19.

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hr wisst nicht, worauf ihr euch einlasst«, warnte Günther sie, »sicherlich verfügt er über Gefolge.«

Sie hatten in der Wachstube am Osttor genächtigt, wo ein besonders eifriger Hauptmann geglaubt hatte, eine Grabschändung erkannt zu haben, und daher Wachmänner ausrücken ließ, um dieses Sakrileg nicht ungesühnt zu lassen.

Bis zur Morgendämmerung hatten sie darüber gesprochen, was nun zu tun war. Bevor sie sich dem Schlaf überließen, beschlossen Konrad, Isenhart und Henning, dass Michael von Bremen, der sich offensichtlich als Aberak von Annweiler ausgab, daran gehindert werden musste, weitere Menschen zu töten.

Friedmann, der seinen Lebensunterhalt mit dem Reparieren von Schuhwerk bestritt, hatte nicht viel über den Mann zu sagen gewusst. Dass er groß war und mit einem Blick in den Tag schaute, der einen das Fürchten lehren konnte.

»Ihr habt Eurer Nichte gegenüber gesagt, Michael von Bremen sei ein Menschenfresser«, mit diesen Worten hatte Isenhart den Flickschuster konfrontiert.

Friedmann war ein kleiner, gedrungener Mann mit einer Weinnase. Sie war von roten Äderchen durchzogen. »Menschenfresser – das soll ich gesagt haben?«

»Ja.«

»Ja … mag sein. Man erzählt sich eben Geschichten über ihn.«

»Was für Geschichten?«, wollte Henning von der Braake wissen.

»Dass er Menschen verspeist hat.«

»Wer sagt das?«

»Ich weiß nicht. Man erzählt es sich eben.«

Sehr schnell verlief die Befragung im Kreis. Der Schuster war nicht in der Lage, die Quelle zu nennen, die Michael von Bremen der Menschenfresserei zieh.

Bis auf eine Kleinigkeit gab es nichts, was ihre spärlichen Hinweise auf von Bremen bereicherte. Immerhin entsann der Flickschuster sich der Wohnstatt des Mannes. Michael von Bremen lebte angeblich in einem Anwesen namens Tarup südlich von Mannenheim, was den Rhein entlang nördlich von Spira lag.

Die Geschichten, die sie im Frauenhaus über Michael von Bremen gehört hatten, nährten ihre Gewissheit, es mit dem Mann zu tun zu haben, den sie suchten. Isenhart empfand vorsichtigen Respekt für den Einarmigen, und wenn er in der Wachstube den Blick zu Henning wandte, las er in dessen Augen dieselbe Vorsicht. Nur Konrad kümmerte das alles nicht, er wollte nur so schnell wie möglich nach Tarup aufbrechen und von Bremen töten, um alledem ein Ende zu machen. Um Ruhe und Frieden einkehren zu lassen und die Gespenster der Vergangenheit für immer hinter sich zu wissen.

»Wir können ihn nicht einfach umbringen«, warf Isenhart ein, »er gehört vor ein Gericht.«

»Vor Gericht? Es gibt nichts mehr zu klären.«

»Es soll schon Fälle gegeben haben, bei denen allzu eilfertige Beschlüsse Unschuldige das Leben gekostet haben.«

Isenharts Anspielung auf Alexander von Westheim blieb Konrad von Laurin nicht verborgen, er grummelte den Trotz, den er empfand, in seinen Bart.

»Meinst du, er isst die Herzen?«, fragte Henning, während sie im Morgengrauen die Pferde sattelten.

»Wozu sollte er das tun?«, gab Isenhart zurück.

Henning wandte die Augen zu seinem Vater, der sich letztlich entschlossen hatte, die drei auf ihrer Reise zu begleiten.

»Im Orient gibt es die Vorstellung, dass der Verzehr eines starken Herzens auch denjenigen erstarken lässt, der es verspeist.«

»Ein weiterer Grund, diese Heiden in ihre Schranken zu weisen«, befand Konrad.

Gerne hätte Isenhart in Heiligster haltgemacht, um Sophia und Walther von den neuesten Entwicklungen zu berichten, aber Heiligster befand sich in entgegengesetzter Richtung zu ihrem Ziel. Der Mord an Lilith lag noch nicht sehr lange zurück, und daher rechneten sie sich gute Chancen aus, Michael von Bremen in seiner Heimstatt Tarup anzutreffen.

Günther von der Braake – wenn er von dieser Unternehmung angetan war, verbarg er seine Begeisterung darüber erfolgreich – hatte ihre Stümpfe gereinigt und sie mit frischen Tüchern bandagiert, bevor sie nach Norden aufbrachen.

Der Wind blies so stark von Westen, dass der Regen sie beinahe horizontal traf. Sie drückten das Kinn auf die Brust und stellten die Kragen der Lederwämser aufrecht, um die Hälse vor dem Wind zu schützen. Mehr konnten sie nicht tun.

Eine halbe Meile hinter Spira kamen die Pferde im Matsch, in den der Regen den Trampelpfad verwandelt hatte, kaum noch voran, sodass die vier abstiegen und die Tiere an den Zügeln hinter sich herführten.

»Vielleicht hatten Aristarchos von Samos und Claudius Ptolemäus nicht mal unrecht«, begann Henning.

»Wer?«, fragte Konrad. Er führte den kleinen Treck mit einem von Zielstrebigkeit bestimmten Tempo an.

»Sie waren griechische Gelehrte.«

»Ich hätt’s mir denken können«, seufzte Konrad leise.

»Was?«, hakte Henning nach.

»Nichts. Womit hatten sie recht?«

»Sie haben behauptet, dass die Erde eine Kugel sei«, sprang Günther ein.

»Wenn wir uns auf einer Kugel bewegten, würden wir abrutschen«, hielt Konrad von Laurin ihnen entgegen, »ich sehe nicht, dass der Grund sich wölbt.« Er grinste Isenhart zu. Endlich einmal war er der Überzeugung, bei einem dieser Gespräche Schritt halten zu können.

»Das kommt nur auf die Größe der Kugel an«, gab Henning zu bedenken.

»Wieso?«, fragte Konrad von Laurin angriffslustig.

»Wenn die Kugel groß genug ist, entzieht sich uns die Wölbung«, erklärte Isenhart.

»So ist es«, bestätigte Henning von der Braake.

»Auch einige arabische Gelehrte glauben, die Gestalt der Erde müsse eine Kugel ein«, flankierte Günther.

»Muselmanen sind eben Hohlköpfe«, sagte Konrad.

Die Muselmanen waren ihre ärgsten Feinde, wie Isenhart nur zu genau wusste. Saladin hatte ihnen nachdrücklich vor Augen geführt, wie bitterlich der Lauf der Geschichte sich zu wenden vermochte. Doch Günthers Erwähnung, die zweifelsohne mit seinen Begegnungen in Jaffa zusammenhing, weckte in Isenhart eine neue Idee.

Konnte ein Volk denn so durchsetzt sein von Schlechtigkeit und Amoral, wenn es gleichzeitig den Almagest zur Himmelsgestirnbetrachtung heranzog und dem Abendland in medizinischer Hinsicht weit voraus war? Und abgesehen von dem Umstand, dass er der größte ihrer Feinde gewesen war – hatte Sultan Saladin mit der Einigung der arabischen Stämme und der Rückeroberung der Heiligen Stadt nicht ein Feldherrengeschick bewiesen, das dem eines Richard Löwenherz ebenbürtig war?

Die Araber waren Gottlose, gewiss. Aber tat man einmal die Religion beiseite – denn auch sie lebten nach einer, nur eben der falschen –, wurde aus dem unüberbrückbaren Abgrund zwischen ihnen ein Graben. Was für ein unermesslicher Schatz mochte wohl zu gewinnen sein, wenn sie einander als Ebenbürtige begegneten? Und sich austauschten?

Der Regen wurde stärker, und als sich am Waldrand unter einem Felsvorsprung die Gelegenheit bot, suchten sie Schutz. Den Pferden schien der Regen nichts auszumachen, sie standen einfach da und sahen sich um. Aber Isenhart und die anderen spürten, wie die Feuchtigkeit die Kälte mit sich brachte, wie sie die Haut erreichte, die sich verengte, um die Wärme zu speichern.

»Habt ihr schon einmal eine Mondfinsternis gesehen?«, fragte Henning.

Konrad und Isenhart nickten. Walther hatte sie damals geweckt, sie waren noch Kinder. Bei der Erinnerung daran spürte Isenhart wieder die sanfte Berührung seines Lehrers, sah das fröhliche Glitzern in seinen Augen. »Gleich wird sich der Mond verdunkeln«, hatte er mit einer Begeisterung geflüstert, die sofort auf Isenhart übergesprungen war.

»Es ist eine göttliche Mahnung!«, rief Hieronymus im Burghof aus. Die, die wach waren, bekreuzigten sich, einige suchten Schutz nahe der Burgmauer. Walther und seine zwei Schützlinge standen etwas abseits.

»Es ist nicht Gott, der hier am Werk ist«, wisperte Walther ergriffen, als sich ein Schatten über den Vollmond zu legen begann, »ich meine: Natürlich hat Gott all das erschaffen. Wovon ihr jetzt aber Zeuge werdet, ist eine seltene Kombination von Positionen der Himmelsgestirne. Die Sonne und der Mond stehen in einer Linie mit der Erdscheibe. Die Sonne taucht uns in Licht – und so ergibt sich ein Schatten, in den der Mond wandert.«

»Kann es dann auch eine Sonnenfinsternis geben?«, fragte Isenhart leise.

Konrad schüttelte den Kopf: »Wie kann man nur so dumm sein? Was soll denn die Sonne verdecken?«

»Wenn die Erde den Mond verdeckt, warum soll dann nicht auch der Mond die Sonne verdecken?«

»Du denkst schon wieder zu viel, Isenhart«, tadelte Konrad ihn.

Aber als Isenhart aufsah zu Walther von Ascisberg, begegnete ihm das Lächeln eines beeindruckten Mannes. »Ja«, sagte Walther, hockte sich vor ihn, ergriff seine Hände und strahlte ihn an, »ja, Isenhart. Das ist es. Lass deine Gedanken zu ihrem größten Abenteuer aufbrechen: Lass sie ihre Flügel benutzen und aufsteigen!«

Isenhart musste trotz der Kälte und des Regens lächeln, als er sich Walthers Begeisterung entsann.

»… und dann nicht eine Scheibe zu sehen sein?«

»Was?«, fragte Isenhart, der nicht zugehört hatte.

Henning nahm erneut Anlauf: »Was wir bei einer Mondfinsternis sehen, ist die Gestalt der Erde. Wandelten wir auf einer Scheibe, erschiene die Form der Erde auf dem Mond als ein Strich. Tatsächlich aber können wir von dem Schatten auf das Objekt zurückschließen. Und wir sehen: einen Kreis. Das Abbild einer Kugel, wenn man sie auf eine Fläche reduziert.«

»Das ist das, was Aristarchos von Samos aus der Mondfinsternis geschlossen hat«, ergänzte Günther von der Braake, »demnach befinden wir uns auf einer Kugel, was auch deswegen mehr einleuchtet, weil die Kugel die göttliche Form ist.«

Konrad sah sich aufmerksam um. Keine Wölbung weit und breit. Was hatte denn ein Strich auf dem Mond mit der Form der Erde zu tun? Konrad hegte den leisen Verdacht, sie machten es seinetwegen manchmal absichtlich kompliziert.

»Es gibt ein Muster«, sagte Isenhart in die Stille hinein, »ein Muster, wie er tötet.«

Was für die anderen überraschend kam, war das Resultat von Isenharts Überlegungen, die darauf fußten, verstehen zu wollen. So wie dem Fliegen ein Prinzip innewohnte, das aus vielen einzelnen Faktoren vor seinem geistigen Auge zu einer Struktur erwuchs, so existierte auch für die Taten von Michael von Bremen alias Aberak von Annweiler eine Textur, die aus erkennbaren Einzelheiten bestand. Und die umriss er nun den Freunden.

»Er mordet erst mit einem Schnitt durch die Kehle. Später benutzt er einen dünnen, harten Gegenstand, den er seinen Opfern ins Hirn treibt. Ich habe mich gefragt, warum Michael von Bremen die Art zu töten geändert hat.«

»Und die Antwort?«, fragte Günther interessiert.

»Er lernt. Was ist sein Bedürfnis? Das Herz. Er tötet nicht um des Tötens willen, ihm geht es um das Herz. Der Stich ins Zentrum des Gehirns tötet das Opfer vermutlich auf der Stelle. Das geht schneller vonstatten als bei einem Opfer, das verblutet.«

Kurz erhob sich ein Bild aus seinem Gedächtnis, das er bis an sein Lebensende ohne jede Verblassung immer wieder würde abrufen können: Annas Gestalt im Schnee, der große, dunkle Fleck, der ihren Körper umgab.

»Bei Ketlin hat es vier Stiche gebraucht«, hielt Konrad entgegen, »auch das hat ihn Zeit gekostet.«

»Aber bei Lilith waren es nur noch zwei«, wandte Henning ein.

Isenhart nickte. Das war es, worauf er hinauswollte. »So wie ein Bogenschütze sich durch Übung mit jedem Schuss verbessert, verbessert er die Technik des Tötens. Und jedes Mal entnimmt er ihnen das Herz. Auch darin hat er sich gewissermaßen verbessert. Am Anfang hat er die Rippenbögen gebrochen, später zersägt. Anfangs hat er den Torso weit geöffnet, später nur an der Stelle, die für ihn von Bedeutung war. Alles zielt darauf ab, keine Zeit zu verlieren.«

»Und das Risiko seiner Entdeckung zu minimieren«, fügte Günther von der Braake hinzu.

»So ist es«, bestätigte Isenhart, »das ist das Muster seiner Taten. Seine Handschrift. Aber diese Handschrift liegt nicht nur in der Tat selbst, sondern auch in der Auswahl seiner Opfer. Auch sie haben eine identische Struktur. Sie sind jung, sie sind weiblich, und sie sind unbefleckt.«

»Aber Anna …«, warf Konrad ein.

»Das hatten wir doch schon geklärt«, unterbrach Isenhart.

Der Regen ließ nicht nach, das Himmelslicht schwand, und ihnen war unsagbar kalt.

»Mit etwas Glück finden wir ein Gasthaus auf dem Weg«, meinte Konrad.

Die anderen belächelten ihn. Ein Gasthaus – in dieser Einöde aus Wäldern und Sümpfen!

»Jedenfalls ist es egal, ob wir uns beim Warten oder Gehen den Tod holen«, stand Günther dem letzten Laurin bei. Der Medicus ging zu seinem Pferd, nahm die Zügel in die Hand und zog los. Und die anderen folgten ihm.

Nur eine Stunde später saßen sie schlotternd um einen Kamin herum.

Es war Nacht geworden, und genau jene Wolken, die ihre nasse Fracht über ihren Köpfen entluden, hatten ihnen auch den Blick auf die Sterne verwehrt, wodurch sie ihrer Kursbestimmung beraubt waren. Wider alles Erwarten entdeckte Konrad, der sie nun anführte, abseits des Weges, der sich am Rhein orientierte, einen Lichtschein im Wald.

Sie lauschten, aber bis auf den Regen, der in einschläfernder Regelmäßigkeit auf das Blattwerk und in das Unterholz fiel, vernahmen sie kein Geräusch. Leise berieten sie sich, was nun zu tun sei. Das Licht stammte zweifelsohne von einem Feuer, und wo ein Feuer prasselte, waren Menschen zugegen. Fragte sich nur, welcher Art sie waren. Reisende wie sie oder eine Bande von Räubern, die ihr Lager hier aufgeschlagen hatten, um Kaufleute zu überfallen. Günthers Rat folgend saßen sie auf, bevor sie sich weiter näherten, um im Zweifelsfall ihr Heil in der schnellen Flucht suchen zu können.

Ein Trampelpfad führte von dem Feldweg ins Dickicht, sie hoben die Arme, um Zweige beiseitezuschieben, während sie ihre Pferde im Gang auf das Licht zuführten. Konrad hielt an, sah über die Schulter und lächelte ihnen triumphierend zu. Vor ihnen lag ein Haus, aus dem Feuerschein fiel. Aus einer Öffnung im Dach zog der Rauch ab. Vor dem Eingang standen zwei Pferde, die von ihren Besitzern an der Tränke angebunden worden waren.

Konrad stieg ab und klopfte an die schwere Holztür. Es dauerte nur einige Augenblicke, dann wurde ihnen von einem Mann um die vierzig Jahre geöffnet. Aber nur einen Spaltbreit.

»Was wollt Ihr?«

»Wir suchen Unterkunft für die Nacht«, antwortet Konrad.

Der Mann richtete einen prüfenden Blick auf die drei Begleiter des stämmigen Burschen vor ihm. Die Skepsis, die er empfand, verbarg er nicht.

»Wir sind auf dem Weg nach Mannenheim und vom Unwetter überrascht worden«, sprang Henning Konrad bei. Ob der Mann ihn verstanden hatte oder nicht, war unklar, denn weder in seiner Haltung noch in seinem Gesicht war eine Regung zu erkennen.

»Wir sind auf dem Weg nach Mannenheim«, wiederholte Henning daher eine Spur lauter.

»Ich habe Euch verstanden«, unterbrach der Mann ihn, »tretet näher, damit ich Eure Gesichter sehen kann.«

Die vier stutzten nur kurz. Niemand reiste nachts, wenn es sich nicht irgendwie vermeiden ließ. Und wie es aussah, befand sich in der näheren Umgebung kein Haus, keine Siedlung, niemand, bei dem der Mann um Hilfe hätte ersuchen können. In seinen Augen, das wusste Isenhart, mussten sie als verdächtig erscheinen. Ein Wunder, dass er ihnen nicht einfach die Tür vor der Nase zuschlug. Also traten sie näher, bis der warme Lichtschein, zu dessen Quelle ihre zitternden Leiber sich sehnten, über ihre Gesichter strich, sie aus den Grautönen der Nacht riss und ihnen Farbe und Kontur verlieh.

»Wir haben die beiden Pferde gesehen«, sagte Isenhart, »wir hatten gehofft, Ihr betreibt eine Herberge.«

Der Mann, er trug eine schmutzige Hose und ein hellgraues, sehr sauberes Hemd, seine nackten Füße standen auf dem geklopften Lehm, der den Boden bildete, verfiel erneut in Regungslosigkeit. »Wir haben nur ein Fremdenzimmer«, brachte er endlich hervor, »und in dem liegen schon zwei Kaufleute. Ihr müsstet mit der Scheune vorliebnehmen.«

Dabei öffnete er die Tür etwas weiter, sodass sich den vieren ein Blick in den Innenraum bot. Ein Schankbrett, zwei Tische, eine Eckbank am Kamin, nichts Außergewöhnliches, aber da sie am ganzen Leib zitterten, erschien es ihnen von überirdischer Behaglichkeit. Der Wirt, um den es sich wohl handelte, deutete mit einer Kopfbewegung nach links zu einem ans Haupthaus angrenzenden Bretterverhau. Sie folgten seinem Blick. Der Verhau verfügte über ein Dach, sie würden es trocken haben und durch die Seitenwände gegen Wind geschützt sein. Einem Lager unter freiem Himmel war dies allemal vorzuziehen.

»Die Scheune reicht uns«, artikulierte Konrad ihre Gedanken. »Wir haben Hunger.«

Der Mann musterte sie noch einmal, als könne er auf diese Weise ihre wahren Absichten offenlegen. Schließlich gab er sich einen Ruck. »Ich bin Anselm«, stellte er sich vor und trat im gleichen Atemzug zurück, um ihnen Eintritt zu gewähren.

Konrad steuerte sogleich auf die Eckbank neben dem Kamin zu, und nachdem Günther als Letzter das Wirtshaus betreten hatte, schloss Anselm die Tür und verriegelte sie mit einem massiven Querbalken. Weil die anderen dasselbe Bedürfnis hatten, saßen sie im Nu dicht gedrängt vor dem Feuer.

Anselm rührte mit einem starken Zweig in einem Kessel über der Feuerstelle. Konrad erhob sich und warf einen Blick hinein. Der Stock zog eine Schneise durch eine bräunliche Masse. Aus dem Gefäß dampfte ein erdiger Geruch.

»Was ist das?«, fragte Konrad.

»Buchweizengrütze«, erwiderte Anselm.

Die Begeisterung, die Konrad vor wenigen Augenblicken noch bei der Aussicht auf eine warme Mahlzeit empfunden hatte, verflüchtigte sich.

»Habt Ihr zufällig auch Fleisch?«, fragte Henning.

»Nur die Grütze. Und leicht schimmliges Brot – der Regen«, fügte Anselm erklärend hinzu.

Auf dem Schankbrett brannte eine Öllampe, auf dem Tisch, an dem sie saßen, eine Talgkerze. Zusammen mit dem Ofenfeuer bildeten sie die einzigen Lichtquellen im Raum, der zwar sehr düster war, aber auch wohlig wirkte. Geborgen. Der Regen, der stetig gegen die Außenwand und das Dach fiel – an zwei Stellen war es undicht –, erzeugte ein leises Trommeln, das sich sanft über den Raum legte und alles einzuhüllen schien.

»Petrissa, Sibille! Kundschaft!«

Zwei junge Frauen in schmutzigen Nachthemden, dünnen, von Motten zerfressenen löchrigen Decken um die Schultern und Hüften geworfen, kamen aus dem Nebenraum, offenbar hatten sie bereits geschlafen. Trotz des Dämmerlichts blinzelten sie, als träfe sie der helle Sonnenschein.

Petrissa war vielleicht fünfzehn, sie war groß für ihr Alter, ihr Haar war dunkel, und als ihr und Konrads Blick sich kreuzten, lächelte der Stammhalter des Hauses Laurin. Sibille folgte ihr, der Busen, der sich unter ihrem Stoff abzeichnete, war noch flach. Isenhart schätzte sie auf dreizehn. Gott war es ein Wohlgefallen gewesen, auf ihrer Nase Sommersprossen wachsen zu lassen, was er freilich erst erkannte, als die Schwestern sie mit Bier in Holzkrügen versorgten.

Die Mädchen beäugten sie mit unverhohlener Neugier, wobei Petrissa immer dann, wenn sie Konrad ansah, sein frivoles Grinsen erwiderte. Anselm nahm davon zwar Kenntnis, aber offensichtlich war er das schon gewohnt, denn er ließ sich mit keiner Silbe darüber aus.

Als er ihnen die Buchweizengrütze in kleinen Holzschalen reichte, nahm Petrissa ungefragt neben Konrad Platz und nippte von seinem Bier. Ihre Schwester holte sich einen Schemel, auf dem sie an der Kopfseite des Tisches Platz nahm.

Die vier Männer hatten selten etwas Schlechteres gegessen, aber die Strapazen des Tages ließen sie kräftig zulangen.

»Züchtigt sie, wenn sie Euch belästigen. Ich muss noch Wein panschen«, ließ Anselm sie wissen, bevor er sich anschickte, im Nebenraum zu verschwinden.

Da klopfte es an der Tür, an die Anselm trat. »Wer da?«

»Wir sind’s!«

»Meine Söhne«, sagte Anselm zu den Besuchern und schob den Querbalken beiseite, um die Tür zu öffnen. Zwei junge Männer, beide um die zwanzig, traten ein, sie waren ebenfalls vom Regen durchnässt.

»Ludolf und Huste«, stellte Anselm sie seinen Besuchern vor.

Die beiden setzten Reisende über den Rhein, wie sie erfuhren. Von dem, was die Herberge abwarf, stellte Anselm klar, konnten sie nicht leben. Ihre einzige Alternative bestand darin, gen Mannenheim zu ziehen und Fischer zu werden. Aber das Haus hatte schon seinen Eltern gehört, und er wollte es nicht aufgeben.

»Schmeckt Euch das Bier?«, fragte Petrissa in die Runde, während ihre Augen allein Konrad galten.

»Ausgezeichnet«, antwortete der und nahm demonstrativ einen tiefen Schluck aus seinem Humpen.

Petrissa und Sibille strahlten. »Wir haben es selbst gebraut«, verriet Sibille.

Konrad setzte den Humpen wieder ab und sah von der einen zur anderen. »Alleine dafür müsste ich euch beide ehelichen«, verkündete er.

Die Mädchen kicherten.

Isenharts Blick fiel wieder auf die Wölbung von Sibilles Brust, über der der Stoff sich spannte. Das, was er als junger Mann bei Anna entdeckt hatte, das, was seine Welt ins Wanken gebracht und jede Logik außer Kraft gesetzt hatte, dieser Anblick entführte seinen Geist nun nicht in eine Welt, deren Gesetze ihm fremd waren, sondern auf einen einzigen Punkt, der keineswegs neu war. »Das Herz ist der Schlüssel«, sagte er ruhig und bestimmt.

»O ja«, stimmte Petrissa zu und blickte Konrad tief in die Augen, während ihre Hand sich auf seinen Oberschenkel legte. Konrad ermutigte sie mit einem Lächeln, es nicht dabei zu belassen.

»Niemand«, fuhr Isenhart fort, »tötet ohne Grund. Niemand steht morgens auf und sagt sich: Heute werde ich jemanden töten. Einfach so. Es gibt immer einen Grund. Aus Hass. Eifersucht. Aus Lust und aus Habgier. Aber nichts von alledem hat das Herz zum Ziel. Er tötet nur aus einem Grund: Er will das Herz. Wozu?«

»Vielleicht isst er es«, sagte Petrissa leichthin. Und war erschrocken von dem Ernst, der in den Blicken lag, die man ihr zuwarf.

»Wie kommst du darauf?«, fragte Günther von der Braake interessiert.

Ihr Vater kam mit seinen Söhnen und frisch nachgeschenkten Bierkrügen an den Tisch, um sich zu den Gästen zu gesellen, so verlangte es die Gastfreundschaft.

»Wie kommst du darauf, dass er sie isst?«, wiederholte Günther seine Frage.

»Ich … es war nur – ich dachte, Ihr redet von Michael von Bremen.«

»Das tun wir«, bestätigte Henning von der Braake.

»Du kennst ihn?«, fragte Konrad. Petrissa sah ihn an, ein schöner junger Mann, dem sie nur zu gern zu Gefallen war. Sie nickte.

»Hin und wieder macht er hier halt«, bestätigte ihr Bruder Huste.

»Aber wir setzen ihn nicht mehr über, es gibt jedes Mal Streit um den Preis«, fügte Ludolf hinzu, »deswegen nimmt er die Furt weiter im Süden.«

»Was hat er am Preis auszusetzen?«, fragte Konrad.

Huste wollte schon antworten, aber Isenhart kam ihm zuvor: »Wieso sollte er Herzen essen?«

»Erinnert Ihr Euch an 1191? An den Winter nach den Missernten?«, fragte Anselm mit bedrückter Miene. Sie nickten.

Petrissa verzog das Gesicht und ergriff gleichzeitig Konrads Hand. »Jetzt wird es eklig«, sagte sie und erhob sich, ohne ihn dabei loszulassen. »Kommt«, sagte sie nur und lächelte ihn an.

Konrad zögerte kurz, was seine Ursache nicht in der Anwesenheit der anderen hatte, sondern in Marie, die in Heiligster auf ihn wartete. Andererseits war Petrissa ein schönes Kind. Und was war schon dabei, wenn er sich etwas Entspannung gönnte? Schließlich hatte er nicht vor, sie zu ehelichen. Also stand er auf. Sibille lächelte ihn an. Auch sie war einen zweiten und dritten Blick wert, deshalb nickte er ihr zu. Und zu dritt verließen sie den Schankraum und verschwanden nach nebenan. Die anderen sahen ihnen nicht einmal nach.

»Was war 1191?«, nahm Isenhart den Faden wieder auf.

»Die große Hungersnot«, antwortete Anselm, »viele starben damals. Michael von Bremen war durch die Schneemassen auf seiner Burg in Tarup abgeschnitten, es gab kein Durchkommen. Und über sein Gesinde kam der gemeine Sterb.«

»Erst ging das Korn aus«, sagte Huste.

»Dann das Vieh«, führte Ludolf fort.

»Sie aßen Baumrinde«, sagte ihr Vater, »sie kauten an Tierhäuten, und zuletzt kratzten sie das Moos von den Mauersteinen.«

»Selbst das Stroh haben sie gefressen«, ergänzte Ludolf.

»Und als sie nichts mehr hatten, da bedienten sie sich an den Toten. Der Winter war hart, die Leiber auch, sie erhitzten sie in einem großen Trog, eine Suppe aus Menschen, denen sie das Fleisch von den Knochen kochten.«

Hennings Magen rührte sich, er musste schlucken. Anselm und seinen Söhnen entging das nicht, Anselm lächelte schief. Es war seine Lieblingsgeschichte.

Isenhart verdrängte sein aufkeimendes Unwohlsein: Auch Barbarossas Sohn Friedrich ließ seinem Vater das Fleisch von den Knochen lösen, nachdem sich herausgestellt hatte, dass die Konservierung in Essig nicht ausreichend war, um ihn in Jerusalem beerdigen zu können. Deshalb wurden die Eingeweide und das Herz in Tarsos zur letzten Ruhe gebettet, die Gebeine in Tyros und sein Fleisch in der Peterskirche zu Antiochia.

Trotzdem erhob sich vor seinem geistigen Auge das Bild von nackten, ausgemergelten Leibern, die allesamt mit ihren kurzen und langen Haaren, mit ihren ineinander verschlungenen Extremitäten sanfte Kreise in einer Brühe zogen, aus der hin und wieder ihre toten Augen starrten.

»Das Herz«, erinnerte Günther von der Braake den Herbergsvater.

Das Lächeln schwand aus dem Gesicht des Gastgebers, ganz offensichtlich waren seine Gäste keine Freunde der Erzählkunst. »Michael von Bremen hat die Herzen gegessen, weil niemand sonst sie angerührt hat.«

»Man isst kein Herz«, sagte Huste.

»Es war einer unter ihnen, den ich gekannt habe«, fuhr Anselm fort, »so groß, dass er sich bücken musste, wenn er hier einkehrte, Arme so dick wie Beine. Er war in der Nacht erfroren, und Michael von Bremen schnitt ihm das Herz heraus, bevor er den anderen seinen Körper überließ. Er verzehrte das Herz, als es noch lauwarm war. Und danach geschah etwas Merkwürdiges.«

Anselm legte eine Pause ein, denn was nun kam, war zweifellos der Höhepunkt der Geschichte. Die drei Augenpaare der Gäste waren gespannt auf ihn gerichtet.

»Danach konnte er so schnell laufen …«, begann Huste, aber Anselm züchtige ihn mit einem Schlag der flachen Hand ins Gesicht.

»Ich erzähle«, bestimmte er. Und Huste fügte sich.

»Also«, fuhr er fort, »danach geschah etwas Merkwürdiges.«

Mit einem Schlag wich das wonnige Gefühl, das Anselm beim Erschaudern der Gäste ob seiner Geschichten durchströmte, dem eigenen Erschaudern.

»Danach konnte er fast so schnell laufen wie ein Pferd. Und mit der bloßen Kraft seiner Arme und Hände hat Michael von Bremen ein Schwert verbogen. Nicht viel, ich will nicht übertreiben, aber doch etwas«, sagte Anselm und beugte sich mit konspirativer Miene vor, »versteht Ihr? Alles an ihm war kräftiger, nachdem er die Herzen gegessen hatte. Ist das nicht unheimlich?«

Anselms Enttäuschung darüber, dass lediglich der Schmale ein Nicken andeutete, erfuhr umgehend seine Erklärung.

»Im Heiligen Land gibt es einige Gelehrte, die glauben, man kann sich durch das Verspeisen des Herzens die Eigenschaften des Toten aneignen«, sagte Günther von der Braake. Er war keineswegs verängstigt, wie Isenhart mit einem Seitenblick feststellte. Vielmehr lag ehrliches Interesse in seinen Augen.

»Die Leute in Mannenheim sagen, Michael von Bremen steht mit dem Antichristen im Bunde«, bemerkte Ludolf. Alle bekreuzigten sich eilig.

»Und andere«, fügte Huste hinzu, »dass er damals starb wie alle anderen und er ein Draugr ist.«

»Jedenfalls setzen wir ihn nicht mehr über«, schloss Ludolf.

Isenhart lag schon neben Henning und Walther im Stroh der Scheune, als Konrad zu ihnen fand, sich die Pferdedecke überwarf und in dem Augenblick, in dem er das Stroh unter sich berührte, zu schnarchen begann.

Der Regen trommelte unermüdlich auf das Dach, hier und da tropfte er durch Löcher, aber der Wind hatte nachgelassen. Aus dem Wald erklang der Ruf eines Käuzchens, ansonsten war es still.

Henning und sein Vater schliefen, auch ihre Pferde hatten sich zur Ruhe gelegt.

Isenhart fragte sich, was Sophia wohl gerade tat. Er erinnerte sich an den Tag, an dem sie beide den Rhein überquert hatten. An ihr rotes Haar, das sich nicht zähmen ließ. An ihre wachen Augen, mit denen sie in die seinen blickte.

Sie ist Annas Schwester.

Anna – mit einer Portion Glück würde er schon morgen ihrem Mörder von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Was würde er wohl empfinden, wenn es so weit war? Und was für ein Mann war das wohl, dieser Michael von Bremen, von dem diese Schauergeschichten kursierten?

Über diesen Gedanken schloss er die Lider und überließ sich dem Schlaf, der als sanfte, dunkle Welle über ihn kam und ihn mit sich zog.

Später hätte er den Zeitpunkt, an dem er die Schwelle vom Schlaf zum Wachsein überschritt, nicht bestimmen können. Die Regenwolken waren weitergezogen und überließen dem Mond das Firmament. Da waren Gestalten, Umrisse nur, die sich in seinen Traum drängten, die sich wie ein Strom in die Scheune ergossen. Schatten. Wispernd und auf leisen Sohlen.

Eine der Gestalten beugte sich zu ihm herab, im Licht des Mondes blitzte eine Klinge auf.

Mit einem Schlag war er wach und konnte sich doch nicht rühren. Etwas wischte durch sein Blickfeld, und dann plumpste eine abgetrennte Hand, deren Finger noch immer den Dolch umklammerten, auf ihn herab.

Henning, der Huste die Hand vom Arm getrennt hatte, sprang mit dem Schwert in der Hand auf.

Huste brüllte vor Schmerz und presste den Stumpf, aus dem ihm das Blut stob, gegen die eigene Brust.

»Tötet sie!«, rief eine Stimme, die Isenhart bekannt war. Sie gehörte dem Herbergsvater.

Henning wehrte einen Angreifer ab, und sein Vater, Isenhart sah es im Spiel von Licht und Schatten, schleuderte mit der Rechten einen Dolch, der den Mann im Rücken seines Sohnes in den Hals traf. Isenhart griff nach seinem Schwert und rollte sich zurück, während er sah, wie Konrad sich mit einem Angreifer über den Boden wälzte.

»Vater, ich sterbe!«, rief Huste, und das Entsetzen darüber trieb seine Stimme in ungeahnte Höhen.

Sibille sprang Isenhart von hinten an, klammerte sich an ihn und biss ihm mit aller Kraft in den Nacken. Er ließ das Schwert fallen und drehte sich im Kreis, aber die Wirtstochter war nicht abzuwerfen.

Es mochten sieben, acht Angreifer sein, die über sie herfielen. Henning und Günther hatten – Folge ihrer Erfahrung aus den jahrelangen Reisen – ohne ein Wort sofort eine Position eingenommen, in der sie mit ihren Rücken eng zueinander standen, was sie in die Lage versetzte, jeden Angriff kommen zu sehen – und abzuwehren. Damit zogen sie die meisten Gegner auf sich.

Konrad packte seinen Feind am Kinn und am Schopf, während dieser ihn würgte. Der junge Laurin legte alle Kraft in die entgegengesetzte Richtung seiner Handbewegungen. Das Kinn stieß er von sich, den Nacken des Angreifers riss er zu sich hin. Ein dumpfes Knacken ertönte, und im selben Augenblick erschlaffte der Griff des Mannes. Gerade rechtzeitig, weil es Konrad Gelegenheit gab, der Schneide der Axt auszuweichen, die auf ihn niederfuhr. Er rollte zur Seite, ergriff im Hochfedern einen faustgroßen Stein, preschte in die erneute Ausholbewegung des zweiten Angreifers und schlug ihm vier-, fünfmal das Gestein ins Gesicht, bis das Nasenbein mit einem Knirschen nachgab und der Mann zu Boden stürzte.

Zur selben Zeit warf Isenhart sich nach vorne, rollte sich am Boden ab, was Sibille dazu zwang, ihn loszulassen. Ludolf, der im Zweikampf mit Henning lag, konnte diesen am Bein verletzen. Petrissa wollte sich auf ihn stürzen, aber Günther rammte ihr den Ellbogen zwischen die Augen, sodass sie zurücktaumelte, während Konrad dem fliehenden Angreifer dessen eigene Axt mit aller Kraft zwischen die Schulterblätter trieb.

Isenhart sprang Henning zur Seite, sodass sie nun zu dritt ihre Rücken deckten. Konrad war außer sich vor Wut. Jegliche Vorsicht fahren lassend warf er sich mit der Axt ins Getümmel.

Mit dieser ebenso soliden wie beherzten Abwehr hatten ihre Gegner offensichtlich nicht gerechnet. Und als der Erste davonlief, ergriffen auch die anderen die Flucht.

Der letzte Mann war Anselm selbst, dem Konrad nachsetzte. Vor dem Scheunentor holte er ihn ein und schlug dem Wirt die Axt mit solcher Wucht ins Schienbein, dass er das Blatt nicht mehr herausziehen konnte. Er mühte sich zwar ab, aber die Axt stak so fest, dass er den vor Schmerzen brüllenden Mann hinter sich herschleifte. Außer Atem ließ Konrad von Laurin den Axtstiel los. »Nicht weglaufen«, wies er Anselm an und stapfte in die Scheune, um nach seinem Schwert zu sehen und die Sache auf diese Weise zu beenden.

Henning humpelte mit Isenhart und seinem Vater hinaus. Jederzeit eine neue Attacke erwartend, sahen sie sich um. Schwerer Eisengeruch vermengte sich mit dem der Erde, den der Regen zutage befördert hatte.

Konrad kehrte mit seinem Schwert zurück, mit dem er zum tödlichen Streich ausholte.

Isenhart hob den Arm: »Nicht, Konrad.«

Der hielt verdutzt inne, während Anselm sich nun selbst mühte, die Axt aus seinem Schienbein zu entfernen, ein Unterfangen, dem auch kein Glück beschieden war.

»Diese Schlangenbrut wollte uns ermorden!«

»Ich weiß«, erwiderte Isenhart, der sich trotz seines wild pochenden Herzens zur Ruhe zwang.

Er richtete den Blick auf Anselm, der ihn in einer Mischung aus Todesangst und Trotz erwiderte. »Handelst du im Auftrag von Michael von Bremen?«

»Nein«, brachte Anselm unter Schmerzen hervor, der von dieser Frage sichtlich überrascht war, »die Fährarbeit wirft nicht genug ab, und der Zehnte macht uns arm.«

»Ich kann schwerlich meine Tränen zurückhalten«, erwiderte Konrad, dessen Stimme vor Wut rau war, »wo finden wir den Rest von deinem Geschmeiß?«

Täuschte Isenhart sich, oder erhaschte er ein schadenfrohes Funkeln in den Augen des Mannes am Boden?

»Die müsst ihr nicht suchen. Die holen die anderen, und dann finden sie Euch.«

Die Worte verfehlten – bis auf Konrad – ihre Wirkung nicht. Unwillkürlich hoben sie den Blick und mühten sich, in der Dunkelheit Gestalten auszumachen.

»Gut«, sagte Konrad grimmig, »dann warten wir.«

»Das tun wir nicht«, entgegnete Günther von Braake bestimmt, »wir satteln die Pferde und verschwinden von hier. Kannst du reiten?«

Henning, der die Hand auf seine Beinwunde gepresst hielt, nickte.

Isenhart war erleichtert über Günthers Widerworte, denn er war einem weiteren Kampf überhaupt nicht geneigt. Zum einen würden sie es mit einer Überzahl aufnehmen müssen, und zum anderen – das war weitaus wichtiger – wollte er nicht kurz vor dem Ziel, kurz vor dem Zusammentreffen mit Michael von Bremen, von einer Horde Totschläger daran gehindert werden, Annas Mörder zu stellen.

Sein Blick fiel auf die beiden Pferde an der Tränke. »Die Kaufleute«, sagte er nur.

Henning nickte ihm zu: »Wir satteln so lange die Pferde, spute dich.«

Isenhart war einverstanden, aber er richtete das Wort noch einmal an Anselm: »Die Geschichte über Michael von Bremen – ist sie wahr?«

Anselm musterte ihn irritiert. Wie kam der Schmale ausgerechnet jetzt auf so eine Frage?

»Ja oder nein?«, drängte Konrad und trat leicht gegen den Stiel der Axt.

»Ja«, brachte Anselm mit einem Stöhnen über die Lippen.

Isenhart näherte sich mit aller gebotenen Vorsicht dem Gasthaus, und es war ihm innere Aufrichtung, als er Augenblicke später Konrad neben sich bemerkte. Wie erhofft war der Schankraum leer. Eine knarzende Stiege führte hinauf zu zwei Räumen, deren Türen geschlossen waren. Ohne mit dem Türeisen anzuschlagen traten sie in den ersten ein. Konrad hatte die Öllampe mitgenommen und hielt sie hinein. Die Kaufleute lagen auf einem Strohlager, beide zur Hälfte entkleidet und tot.

Dabei also hatten sie Anselm und seine Söhne bei ihrer Ankunft gestört. Huste und Ludolf hatten die Hintertür benutzt, um dann durch den vorderen Eingang zu spazieren und vorzugeben, soeben von der Fähre gekommen zu sein.

Isenhart nahm Konrad die Lampe ab und öffnete vorsichtig die andere Tür. Im sanft tanzenden Licht des brennenden Öls entdeckte er zuerst Schuhpaare, ganze neunzehn an der Zahl. Daneben eine Kiste mit Dolchen, Steigbügeln und Gürteln. Wämser, Hemden, Beinkleider und Hüte lagen zu einem Haufen aufgeschichtet in einer Ecke.

»Was für eine Mördergrube«, stellte Konrad fest.

Isenhart nickte. Um ein Haar wären es dreiundzwanzig Schuhpaare gewesen.

Damit keiner auf die Idee kam, ihnen zu folgen, führten sie die Pferde der ermordeten Kaufleute mit sich, und obschon ihre eigenen Pferde Schwierigkeiten mit dem bald knietiefen Matsch hatten, trieben sie sie voran.

Als Isenhart sich noch einmal über die Schulter blickte, loderten Flammen zwanzig Fuß hoch in die Nacht.

»Mir ist die Lampe ins Stroh gefallen«, erklärte Konrad belustigt.