Dreissig

Ich rollte mich nach rechts ab, um aus der Gefahrenzone herauszukommen. Die Kerze hatte nicht hell gebrannt, doch es würde einen Moment dauern, bis meine Augen auf Nachtsichtigkeit umschalteten. In der Zwischenzeit wollte ich nicht wehrlos den Todesstoß erwarten.

Mein Plan stand unter dem Vorbehalt, dass sich meine Augen umstellen würden. Mein Stiefvater hatte das Ritual vor fast zwanzig Jahren vollzogen, und Jelem war sich nicht sicher gewesen, ob ein so alter Glimmer der Wirkung der Kerze standhalten würde. Ich ging dabei ein hohes Risiko ein.

Im Dunkeln bewegte ich mich noch zwei Schritte weiter nach rechts, zog leise das Schwert und wartete. Vor mir hörte ich Schatten halblaut vor sich hinmurmeln. Dann nahm ich eine Bewegung wahr – ein bernsteinfarbener Schemen in einigen Metern Abstand, als würde eine Hand durch die Luft fahren. Die Bewegung wiederholte sich. Und dann nahm ich die ganze Kapuzengestalt wahr, die in geduckter Haltung in der Dunkelheit gestikulierte. Das Buch lag zu Schattens Füßen, einstweilen vergessen.

Vor Schatten war nichts als leerer Raum: kein Leichter, keine magische Energie, keine Bedrohung. Ich schlich ein Stück weiter nach rechts, um einen Bogen zu schlagen, da fasste Schatten sich an den Gürtel und warf ein paar Geldmünzen auf den Boden. Sie klimperten hell, schmolzen und brannten aber nicht, wie sie es im Zweikampf mit Degan getan hatten.

Schatten war nicht dumm. Als er feststellte, dass ihn sein tragbarer Glimmer im Stich ließ, drehte er sich um und lief zur Tür. Ich konnte es ihm nicht verdenken; hätte ich mich zusammen mit einem Mann, der das Licht gelöscht hatte, in einem dunklen Raum befunden, hätte ich ebenfalls nach draußen gewollt. Wer so etwas tut, verfolgt einen Plan.

Mit einem Armschlenker ließ ich das Messer aus der Scheide in meine Hand gleiten und schleuderte es. Ich verzichtete bewusst darauf, auf Schatten zu zielen – es war dunkel, er war in Bewegung, und ich hatte den Wurf mit der Linken ausgeführt. Die Aussicht, auch nur den Saum seines Umhangs zu treffen, war verschwindend gering. Aber ich konnte das Messer so fest gegen die Wand schleudern, dass es mit einem lauten Klirren dagegenprallte und mit neuerlichem Scheppern auf den Boden fiel.

Schatten kam unvermittelt zum Stehen. Im nächsten Moment zog er das Schwert und schwenkte es im Bogen vor, hinter und neben sich. Als er nicht angegriffen wurde, wich er langsam zurück, immer zwei Schritte auf einmal.

»Es war die Kerze, hab ich recht?«, sagte er ins Leere. »Die lähmt die Magie.« Die Kapuze schwenkte suchend nach allen Seiten. Abermals fuhr er mit der Linken durch die Luft. Nichts geschah. »Und dass es dunkel wurde, war wohl auch kein Zufall. Ich nehme an, du kannst mich sehen?«

Ich schwieg und näherte mich ihm schräg von hinten.

Schatten schwenkte die Klinge und änderte die Richtung. Ein weiterer Hieb, eine andere Richtung, dann zwei Schritte, mehrere Hiebe, die pfeifend die Luft durchteilten, dann ein Sprung zur Seite und ein rascher Stoß quer zum Körper.

Ich konnte nicht erkennen, ob es sich um einen einstudierten Handlungsablauf handelte oder um wahllose Konter, aber wie auch immer, er und sein Schwert waren ständig in unvorhersehbarer Bewegung. Er bemühte sich nach Kräften, eine undurchdringliche stählerne Deckung um sich herum aufzubauen, die ich erst einmal durchbrechen musste, wenn ich die Sache schnell zu Ende bringen wollte.

Ich bückte mich und zog den Dolch aus dem Stiefelschaft. So gern ich ihn mit einem einzigen Stoß erledigt hätte, wusste ich doch, dass dies nicht immer möglich ist. Schwerter wie meines können ebenso leicht verwunden wie töten, doch wenn man jemandem mit dem Dolch genügend nahe kommt, schnellt die Wahrscheinlichkeit, dass man seinen Gegner ins Jenseits befördert, gewaltig in die Höhe – zumal wenn der Betreffende nichts sehen kann.

Ich senkte die Schwertspitze fast bis auf den Boden und setzte mich in Bewegung.

Schatten wandte sich nach links und versuchte, eine Wand zu erreichen. Sein Schwert war immer noch in Bewegung, seine Finger tanzten durch die Luft. Ich rückte näher an ihn heran, bis ich ihn mit zwei Schritten hätte erreichen können.

»Setzt du deine Nachtsichtigkeit ein?«, fragte er, das Schwert im Kreis schwenkend.

Ich erstarrte. Er hatte mir das Gesicht direkt zugewandt. Dann drehte er den Kopf weg. Ich atmete behutsam aus.

»Ich habe natürlich schon davon gehört«, sagte Schatten, »aber bis jetzt bin ich noch niemandem begegnet, der diese Gabe tatsächlich besitzt.« Seine Kapuze schüttelte sich. »Wenn ich das gewusst hätte … Ich hätte dich gut gebrauchen können.«

Ich richtete mich auf. »Benutzt hast du mich auch so«, sagte ich. Dann ging ich in die Hocke.

Schatten schlug nach der Stelle, aus der meine Stimme gekommen war. Er war gut; trotz meiner geduckten Haltung spürte ich den Luftzug seiner Klinge, woraus ich schloss, dass er auf meinen Oberkörper gezielt hatte, nicht auf meinen Kopf – je größer das Ziel, desto besser die Aussichten auf einen Treffer.

Ich tat es ihm nach, richtete den Hieb aber von Bodennähe aus nach oben, direkt auf seine Rippen. Meine Klinge traf auf Widerstand, blieb stecken und … bog sich?

Der Aufprall pflanzte sich durchs ganze Schwert fort, ich hörte ein metallisches Knirschen, als ich die Klinge so heftig drehte, dass es ihm normalerweise die Innereien zerlegt hätte, bekam aber nur den Stoff seines Wamses zu fassen. Schatten ächzte, brach aber nicht zusammen und blutete auch nicht.

Ein Panzer. Offenbar trug er unter der Kleidung ein Kettenhemd.

Dieser Mistkerl.

Ich drückte die Schwertspitze tiefer in Schattens Panzer hinein und stieß mit dem Dolch nach seinem Bein. Wir trafen gleichzeitig – mein Dolch sein Bein, sein Schwert meine Klinge. Es lief für uns beide nicht so gut. Ich brachte ihm zwar eine unappetitliche Wunde über dem Stiefelschaft bei, doch Schatten hatte so fest zugeschlagen, dass mein Schwert entzweibrach. Ich hatte gehofft, die Wucht seines Hiebes würde ausreichen, meine Schwertspitze wie einen Nagel durch seine Rüstung zu treiben, doch stattdessen hatte ich es ihm ermöglicht, meine Klinge zu zerbrechen.

Zur Hölle mit Schatten und dessen Schwarzinselstahl.

Ich sprang zurück, entging nur knapp einem blindlings geführten Folgehieb, und brachte mich in Sicherheit.

»Netter Versuch«, sagte Schatten. Er klang angestrengter als eben noch. »Zum Glück bin ich nicht der vertrauensselige Typ.«

»Meinst du dein Kettenhemd?«, sagte ich und schlich zurück zu meiner Tasche. »Dann muss ich dich eben stückweise auseinandernehmen, und am Rand fange ich an.« Ich schleuderte meinen Schwertstumpf nach rechts, wo er geräuschvoll auf den Boden fiel.

Schattens Kapuze schwenkte herum, dann kam er näher. Er ließ die Finger seiner Linken tanzen. Mir fiel auf, dass er sein linkes Bein schonte.

»Glaubst du wirklich?« Seine Klinge durchschnitt die Luft, baute den tödlichen Schutzkreis auf. »Wenn man bedenkt, dass du soeben dein Schwert an jemanden verloren hast, der im Dunkeln blind ist, würde ich sagen, du hast dich ins eigene Fleisch geschnitten.«

Ich grinste böse, kniete neben der Tasche nieder und langte hinein. »Du hast Glück gehabt«, sagte ich und schloss die Hand um den Griff von Eisen Degans Schwert. Ich zog es leise hervor und richtete mich auf, wog die Waffe in der Hand. Sie war schwerer, als ich es gewohnt war, besser geeignet für Hiebe als für Stöße, die Klinge leicht gebogen, doch ich würde damit zurechtkommen. »Ich glaube, ein Dolch genügt mir, um dir beizukommen«, sagte ich. »Jedenfalls im Dunkeln.«

Lächelnd wandte ich mich Schatten zu und trat einen Schritt vor. Dann verflüchtigte sich mein Lächeln.

Da. Lichtfunken an seinen Fingerspitzen, so schwach, dass ich sie selbst mit meinen nachtsichtigen Augen kaum wahrnahm.

Ich blinzelte. War es Einbildung gewesen? Und wenn nicht, hatte er die Funken bemerkt?

Schatten bewegte langsam und bedächtig die Finger. Ein Lichtschimmer wanderte daran entlang und erlosch. Schatten lachte, leise und grollend.

Er hatte es bemerkt.

Die Magie wurde wieder wirksam.

Jelem hatte mir nicht sagen können, wie lange die Wirkung der Kerze anhalten würde. Das hing davon ab, wie lange sie brannte und wie viel magische Energie sie verzehrte. Je länger, desto besser. Ich hatte gehofft, ich würde sie mindestens drei Stunden lang nutzen können, doch wegen Schattens vorzeitigem Erscheinen hatte sie kaum eine Stunde lang gebrannt. Was anscheinend knapp fünf Minuten Wirkung entsprach.

Ich sprang vor, Eisens Schwert hochgereckt, die Hand mit dem Dolch gesenkt, und stürmte ihm entgegen. Es hatte keinen Sinn mehr, leise zu sein – keine Messer im Dunkeln mehr, kein Umkreisen und kein Warten auf den günstigsten Moment, kein Versuch mehr, den Mistkerl zum Schwitzen zu bringen, wie er es verdient hatte. Jetzt ging es nur noch darum, ihn zu erledigen, bevor die Magie vollständig wiederhergestellt wurde. Wenn ich schnell genug war, hatte ich eine Chance – schließlich wirkte sich die Dunkelheit noch immer zu meinem Vorteil aus; wenn nicht, nun, wie gesagt, ich wusste, wie der Schuft zu kämpfen verstand.

Ich war noch drei Schritte von Schatten entfernt, als das Feuer in seiner Hand aufloderte. Mir sank der Mut, und das helle Licht blendete mich, doch ich rannte ihm weiter entgegen, aus vollem Halse brüllend.

Ich weiß nicht, war es mein Gebrüll oder der Umstand, dass ich mich praktisch auf ihn warf, doch auf einmal taumelte Schatten zurück. Das war gut, denn die peitschenartige Flammenzunge, die von seiner Hand ausging, fuhr über meine linke Schulter hinweg, anstatt mich direkt im Gesicht zu treffen. Schlecht dabei war, dass ich die Hitze am Ohr und an der Wange zu spüren bekam.

Ich zuckte zusammen, und das reichte, um meinen Hieb abzulenken. Anstatt ihn am Halsansatz zu treffen, ließ ich die schwere Waffe sinken, sodass sie auf einmal auf sein linkes Bein zielte. Schatten blockte sie mit seiner Klinge und nutzte den Schwung, um meine Schwertspitze herumzudrücken und seinerseits zu einem Hieb anzusetzen.

Ich blieb an ihm dran, um ihm keinen Raum zum Ausholen zu geben, stach mit dem Dolch zu, immer wieder, schräg von unten. Dass ich den Kettenpanzer traf, war mir egal, ich wollte nur an ihm dranbleiben, wo mir meine geringe Körpergröße und der Dolch zum Vorteil gereichten. Auch wenn es mir nicht gelang, einzelne Kettenglieder zu durchtrennen, waren die Treffer doch schmerzhaft für ihn. Mit etwas Glück würde es mir gelingen, ihm ein paar Rippen zu brechen oder irgendwas zum Platzen zu bringen.

Schatten drehte sich um die eigene Achse, versuchte meiner Attacke zu folgen. Ich spürte, wie mich sein Schwertknauf im Rücken traf, doch der Winkel war für ihn ungünstig, sodass keine große Kraft hinter dem Schlag lag. Ich setzte ihm noch heftiger nach und variierte meine Dolchhiebe – tief angesetzt, hoch, dann wieder seitlich –, damit er mit der freien Hand nicht meinen Arm packen konnte. Wenn es mir gelang, mit der Klinge unter seinen Arm zu kommen oder ihn seitlich am Kopf zu treffen …

Dann sah ich, wie seine Linke hochkam und vor meinem Gesicht vorbeifuhr, wie zuvor.

Ich drehte mich weg und ließ von ihm ab. Im nächsten Moment warf ein heller Lichtblitz meinen Schatten vor mir auf den Boden.

Ich verspürte ein Brennen – in den Augen, nicht im Gesicht –, und taumelte vorwärts. Es war nicht annähernd so schlimm wie in der Gasse; ich konnte den Boden und meine Hand erkennen, während alles andere zu wabern schien. Bernsteinfarbenes Licht erfüllte den Raum und überzog alles mit einem Wellenmuster. Es sah beinahe so aus, als ob …

Oh.

Ich schaute hoch. Die hintere Wand brannte. Schattens Stichflamme hatte das Holz, den Mörtel und den Putz in Brand gesetzt. Das Feuer war noch kein brüllendes Inferno, aber der raschen Ausbreitung nach zu schließen fehlte dazu nicht mehr viel.

Ich fuhr herum. Schatten war etwa zehn Schritte von mir entfernt. Er stand leicht vorgebeugt, den linken Unterarm drückte er sich an die Seite. Das Schwert hielt er schlagbereit in der Rechten; in seiner Linken, etwa in Brusthöhe, funkelten Münzen.

»Schluss mit der Dunkelheit, Drothe«, sagte er im unsteten, heller werdenden Feuerschein. »Keine Glimmerkerzen mehr.« Langsam richtete er sich auf und drückte die Schultern durch. »Jetzt bin ich dran.«

Ich rannte los, nicht zum Ausgang, sondern zu der Decke, die ich als Polster benutzt hatte. Wie es aussah, würde nur einer von uns beiden den Raum lebend verlassen; wenn ich zur Tür lief, würde ich mir am Rücken nur einen Schwerthieb – oder etwas noch Schlimmeres – einfangen.

Ich ließ den Dolch fallen und riss mit der Linken die Decke hoch. Drehte mich um die eigene Achse. Dem ersten heranfliegenden Metallklumpen konnte ich gerade noch ausweichen. Ich schüttelte die Decke aus und schwenkte sie zweimal durch die Luft, sodass sie sich um meine Hand und den Unterarm wickelte. Jetzt hingen mir ein paar Fuß Stoff vor dem Leib, die ich entweder als Schutzschild oder als Peitsche einsetzen konnte.

Ich fischte mit der Decke eine zweite geschmolzene Münze aus der Luft, dann eine dritte. Zwei weitere Münzen folgten, und dann kam Schatten.

Er spielte nicht mehr. Schatten griff mich nicht mit Überlegung und Anmut an und spielte auch nicht mit meiner Klinge oder bewarf mich mit Münzen, bis ich erschöpft und qualmend aufgab; er stürmte mir entgegen, das Schwert in seiner Hand ein feuriger Schemen. Ein Hieb gegen meinen Kopf und gleich der nächste, dann eine Attacke gegen meine Seite, gefolgt von einem Stoß und einem weiteren Hieb, alles in blitzschneller Folge. Die ersten beiden Schläge wehrte ich mit dem Schwert ab, den dritten fing ich mit der Decke auf, wich dem vierten mit knapper Not aus, und der letzte Hieb zischte drei Fingerbreit vor meinem Gesicht vorbei.

Ich antwortete mit einem Konter, doch Schatten wehrte ihn geradezu lässig ab und schleuderte eine Münze auf meinen Hals. Mir blieb keine Zeit mehr, die Decke hochzureißen, deshalb musste ich mit Kopf und Schultern ausweichen, so gut es ging.

An meiner Schulterkuppe flammte ein sengender Schmerz auf. Ich schrie auf und wich zurück.

Ich duckte mich noch mehr und hielt die Decke vor mich. Es war heller geworden, und ich meinte die Hitze des Feuers zu spüren, das die Wand hochkroch. Mein rechter Arm zitterte im unsteten Licht, vor Anspannung, aber auch vor Erschöpfung; ich war den Umgang mit Eisen Degans Schwert nicht gewohnt, und ein halbes Pfund Mehrgewicht macht schon einiges aus.

Wenn das noch lange so weiterging, würde ich meine Deckung nicht mehr aufrechterhalten können. Allerdings würden wir beide spätestens dann umkommen, wenn das Dach einstürzte, die Luft verbraucht war oder wir gebraten wurden. Keine dieser Möglichkeiten sagte mir zu, doch ich wusste nicht so recht, was ich tun sollte – zum Nachdenken ließ mir mein überlegener Gegner keine Zeit.

Dann schleuderte Schatten mir drei Münzen gleichzeitig entgegen, und auf einmal wusste ich genau, was zu tun war.

Drei Münzen, das bedeutete, ich konnte nicht ausweichen – jedenfalls nicht allen gleichzeitig; drei Münzen bedeuteten, ich wäre vollauf mit der Abwehr beschäftigt; drei Münzen hieß, dass Schatten jeden Moment angreifen würde, da er sich darauf verließ, dass die Wurfgeschosse ihm den Weg freiräumen würden.

Drei Münzen bedeuteten, ich konnte ihn packen – zumindest hoffte ich das.

Als die Münzen sich auffächerten und schmolzen, breitete ich die Decke aus und riss sie nach oben, fing die Münzen auf und lenkte sie nach links ab. Den linken Arm zog ich dabei ein und drehte mich zur Seite. Dann streckte ich das Schwert vor.

Ich hatte das Manöver Degan abgeschaut und auch selbst schon ein-, zweimal ausprobiert. Er sprach von einer Körpertäuschung; ich fand es verdammt raffiniert. Es ging darum, den Körper aus der Gefahrenzone zu bringen, während man sein Schwert in Position hielt und den Gegner hineinlaufen ließ, wenn er einem nachsetzte. Bei Degan hatte es ausgesehen wie hohe Kunst; was ich zustande brachte, glich eher der Krakelzeichnung eines Kindes. Trotzdem funktionierte es.

Jedenfalls für gewöhnlich.

Ich sah Schattens Klinge aufblitzen und spürte den Luftzug an der Stelle, die eben noch ich eingenommen hatte. Ich spürte sogar, wie mein Schwert auf Widerstand traf – dennoch stimmte etwas nicht.

Als ich auf die Klinge niedersah, wurde mir kalt ums Herz. Ich hatte Eisens Schwert zwar ausgestreckt, die Krümmung der Klinge aber nicht berücksichtigt. Eine gerade Klinge hätte den Grauen Prinzen mitten ins Gesicht getroffen. So aber fuhr der tödlich gemeinte Stoß an seinem Gesicht vorbei und drang seitlich aus der Kapuze aus. Beinahe hätte ich ihn an der Wange verletzt, so aber war es mir nicht einmal gelungen, den Angriff des Grauen Prinzen zu stoppen.

Ich zog das Schwert zurück, versuchte, den misslungenen Stoß in einen wilden Hieb abzuwandeln, doch Schatten riss die Linke hoch und packte meine Rechte. Dann verdrehte er sie mir.

Muskeln und Sehnen spannten sich an und wurden überdehnt. Ich krümmte mich zusammen, ging in die Knie, den Arm gerade nach vorn gestreckt. Ich spürte, wie mein Griff sich lockerte, wie Eisens Waffe mir entglitt. Sie fiel scheppernd auf den Boden. Dann traf mich etwas Hartes – Schattens Schwertgriff? Die Parierstange? – an der Schädelbasis.

Ich sank auf alle viere nieder. Im letzten Moment gab Schatten meinen Arm frei.

Ich vernahm ein lautes Tosen, doch es kam nur teilweise aus meinem Kopf. Ich sah mich um. Die hintere Wand stand vollständig in Flammen. Die Decke wurde von einer wogenden Qualmwolke verdeckt. Wenn sie nicht schon brannte, würde sie es bald tun.

Schatten hatte es entweder noch nicht bemerkt, oder es war ihm egal. Das Schwert hatte er vorgestreckt, die Spitze nur ein paar Fingerbreit von meinem Gesicht entfernt. Er hob die Linke und schob den Zeigefinger in das Loch in seiner Kapuze. Er lächelte. Sein Schwert schwankte nicht.

»Das war knapp«, sagte er. »Du hättest mein Angebot annehmen sollen.«

»Dann wäre ich am Ende dennoch tot.«

Schatten zuckte mit den Schultern. »Natürlich. Du wolltest mich kaltmachen – das muss geahndet werden. Wenigstens hätte es ein schnelles und faires Ende mit dir genommen. Aber so …« Schatten deutete auf die hinter mir lodernde Feuerwand. »Man sagt, der Qualm würde schneller töten als die Flammen. Wollen wir deinetwillen hoffen, dass das stimmt.« Er verlagerte das Schwert, bis es über meinem Rücken schwebte, dann holte er zum entscheidenden Hieb aus.

Wenigstens hätte er jetzt keinen Grund mehr, sich an Ana zu vergreifen. Das war immerhin ein Trost.

»Fahr zur Hölle«, sagte ich und wappnete mich innerlich gegen den Hieb.

Schattens Arm begann sich zu senken, als etwas aus der Dunkelheit des Raums herangeflogen kam und gegen seinen Hinterkopf prallte. Braune und beigefarbene Splitter flogen an seiner Kapuze vorbei. Schatten taumelte. Die Schwertspitze fuhr neben meinen Füßen in den Boden.

Ohne nachzudenken ließ ich meine Rechte vorschnellen und riss ihm den Beutel vom Gürtel. Schatten richtete sich auf und zog die Schwertspitze aus dem Boden. Er blickte zur Tür, dann sah er wieder mich an – da hatte ich den Kordelzug bereits mit den Zähnen aufgerissen und schleuderte den Inhalt des Beutels in seine Kapuze hinein.

Hoffentlich sind die Münzen nicht auf ihn eingestellt so wie der Strick auf mich, flehte ich lautlos die Engel an. Bitte macht, dass sie nicht auf ihn eingestellt sind.

Trotz des Tosens der Flammen hörte ich das Zischen der Münzen, gefolgt von einem klatschenden Geräusch, als das geschmolzene Metall Schatten mitten im Gesicht traf.

Der Graue Prinz brach brüllend zusammen und fasste sich an den Kopf. Ich ergriff Eisen Degans Schwert und richtete mich auf.

Als ich das Schwert in die Kapuze rammte, hörte Schatten auf, sich zu winden. Ich schaute hoch.

Im Eingang stand Degan. In der Rechten hielt er ein weiteres Tongefäß – offenbar hatte er irgendwo die Sachen eines Bewohners gefunden – und in der Linken sein Schwert aus getriebener Bronze.

Ich lachte schallend und hätte mich beinahe auf den Hintern gesetzt. Schon wieder hatte Degan mir das Leben gerettet. Nach allem, was ich getan hatte. Ich lachte noch heftiger.

Damit hatte ich nicht im Traum gerechnet.

War er mir gefolgt oder Schatten? Ein Teil von mir – der Teil, in dem mein Berufsstolz verankert war – hoffte, letztere Erklärung träfe zu, doch ich hatte da so meine Zweifel. Wenn jemand in der Lage war, mir unbemerkt zu folgen, dann Degan. Nicht dass es mich gestört hätte, nicht im geringsten.

Das Dach hatte inzwischen Feuer gefangen, und ein herabgestürzter Deckenbalken hatte den Raum unterteilt. Am weiter entfernten Ende war eine kleine Lücke, doch die an der Wand entlangwandernden Flammen würden die Stelle bald erreichen. Dann würde die Lücke entweder geschlossen werden oder wäre zu schmal, damit ich noch hindurchkommen konnte.

Ich setzte mich in Bewegung, da fiel mir Ioclaudias Tagebuch ein. Es lag auf meiner Seite des Raums in der Nähe des brennenden Balkens. Es kokelte, hatte aber noch nicht Feuer gefangen.

Degan blickte in die gleiche Richtung wie ich. Als ich ihn wieder ansah, schüttelte er den Kopf und ließ die Vase zu Boden fallen. Dann wandte er sich ab.

»Warte!«, rief ich.

Degan drehte sich wieder um. Der Qualm brannte mir bereits in den Augen. Degan straffte sich und führte das Schwert an die Lippen. Das hatte er auch im Klosterwinkel getan, als wir uns durch den Eid aneinander gebunden hatten. Diesmal aber sah er mir direkt in die Augen. Er blinzelte nicht, als er die Klinge küsste, auch dann nicht, als er sie im Feuerschein schwenkte und vor sich auf den Boden fallen ließ. Er erwiderte einfach nur meinen Blick. Dann wandte Degan sich ab und trat nach draußen.

Es war zu Ende: der Eid, unsere Freundschaft, sein Leben als Deganer. Das wusste ich mit letztgültiger Gewissheit. Er hatte alle Schulden beglichen, alle Verpflichtungen erfüllt. Es war gekommen, wie er es vorausgesagt hatte: Indem wir uns durch den Eid aneinander gebunden hatten, war alles andere zwischen uns zerbrochen, und nicht nur zwischen uns.

Ich machte keine Anstalten, ihm zu folgen. Ich wusste aus Erfahrung, wann eine Spur kalt geworden war.

Der Qualm wurde immer dichter, brachte mich zum Husten, trübte mir die Sicht. Ich ging zum Tagebuch hinüber und beförderte es mit einem Fußtritt vom Feuer weg, denn es war zu heiß, dass ich es hätte aufheben können. Der Ledereinband war verkohlt, die eine Ecke des Buches hatte sich schwarz verfärbt.

Da kam mir eine Idee.

Ich grinste, wie man in einem finsteren Winkel der Hölle grinsen mochte, und wickelte das Buch in die Decke. Es würde nicht reichen, es zu verbrennen – jedenfalls jetzt noch nicht.

Ich hob Eisens Schwert auf und legte es auf Schattens Leichnam. Ein paar in die richtigen Ohren geflüsterte Worte, und der Deganerorden würde hier die verbogenen Überreste des Schwertes und Schattens verkohltes Gerippe finden. Sollten sie ruhig glauben, ein Grauer Prinz habe ihren Ordensbruder getötet und das Schwert als Trophäe behalten – Schatten war so hochmütig gewesen, dass man ihm das ohne Weiteres zutrauen würde. Degans schlechtes Gewissen würde es kaum entlasten, doch vielleicht würde es seine ehemaligen Brüder davon abhalten, ihn zu jagen.

Ich hätte mir ein schöneres Abschiedsgeschenk für ihn gewünscht, doch das ließ sich nicht ändern.

Ich nahm das Buch an mich und wandte mich zur Außenwand. Inzwischen hatte ich mich auf alle viere niedergelassen und konnte wegen des Qualms fast nichts mehr sehen. Glühende Asche fiel auf mich herab, verbrannte mir die Handrücken und den Hals, versengte mir das Haar, brachte meine Kleidung zum Kokeln. Allerdings fühlten sich diese Stellen nur geringfügig heißer an als der Rest.

Ich erreichte die Wand schneller, als ich gedacht hatte, und kroch daran entlang, bis ich über mir einen dunklen Fleck ausmachte. Dann langte ich nach oben, zog mich über den Fenstersims und ließ mich fallen.

Ich stürzte zwei Stockwerke tief, wollte mich aber nicht beklagen.