Neunundzwanzig
»Was zum Teufel ist das?«, fragte Einsamkeit und starrte den Papierstapel an, den ich ihr vorgelegt hatte.
Wir befanden uns in einem durch einen Vorhang abgetrennten Alkoven im Schankraum einer Taverne im Kordon Zwei Kronen. Draußen schien die Sonne, und es gab viele Gäste, die den Abend mit dem einen oder anderen Glas einleiteten. Der Kampf auf dem Platz des Fünften Engels war drei Tage her, und ich hatte immer noch Schmerzen.
»Das ist Ioclaudias Tagebuch«, sagte ich. »Oder jedenfalls das, worauf es ankommt.«
»Das, worauf es ankommt?«, wiederholte Einsamkeit ungläubig. Heute war sie überwiegend braun gekleidet – braunes Lederwams und Hemd, gelbbraunes Hemd, rostbraune Schuhe und hellgelbe Strümpfe. Wie gewöhnlich trug sie verschiedene Amulette im Haar und an der Kleidung. Diesmal fehlten jedoch die Pilgeramulette. »Wo ist der Rest des Journals?«, wollte sie wissen.
Ich zwang mich, ihren Blick zu erwidern. »Den brauche ich für einen anderen Zweck«, antwortete ich.
Einsamkeit schnellte vom Stuhl hoch. »Du brauchst sie wofür?«
»Das ist die einzige Möglichkeit …«
»Was? Mich zu bescheißen?« Einsamkeit schnippte gegen die Buchseiten. »Du willst mich mit Papierschnipseln abspeisen und den Rest des Tagebuchs behalten? Verdammt noch mal, das ist nicht das, was wir vereinbart hatten!«
»Es waren Anpassungen nötig«, entgegnete ich.
»Anpassungen?«, wiederholte sie. »Was zum Teufel soll das heißen?«
Ich tippte auf die Papiere und senkte die Stimme. »Das heißt, in diesen Seiten ist alles enthalten, was den Kaiser und die Reinkarnation betrifft. Du hast selbst gesagt, das wäre alles, was du bräuchtest, um das Reich zu retten. Der Rest geht an jemand anderen.«
Einsamkeit machte die Augen schmal. »Soll heißen?«
»Schatten«, antwortete ich. Dass Jelem ein paar Seiten als Bezahlung für die Beschäftigung mit Tamas’ Strick und dem Buch verlangt hatte, verschwieg ich ihr. In Anbetracht ihrer gereizten Stimmung schien es mir geraten, mich mit der Nennung von Namen zurückzuhalten.
Falls ich einen Wutausbruch erwartet hatte, so wurde ich enttäuscht. Einsamkeit biss sich auf die Lippen und wandte sich dem Vorhang zu. »Gryph!«
Der Arm, der vor dem Alkoven Wache hielt, streckte seinen Kopf durch den Spalt.
»Räume den Schankraum«, befahl Einsamkeit. »Ich möchte, dass alle verschwinden, auch der Wirt. Die Taverne gehört bis auf Weiteres mir.«
Gryph zog sich zurück. Draußen wurde es laut, doch der Lärm legte sich alsbald.
»Alle weg!«, vermeldete Gryph.
»Du verschwindest auch«, sagte Einsamkeit. Man vernahm das Geräusch von Schritten, eine Tür fiel zu.
Einsamkeit drehte sich zu mir herum. »Was zum Teufel denkst du dir eigentlich dabei?«, sagte sie. »Wir haben eine Abmachung. Du hast kein Recht, über die Verwendung des Tagesbuchs zu entscheiden, geschweige denn, es aufzuteilen! Du hättest wenigstens …«
»Kein Recht?«, entgegnete ich. »Ich habe mehr Rechte an diesem Buch als jeder andere in dieser verfluchten Stadt! Ich habe wegen des Buchs Schweiß und Blut vergossen, ich habe getötet und betrogen. Während du Schnitter losgeschickt und Träume manipuliert hast, habe ich auf der Straße gegen Prinzen, Münder und Arme gekämpft. Ich habe miterlebt, wie Menschen gefoltert und geschlagen wurden, nur weil sie das Pech hatten, sich in meiner Nähe aufgehalten zu haben. Ich habe mehr Rechte an dem Buch als du, Schatten, der Kaiser oder irgendjemand sonst. Wenn sich einer das Recht verdient hat, darüber zu befinden, dann ich!«
»Und wie sieht deine brillante Entscheidung aus?«, erwiderte Einsamkeit. »Du gibst Schatten kaiserliche Magie in die Hand! Du machst ihn zum gefährlichsten Kin in der ganzen Stadt! Wenn er erst einmal anfängt, seine neu gewonnene Macht zu gebrauchen, wird uns das Reich härter treffen als ein Hammer den Amboss. Oder ist dir das egal? Vielleicht willst du ja auch dem Kaiser ein paar Seiten geben, um deinen Arsch zu retten.« Einsamkeit hob angewidert die Arme. »Du kannst nicht alle Seiten zufriedenstellen, Drothe. Schlag dir das aus dem Kopf.«
»Mir ist scheißegal, wer hier zufrieden ist und wer nicht«, sagte ich. »Wenn ich meinen Arsch retten wollte, gäbe es wahrlich bessere Möglichkeiten. Ich tue das, weil ich auf diese Weise dir und dem Reich am besten helfen und die Menschen, die mir etwas bedeuten, schützen kann. Das ist alles, worauf es mir ankommt.«
»Und Schatten? Was ist, wenn er uns alles um die Ohren haut?«
Ich lehnte mich zurück. »Ja, er bekommt einen Teil des Journals, aber der wird ihm nicht viel nützen.«
»Was zum Teufel soll das heißen?«, fauchte sie.
»Er hat das Buch noch nie zu Gesicht bekommen«, sagte ich. »Er kennt den Inhalt nicht – er wusste nur, dass du dahinter her warst und dass es von kaiserlichem Glimmer handeln soll.« Ich deutete auf die vor ihr liegenden Blätter. »Als ich die Seiten von … meinen Freunden herauslösen ließ, haben sie auch das Journal verändert. Sie haben Teile hinzugefügt und mit Wasserflecken präpariert und andere Teile herausgenommen; es finden sich noch Notizen zum Glimmer darin, aber Schatten dürfte verdammt lange brauchen, um daraus schlau zu werden.«
»Und du glaubst, er wird die Fälschungen nicht bemerken?«
»Meine Leute haben sehr, sehr gute Arbeit geleistet.«
Einsamkeit fixierte mich, kratzte mit den Fingernägeln an der Tischplatte. »Verdammt noch mal!«, sagte sie schließlich. »Wir hatten eine Abmachung!«
»Ich habe mich so gut es ging daran gehalten.«
»Du hast so viel für dich behalten, wie du wolltest«, entgegnete sie. »Das ist etwas anderes.«
»Der Unterschied«, sagte ich, »liegt darin, dass ich begriffen habe, dass ich auch anderen Menschen gegenüber Verpflichtungen habe, die nicht weniger wichtig sind.«
»Wie bequem – du kriegst den Moralischen, und ich habe das Nachsehen.« Ich wollte etwas erwidern, doch sie gebot mir mit erhobener Hand Einhalt. »Nein, halt mal einen Moment lang den Mund. Ich muss nachdenken.« Einsamkeit nahm die Buchseiten in die Hand und blätterte darin.
»Was ist mit den Leuten, die dir geholfen haben? Müssen wir uns deretwegen Sorgen machen?«
»Du nicht«, sagte ich. Ich rechnete damit, dass Jelem sich an die Vereinbarung halten würde, doch wie stand es mit Baldesar? Er wusste so einiges über mich, und es würde mich nicht wundern, wenn er irgendwann der Versuchung erliegen sollte, sein Wissen zu Geld zu machen. Allein seine Komplizenschaft mochte ihn daran hindern. Altertümer zu fälschen war Blasphemie, und so sehr er sich auch aufplusterte, war Baldesar im Grunde seines Herzens eine Memme.
»Und was verlangst du von Schatten für das Journal?«
»Dass er sich zurückzieht.«
»Wovon?«
»Von allem, was mit mir zu tun hat.«
»Und du glaubst, das wird er tun?«
»Das muss ich wohl«, meinte ich. »Wie du schon sagtest, ich kann ihn nicht zwingen, mich und meine Leute in Ruhe zu lassen, also muss ich hoffen, dass er es freiwillig tut.«
»Und wenn nicht?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Und ich soll dir glauben, du hättest keinen Ersatzplan parat?« Einsamkeit verschränkte die Arme. »Das nehme ich dir nicht ab.«
»Kommt drauf an«, sagte ich. »Bin ich noch dein Mann?«
Einsamkeit schüttelte den Kopf. »Nach allem, was vorgefallen ist, nicht mehr. Ich kann dir nicht mehr zusagen als freies Geleit bis zum Ausgang, und selbst das ist noch großzügig. In Anbetracht dessen, was du weißt und was du getan hast, sollte ich dich auf der Stelle kaltmachen.«
»Aber das wirst du nicht tun.«
»Nein, das werde ich nicht«, bestätigte sie. »Du hast die Vereinbarung zumindest teilweise eingehalten, und das muss ich dir zugutehalten. Du hättest Schatten auch das ganze Tagebuch überlassen können, aber stattdessen hast du große Anstrengungen unternommen zu verschleiern, dass du einen Teil davon mir gibst. Und glaub ja nicht, ich wäre froh über diese Entwicklung – ich bin sogar äußerst verärgert. Aber ich werde dich nicht kaltmachen.«
»Danke«, sagte ich.
Einsamkeit wedelte ungeduldig mit der Hand. »Und jetzt geh mir verdammt noch mal aus den Augen.«
Ich erhob mich, schlüpfte durch den Vorhang und hatte den Schankraum bereits zur Hälfte durchquert, als sie mir nachrief.
»Drothe, noch ein Letztes.«
Ich blieb unvermittelt stehen, drehte mich aber nicht um. »Ja?«
»Was ist eigentlich mit Eisen passiert?«, fragte sie.
Ich atmete tief ein und wieder aus. »Er hat mir geholfen, das Wort zu halten, das ich dir gegeben habe«, sagte ich. »Aber was ich eigentlich wollte, ist mir erst sehr spät klar geworden. Er ist in Erfüllung seines Eids gestorben.«
Hinter dem Vorhang trat Schweigen ein.
Ich wartete noch einen Moment, dann ging ich zur Tür und trat auf die Straße hinaus.
Die Treppe an der Rückseite des Lagerhauses im Ödland knarrte unter meinen Schritten. Die eine Woche alten Blutflecken, die mir meine Nachtsichtigkeit auf den Stufen offenbarte, ignorierte ich ebenso geflissentlich wie den Phantomschmerz, der bei jedem Schritt mein Bein durchzuckte.
Wie beim letzten Mal war es dunkel; und wie beim letzten Mal roch es nach Dreck und Moder. Diesmal aber regnete es nicht, und Schatten hatte mich auch nicht hergeschickt, um jemanden zu suchen. Ich war gekommen, um mich mit dem Grauen Prinzen zu treffen. Und zwar ganz allein.
Dass ich Degan nicht hinter mir wusste, war für mich das Verstörendste. Ich war mir seiner Abwesenheit bereits auf dem Herweg durchs Ödland überdeutlich bewusst gewesen, doch jetzt fehlte er mir noch mehr. Ich vermisste nicht nur die Sicherheit, die sein starker Arm und sein flinkes Schwert mir vermittelt hatten, sondern auch seine Gesellschaft, seine Stimme und seinen trockenen Humor. Es war, als fehlte ein Teil von mir selbst.
Die vergangenen drei Tage über hatte ich mich mit Jelem und Baldesar versteckt. Das Treffen mit Einsamkeit war mein erster Ausflug nach draußen gewesen, seit ich Nicco getötet hatte. Eine Menge Leute wollten mir deswegen und aus vielen anderen Gründen ans Leder. Der Zeitpunkt war günstig, um offene Rechnungen zu begleichen, zumal bei einer in Ungnade gefallenen Nase. Trotz alledem war ich zweimal entwischt – das erste Mal, um Grünrock zu bitten, Degan ausfindig zu machen, und das zweite Mal, um zu erfahren, dass es ihr nicht gelungen war.
Ich wusste noch immer nicht, ob ich darüber erleichtert sein sollte oder nicht. Einerseits hätte ich gern noch einmal mit Degan gesprochen, um ihm meinen Standpunkt zu erklären und – vielleicht – von ihm zu hören, er könne mich verstehen. Selbst wenn er mich zur Hölle geschickt hätte, wäre es mir recht gewesen, solange ich nur Gelegenheit gehabt hätte, ihn um Verzeihung zu bitten. Dabei wusste ich im Grunde, dass das Tischtuch zwischen uns unwiderruflich zerschnitten war. Und ich war erleichtert darüber, dass ich nicht noch einmal den schmerzhaften Versuch unternehmen musste, ihm das Unerklärbare zu erklären.
Im Eingang lag immer noch die Decke. Ich trat darüber hinweg und ging etwa bis in die Mitte des Raums. Ich setzte die große Tasche ab, die ich mitgebracht hatte, und nahm die Kerze heraus, die Jelem mir gegeben hatte. Sie hatte etwa den Umfang meines Handgelenks und war schwer. Sie bestand aus schmutzig gelbem Wachs, der aussah wie Talg, sich aber weicher anfühlte. Die Kerze war etwa halb so lang wie mein Unterarm, an den Enden säuberlich abgeschnitten.
Ich stellte sie auf den Boden und packte den Feuerkasten aus. Ich entzündete erst den Zunder und dann die Kerze.
Der Docht fing Feuer, fauchte wie eine Katze und erlosch. Dann entzündete er sich von selbst wieder, wie Jelem es mir erklärt hatte. Die Flamme war klein und gelb, mit einem kaum erkennbaren silbernen Rand. Wenn man nicht bewusst nach einem Anzeichen von Magie Ausschau hielt, konnte man das leicht übersehen. Darauf verließ ich mich.
Ich schaute mich um: vier Fenster, eine Tür, keine Stühle. Ich holte die Decke und faltete sie, dann steckte ich das Buch in die Decke, legte sie auf die andere Seite des Lichtkreises und setzte mich darauf. Die Tasche mit Degans Schwert stellte ich hinter mich, nahm den Ahramibeutel heraus, den Jelem mir gegeben hatte, und begann zu warten.
Schatten tauchte eine Stunde später auf, drei Stunden vor dem vereinbarten Zeitpunkt. Ich wusste nicht, sollte ich mich geschmeichelt fühlen oder hatte ich Anlass zur Sorge.
Die Kerze war in der Zwischenzeit ein Stück heruntergebrannt. Schatten trat ohne Zögern ein und ging direkt auf mich zu. Sein Umhang bauschte sich bei jedem Schritt, sodass man sein graues Wams, seine schwarze Weste, die hohen Reitstiefel und das Schwert mit Silberknauf sah. Sein Gesicht war ein Schleier aus Dunkelheit.
Ich blickte ihm reglos entgegen, das Herz hämmerte mir in der Brust. Als er am Rande des Lichtkreises angelangt war, sprach ich ihn an.
»Das reicht«, sagte ich.
Schatten tat noch zwei Schritte und blieb dann innerhalb des Lichtscheins stehen.
»Du bist zu früh gekommen«, sagte Schatten.
»Und was ist mit dir?«
»Ich war nicht derjenige, der bei unserer letzten Begegnung zum Messer gegriffen hat«, entgegnete er. »Ich hielt es für geraten, als Erster zu erscheinen und Vorsorge zu treffen, dass mich hier keine Überraschung erwartet.«
»Um stattdessen selbst für eine Überraschung zu sorgen?«
Schatten winkte ab. »Ich glaube, wir wissen beide, dass das unnötig ist.« Die Kapuze drehte sich hin und her, als er sich im Raum umschaute.
»Er ist nicht da«, sagte ich, denn ich konnte mir denken, dass der Graue Prinz sich vergewissern wollte, ob in einer dunklen Ecke Degan lauerte. »Wir sind hier ganz unter uns.«
»Dann bist du mir also ausgeliefert.« Schatten verschränkte die Arme, wobei seine Rechte dem Schwertgriff beunruhigend nahe kam. Ich erinnerte mich, wie er Degan angegangen war. Dem hätte ich nichts entgegenzusetzen. »Wenn du glaubst, du könntest mich davon abhalten, dich zu töten, musst du dir schon etwas einfallen lassen«, sagte er.
Ich kramte umständlich einen Ahramikern hervor und schob ihn mir in den Mund. »Ich habe Ioclaudias Tagebuch. Darüber will ich verhandeln.«
Schatten legte den Kopf in den Nacken und lachte schallend. »Du tust es wirklich«, sagte er. »Erst verrätst du Nicco und jetzt Kells. Bravo! Du machst dich, Drothe. Wenn du genügend Geld und Zeit hättest, könnte ein tüchtiger Aufrechter aus dir werden.«
»Falls das ein Angebot ist, bin ich nicht interessiert.«
Schatten wurde ebenfalls ernst. »Das war kein Angebot. Du wolltest mich töten. Das kann ich dir nicht durchgehen lassen. Wenn ich Nachsicht übe, schadet das meinem Ruf. Und worauf beruht denn unsere Macht, wenn nicht zur Hälfte auf der Tat und zur Hälfte auf Drohungen?« Schatten hakte die Daumen hinter den Schwertgürtel. »Ich kann die Baronin am Leben lassen. Wenn ich dein Leben schone, muss es sichtbare Konsequenzen geben – ein fehlender Finger, ein Ohr, irgendwas Kleines. Und du musst Ildrecca verlassen. Für die Dauer von fünf Jahren, vielleicht auch sieben – bis man dich vergessen hat.«
»So lange wird das Vergessen nicht dauern.«
»Bei mir schon.«
Und das war der Punkt: Für Schatten hatte das Persönliche längst Vorrang gegenüber dem Geschäftlichen. Dass ich ihn angegriffen hatte und mit dem Leben davongekommen war, nagte stärker an ihm als die Vorstellung, dass Einsamkeit etwas bekam, das er eigentlich für sich haben wollte. Wenn es mir nicht gelang, Schatten davon zu überzeugen, dass mein Angebot für ihn wertvoller war als ich, würde ich das Lagerhaus nicht unversehrt verlassen.
Ich verlagerte die Sitzhaltung, spürte unter mir das Tagebuch. »Hast du vergessen, was in dem Buch steht?«, fragte ich. »Was ich durchgemacht habe, um es in meinen Besitz zu bringen?« Ich schwenkte den Arm durchs Halbdunkel. »Degan und ich haben in diesem Raum gegen Weißschärpen gekämpft. Das Reich hat wegen des Buchs Soldaten in die Zehn Wege entsandt. Mann, ich musste mich an den kaiserlichen Wachposten vorbeischleichen, um hierherzukommen. Scheiße, es geht um kaiserliche Magie! Und da willst du mich verstümmeln und aus Ildrecca verbannen, nur weil du die Kin in den Würgegriff nehmen willst?« Ich lachte höhnisch auf. »Ich denke, da kann ich mehr für mich rausholen.«
»Du kannst meinetwegen rausholen, was du willst, Drothe«, sagte Schatten. »Aber eines solltest du nicht vergessen: Man kann nur dann feilschen, wenn beide Seiten etwas zu verlieren haben. Ob ich diesen Raum mit oder ohne Tagebuch verlasse, darauf kommt es nicht an. Ich werde Genugtuung verspüren, das zählt. Und am Ende bekomme ich das Buch doch.«
»Und wenn ich mit dem Buch bereits andere Pläne habe?«, entgegnete ich.
»Für den Fall, dass du nicht zurückkommst?«, sagte Schatten. »Was hast du vor? Das Buch vernichten zu lassen? Das wäre bedauerlich, aber dann fällt es wenigstens niemand anderem in die Hände. Oder willst du es Einsamkeit geben? Wenn das deine Absicht wäre, hättest du es bereits getan, und sie würde dir Rückendeckung geben. Oder willst du es dem Reich verkaufen?« Schatten lachte schnaubend. »Wir wissen beide, dass du dich mit mir besser stellst als mit dem Kaiser. Nein, solange es nicht vernichtet wird, werde ich es finden. Dass das möglich ist, hast du selbst bewiesen.«
Ich blickte unter die Kapuze. Genauso hatte ich mir die Unterhaltung vorgestellt: Schatten verhandelte nicht, wenn er nicht dazu gezwungen war – schließlich war er ein Grauer Prinz. Uns beiden war klar, dass das Buch mein einziges Druckmittel darstellte, und sobald ich es weggab, hätte ich nichts mehr in der Hand. Wenigstens machte er mir nichts vor.
Ich konnte schon froh sein, dass er mich nicht in dem Moment kaltgemacht hatte, als er den Raum betreten hatte. Und selbst das war ein zweifelhafter Grund zur Freude.
»Ich mache dir das Angebot nicht zweimal«, sagte Schatten.
Ich verlagerte seufzend die Haltung. »Ich weiß«, sagte ich. Ich nahm das Tagebuch aus der Tasche und richtete mich auf.
Schatten lachte glucksend. »Du hast die ganze Zeit darauf gesessen? Du hast Schneid, das muss man dir lassen.« Er streckte die Hand aus.
»Und das war’s dann?«, sagte ich und trat einen Schritt vor. »Nach dem ganzen großkotzigen Gehabe, nach all der Magie und Geheimniskrämerei kommst du zur Sache wie ein gewöhnlicher Straßenschnitter? ›Her mit dem Geld, sonst musst du bluten!‹ Von einem Grauen Prinzen hätte ich mir mehr erwartet.«
»Du bekommst, was du verdienst«, sagte Schatten. »Für dich, kleiner Schnüffler, reicht das allemal.«
Neben der Kerze blieb ich stehen. Ich blickte auf das Buch in meinen Händen nieder, dann sah ich Schatten an und erwiderte seinen Blick.
Er lächelte. Es war ein selbstgefälliges, breites Lächeln. Ich sah seinen dunklen Spitzbart und seine lange Nase. Die hohen Wangenknochen verliehen seinem rundlichen Gesicht einen Anflug von Härte. Am auffälligsten aber waren die Lachfältchen um Augen und Mund. Dass ein Grauer Prinz wie Schatten so viel zu lachen hatte, dass es Spuren in seinem Gesicht hinterließ, erstaunte mich.
Ich lächelte zurück und beobachtete, wie Schattens Grinsen sich verflüchtigte. Er spürte, dass sich etwas verändert hatte, wusste aber nicht, was er davon halten sollte. Er war noch nicht dahintergekommen, dass ich ihn jetzt sehen konnte; dass Jelems Kerze die gesamte magische Energie im Raum verzehrt hatte.
»Nein«, sagte ich. »Ich habe etwas Besseres verdient.« Und schleuderte ihm das Tagebuch entgegen. Schattens Augen weiteten sich im Kerzenschein, und er fing das Buch unwillkürlich auf. Dann trat ich die Kerze um, und es wurde dunkel.