Neunzehn
»Wie ist sie entkommen?«
Degan zuckte mit den Schultern. »Ich musste mich entscheiden, ob ich bei Larrios und dem Buch bleiben oder sie töten sollte. Da ich wusste, wie viel dir das Buch bedeutet, habe ich sie in die Kellergrube gestoßen und bin Larrios nachgerannt.«
»Der kleine Halunke ist weggelaufen?«
»Er war schnell wie der Wind«, meinte Degan. »Na ja, der Wind hätte schon ein schlimmes Auge, ein lahmes Bein und ein paar gebrochene Rippen haben müssen. Am Ende hat er das Buch weggeworfen, anstatt sich von mir einfangen zu lassen.
»Und was habe ich in der Zwischenzeit gemacht?« Ich hatte immer noch das Bild vor Augen, wie ich bewusstlos im Regen lag, während eine Weißschärpe aus dem Keller auf mich zukroch, ohne dass ich hätte reagieren können.
Degan kniff die Augen zusammen. »Du wiegst mehr, als man meinen möchte. Wusstest du das?«
»Oh«, sagte ich.
Degan nickte und wog den Sack in der Hand. »Deine Sachen waren übrigens hinüber. Ich habe dir neue mitgebracht.« Er warf den Sack aufs Bett und machte ihn auf.
»Das soll wohl ein Scherz sein«, sagte ich, als er ein scharlachrotes Wams mit silbernen Stickereien hervorzog. Es folgten eine farblich passende Kniehose und cremefarbene Strümpfe. Ganz unten im Sack war ein Leinenhemd mit Spitzenkragen und Ärmelbündchen.
»Die Baronin Sephada lässt dir ihre Genesungswünsche übermitteln«, sagte Degan mit schelmisch funkelnden Augen.
Christiana. Natürlich. Ich sah sie vor mir, wie sie kichernd in Nestors alten Sachen wühlte und die geschmacklosesten Teile für mich auswählte.
Christiana … Ich schaute zu Degan auf. Seine Augen funkelten noch immer.
»Und meine eigenen Sachen konntest du mir nicht bringen?«, sagte ich, anstatt ihn nach meiner Schwester auszufragen.
»Wie hätte ich das denn anstellen sollen?« Degan wackelte mit den Fingern. »Ich weiß, was es heißt, in deine Wohnung einzudringen, und fühle mich mit vollständigen Extremitäten und Organen eigentlich ganz wohl.«
Seufzend blickte ich auf die Kleidung in meinem Schoß. Dann hielt ich das Wams hoch und lächelte. »Zu groß!«, sagte ich. »Du musst mir was anderes besorgen.«
»Unsinn«, sagte Jelem. Er kam herüber und nahm die Kleidung an sich. »Ahnya kann die Sachen im Nu ändern.«
»Du bist grausam«, knurrte ich.
Jelem neigte sich vor. »Wegen dir habe ich zwei Nächte im Sessel geschlafen. Das ist erst der Anfang.«
Eingemummt in einen weiten Umhang, trat ich drei Stunden nach Tagesanbruch aus Jelems Haustür. Jelem und Degan waren fünf Minuten vor mir aufgebrochen. Jelem hatte sich so verkleidet, dass man ihn von ferne mit mir verwechseln sollte. Bislang hatte sich noch kein Verfolger blicken lassen. Anstatt mir etwas auf unsere kläglichen Täuschungsversuche einzubilden, schloss ich daraus, dass wir nicht beobachtet wurden.
Ich zupfte zum wiederholten Mal das geänderte Wams zurecht. Jelems Frau hatte mit erstaunlichem Erfolg Abnäher angebracht und das Kleidungsstück gekürzt, dennoch fühlte ich mich unwohl. Aber wie Degan erklärt hatte, niemand würde erwarten, dass ich in einem solchen Aufzug herumspazierte, deshalb war ich darin auf jeden Fall besser aufgehoben als in meiner eigenen Kluft.
Immerhin hatte ich meine Stiefel behalten; sonst wäre ich in zu großen Schuhen umhergeschlurft und hätte mir die Kappen mit Lumpen ausstopfen müssen.
Ioclaudias Buch hatte ich unter dem Wams und dem Umhang verborgen. Eigentlich hätte ich es sofort Kells bringen sollen, denn schließlich hatte er mich beauftragt, das Buch zu finden, und ich arbeitete nun mal für ihn. Aber der Kampf mit den Weißen Schärpen – von dem Traum mit der Grauen Prinzessin ganz zu schweigen – stand mir noch allzu deutlich vor Augen. Solange ich nicht wusste, welche Rolle Ioclaudias Tagebuch beim Krieg in den Zehn Wegen spielte, wollte ich es nicht aus der Hand geben. Das Buch war zu wertvoll, um es Kells einfach auf den Tisch zu legen, auch wenn er mein Boss und mein Freund war. Ich respektierte ihn, doch das bedeutete nicht, dass ich ihm ein Buch anvertrauen wollte, das von kaiserlichem Glimmer handelte – jedenfalls so lange nicht, wie er mit seiner Organisation ums Überleben kämpfte.
Mit gesenktem Kopf und niedergeschlagenem Blick bahnte ich mir einen Weg durch die Scharen der Passanten. Die umherwimmelnden Leichten ließen mich nur langsam vorankommen, machten es mir aber umso einfacher, in der Menge zu verschwinden.
Am Rande des Platzes des Fünften Engels erstand ich einen Becher mit dampfendem Buttertee. Ich ließ den Blick über die Menge schweifen und hielt Ausschau nach Gesichtern oder Gestalten, die auffällig geschäftig wirkten. Der Tee schmeckte gut, nach Butter, Salz und Minze. Er wärmte mich. Die passende Ergänzung zu den fünf Ahramikernen und dem kleinen Frühstück, die ich mir zuvor genehmigt hatte. Ich leerte den Becher und tauchte wieder in der Menge unter.
Dreimal umkreiste ich die Elikorosstatue, sah mir zwischendurch Teppiche an, feilschte um ein billiges Armband, stritt mich mit einem blinden Wahrsager und bewunderte ein begabtes Tanzmädchen, das den a’Sakar auf höchst ungewöhnliche Weise interpretierte.
Niemand zu sehen – keine Beschatter, keine Schielaugen, keine Schlägerbanden. Wenn mir jemand folgte, war er zu gut, um von mir bemerkt zu werden.
Ich ging zu Mendross’ Stand.
»Ich bin gleich für dich da, Herr«, sagte er herbeieilend, in der Hand einen Korb mit Zitronen. Er wollte den Korb gerade einer gut gekleideten Frau reichen, als er auf einmal stutzte, sich umdrehte und mich anstarrte. Er musterte mich noch immer von Kopf bis Fuß, als die Frau sich hinter ihm räusperte.
»Was ist mit meinem Obst?«, fragte sie spitz.
»Wie?«, sagte Mendross. Er blinzelte, dann nickte er. »Oh! Ja, natürlich, meine Dame.« Er wirbelte herum und reichte ihr den Korb, nahm die Münze entgegen und verneigte sich unter Entschuldigungen, während er mich aus den Augenwinkeln beäugte. Als die Frau sich entfernt hatte, wandte Mendross sich mir zu und vollführte eine ausholende Geste. »Mein Herr!«, rief er so laut, dass es drei Marktbuden weit zu hören war. »Welch eine Freude! Du kommst bestimmt wegen der Mangos, um die du vergangene Woche nachgefragt hast, hab ich recht? Gute Neuigkeiten – sie sind da, wie versprochen! Sie liegen hinten. Das sind die besten Mangos, die ich je im Angebot hatte.«
Ich nickte lächelnd und bemühte mich, meiner Rolle gerecht zu werden. Mendross vollführte einen Kratzfuß und geleitete mich zu dem bunten Vorhang, hinter dem sich sein Lager befand.
»Ich hätte dich beinahe nicht erkannt!«, flüsterte er und schob den Vorhang beiseite.
»Das freut mich zu hören«, erwiderte ich.
Mendross’ zweitältester Sohn hatte sich auf drei Säcken langgemacht und schlief, neben ihm auf dem Boden lag eine Inventartafel.
»Spyro!«, knurrte Mendross. Spyro schnellte hoch und raffte die Tafel an sich. »Vergiss das Ding, kümmere dich lieber um den Stand«, sagte Mendross. »Und denk dran, die Pflaumen loszuwerden, die werden schon weich.«
Der Junge nickte und eilte hinaus, wobei er kaum einen Blick für mich übrig hatte.
Mendross nahm eine der reiferen Mangos in die Hand und schnitt mit einem kleinen Messer zwei längliche, breite Schnitze heraus. Er hatte recht – die Mango schmeckte köstlich.
»So«, sagte Mendross und wischte sich Saft vom Kinn. »Erzählst du mir jetzt, was es mit dieser Aufmachung auf sich hat?«
»Nein.«
»Ziemlich peinlich, findest du nicht?«
»Das ist unwichtig«, erwiderte ich. »Ich will wissen, was dir in letzter Zeit zu Ohren gekommen ist.«
Mendross setzte sich auf einen kleinen Hocker. »So einiges. Was willst du wissen?«
So sehr ich in Versuchung war, »alles« zu antworten, war mir doch bewusst, dass ich mehr als zwei Tage lang aus dem Spiel gewesen war. Erst einmal musste ich mir einen Überblick verschaffen; die Details konnten warten.
»Beschränke dich auf die Zehn Wege«, sagte ich. »Und berichte mir alles, was du über Nicco erfahren hast. Oder Kells.« Ich überlegte einen Moment. »Und über einen Schreiber namens Baldesar.«
»Von einem Schreiber hab ich nichts gehört, aber wo hast du eigentlich gesteckt, wenn du das alles wissen willst? Die Spatzen pfeifen es doch von den Dächern.«
»Erzähl’s mir einfach«, sagte ich.
Mendross schnitt eine weitere Scheibe von der Mango ab. »Dann mach’s dir bequem«, meinte er und begann seinen Bericht.
Es sah übel aus. Kriege zwischen den Kin waren immer blutig und gewalttätig, mit Hinterhalten auf der Straße und Leichen in den Gassen, doch diesmal war es noch schlimmer als sonst. Während die früheren Kriege sich meist auf Nebengassen und die Dunkelheit der Nacht beschränkt hatten, attackierten Niccos Männer Kells’ Leute bei Tag und bei Nacht auf Straßen, Märkten und Plätzen, ganz egal, ob Zuschauer zugegen waren oder nicht. Sie versuchten gar nicht erst, die Vorgänge vor dem Reich zu verbergen. Und was noch schlimmer war: Streuner hatte seinen Leuten gegenüber offenbar alle Roten Schärpen, die sich einmischen wollten, zum Freiwild erklärt. Wenn die Hudel anfingen, Banden der Kin anzugreifen, ging es nicht mehr darum, ob das Reich eingreifen würde, sondern die Frage war nur noch, wann dies geschehen würde und in welchem Ausmaß.
Dies alles trug die Handschrift Eisen Degans und des Grauen Prinzen. Die Dinge entwickelten sich genau so, wie Degan und ich es befürchtet hatten: Erst entbrannte ein Krieg, dann trat das Reich auf den Plan. Aber was würde dann kommen?
»Wie sieht es im Rest des Kordons aus?«, fragte ich.
»Die Kin in den Zehn Wegen teilen sich in drei Lager – die einen sind für Nicco, die anderen für Kells, der Rest kümmert sich nur um sich selbst. Die dritte Gruppe ist die größte. Bislang halten sie sich weitgehend bedeckt, aber die Ersten verdingen sich schon.«
»An wen?«
»An beide Seiten, aber Nicco bekommt mehr Zulauf.«
»Und Kells?«, fragte ich. »Was macht der?«
»Da wird’s interessant«, sagte Mendross, hob die Arme und reckte sich. In seinem Rücken knackte es. »Kells sollte eigentlich im Vorteil ein. Er hat Blauen Umhang Rhys und die Scheue Meg auf seiner Seite und kann auf einen Unruhestifter namens Matei zählen; aber auf der Straße heißt es, er könne sich kaum halten. Nicco wirft wie verrückt Schnitter in den Kordon, doch das erklärt nicht allein, weshalb Kells Männer Nacht für Nacht immer weiter zurückgedrängt werden.« Mendross beugte sich vor. »Es wird von Glimmer gemunkelt. Und damit ist nicht das harmlose Zeug gemeint, das man auf der Straße kaufen kann, sondern gefährlicher Glimmer; Magie, die Männer mit einem Wort töten oder eine Klinge mitten im Schwung zerschellen lassen kann.«
»Hat jemand so etwas gesehen?«
Mendross schüttelte den Kopf. »Nein, aber es gibt Gerüchte.«
»Darauf würde ich wetten«, sagte ich und dachte an die Tote in meinem Schlafzimmer und die Frau, die mir im Traum erschienen war.
Ich massierte mir den Arm, denn ich hatte eine Gänsehaut. Dabei verlagerte sich das Buch unter meinem Wams.
»Du musst etwas für mich tun«, sagte ich.
Mendross’ Blick verschleierte sich. »Was soll ich tun?«
Ich holte Ioclaudias Buch hervor. »Ich möchte, dass du das für mich aufbewahrst.«
Mendross beäugte das Buch, fasste es aber nicht an. »Was ist das?«, fragte er.
»Etwas, das ich nicht bei mir behalten kann«, antwortete ich.
»Weil jemand dahinter her ist?«
»Könnte man so sagen.«
»Und was verleitet dich zu der Annahme, die Betreffenden würden nicht bei mir suchen?«
»Würdest du an einem Obststand nach einem Buch suchen?«, entgegnete ich. Zumal wenn das Buch von verbotener Magie handelt, dachte ich bei mir.
Mendross grunzte, betrachtete das Tagebuch und überlegte. »Wer hat es darauf abgesehen?«, fragte er.
Seit Betreten des Lagerraums zerbrach ich mir den Kopf, wie ich auf diese Frage antworten sollte. Zu wahrheitsgemäß, und ich konnte mir das Buch wieder unters Wams schieben. Zu unaufrichtig, und Mendross könnte in ungeahnte Schwierigkeiten geraten.
Dann also der Mittelweg.
»Kells«, sagte ich. »Vielleicht auch noch ein anderer Aufrechter.«
Mendross zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Zwei Goldfalken sofort«, sagte er. »Und weitere zwei, wenn du das Buch abholst.«
Das war ein hoher Preis in Anbetracht der Informationen, die ich ihm gegeben hatte. Andererseits war er nicht annähernd hoch genug in Anbetracht dessen, was ich ihm verschwiegen hatte. Ich tat so, als müsste ich überlegen, haderte mit mir, um seine eventuell vorhandenen Zweifel zu zerstreuen, und willigte schließlich ein.
Ich reichte Mendross das Tagebuch. Er nahm es, drehte es um und legte es mitten auf die Bestandslisten auf seinem Arbeitstisch.
»Und das war’s schon?«, meinte ich.
»Was ist unverdächtiger: ein Buch neben anderen Büchern oder eines am Boden eines Fasses voller Feigen?«
»Aber …«
Mendross gebot mir mit erhobener Hand Einhalt. »Mach dir keine Sorgen. Ich werde schon noch ein besseres Versteck finden. Einstweilen muss es das tun.«
Als ich ging, hatte ich einen Korb Mangos dabei – Mendross bestand darauf. Zur Sicherheit spazierte ich noch um den halben Markt herum. Dann schenkte ich am Rande des Platzes den Korb einem blinden Bettler und ging nach Hause.
Ich schritt unbeschwerter aus, und das nicht nur deshalb, weil ich zwei Goldmünzen weniger in der Börse hatte. Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte ich wieder etwas im Griff. Es gab zwar noch immer zahlreiche offene Fragen, doch jetzt gehörte mir ein Puzzlestein. Zum Teufel, wahrscheinlich handelte es sich sogar um einen ganz entscheidenden Stein. Das erhöhte einerseits die Gefahr für mich, erhöhte aber auch meinen Wert. Es konnte sein, dass man mich wegen des Tagebuchs gefangen nehmen, verhören und foltern würde, doch die Wahrscheinlichkeit, dass man mich mir nichts, dir nichts kaltmachen würde, hatte sich verringert.
Auf lange Sicht war der Besitz von Ioclaudias Buch eine fragwürdige Form der Rückversicherung, doch einstweilen war ich ganz zufrieden damit.
Meine gute Stimmung hielt so lange vor, bis ich in den Staffelweg einbog und mein Haus sah. Zwei Dinge fielen mir auf: Obwohl es bereits auf Mittag zuging, war die Tür von Eppyris’ Apotheke noch immer geschlossen; und zweitens hatte Nicco zwei seiner Arme – Salzauge und Matthias den Pflasterstein – beiderseits des Eingangs postiert.
Ich fluchte leise und ging schneller, drängte mich zwischen den Passanten hindurch. Ich konnte nur hoffen, dass Eppyris’ Tür deshalb geschlossen war, weil er seiner Familie nachgefolgt war, und nicht deshalb, weil Nicco ihn dazu gezwungen hatte. Das hätte mir gerade noch gefehlt, dass sich dieser Aufrechte mit den Monsterpranken an den Leuten verging, die unter meinem Schutz standen.
Ich streifte die Kapuze zurück und deutete auf Eppyris’ Laden. »Das ist hoffentlich nicht das, was ich denke«, sagte ich mit erhobener Stimme, um die Entfernung zu überbrücken.
»Ist es nicht«, sagte Salzauge. Ein Lächeln breitete sich über sein zernarbtes Gesicht, und er setzte sich in Bewegung.
Als er noch drei Schritte von mir entfernt war, zuckte das Lächeln und verflüchtigte sich. Dann brach Salzauge zusammen. Hinter ihm stand Grünrock Jess, in der Hand ein Langmesser, die rote, feuchte Klinge funkelte im Sonnenschein. Anders als Salzauge lächelte sie nicht. Vielmehr wirkte sie stocksauer.