Einundzwanzig

Kells war nicht zu Hause. Genauer ausgedrückt, er hielt sich weder im Silberscheibenkordon auf noch in einem anderen seiner Reviere. Er war in den Zehn Wegen, wo er höchstpersönlich den Krieg gegen Nicco leitete.

»Ist es so schlimm?«, fragte Degan.

»Angeblich schon«, antwortete ich. Als es mir nicht gelungen war, mit Kells zu sprechen, hatte ich nach Degan gesucht und ihn bei Prospo angetroffen, wo er mit Jelem eine Partie Cabbat spielte.

»Und du willst ihn unbedingt sprechen?«, meinte Degan.

»Ja.« Kells war ein Aufrechter, der am liebsten im Verborgenen die Strippen zog und Pläne schmiedete; dass er jetzt auf der Straße war und sogar an vorderster Front, ließ nichts Gutes ahnen.

Degan warf seufzend die Karten auf den Tisch. »Ich hatte gerade angefangen zu gewinnen.«

»Ja, sicher«, meinte Jelem und strich den kleinen Münzstapel in der Mitte des Tisches ein. »Du glaubst gar nicht, wie dankbar ich Drothe dafür bin, dass er mich vor der drohenden … Niederlage bewahrt hat.«

»Erst kommt das Geschäft, dann das Vergnügen«, sagte ich.

»Nur seltsam, dass deine ›Geschäfte‹ ständig meinen Gewinnen im Wege stehen«, bemerkte Jelem, die Münzen stapelnd. »Zumal ich noch Geld ausstehen habe, weil ich mich mit einem gewissen Strick beschäftigt habe.«

Ich spannte mich an. »Das ist mir neu«, entgegnete ich.

»Also, was das betrifft …« Jelem schob die funkelnden Münzstapel beiseite und pflanzte die Ellbogen auf den Tisch. »Gib mir sechs Strähnen von deinem Haar.«

»Was?«

Jelem schnippte mit den Fingern. »Mach schon«, sagte er. »Bevor wir gestört werden.«

Ich riss mir ein paar Haare aus.

»Sie müssen lang sein«, meinte Jelem, langte unter sein Gewand und holte einen Strick mit mehreren Knoten hervor. Tamas’ Strick – nein, der Strick von Pflicht; keiner der Knoten war verkohlt.

»Pass auf, dass uns niemand zusieht«, sagte er, nahm die Haare von mir entgegen und legte sie sich sorgfältig auf den Schoß.

»Was machst du da?«, fragte ich.

»Ich stelle die Magie des Stricks auf dich ein, was sonst.«

»Du stellst sie ein? Ich habe noch nicht oft tragbaren Glimmer benutzt, aber ›eingestellt‹ werden musste der nie.«

»Das lag daran, dass das Zeug entweder harmlos war, oder aber du konntest es körperlich beherrschen, als es aktiviert war. Das hier ist ein Strick. Er ist biegsam und schlängelt sich. Die eingeknoteten Runen werden aktiviert, wenn jemand davon getroffen wird. Geht dein Hieb daneben, besteht die Gefahr, dass der Strick herumschlägt und dich selber trifft. Aber vielleicht macht es dir ja nichts aus, dich mit deinem eigenen Glimmer bewusstlos zu schlagen?«

»Stell das Ding ruhig ein«, sagte ich.

Ich schaute zu, wie Jelem ein einzelnes Haar kunstvoll um den ersten Knoten schlang. Währenddessen murmelte er vor sich hin und griff immer wieder in die Luft.

Degan und ich postierten uns beiderseits des Tisches und nahmen die lässige Haltung ein, die für Kin auf dem Schlich typisch ist. Als Cecil sich erkundigen wollte, ob wir Nachschub an Getränken bräuchten, scheuchte ich ihn weg. Wenn jemand vorbeikam, postierte Degan sich zwischen Straße und Tisch.

Schließlich verstummte Jelems Gebrummel, und er räusperte sich.

Als ich mich umdrehte, hatte er sich zurückgelehnt, der Strick lag zusammengerollt auf seinem Schoß.

»Fertig?«, fragte ich.

»Fertig«, bestätigte Jelem.

Wir sahen einander an.

»Was die Bezahlung angeht«, sagte ich schließlich.

»Ja?«

Scheiße. Das war mir zuwider. Es war peinlich. »Nicco hat mich rausgeschmissen, und alle meine Falken waren …«

»Du bist pleite«, meinte Jelem.

»Im Moment, ja«, räumte ich ein.

Jelem nickte. »Das wundert mich nicht. Aber zum Glück habe ich eine Idee, wie wir das ohne Geld hinbekommen.«

»Ohne Geld«, echote ich.

»Du schuldest mir einen Gefallen«, sagte er; aus seinem Mund hatte das Wort einen seidenweichen, schmutzigen Klang. »Einlösbar … später.«

»Was für einen Gefallen?«

Jelem hob andeutungsweise die linke Schulter. »Wenn ich das wüsste, wäre es kein Gefallen – dann wäre es die Bezahlung.«

Ich biss die Zähne zusammen und sah erst den Strick und dann wieder Jelem an. Ich blickte zu Degan hinüber.

»Sieh mich nicht an«, sagte Degan. »Ich finde den Vorschlag vernünftig.«

Ich wandte mich wieder Jelem zu. Er saß ruhig da und wartete, denn er wusste, er hatte mich in der Hand. Im Moment war ich auf jede Hilfe angewiesen, und der Strick kam mir gerade recht.

»Na schön«, sagte ich. »Du bist schließlich nicht der Erste, dem ich was schuldig bin.«

Degan hüstelte diskret und verkniff sich ein Grinsen.

»Na gut«, meinte Jelem. Er nahm den Strick und warf ihn mir an den Kopf. »Da.«

Meine Augen weiteten sich. Ich versuchte auszuweichen, doch der Strick entrollte sich im Flug, und ich wurde von zwei Knoten getroffen.

Nichts geschah.

»Also, das scheint ja geklappt zu haben«, sagte Jelem, nahm das Kartenspiel in die Hand und begann zu mischen. »Gut.«

»Es scheint geklappt zu haben?«, sagte ich, als ich den Strick aufhob. »Soll das heißen, du warst dir gar nicht sicher?«

Jelem teilte das Blatt in seiner Hand mit den Fingern in zwei gleich große Stapel und schob sie übereinander. Er lächelte und schwieg.

»Du Mistkerl«, sagte ich, rollte den Strick auf und schob ihn mir hinter den Gürtel. Jelem lächelte noch immer, als Degan und ich davongingen.

Kells hatte sein Hauptquartier in der Nordostecke der Zehn Wege in den Überresten eines kleinen Herrenhauses aufgeschlagen. Wie so viele einst prächtige Häuser im Kordon war es von den verschiedenen Besitzern und Mietern wieder und wieder unterteilt worden, bis es sich in ein Labyrinth miteinander verbundener Behausungen und Zimmer verwandelt hatte, mit scheinbar wahllos eingerissenen und neu errichteten Zwischenwänden. Den Schutthaufen und den Holzbalken auf dem Hof nach zu schließen, hatte Kells von seinen Leuten einige neuere Anbauten abreißen lassen, um mehr Bewegungsfreiheit zu haben und das Ganze leichter verteidigen zu können.

»Warte hier!«, sagte einer der Schnitter, die uns vom Kordon hergeführt hatten. »Erst muss ich nachfragen.«

»Tu das«, meinte ich. Degan grunzte nur und sah sich um.

In die Zehn Wege hineinzugelangen, war einfacher gewesen als erwartet. Auf den Straßen herrschte inzwischen offener Krieg, Schnitter und Hudel traten in größeren Gruppen auf. Vereinzelte Kin wurden ignoriert, da alle nach größerem Ärger Ausschau hielten.

Und davon gab es mehr als genug. An drei Stellen war gekämpft worden, zweimal waren verschiedene Kingruppen aneinandergeraten. Einmal hatte sich eine kleine Schar von Hudeln mit einem Trupp von Niccos Männern angelegt. Normalerweise hätte ich darauf gewettet, dass die Hudel siegen würden, denn sie waren nicht nur mit Klingen, sondern auch mit Hellebarden und Rundschilden ausgerüstet; allerdings hatten Niccos Leute für gewöhnlich keinen Mund dabei, wenn sie auf Jagd gingen. Es brauchte nur eine Handvoll in die Luft geschleuderte Nägel und ein paar Zaubersprüche, um das Kampfesglück zu wenden. Kurz darauf waren wir auf eine Gruppe von Kells’ Leuten gestoßen, hatten unsere Waffen abgegeben und uns zum Hauptquartier des Aufrechten führen lassen.

»Ein guter Ort, um Leute kaltzumachen«, bemerkte Degan nach einer Weile.

Ich nickte. Zwischen den hohen Hofmauern und den noch höher gelegenen Fenstern des ersten und zweiten Stocks würde jeder, der das Haus einnehmen wollte, in eine Todesfalle geraten. Vorausgesetzt, die Angreifer schafften es bis hierher. Um dem Gegner die Deckung zu nehmen und ihm keine Munition in die Hände fallen zu lassen, wurde vor den Mauern im Moment alles weggeräumt, was größer war als ein Schuh.

Das war kein gutes Zeichen. Es kündete von Kampf bis zum Ende. Es kündete von Kells Niederlage.

Im Haus war die Belagerungsmentalität nahezu greifbar. Kin eilten umher, machten sich kampfbereit oder warteten schweigend auf das Unausweichliche. Das muntere Geplauder, die gutmütigen Scherze und die prahlerischen Reden, die sonst einem Kampf vorausgingen, fehlten ganz. Zu spüren war nichts als Resignation.

Der Schnitter, den die anderen Leute der Patrouille Jock nannten, kam vom Haus herübergeschlendert und wirbelte den Stock in der Hand. »Du darfst rein«, sagte er zu mir. »Du nicht«, sagte er zu Degan.

Degan zuckte mit den Schultern, ging zur Mauer und setzte sich davor auf den Boden. Ehe ich den Hof verlassen hatte, schnarchte er bereits.

Jock geleitete mich zwei Treppen hoch, die mir vorkamen wie vier, dann gingen wir durch einen langen Gang. Vor einer verkohlten Tür blieben wir stehen. Unter dem Ruß zeichneten sich noch kunstvolle Schnitzereien ab – Blumen, Laub und Vogelschwingen. Jock klopfte zweimal mit dem Stock an und bedachte mich zwischendurch mit einem mürrischen Blick, dann machte er kehrt und ging wortlos an mir vorbei. Das hohle Poltern seiner Stiefel auf den Dielenbrettern entfernte sich.

Seufzend rieb ich mir das stoppelbärtige Gesicht. Wie lange war es her, dass ich bei Moriarty gewesen war? Oder bei Christiana? Ihre Gesichter verschmolzen miteinander, meine Gedanken verschwammen. Ich blinzelte, ohrfeigte mich und steckte mir zwei Ahramis in den Mund. Es nutzte alles nichts.

»Herein!«, rief von drinnen Kells. Ich öffnete die Tür.

Die Vorhänge waren zugezogen, der Raum wurde von mehreren Kerzen erhellt. Anscheinend hatte jemand im Haus Glassachen gefunden, denn jede einzelne Kerze stand in einem Weinglas, was ihr das Aussehen einer leuchtenden Tulpe gab. Die Kerzen waren im ganzen Raum verteilt, was ein verwirrendes Muster aus Licht und Schatten zur Folge hatte. Meine Nachtsichtigkeit konnte mir hier nicht weiterhelfen.

Etwa in der Mitte des Raums stand ein großer Tisch, der eher in ein Esszimmer gepasst hätte als in einen Arbeitsraum. An der Vorderseite waren einige Trinkkelche aufgereiht, ein jeder etwas kleiner als der vorhergehende, sodass eine Art Lichtertreppe entstanden war. Hinter den Kerzen, fast hinter dem Tisch verborgen, saß Kells, dessen düstere Miene durch die flackernde Beleuchtung noch betont wurde. Die Hände hatte er auf die Tischplatte gelegt und klopfte mit den Daumen darauf. Ansonsten rührte er sich nicht.

Ich schloss die Tür und trat drei Schritte in den Raum hinein, als sich die Schatten hinter Kells auf einmal bewegten. Zunächst führte ich das auf die unstete Beleuchtung zurück, dann stellte ich fest, dass sie sich von selbst bewegten. Ich blieb stehen, sah genauer hin und machte hinter meinem Boss eine große, dunkle Gestalt in einem langen, grauschwarzen Umhang aus.

Im nächsten Moment fuhr mein Schwert aus der Scheide.

»Freut mich ebenfalls, dich zu sehen, Drothe«, sagte die mir bekannte tiefe, sanfte Stimme. Der Kin trat ein Stück ins Licht, das Gesicht unter einer weiten Kapuze verborgen.

»Was zum Teufel macht der denn hier?«, fragte ich Kells.

»Drothe«, sagte Kells, »steck die Klinge weg.«

»Weißt du, wer das ist?«

Kells hob eine Braue. »Ja, und du?«

Der Mann im Umhang hatte sich nicht gerührt.

»Ich weiß genug, um ihm nicht zu trauen«, sagte ich und knirschte mit den Zähnen. »Ich weiß, dass er mich zu zwei Weißschärpen geführt hat, die vorhatten, mich in Stück zu hacken, und ich weiß, dass er auffallend gut über die Vorgänge in den Zehn Wegen informiert ist. So gesehen kenne ich ihn recht gut.«

Der Mann lachte leise, und selbst Kells gestattete sich ein klägliches Lächeln. Meine Stimmung wurde dadurch nicht besser.

Mir kam ein verstörender Gedanke. Ich deutete mit dem Schwert auf den Mann. »Er arbeitet für dich«, sagte ich zu Kells. »Du hast diesen wandelnden Stoffballen auf mich angesetzt, hab ich recht?«

»Bestimmt nicht«, entgegnete Kells.

»Und was zum Teufel macht er dann hier?«

»Setz dich«, sagte Kells und zeigte auf einen der beiden Stühle vor dem Tisch.

»Ich stehe lieber«, erwiderte ich, stellte mich aber neben die Stühle.

»Wie du meinst.« Kells kam um den Tisch herum und setzte sich vor mir auf die Ecke der Tischplatte. Er warf einen Blick auf Nestors abgetragene Klamotten, dann zuckte er mit den Schultern.

»Also, was führt dich zu mir?«, fragte er.

Ich musterte meinen Boss noch einen Moment, dann schaute ich den Mann im Umhang an. »Ich warte immer noch auf eine Erklärung«, sagte ich.

»Er ist hier, weil ich ihn um einen Besuch gebeten habe«, antwortete Kells. »Das sollte dir genügen.«

»Tut es aber nicht, solange er mit mir spielt«, entgegnete ich. »Seit diese Scheiße angefangen hat, füttert er mich mit Informationen und dirigiert mich.«

»Waren irgendwelche Informationen, die ich dir gegeben habe, etwa unzutreffend?«, fragte die Gestalt im Umhang.

»Darum geht es nicht«, sagte ich.

»Doch, genau darum geht es«, entgegnete der Mann. »Die Folgen mögen dir nicht behagt haben, aber du kannst nicht behaupten, ich hätte dich in die Irre geführt.«

»Du hättest mich wenigstens vor den verdammten Schärpen warnen können!«

»Wärst du nicht trotzdem reingegangen?«

»Du Hurensohn!«, grollte ich. »Du hattest kein Recht dazu, mich dort reinzuschicken.« Mit der freien Hand zeigte ich auf Kells. »Ich arbeite für ihn, nicht für dich, und ich will verdammt sein, wenn ich mir hier Lügenmärchen auftischen lasse von jemandem, dessentwegen ich beinahe kaltgemacht worden wäre.«

»Du wirst …«, setzte der Fremde an.

»Du wirst tun, was ich dir sage, Drothe«, schaltete Kells sich ein. »Und zwar sofort. Erstatte mir gefälligst Bericht.«

Mein Blick wanderte von Kells zu dem Mann und wieder zurück. Was zum Teufel ging hier vor? In all den Jahren, da ich Kells Bericht erstattete, hatte er stets strengste Vertraulichkeit gewahrt. Schon damals, als ich auf den Straßen herumgeschnökert hatte, bevor ich Langnase wurde, hatte er Wert darauf gelegt, dass bei unseren Unterhaltungen kein Dritter zugegen war. Hatte das vielleicht damit zu tun, dass ich bei Nicco aufgeflogen war? Das konnte ich mir nicht vorstellen; dennoch forderte er mich auf, in Anwesenheit eines Fremden zu reden, der nicht seiner Organisation angehörte.

Darauf konnte ich mir keinen Reim machen.

Kells trat näher und sah mir direkt in die Augen. »Ich habe gesagt, du sollst Bericht erstatten. Red schon.«

Und da sah ich es – jetzt, da ich sein Gesicht dicht vor mir hatte, seinen Atem im Gesicht spürte. Sah seine angespannte Haltung, seinen steifen Hals und seinen besorgten Blick. Seine Augen waren geweitet, sein Blick unstet, flehend. Seine Augen zuckten kurz zur Seite, zu der hinter ihm stehenden Kapuzengestalt, dann sah er mir über die Schulter.

Kells war gar nicht erbost; er hatte Angst. Und er wollte mir einen Hinweis geben.

Ich zögerte keinen Moment.

»Fahr zur Hölle«, sagte ich und wich zurück. Ich konnte nur hoffen, dass ich ihn richtig verstanden hatte.

»Wie bitte?«, sagte Kells.

»Du hast gehört, was ich gesagt habe.« Ich blickte zum Kapuzenmann. »Ich bin es leid, anderer Leute Fragen zu beantworten.«

»Du bist es leid zu antworten?«, sagte Kells. »Du bist eine Nase, verflucht noch mal – meine Nase! Fragen zu beantworten ist dein Job

»Nein!«, sagte ich. »Informationen zu sieben ist mein Job. Gerüchte von Hinweisen zu trennen. Meinen Arsch zu riskieren, damit ich mir ein Bild machen kann. Und das tue ich für dich, nicht für den da.« Ich zeigte auf die ominöse Gestalt zu meiner Rechten. »Solange ich nicht weiß, mit wem ich es zu tun habe, sage ich gar nichts. Ich will wissen, was zum Teufel in den Zehn Wegen in Wirklichkeit vorgeht und was es mit dem verdammten Tagebuch auf sich hat, hinter dem alle her sind!«

Kells stieß mir den Zeigefinger ins Gesicht. »Dein Job«, knurrte er, »ist es, die Einzelteile aufzulesen, und nicht, das Mosaik zusammenzusetzen. Wenn ich dich einbeziehen wollte, hätte ich dir eine andere Aufgabe gegeben. Das habe ich nicht getan. Also beklag dich nicht, wenn ich dich an deine Pflichten erinnere. Das ist anscheinend nötig.«

»Einen Moment«, sagte der Kapuzenmann.

Kells blinzelte. Ich ließ nicht locker; selbst wenn ich gewollt hätte, ich hätte es nicht gekonnt. »Aus deinem Mund klingt das so, als wäre ich mit meiner Rolle zufrieden«, sagte ich. »Als machte es mir Spaß, mir von allen möglichen Leuten in den Arsch treten zu lassen.« Ich zeigte zur Tür und meinte den dahinter liegenden Kordon. »Ich bin deshalb in den Zehn Wegen, weil Nicco mich hierhergeschickt hat, nicht weil ich herkommen wollte. Und ich bin hiergeblieben, weil ich nicht wollte, dass deine Organisation den Bach runtergeht. Aber nach allem, was ich gesehen habe, ist sie bereits auf dem besten Weg.«

Kells rückte näher an mich heran, das Zwinkern hatte er eingestellt. »Willst du damit sagen, ich wäre nicht in der Lage, meine Organisation zu führen?«

Das war keine listenreiche Verstellung mehr, doch das war mir egal. Es tat mir gut, diese Dinge auszusprechen, sie Kells an den Kopf zu werfen. Ich hatte in den vergangenen sieben Jahren zu viel durchgemacht, um Spielchen zu spielen.

»Ich will damit sagen, du hättest mich ernst nehmen sollen, als ich dich zum ersten Mal informiert habe«, sagte ich. »Du hast gewusst, dass Nicco dir ans Leder will, aber du musstest unbedingt tricksen.« Ich schwenkte den Arm. »Und was ist dabei herausgekommen?«

»Moment«, sagte der Fremde erneut.

»Und was hättest du an meiner Stelle getan?«, fragte Kells.

»Woher zum Teufel soll ich das wissen?«, entgegnete ich. »Ich war damit beschäftigt, mich der Schärpen, der Meuchelmörder und Niccos Schnitter zu erwehren, da hatte ich keine Zeit, mir den Kopf über die richtige Taktik zu zerbrechen. Übrigens bin ich bloß eine Nase – meine Aufgaben beschränken sich darauf, die Ohren aufzusperren und Bericht zu erstatten. Die Engel mögen verhindern, dass ich mir ein klares Bild mache von …«

»Moment!« Das Wort explodierte aus der Tiefe der Kapuze hervor und dröhnte, als hallte es in einer Höhle wider. Kells und ich hielten inne und sahen den Kapuzenmann an. Er zeigte auf mich. »Du hast ein ›verdammtes Tagebuch‹ erwähnt«, sagte er mit seiner normalen Stimme, die so dunkel war wie Kaffee.

»Ja, und?«

»Wer hat dir gesagt, das wäre ein Tagebuch?«

Mist. »Wie bitte?«

»Bisher war stets von einem Buch die Rede, aber du hast von einem Tagebuch gesprochen.«

Ich glotzte ihn an.

»Es befindet sich in deinem Besitz, hab ich recht?«

Ich sah Kells an. Er beobachtete mich aufmerksam, mit zusammengekniffenen Augen. Er schüttelte kaum merklich den Kopf.

Ich blickte wieder die Kapuzengestalt an.

»Nein«, sagte ich. »Aber ich glaube, ich weiß, wo es ist.«

»Das kann ich mir denken«, sagte die dunkle Gestalt. »Dann hol’s her.«

»Warum?«, fragte ich.

»Was?«

»Warum willst du das Buch haben?«, fragte ich. »Weshalb sollte ich es ausgerechnet dir geben und nicht jemand anderem?«

Der Fremde musterte mich lange. »Ich rechtfertige mich nicht gegenüber Lakaien.«

Lakaien?

»Scheiße!«, knurrte ich.

Ehe Kells reagieren konnte, drängte ich mich an ihm vorbei und ergriff einen Weinkelch mit Kerze. Ich glitt unter den Tisch und platzierte mich vor dem wandelnden Umhang.

»Schluss mit den Spielchen«, sagte ich, streckte den Arm aus, packte die Kapuze und schob gleichzeitig die Kerze vor. »Wenn du glaubst … gütige Engel!«

Die Kapuze ließ sich nicht bewegen. Zwar faltete sich deren Rand in meiner Hand wie gewöhnlicher Stoff, doch die Kapuze selbst ließ sich nicht zurückschlagen. Es war, als wollte man eine mit Wolle gepolsterte Mauer eindrücken.

Schlimmer noch war die Dunkelheit unter der Kapuze; sie hielt der Helligkeit stand. Vor mir bildete sich ein grauschwarzer Nebelschleier, der hin und her wogte, als überträfe seine Ausdehnung den Innendurchmesser der Kapuze. Ich meinte, den Umriss eines Kinns wahrzunehmen, die Andeutung einer Nase, doch ich war mir nicht sicher. Mir wurde klar, dass mir auch meine Nachtsichtigkeit nicht weitergeholfen hätte – diese Dunkelheit war undurchdringlich.

Mein Magen krampfte sich zusammen.

Der Mann im Umhang hatte sich nicht gerührt, zeigte keinerlei Reaktion. Er flüsterte etwas, so leise, dass ich es nicht verstand. Dann flog ich durch den Raum, und mir klingelten die Ohren von der Macht des einen Wortes, das er ausgesprochen hatte. Ich prallte gegen die Wand und fiel auf den Boden. Dort blieb ich benommen liegen.

Ich hörte eine Stimme, fühlte, wie mich jemand anfasste. Ich wollte etwas sagen, aber … es gelang mir nicht. Schon das Blinzeln war eine gewaltige Kraftanstrengung.

Dann setzte der Schmerz ein. Ich stöhnte, fasste mich gleich wieder und biss die Zähne zusammen. Diese Genugtuung wollte ich ihm nicht gewähren.

Ich hob den Kopf. Kells ging vor dem Tisch auf und ab, in seinem Gesicht zeichneten sich unverhohlener Zorn und Besorgnis ab. Der Kapuzenmann hatte in der Zwischenzeit hinter dem Tisch auf dem Stuhl Platz genommen.

»Reicht das als Erklärung?«, sagte er.

Es gab nur eine Erklärung – für den Umhang, für die Dunkelheit, für den Glimmer, für Kells’ Verhalten –, und sie gefiel mir nicht.

Ich hatte gewusst, dass ein Grauer Prinz im Spiel war; ich hatte einfach nicht bedacht, dass es ebenso gut zwei sein konnten. Offenbar behielten sie sich gegenseitig im Auge. Jetzt gab es nicht den geringsten Zweifel mehr, wen ich hier vor mir hatte. Mann, er machte gar kein Hehl aus seiner Identität – ich war nur zu blöd gewesen, um es zu bemerken.

»Schatten!«, krächzte ich. »Verflucht noch mal, du bist Schatten.«

Die Kapuze des Grauen Prinzen senkte sich andeutungsweise. »So ist es.«