Beine und dem Loch in seinem Beinkleid, aus dem das makellose Weiß eines offenen Oberschenkelbruches lugte, war der Schock, unter dem er stand, nicht nur erklärlich, sondern barmherzig.
Es kostete sie anderthalb Stunden beschwerlichen Weges, bis sie Tutenhoven erreichten, das näher am Unglücksort gelegen war als Heiligster. Zolner empfing sie mit dem üblichen Misstrauen, aber angesichts der unübersehbar schweren Verletzung ließ er Gnade vor Recht ergehen, stellte keine Fragen, sondern wagte sich ins Schlafgemach seines Herrn, um diesen zu wecken.
Walthers Hand ruhte auf dem schmerzenden Becken, als er das Haupthaus betrat, in das sie Henning schafften, um ihn vorsichtig neben dem Ofen zu betten. Als Isenharts Blick ihn traf, nahm Walther die Hand von seiner Hüfte. Er war müde, sehr müde. Eine der wenigen Vorzüge des Alters bestand in dem Gewinn von Lebenszeit. Vier Stunden Schlaf waren mittlerweile ausreichend, während er sich früher ein Pensum von sechs und mehr Stunden genehmigt hatte. Dass die Müdigkeit sich trotzdem wie flüssiges Blei durch die Blutbahnen zog und jede Bewegung zur Mühsal erhob, lag an Cecilia, die mit einer schweren Grippe und hohem Fieber das Lager hütete.
Der Schnitter hatte die Hand nach ihr ausgestreckt, und Walther machte diesbezüglich Zolner gegenüber keinen Hehl. Aber er gab ihm ebenso unmissverständlich zu verstehen, dass er all sein Wissen und all seine Kräuterkunde in die Waagschale zu werfen beabsichtigte, um dem Schnitter dieses Mal ein Schnippchen zu schlagen.
Auf den Schlachtfeldern des zweiten Kreuzzugs hatte er allerlei Verletzungen gesehen, und so genügte ein einziger Blick, um diejenige, die Henning erlitten hatte, einzuordnen. Es stand nicht gut um den jungen von der Braake.
Der Schock war von ihm gewichen, er stöhnte und krümmte sich unter den Schmerzen, und hin und wieder entglitt ihm gegen seinen Willen ein spitzer Schrei. Sophia wischte dem Verletzten den Schweiß von der Stirn, sie murmelte das Ave-Maria. Und Isenhart war ihr dankbar dafür, denn obwohl auch er die Fürbitte hätte sprechen können, wäre es ihm nicht aufrichtig erschienen.
»Bitte«, wandte er sich an seinen alten Lehrer, »bitte, rettet sein Leben. Ich bitte Euch bei allem, was mir heilig ist. Ich ersuche Euch um Eure ganze Kunstfertigkeit.«
Isenhart verstand es, seine tiefe Verzweiflung hinter einem ruhigen Ton zu verbergen, und Walther verstand es, hinter dem ruhigen Ton seines ehemaligen Schülers dessen Verzweiflung wahrzunehmen.
»Das wird nicht reichen, Isenhart«, stellte er bei genauerer Betrachtung der Verletzungen fest, »geh und hol seinen Vater. Zolner?«
»Ja, Herr?«
»Gib ihm unser schnellstes Pferd.«
In halsbrecherischem Tempo jagte Isenhart den Schimmel in der Linie durch die Schneeverwehungen, in der er den Weg vermutete. So musste er jederzeit auf einen Sturz gefasst sein, aber für ihn war es keine Frage, dieses Risiko in Kauf nehmen zu müssen.
Das Herz wurde ihm klein, als er endlich die Befürchtung zuließ, die zurückzudrängen ihm auf dem Weg nach Tutenhoven noch gelungen war: Wenn er Henning verlor, diesen unerwarteten Zugewinn, würde er wieder alleine seine Bahnen ziehen. Und das vermutlich für den Rest seines Lebens.
So war es ihm bereits ein kleiner Trost, an den Stadtmauern Spiras auf Konrad zu treffen, der dort seinem Wachdienst nachkam. Sofort entsandte dieser Wachmänner zu jenen Örtlichkeiten der Stadt, an denen Günther von der Braake sich aufhalten konnte.
Nur eine Viertelstunde später befanden sie sich zu dritt auf dem Weg zurück nach Tutenhoven. Günthers Miene war eine verkniffene Maske. Er trug einen Beutel mit sich, in dem er Kräuter, Salben, Verbände und Operationsbesteck verstaut hatte.
»Wie ist es passiert?«, wollte Konrad wissen, der neben Isenhart ritt.
»Er hat sich die Beine gebrochen«, gab Isenhart knapp zurück.
»Ja, das hast du gesagt. Aber wobei?«, hakte Konrad von Laurin nach.
»Ist das so wichtig?«, fragte Isenhart gereizt. Er wusste, wie Konrad zu ihrem Unterfangen stand, das Fliegen zu erforschen, deswegen wollte er ihm keine Gelegenheit zu nachträglichen Belehrungen geben.
Konrad hingegen ahnte, dass sich der Unfall im Zusammenhang mit einem Flugversuch ereignet hatte. Aber obschon sich eine gewisse Eifersucht auf Henning in ihm regte, schätzte er den Sohn des Medicus doch. Vor allem, weil er eine Bereicherung für Isenharts Leben darstellte, die er ihm nicht bieten konnte – ihm aber gleichwohl gönnte, denn wer gesehen hatte, wie Isenhart im Umgang mit Henning von der Braake aufblühte, musste diesem alleine schon um Isenharts willen ein langes Leben wünschen.
Walther und Günther mussten sich nicht über die Schritte austauschen, die zu unternehmen waren. Sie schienten Henning das rechte Bein, das zwei Brüche aufwies, und hießen Sophia, die Bruchstellen mit frischem Schnee zu kühlen, um den unvermeidlichen Schwellungen entgegenzuwirken.
Der offene Bruch am linken Bein dagegen erforderte ihr ganzes Geschick. Nerven, Muskeln und Sehnen waren zum Teil gedehnt, überwiegend gerissen. Unentwegt quoll frisches Blut aus der Wunde. Der Winter verschonte sie vor den Fliegen und ihren Eiern, aber als Günther Hand an das Bein legte, brüllte sein Sohn vor Schmerzen auf.
»Was für einen Unsinn habt ihr nur getrieben«, tadelte Günther ihn, um mit dieser Bemerkung von seiner tiefen Bestürzung abzulenken.
Für den Eingriff mit Nadel, Faden und Knochenheber wusste Günther von der Braake keine rechte Dosis. Zwar trug er Fliegenpilz und Schierling bei sich, aber da es um seinen Sohn ging, zögerte er. Nur ein Knollenstück zu viel war in der Lage, Henning den Verstand zu rauben oder ihn gar zu töten.
»Schnaps«, schlug Walther von Ascisberg vor. Günther und er warfen sich über den sich vor Schmerzen windenden Leib einen Blick zu. »Zolner hat Selbstgebrannten, der hart ist, aber nicht blind macht«, fügte Walther hinzu. Also pressten sie Henning einen hölzernen Trichter zwischen die Zähne und gossen ihm einen Dreiviertelliter reinen Schnaps in die Speiseröhre, und der Schluckreflex erledigte den Rest. Binnen einer Viertelstunde war Henning ohnmächtig.
Die beiden Männer operierten drei Stunden lang. Zolner reichte Talgkerzen, Sophia hielt Hennings Kopf, und Isenhart assistierte, er säuberte und reinigte das Besteck. Nach zwei Stunden, als sie die Blutung gestillt hatten und den Knochen richteten, kam Henning zu sich – und eilends in den zweifelhaften Genuss eines weiteren halben Liters, der ihn wunschgemäß binnen weniger Augenblicke erneut außer Gefecht setzte.
Aus Hennings Husten entnahm Isenhart, wie schwer es dem liegenden Freund fiel, den hochkonzentrierten Gebrannten an der Luftröhre vorbeizuschleusen.
Hennings Bemühungen, unter denen er sich neben den Schmerzen, die sein offener Bruch für ihn bereithielt, quälte, führten Isenhart zu der Frage nach der Vollkommenheit und Unfehlbarkeit ihres Schöpfers. Das Zusammenlegen von Luft- und Speiseröhre widersprach jeder Vollkommenheit. Wenn ihre Anlage dem göttlichen Funken entsprang, schloss Isenhart, konnte der Funke nicht allzu hell gewesen sein.
Nachdem sie den offenen Bruch vernäht hatten, banden sie Hennings Beine aneinander, um sie ruhig zu stellen. Während Walther nach Cecilia sehen wollte, fanden die anderen sich um Henning zusammen und beteten für ihn, ganz so, wie sie es damals in Bruchsal für Konrad getan hatten.
Isenhart, der die Hände faltete, war unschlüssig, ob er das Wort, die Bitte tatsächlich an den Herrgott richten sollte, doch er wurde einer Entscheidung enthoben, als ein panischer Schrei aus dem Nebenraum ihrem Vorhaben ein vorzeitiges Ende bereitete.
Wie sich herausstellte, war Walther sich seines Anblickes nicht bewusst gewesen. Hände, Kleidung, ja selbst die Stirn, von der er den Schweiß gewischt hatte, waren blutverschmiert. Er sah aus wie der Schnitter höchstpersönlich, und für den hatte Cecilia ihn auch gehalten, als sie aus ihrem Fiebertraum erwachte und Gevatter Tod über sich gebeugt vorfand.