Achtzehn
Ich lief durch den Wald. Bäume huschten vorbei, und ich setzte mühelos über Wurzeln und verrottende Baumstämme hinweg. Durchs Laubwerk leuchtete das Himmelsblau, wie ich es aus meiner Jugend kannte, und auf einmal wusste ich, wo ich war – zu Hause, im Balsturanischen Wald.
Dennoch war ich Drothe, die Nase, älter geworden und müde. Eine Schwertscheide klatschte mir gegen den Schenkel. Der Jugendliche, der ich hätte sein sollen, war verschwunden, zurückgeblieben war ich. Aus irgendeinem Grund fand ich das richtig – so konnte ich Dinge tun, zu denen ein Heranwachsender nicht imstande war.
Dann hörte ich Schreie und das Klirren von Stahl, und ich erinnerte mich wieder. Dies war der Tag, an dem alles endete. Dies war der Tag, an dem mein Leben zerbrochen war. Der Tag, an dem mein Stiefvater Sebastian gestorben war und sich mein Traum von einer Familie verflüchtigt hatte.
Ich strengte mich noch mehr an, versuchte schneller zu rennen, doch auf einmal hatte ich Schmerzen im linken Bein. Als ich an mir hinuntersah, blutete es, und hinter mir blieb eine Blutspur zurück. Ich heulte auf und lief weiter.
Ich humpelte und taumelte, rannte und duckte mich unter Zweigen hindurch, so gut ich es vermochte. Bis zum Haus war es noch weit, und ich war zu langsam. Der Junge, der ich gewesen war, hätte schneller rennen, aber nichts ausrichten können. Ich musste das selbst übernehmen – ich konnte das Unglück verhindern. Ich musste es verhindern!
Halb rennend, halb stürzend brach ich aus dem Unterholz hervor und stolperte über das unkrautüberwucherte Grab meiner Mutter. Das Schwert fiel mir aus der Hand. Ich richtete mich auf.
Ich erwartete, mitansehen zu müssen, wie Sebastian, mein Stiefvater, einen Angreifer tötete, während ein zweiter sorgfältig mit der Armbrust zielte und ihn traf. Ich erwartete, die dreizehnjährige Christiana bewusstlos und mit blutender Kopfwunde im Eingang liegen zu sehen. Ich erwartete, das Grauen zu sehen, das sich damals in mein Gedächtnis eingebrannt hatte.
Stattdessen erblickte ich einen marmorgepflasterten Hof, an dessen Mauern sich blühende Kletterpflanzen emporrankten. In der Mitte des Platzes stand ein Springbrunnen aus rosafarbenem Marmor. Das Wasser ergoss sich plätschernd aus steinernen Blüten und sammelte sich in einem Becken am Fuße des Springbrunnens.
Es roch frisch und anregend; ich traute dem Ganzen nicht.
In einer Ecke des Gartens stand eine Frau, bekleidet mit einer weiten goldfarbenen Hose und einem taillierten braunen Wams. Sie schaute aus dem Fenster und wandte mir den Rücken zu. Das braune Haar hatte sie sich mit einem weißen Band zu einem kurzen Pferdeschwanz zurückgebunden. An den Enden des Stoffbands waren kleine silberne Glöckchen angebracht.
Die Frau sah sich nicht um, als ich mich ihr näherte. Ich hielt am Boden Ausschau nach meinem Schwert, doch es war nicht da. Ich hatte es wohl in dem anderen Traum zurückgelassen.
Ich trat einen Schritt vor – das Bein tat mir nicht mehr weh – und dann noch einen, als die Frau mich auf einmal ansprach.
»Weshalb willst du das Buch haben?«, fragte sie, streckte die Hand aus und pflückte eine weiße Rose von einem Wandspalier.
Degan hätte darauf bestimmt eine schlagfertige Antwort gewusst; Jelem hätte eine sarkastische Bemerkung gemacht, die ihn vermutlich geweckt hätte; ich hingegen platzte heraus: »Was zum Teufel bedeutet dir das Buch?«
Sie schwenkte geringschätzig die Hand mit der Rose. »Das zu erklären, würde zu lange dauern, so viel Zeit haben wir nicht.« Sie führte die Blüte ans Gesicht und drehte sich zu mir um. Auf einmal standen wir dicht voreinander. Als ich eilig einen Schritt zurückwich, wäre ich beinahe gestolpert.
Mit geschlossenen Augen schnupperte sie an der Rose und lächelte. »Durch die Erinnerungen wird der Duft noch schöner«, meinte sie nachdenklich. Dann warf sie die Blüte weg und sah mich an.
Bis zu diesem Moment war sie mir eher unscheinbar vorgekommen – reizloser Mund, schmale Nase, kleine Stirn, das dunkelbraune Haar zerzaust. Als sie jedoch die Lider hob und ich ihre goldgesprenkelten Jadeaugen sah, wusste ich, dass ich sie niemals vergessen würde.
»Offen gesagt«, meinte sie, ohne meine Verblüffung zur Kenntnis zu nehmen, »wundert es mich, dass du noch lebst. Das spricht für dich. Aber wenn du weiter so durch die Gegend stolperst, wird nicht einmal der Deganer dich retten können.«
»Woher …«, setzte ich an, doch meine Zunge war wie gelähmt. Die Frau winkte ungeduldig ab, so schnell, wie ich es niemals vermochte hätte.
»Mach dir um das ›Woher‹ keine Gedanken, Drothe. Konzentrier dich lieber auf das ›Wer‹. Wer weiß sonst noch davon? Wer ist hinter dir her? Du bist sehr gefragt in letzter Zeit, und ich bin bei diesem Spiel eine eher unbedeutende Mitspielerin.«
Beinahe hätte ich laut aufgelacht. Wer in den Traum eines anderen Menschen eindringt, ist gewiss kein Niemand – allerdings war ich klug genug, mich einer Bemerkung zu enthalten. Wenn sie sich mir zu erkennen geben wollte, würde sie es tun; und wenn nicht … Nun, ich konnte sie schließlich nicht dazu zwingen.
»Also gut«, sagte ich, wobei sich jedes einzelne Wort in meinem Mund wie weiches Blei anfühlte, »wer ist hinter dem Buch her? Und warum?«
Jetzt wirkte sie verblüfft, wenn auch nur für einen Augenblick. Dann legte sie den Kopf in den Nacken und lachte. Die Glöckchen in ihrem Haar untermalten ihren Heiterkeitsausbruch.
»Soll das heißen, du weißt es nicht?«, sagte sie. »Du hast Ioclaudias Buch und weißt nicht mal, worum es überhaupt geht?« Mit breitem Lächeln erwiderte sie meinen Blick. Ihr Lächeln war beinahe ebenso betörend wie ihre Augen. »Also, das ist ein starkes Stück.«
Ioclaudias Buch? Athel hatte mir den Namen der Verfasserin genannt? Kein Wunder, dass es mir nicht gelungen war, sie ausfindig zu machen – wenn das Buch so alt war, wie ich vermutete, war Ioclaudia schon seit Jahrhunderten tot.
Ich musterte die vor mir stehende Frau. Glöckchen. Und Bücher. Bei mir machte es Klick.
»Prinzessin«, sagte ich und vollführte eine tiefe, ironische Verbeugung.
Sie war draußen vor Fedims Laden gewesen, ihre Glöckchen hatte ich gehört, als ich in der Kanalisation gehockt hatte. Eisen Degan arbeitete für sie. Somit hatte ich einen Grauen Prinzen vor mir. Eine Graue Prinzessin. Die Graue Prinzessin.
»Man sagt ›Prinz‹«, entgegnete sie ein wenig verlegen. »Und es freut mich, dass du wenigstens etwas begriffen hast.«
»Ich habe begriffen«, brauste ich auf, »dass Schnitter, Weiße Schärpen und mehrere Klingen – von deinem Deganer ganz zu schweigen – hinter mir her sind. Aber der Grund ist mir noch unklar. Wenn du das lustig findest, solltest du den Garten dichtmachen und dir jemand anderen für deine Traumspiele suchen, denn ich habe etwas Besseres zu tun.«
Ich wandte mich zum Gehen, saß aber plötzlich auf einer Bank beim Springbrunnen. Vorher waren hier keine Bänke gewesen. Die Frau saß neben mir.
»Es tut mir leid«, sagte sie, mir in die Augen schauend. Aus ihrem Mund klang das weniger wie eine Entschuldigung als wie eine sachliche Feststellung. »Ich habe gedacht, jemand, der so tief in eine Sache verwickelt ist, müsste auch wissen, worum es geht.«
»Das wäre dann der Fall, wenn ich mich bewusst darauf eingelassen hätte«, sagte ich. »Dem ist aber nicht so. Klär mich auf.«
Eine Falte bildete sich auf ihrer Stirn. Sie legte den Kopf schief und blickte an mir vorbei. Ich meinte ein Säuseln zu vernehmen, ein leises Geflüster, als spräche der Garten zu ihr. Dann nickte sie und wandte mir wieder ihre Aufmerksamkeit zu.
»Ich kann im Moment nicht in die Einzelheiten gehen«, sagte sie, »aber ich möchte dir dringend raten, dir genau zu überlegen, wem du das Buch letztlich anvertrauen willst.«
»Fürchtest du etwa, ich könnte verhindern wollen, dass es dir in die Hände fällt?«
Sie lächelte bitter. »Ich kann nicht behaupten, das wäre unzutreffend, aber das ist nicht meine Hauptsorge. Mehr Sorgen mache ich mir um …«
Der Hof verschwand, und in meinem Bein flammte der Schmerz auf. Ich schlug die Augen auf und sah die Absätze zweier Stiefel, die sich unterhalb von mir bewegten. Die Stiefel schritten über nasse, schmutzige Pflastersteine. Aus den Bewegungen schloss ich, dass mich jemand auf der Schulter trug. Ich versuchte, das Gewicht zu verlagern und mich fallen zu lassen, wollte fragen, wer mich da trug. Doch ich brachte nur kraftloses Kopfwackeln und klägliches Gemurmel zustande. Die Person, die mich trug, rückte mich grunzend auf ihrer Schulter zurecht. Ein sengender Schmerz schoss durch mein Bein. Ich schloss stöhnend die Augen, flüchtete mich vor dem Schmerz und dem ganzen Elend in die Dunkelheit.
»… zu bedeuten?«, rief die Frau. Als ich die Augen öffnete, lag ich auf dem Pflaster des Hofs, die Knie an die Brust gezogen. Die Frau stand neben der Bank, einer schattenhaften, durchscheinenden Gestalt zugewandt, die eben noch nicht da gewesen war. Die Gestalt war klein – noch kleiner als ich –, doch mehr konnte ich nicht erkennen. Sie gestikulierte, und auf einmal vernahm ich wieder das Gesäusel.
Dann hatte sie also einen Mund hinzugezogen, der den Traum für sie verglimmerte. Gut. Die Vorstellung, dass ein Grauer Prinz mir nach Belieben im Traum erscheinen konnte, wäre im Moment einfach zu viel für mich gewesen.
Das Bein tat mir immer noch weh, doch der Schmerz war auszuhalten. Ich wälzte mich langsam auf alle viere. Dabei hatte ich den Eindruck, die Maserung des Marmors führe ein Eigenleben. Das konnte nichts Gutes bedeuten.
»Wie lange können wir ihn noch festhalten?«, fragte die Frau. Pause. »Verdammter Mist.« Sie kniete neben mir nieder, am Rande meines Gesichtsfelds. Es roch nicht mehr frisch – ein weiteres schlechtes Zeichen, ganz bestimmt.
»Drothe«, sagte sie. Ihre Stimme klang nicht freundlich oder einschmeichelnd, sondern befehlend. Unwillkürlich schaute ich zu ihr hoch.
»Hör mich an«, sagte sie. »Was immer du tust, gib das Buch an niemanden weiter.«
»Außer an dich«, keuchte ich. »Stimmt’s?«
Sie schüttelte den Kopf. »Auch nicht an mich. Versteck es. Sag niemandem, wo es ist – das wird dich schützen, zumindest eine Zeit lang. Mir wäre es lieber, Ioclaudias Buch ginge verloren, als dass es in die falschen Hände gerät.«
Ich wollte sie fragen, was sie damit meinte, da flammte der Schmerz in meinem Bein auf. Ich verkrampfte mich, und als ich die Augen wieder aufschlug, hatten sich alle Farben aus unserem Traum verflüchtigt. Die Frau legte mir die Hände auf die Schultern. Ich hatte das Gefühl, als würden ihre Finger in mich eindringen. Seltsamerweise empfand ich das nicht als unangenehm.
»Versteck das Buch«, wiederholte sie. »Und lass es dort.«
Dann war ich allein in einer Stille, die alsbald der Bewusstlosigkeit wich.
Der Wechsel geschah völlig übergangslos – kein Lichtschimmer hinter den Lidern, kein Summen in den Ohren, das sich in ein Dröhnen verwandelte. Eben noch war ich bewusstlos gewesen, dann war ich auf einmal hellwach.
Nichts war so, wie es sein sollte. Anstatt zu frieren und Schmerzen zu haben, befand ich mich im Trockenen und Warmen. Ich lag in einem weichen Bett, zugedeckt mit einem sauberen Federbett. Bekleidet war ich mit einem weichen Nachthemd. Und ich war am Leben. Das war die größte Überraschung.
Aus Neugier verlagerte ich das verletzte Bein. Ich spürte nur einen leichten Schmerz. Auch das war nicht richtig; der Schmerz hätte mir die Tränen in die Augen treiben sollen. Mit zusammengebissenen Zähnen drückte ich mich mit dem linken Bein von der Matratze ab, auf das Schlimmste gefasst. Ich verspürte ein starkes Brennen, doch das war auch schon alles.
Glimmer – das musste es sein. Sonst wäre es mir nicht so gut gegangen.
Jetzt machte ich mir ernsthaft Sorgen.
Ich lauschte mit geschlossenen Augen. Die Geräusche des abendlichen Ildrecca drangen an meine Ohren, doch es war nicht die übliche Kakophonie aus Geschrei, Gejohle und dem Gewimmer läufiger Katzen. Stattdessen vernahm ich Insektengesumm, raues Gelächter und fernes Getrommel. Ich befand mich weder in den Zehn Wegen noch im Ödland, so viel war sicher.
Ich wollte mich gerade herumwälzen, als ich hörte, wie hinter mir Stoff raschelte und jemand geräuschvoll trank. Ich erstarrte, entspannte mich dann wieder. Ein Wächter, eine Pflegerin oder jemand anders? Ein Glas wurde mit leisem Klirren abgesetzt.
Ich atmete langsam ein und schnupperte zu meiner Erleichterung Blumenduft. Doch da war noch ein anderer Geruch, der mir von ferne bekannt vorkam. Basilikum? Gehackter Thymian?
Ich schnupperte erneut. Ja, der Geruch kam vom Bettzeug. Und ich kannte nur eine Person, die ihr Bettzeug parfümierte. Christiana. Und das bedeutete, die andere Person im Raum war …
»Verdammt noch mal, Degan«, sagte ich, wälzte mich herum und machte die Augen auf. »Warum hast du mich hergebracht, wo du doch weißt, dass ich meine …« Ich hielt inne.
Jelem schenkte mir ein schiefes Lächeln. »Ich war auch nicht begeistert darüber, dich hierzuhaben«, meinte er. »Aber als meine Frau dich blutend auf der Straße gefunden hat …« Er zuckte vielsagend mit den Schultern. »Ich habe unter diesem Dach nicht viel zu sagen.«
Jelem fläzte sich in einem Polstersessel. Die Beine hatte er ausgestreckt, die Füße überkreuzt. Sein dunkles Haar war zerzaust, sein langer grün-schwarzer Kaftan ausnahmsweise mal zerknittert.
Auf einem Tischchen stand eine Öllampe aus Silber, die Schatten im Zimmer schuf. Neben der Lampe funkelte ein Glas Rotwein. Durch ein offenes Fenster sah man den wolkenlosen Nachthimmel.
Ich schaute mich im Zimmer um. Nein, das war nicht das Haus meiner Schwester. Sie hätte sich niemals mit schlichten weißen Wänden begnügt – bunter Putz war beim Adel im Moment der letzte Schrei. Andererseits hätten die an strategischen Punkten aufgehängten Webtücher sie vielleicht mit der Zimmergestaltung versöhnt. Goldene, grüne, tiefrote und leuchtend blaue Fäden bildeten komplizierte Schnörkel und geometrische Muster und brachten Farbe in den ansonsten eher nüchternen Raum.
Meine Kleidung und meine übrigen Habseligkeiten waren nirgends zu sehen. Ich wollte Jelem danach fragen, als ich das ledergebundene Buch bemerkte, das aufgeschlagen auf seinem Schoß lag. Zum Teufel mit meiner Kleidung.
»Ist es das, wofür ich es halte?«, fragte ich.
Jelem blickte auf seinen Schoß nieder. »Meinst du das?« Er schnippte gegen die oberste Seite. »Wenn du wissen willst, ob das der durchnässte Wälzer ist, den zu trocknen ich mir so große Mühe gegeben habe, dann lautet die Antwort Ja.«
»Leg es weg«, sagte ich.
Jelem hob eine Braue. »Wie bitte?«
Ungeachtet meiner schmerzenden Muskeln setzte ich mich auf und zeigte auf das Buch. »Leg es weg«, wiederholte ich. »Sofort.« Traumwarnung hin oder her, ich war nicht durch die Kanalisation gewatet und hatte mit Weißschärpen gekämpft, damit Jelem jetzt müßig darin herumblättern konnte.
Während Jelem mich musterte, machte seine Verwunderung kühlem Missfallen Platz. Langsam klappte er das Buch zu und legte es auf den Tisch.
»Wie du meinst.« Er nahm das Glas in die Hand, lehnte sich zurück, nahm bedächtig einen Schluck und hielt das Glas in den Lampenschein. Dann lächelte er.
Ich kannte dieses Lächeln. Er hatte etwas in der Hinterhand – er hatte in dem Buch etwas Interessantes gefunden. Und jetzt wollte er es mir verkaufen.
Na schön. Sollte er ruhig lächeln. Was konnte er schon herausgefunden haben …
Ich blickte zu den funkelnden Sternen hinaus – als ich das Bewusstsein verloren hatte, war der Himmel noch bedeckt gewesen.
Oh.
»Wie lange bin ich schon hier?«, fragte ich.
Jelems Lächeln vertiefte sich. »Eine Nacht, einen Tag und eine weitere Nacht. Wir haben fast schon Eulentag, und eurer Zählung nach ist eine neue Woche angebrochen.«
»Eulentag?«, wiederholte ich. Verdammt. Vielleicht hatte er ja tatsächlich eine Entdeckung gemacht. Aber was wollte er damit anfangen?
»Wo ist Degan?«, fragte ich.
»Der war da und ist gleich wieder weg; er gleicht eher einem verängstigten Huhn als einem Arm.« Jelem trank noch einen Schluck Wein und sah mich an. »Du kannst mich ruhig direkt fragen, weißt du. Es ist ja nicht so, als wäre ich nicht schon beleidigt worden.«
»Na gut«, meinte ich. »Woher hast du das Buch?«
Jelem nickte. »Schon besser. Kurz gesagt, du wolltest es nicht aus der Hand geben. Degan musste dir versprechen, es bei dir zu lassen. Das hat er getan.«
»Und du hast dir die Freiheit genommen, darin zu lesen?«
»Niemand hat’s mir verboten.«
»Ich nehme an«, sagte ich, »du bist darin auf etwas Interessantes gestoßen.«
Jelem prostete mir zu.
»Und dafür soll ich blechen.«
Jelem setzte das Glas ab. »Das«, meinte er, »liegt ganz bei dir.« Er nahm wieder das Buch in die Hand. »Ich nehme an, einiges würdest du selbst herausbekommen, oder du lässt dir gegen Bezahlung von jemand anderem helfen, aber das würde Zeit und Vertrauen erfordern. Und ich glaube, beides ist bei dir im Moment eher Mangelware.«
Das konnte ich nicht leugnen. Er hatte mich am Wickel, und das war uns beiden bewusst.
»Wie viel?«, fragte ich und machte mich auf eine große Zahl gefasst.
Jelem winkte erstaunlicherweise ab. »Geld? Dafür? Vergiss es. Du stehst bereits in meiner Schuld, außerdem bin ich kein geldgieriger Typ.« Ich musste mich beherrschen, um ihm nicht ins Gesicht zu lachen. »Nein«, fuhr Jelem fort, »ich dachte eher an etwas Naheliegenderes.«
»Zum Beispiel?«
Jelem tippte vielsagend auf das Buch.
»Nein«, sagte ich. »Kommt gar nicht infrage. Das Buch gehört mir.«
»Du hast mich falsch verstanden«, entgegnete Jelem. »Ich will das Buch nicht; ich bin doch nicht blöd und hänge außerdem am Leben. Aber ich will wissen, weshalb du dich dafür interessierst. Normalerweise machst du um Glimmer einen weiten Bogen, Drothe, zumal wenn es sich um kaiserlichen Glimmer handelt. Und deshalb …«
»Was?!«, sagte ich, warf das Bettzeug ab und setzte die Füße auf den Boden. Ich stand auf oder versuchte es zumindest. Die Beine versagten mir den Dienst, und ich blieb nur deshalb aufrecht stehen, weil ich mich am Fußbrett des Bettes festhielt.
»Sei vorsichtig«, sagte Jelem zerstreut. »Deine Beine werden dich eine ganze Weile nicht tragen. Der Heilglimmer, der deine Genesung beschleunigen soll, hat die umliegenden Muskeln geschwächt. In etwa einem Tag haben sie sich wieder erholt.«
»Danke für die Warnung«, knurrte ich und ließ mich wieder aufs Bett sinken. Ich atmete tief und stockend ein und ließ den Atem ebenso stotternd wieder entweichen. »Behauptest du etwa, bei dem Buch gehe es um kaiserliche Magie?«
Jelem lächelte träge. »Ja, soweit ich das feststellen kann. Und nein. Das Buch …«
»Was soll das heißen, soweit du das feststellen kannst?«, unterbrach ich ihn. »Entweder man kann uns hinrichten, weil wir das Buch besitzen, oder nicht. Du bist der Mund, verdammt noch mal. Ist das Ding verbotene Magie oder nicht?«
Jelem straffte sich in seinem Sessel und musterte mich durchdringend. »Ich kann dir nur sagen, dass das Buch in dieser lächerlichen Mischung aus Termitenspuren und Mäusedreck verfasst wurde, die ihr Kaiserlichen als Schrift bezeichnet; ich kann dir sagen, dass es in einem Dialekt verfasst ist, der heute nicht mehr gebräuchlich ist; und ich kann dir sagen, dass eine kaiserliche Paragone namens Ioclaudia Neph das Buch verfasst hat, und zwar vor allem deshalb, weil sie es freundlicherweise signiert hat. Nicht sagen kann ich dir, worüber Ioclaudia geschrieben hat, weil nämlich jemand übel gelaunt aufgewacht ist und mich aufgefordert hat, das Buch wegzulegen, bevor ich mich eingehender damit befassen konnte.«
»Aber wenn eine kaiserliche Paragone das verfasst hat, was hat es dann damit auf sich?« Als Paragone bezeichnete man eine bestimmte Gruppe kaiserlicher Magier. Kaiserlichem Dekret zufolge war es ihnen allein erlaubt, kaiserliche Magie anzuwenden.
»Da ich es noch nicht gelesen habe, möchte ich mich mit Mutmaßungen zurückhalten.«
Ich starrte den selbstgefällig lächelnden Jelem noch einen Moment an. Der Halunke wusste mehr, als er sagen wollte, und er wollte, dass ich es merkte.
»Na schön«, sagte ich. »Wenn du ein Buch, bei dem es vielleicht um kaiserliche Magie geht, nicht haben willst, was willst du dann?«
»Das habe ich dir bereits gesagt.«
»Ja, aber was hättest du davon, wenn du weißt, weshalb ich das Buch haben will?«, fragte ich.
»Ganz einfach«, antwortete Jelem. »Wenn ich weiß, weshalb du dich dafür interessierst, weiß ich auch, weshalb andere dahinter her sind. Die Magie der Kin und die des Kaisers kreuzen nicht oft ihre Wege – wenn es schon einmal vorkommt, bringt mich das in eine herausragende Position.«
»Soll heißen, du glaubst, du hättest dann ein Druckmittel gegen den Besitzer des Buches in der Hand, ganz gleich, ob er ein Verbrecher oder ein Kaiserlicher ist.«
Jelem zuckte mit den Schultern. »So in der Art, ja. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es immer gut ist, wenn man ein Druckmittel in der Hand hat.«
»In diesem Fall könnte das gefährlich sein«, meinte ich.
»Ein Werkzeug ist immer nur so gefährlich wie derjenige, der es gebraucht.«
Ich lehnte mich in die Kissen zurück und überlegte. Von Jelems Standpunkt aus machte der Vorschlag Sinn; je mehr er wusste, desto mehr Verhandlungsmasse hatte er. Und in Anbetracht seiner Andeutungen hatte er schon einen recht guten Überblick über den Inhalt des Buches. Das aber half ihm nicht weiter, solange er nicht wusste, mit wem er sich einlassen oder wem er aus dem Weg gehen musste.
Was mich betraf – nun, zu erzählen hatte ich einiges. Was als einfacher Säuberungsauftrag und als Jagd nach einer verschwundenen Reliquie begonnen hatte, stellte sich inzwischen als ausgewachsenes Durcheinander dar, das meine Schwester, Auftragsmörder, Graue Prinzen, einen Krieg unter den Kin, Weiße Schärpen und jetzt offenbar auch noch eine Paragone und deren Aufzeichnungen zum Thema kaiserliche Magie mit einschloss. Das meiste davon konnte ich mit Jelem besprechen, ohne Kells oder Degan zu verraten, doch das bedeutete nicht, dass ich es gerne tat.
Der Instinkt der Nase riet mir, Informationen so lange für mich zu behalten, bis ich mir den Durchblick verschafft hatte. In diesem Fall aber würde ich wohl nicht lange genug leben, um an diesen Punkt zu gelangen, es sei denn, ich fand heraus, wie es stand.
Außerdem wollte ich genau wissen, was das ganze Kuddelmuddel zu bedeuten hatte.
»Hast du Samenkerne?«, fragte ich.
Jelem langte in den einen Ärmel seines Gewands und warf mir einen Beutel zu. Ich schüttete mir zwei dunkle Kerne auf die Hand, rollte sie kurz mit den Fingerspitzen und steckte sie in den Mund. Sie schmeckten köstlich.
»Du musst das für dich behalten«, sagte ich. »Ich weiß, ich kann nicht erwarten, dass du keinen Vorteil aus deinem Wissen ziehst, aber es darf nicht die Runde machen, verstehst du?«
»Ist klar.«
»Na schön«, sagte ich. Und fing an zu erzählen. Ich berichtete ihm von meinem Auftrag, Fedim kaltzumachen, von der Unterhaltung, die ich unter dem Kanalrost belauscht hatte, von den Attentatsversuchen. Ich erzählte ihm von der Reliquie, von den Papierstreifen, von Eisen Degan und dem Grauen Prinzen und den Zehn Wegen. Ich erzählte ihm alles, was Ioclaudias Buch, die Zehn Wege und die Kämpfe zwischen Nicco und Kells betraf; ich schilderte ihm sogar meine Traumbegegnung mit der Grauen Prinzessin. Ich verschwieg ihm lediglich mein Schnökern, den Eid, den ich Degan geleistet hatte, und meine Verwandtschaft mit Christiana.
Als ich geendet hatte, schwieg Jelem lange, schwenkte langsam den Wein in seinem Glas und betrachtete die Lichtbrechungen an der Wandung. Als er das Wort ergriff, sprach er so leise, als käme seine Stimme aus weiter Ferne.
»Der Traum«, sagte er. »Ich finde ihn … beunruhigend.«
»Das finde ich auch.«
Jelem schüttelte den Kopf. »Ich meine nicht die Warnung der Frau, wenngleich ich glaube, dass du sie beherzigen solltest.«
»Was meinst du dann?«
Jelem schaute von seinem Weinglas auf. »Traummanipulation ist … Also, so was tut man nicht. Jedenfalls habe ich noch nie davon gehört. Im Reich ist so etwas noch nie vorgekommen.«
»Aber es wird anderswo praktiziert?«
»In den ältesten Wajig Tals in Djan – man könnte sie als Akademien für Magier bezeichnen, wenngleich ihr nichts Vergleichbares habt – erzählt man sich Geschichten über Meister der Vergangenheit, die so mühelos, wie wir von einem Raum in den anderen gehen, von einer Wirklichkeit in die andere wechseln konnten. Diese Studien wurden vor langer Zeit verboten. Die Despoten waren der Ansicht, diese Gabe ahme die Reisen unserer Götter nach und stelle demnach eine Blasphemie dar. Man sagt, der erste Schritt dieser Art des Reisens bestehe darin, in die Träume eines anderen Menschen einzudringen.«
»Soll das heißen, es wäre auch noch ein djanesischer Yazani hinter dem Buch her?«
»Nein«, sagte Jelem. »Das soll heißen, wenn dein Traum so manipuliert wurde, wie du es darstellst, ist dafür eine Person verantwortlich, die eine Magieform praktiziert, die in meiner Heimat seit Generationen verboten ist. Ob kaiserlicher Glimmer dazu imstande ist, weiß ich nicht.«
»Aber wozu dann das ganze Theater?«, fragte ich. »Was spricht dagegen, Glimmer einzusetzen, um das verdammte Ding zu finden?«
»Dafür gibt es zwei Gründe«, meinte Jelem. »Erstens ist es sehr schwierig, mit Magie Dinge aufzuspüren. Es sei denn, man ist mit dem gesuchten Gegenstand sehr gut vertraut, sind die Aussichten, ihn mit einem Zauber ausfindig zu machen, verschwindend gering. Ebenso gut kann man in einer fremden Stadt an jeder Kreuzung eine Münze werfen. Und zweitens, weshalb sollte man unnötig Aufmerksamkeit erregen, wenn man den Verdacht hat, andere mächtige Magier oder gar der Kaiser persönlich könnten sich für denselben Gegenstand interessieren?«
»Du hast vergessen, dass ich anscheinend genau das getan habe«, sagte ich.
»Ach, du bist ein Narr«, meinte Jelem. »Die Leute, die nach dem Buch suchen, sind klüger. Sie waren sich von Anfang an der Risiken bewusst, während du dir erst nach und nach darüber klar wirst.«
»Dann sag mir, was an dem verdammten Buch so besonders ist.«
Jelem setzte das Glas ab und schlug das Buch auf. Die Bindung knarrte protestierend. »Wie ich schon sagte«, meinte er und blätterte erstaunlich nachlässig die steifen Seiten um. »Ich weiß nicht so recht, was ich davon halten soll. Das ist ein eigenartiger Text. Ich habe mich noch nicht eingehend damit befasst. Und offen gesagt, wundert es mich noch immer, was in deinem Reich als magische Theorie durchgeht. Die djanesische Magie ist viel weniger exzentrisch.«
»Red nicht um den heißen Brei herum«, sagte ich. »Komm endlich zur Sache.«
Jelem warf mir einen finsteren Blick zu, dann blätterte er weiter. »Das hier ist ein Journal, ein Tagebuch. Teilweise geht es um höfische Politik, teilweise um Glimmer. Ioclaudia springt wie ein aufgeregtes Kind von Thema zu Thema. Wie so viele Kaiserliche hat sie offenbar keine Rhetorikausbildung genossen, aber wenn sie über Magie schreibt, ist wohl die kaiserliche Variante gemeint.
Außerdem war Ioclaudia Neph anscheinend eine persönliche Magieberaterin des Kaisers; sie gehörte dem innersten Kreis an. Wenn er etwas oder jemanden brauchte, gehörte sie zu den Leuten, die gerufen wurden. Informationen, Bestrafung, Verteidigung, Manipulation … Das hat sie erledigt.«
Ich stieß einen leisen Pfiff aus. »Dann war sie eine wichtige Paragone.«
»Von jemandem, der für den Kaiser zaubert, ist das auch zu erwarten. Aber das ist noch längst nicht das Interessanteste.«
»Ach, nein?«
»Nein.« Jelem blätterte weiter und überflog den Text. Als er die gewünschte Seite aufgeschlagen hatte, hielt er inne.
»Hier«, sagte er. Er reichte mir das Buch und zeigte auf einen bestimmten Abschnitt. »Lies das mal.«
Das Buch war in einem besseren Zustand, als ich erwartet hatte. Ich hatte schon religiöse und historische Texte gesehen, die beinahe auseinandergefallen waren, und die meisten davon waren nicht einmal annähernd so alt gewesen wie dieses Buch. Ja, es gab Wasserschäden, ältere und neue, und stellenweise war die Tinte verwischt; der Einband war lose, doch alles in allem war das Buch heil geblieben und benutzbar. Abgesehen von den getrockneten Dreckspuren hätte es mich nicht gewundert, wenn es bis jetzt in einer Bibliothek gestanden hätte.
Ich hielt das Buch so, dass der Lampenschein darauffiel. Jelem hatte recht; Ioclaudias Handschrift war fürchterlich. Bei den Ideogrammen schien es sich um eine stilisierte Form achtlos hingeworfener Schriftzeichen zu handeln.
»Mal sehen«, sagte ich. »Ich glaube, ich habe noch immer Schwierigkeiten mit dem dritten Teil der … Zauberformel. Ist vielleicht mangelnde Konzentration der Grund? Mag sein, doch ich vermute, es liegt eher an der Natur des Zauberspruchs. Hystias Theorem zufolge …«
Ich schaute zu Jelem auf. »Hystias Theorem?«, fragte ich.
»Geduld«, meinte Jelem. »Lies weiter.«
Ich schob das Buch auf meinem Schoß zurecht. »Hystias Theorem zufolge lässt sich die Magie durch die fala n’arim kanalisieren – fala n’arim?«
»Das ist ein djanesischer Ausdruck. Lies weiter.«
»… ist aber nicht dazu in der Lage, Einfluss darauf zu nehmen. Das ist bekannt. Das ist die Wahrheit, überliefert von den Engeln, so unveränderlich wie die Zeit.
Dessen ungeachtet haben wir Widersprüche im Theorem entdeckt. Das fala n’arim ist die ideale Linse, könnte aber auch als Schablone dienen. Eine Linse kann man polieren oder mit Facetten versehen und auf diese Weise ihre Brennweite verändern. Gilt dies auch für das fala n’arim? Der Vergleich hinkt, das gebe ich zu, aber wenn dem so ist, lässt sich vielleicht noch mehr damit anfangen, als wir dachten. Sehr viel mehr, als wir ihm zugetraut haben …«
Ich schaute hoch. »Na schön«, sagte ich. »Sie steht vor einer großen Entdeckung, zumindest glaubt sie das. Die Dinge sind nicht das, was sie zu sein scheinen. Na großartig. Aber was hat das zu bedeuten?«
Jelem nahm das Buch und setzte sich wieder. Er blickte auf den Absatz nieder, den ich soeben vorgelesen hatte. »Das fala n’arim ist den djanesischen Magiern schon lange bekannt. Eine direkte Übersetzung ins Kaiserliche gibt es nicht, weder für die Bezeichnung noch für die dahinter stehende Theorie.« Er fuhr mit dem Finger zerstreut über den Rand des Buches, dann zog er ihn hastig zurück.
»Fala n’arim«, sagte er, »bezeichnet den Kern des Zauberers, dessen innerstes Wesen. Die großen Yazani der Djan haben darüber geschrieben, dass man das fala n’arim abschirmen muss, damit es rein und unverdorben bleibt. Es mit Macht in Verbindung zu bringen, heißt, es zu verderben, und das gilt auch für den betreffenden Menschen. Das ist eine unserer ältesten magischen Grundsätze.
Ioclaudia aber schreibt davon, es dazu zu benutzen, ihre Magie zu fokussieren, ihm Macht zuzuführen und sie in ihm zu formen. Sie deutet sogar an, man könne das fala n’arim dazu verwenden, Macht aus dem Niemandsland abzuleiten.« Jelem stockte und rieb sich die Unterlippe. »Ich glaube, ich sehe es theoretisch vor mir«, sagte er. »Das könnte einem unendlich große Macht verschaffen, aber …«
»Jelem«, sagte ich«, ist das fala n’arim die Seele?«
»In Ermangelung eines besseren Begriffs könnte man das so sagen, ja.« Jelem sah zu mir auf. »Ioclaudia schreibt davon, ihr innerstes Wesen dazu zu benutzen, die Macht des Niemandslandes anzuzapfen. Anstatt die Krümel aufzulesen wie die meisten Wortmagier, welche die Verbindung streng regulieren – nur Ioclaudia und das Niemandsland.«
»Also geht es bei der kaiserlichen Magie darum, mittels der Seele zu zaubern?«
»Das will Ioclaudia anscheinend ausdrücken, zumindest verstehe ich es so. Da gibt es noch eine Menge nachzulesen.«
Ich starrte das Buch auf seinem Schoß an. Ich verstand nicht viel von Theologie, aber wenn man mit Diebesgut handelt, ergibt es sich von selbst, dass man das eine oder andere aufschnappt. Das wenige, was ich wusste, sandte hektisch Warnungen aus.
»Das ist Blasphemie«, sagte ich. »Schwere Blasphemie.« Selbst die Engel hatten zunächst gezögert, bevor sie Stephen Dorminikos’ Seele aufteilten und den Zyklus der kaiserlichen Reinkarnationen in Gang setzten. Mit Seelen spielte man nicht. Das besagte der dritte Artikel im Buch der Wiederkehr, der gleich nach folgender Aussage kam: Achte die Engel in allen Dingen, denn sie sind die wahren Nachfolger der Toten Götter.
Und obendrein ging es um kaiserliche Magie.
»Das Ding ist ein beschissenes zweifaches Todesurteil«, sagte ich.
»Aber auch der Schlüssel zu großer Macht«, bemerkte Jelem.
»Kein Wunder, dass die Schärpen hinter dem Buch her waren.« Ich fuhr mir mit der Hand über den Oberschenkel. Ein dumpfer Schmerz ging von der Schwertverletzung aus. »Wir haben noch Glück gehabt. Alles wäre noch viel schlimmer, wenn sie entkommen wären und dem Kaiser gesagt hätten, in wessen Besitz sich das Buch befindet.«
»Dazu könnte es immer noch kommen«, sagte Degan.
Ich fuhr zusammen und sah Degan im Eingang stehen, einen Sack unter den Arm geklemmt. Große Männer sollten sich nicht so leise bewegen können.
Er hatte dunkle Ringe unter den Augen. Obwohl er sich in der Zwischenzeit umgezogen hatte, war seine Kleidung zerknittert und schmutzig. Seine linke Hand war verbunden.
»Die dritte Schärpe?«
»Ist entwischt.«
Ich schloss die Augen. »Verdammt.« Jetzt war es ein dreifaches Todesurteil.