Zwischen Bewahren und Erneuern

Vom richtigen Umgang mit der Tradition

„Ob Du es auch mal so machen wirst?“, fragte meinen Vater schon als Kind dessen eigener Vater. Die gleiche Frage stellte mein Vater auch mir. Und ich stelle sie wiederum meinen Kindern. In unserer Familie ist es seit Generationen üblich, dass alle Familienmitglieder sich immer frei und unverstellt äußern dürfen. Zugleich gehört es zum Geist und zur Kultur unserer Familie, dem Zeitgeist keine leichtfertigen Zugeständnisse zu machen, die den überkommenen Werten widersprechen. Es herrscht also eine Tradition, die den Wert der Tradition selbst schätzt und pflegt, diese zugleich aber auch immer wieder auf den Prüfstand stellt.

Tradition entsteht, wenn Menschen in ihrem Denken und Handeln nicht nur auf die Gegenwart und von da aus in die Zukunft schauen, sondern sich auch der Vergangenheit bewusst sind. Ganz pragmatisch ausgedrückt: Tradition entwickelt sich und kommt etwa da zum Tragen, wo Eltern ihren Kindern schildern, wie es früher war und was alles unternommen wurde, um das Gegenwärtige zu erreichen. Gleiches gilt für die Meister, die den Lehrlingen ihre wertvollen Erfahrungen weitergeben und von deren Herkunft berichten. Tradition ist also eine Form der Übersetzung. Das Wort leitet sich von dem lateinischen Verb tradere ab, was soviel heißt wie weitergeben. Der – im Übrigen sehr umfassende – Begriff Tradition umschreibt also im engeren Sinne das Weitergeben von Erfahrungen und Techniken, im weiteren Sinne aber auch das Weitergeben und Bewahren von Einstellungen, Werten bis hin zu Weisheiten. All das wird vor allem in der guten Absicht weitergegeben, den Nachfolgenden zu ersparen, die mitunter über Jahrhunderte gesammelten Erfahrungen mühsam selbst sammeln zu müssen. Natürlich lernt jeder Mensch auch aus Fehlern und kann im Erproben der eigenen Fähigkeiten stets nur bedingt auf Traditionen und dem Erlernten aufbauen. Aber er muss eben nicht das Feuermachen erneut erfinden, oder das Prinzip des Rads. Und er muss nicht alle menschlichen Lernschritte neu durchleben. Das gilt für das familiäre Privatleben gleichermaßen wie für Schule, Ausbildung und Beruf.

Alle Eltern wollen ihren Kindern so gut es eben geht den Weg ebnen und ihnen die besten Startpositionen ermöglichen. Deshalb geben sie ihnen alle Hilfsmittel an die Hand, die ihnen bekannt sind. Nämlich die, die sie selbst von ihren Eltern und Vorfahren übernommen haben und die, die sie durch die eigenen Lebenserfahrungen dazu erworben haben und mit denen sie ihr Leben meistern. Diese Erfahrungen betreffen alle Lebensbereiche, vor allem aber den Wertekanon: Von der Religion über die Einstellung zu Toleranz und Gerechtigkeit bis hin zu Anstand und Höflichkeit.

Solcher Art übertragene Werte können ein Leben lang halten, denn sie prägen den jungen Menschen früh und werden sehr selten ganz vergessen. Und wenn sie eine Weile abgelehnt oder verworfen werden, tauchen sie doch meistens im späteren Leben wieder auf. Aber das ist eine andere Geschichte.

Tradition beinhaltet das Weitergeben von Lebensweisheiten ebenso wie ganz pragmatisch das Bewahren von bewährten Einrichtungen, sowie das Beibehalten von fest gefügten Formen und Strukturen. Tradition im echten Sinne ist für mich geistige Nachhaltigkeit. Bei uns in der Firma ist es zum Beispiel Tradition, dass alle Beschäftigten vor Weihnachten zu den Gesellschaftern kommen, wir uns dann gesegnete Weihnachten wünschen und jeder Mitarbeiter eine Flasche Rotwein erhält. Diese Tradition festigt unser Zusammengehörigkeitsgefühl und gehört seit geraumer Zeit zur Firmenkultur, wie es heute so schön heißt. Erfunden wurde dieser Brauch als es das Wort Firmenkultur noch gar nicht gab, denn bereits mein Vater hat dieses Weihnachtsritual gepflegt und dafür gesorgt, dass es zum festen Bestandteil des Jahreslaufs wurde. Jeder Mitarbeiter sollte zumindest einmal im Jahr mit persönlichem Händedruck begrüßt werden.

Eine andere Tradition bei uns in der Firma betrifft den Dreikönigstag, der heutzutage anderswo kaum noch gefeiert wird. An diesem Tag gehen wir mit Weihrauch durch alle Räume mit dem Gedanken, dass wir auch im nächsten Jahr mit Gottes Hilfe segensreiche Arbeit leisten können. Dieser Brauch beruht auf unserer tiefen Überzeugung, dass die Orte, an denen die Arbeit verrichtet wird, weder gleichgültig noch austauschbar sind. Dort arbeiten unsere Mitarbeiter und dort entstehen unsere Produkte. Mit dem Weihrauch bringen wir unsere Wertschätzung den Mitarbeitern und ihrem Arbeitsort gegenüber gleichermaßen zum Ausdruck.

Mein Vater brachte uns Kindern schon sehr früh bei, dass es wichtig ist, möglichst unabhängig von der Meinung einer Mehrheit zu handeln, sondern uns ausschließlich an unserer eigenen Überzeugung und unserem Gewissen zu orientieren. Dieses Ideal einer unabhängigen und authentischen inneren und äußeren Haltung ist nicht leicht zu leben und bequem schon gar nicht. Das ganz freie und unverfälschte Äußern der eigenen Meinung erfordert gehörigen Mut. Heute bin ich sehr stolz aus einer Familie zu kommen, in der mehrere Familienmitglieder in der Zeit des Nationalsozialismus zu leiden hatten, weil sie mutig ihrer kritischen Einstellung gegen das Regime treu geblieben sind. Je früher das Kindern vermittelt und durch Ermunterung geübt wird, umso besser. Auch wenn man in der Jugend vielleicht gar nicht so gern mit seiner Meinung allein sein will.

Als sehr junger Mensch wollte ich zum Beispiel nicht anders als die Anderen sein und war bedrückt, wenn ich mich durch meine Andersartigkeit oder meine differierende Meinung ausgeschlossen fühlte. Ich habe nicht immer sofort geschätzt, was ich an Werten vermittelt bekam. Sehr oft bedarf es eines langen Gärungs- und Reifeprozesses, um die Werte wirklich zu verstehen und zu verinnerlichen. Nicht immer wird das Weitergegebene auch sofort angenommen. Davon können alle Eltern wohl ein Lied singen. Und ich glaube, auch das gehört zum Lauf der Dinge, zum lebendigen Prozess der Auseinandersetzung mit Tradition und Werten. Vieles müssen wir in unserem Leben einfach selbst, sozusagen am eigenen Leib erfahren. Um es dann mit dem Erlernten abzugleichen und das Überlieferte an den eigenen Erfahrungen zu überprüfen. Wenn ich zum Beispiel ein Kind davor warne, an den Ofen zu greifen, weil der nun mal heiß ist und es sich verbrennen kann, wird das in der Regel nicht viel nutzen. Nur wenige Kinder werden die Mahnung ernst nehmen und als gut gemeinten Rat begreifen. Die meisten werden den Ofen oder die Herdplatte in einem unbeobachteten Moment eben doch anfassen, um dann schmerzlich zu merken, dass das ein fataler Fehler war. Und dass die elterliche Ermahnung, dort nicht hinzufassen eben doch richtig und sinnvoll war. Jetzt weiß das Kind das aber aus eigener Erfahrung. Solche schmerzhaften Einsichten, die jeder wider besseres Wissen selbst gewinnen muss, bevor er sie ganz buchstäblich „begreift“, können sich durch unser ganzes Leben ziehen. Und ich meine damit nicht nur die typischen „Jugendsünden“, die nun einmal zur Jugend dazu gehören.

Brauchtum

Wenn ich über Traditionen nachdenke, gehört auch das Brauchtum dazu. Das Brauchtum ist nur eine äußere Erscheinungsform, hinter der sich stets ein tieferer Sinn verbirgt. Wie zum Beispiel beim besagten Ausräuchern der Häuser und in unserem Fall der Unternehmensräume am Dreikönigstag. An diesem Tag werden auch heute noch in katholischen Gemeinden die Häuser mit Weihrauch gesegnet. Der Ursprung dieses Brauchs liegt aber gar nicht in der Religion begründet, sondern in einer ganz praktischen Notwendigkeit. Denn ursprünglich diente das Ausräuchern der Desinfektion der Wohnräume. Im Abstand von einer Woche versuchten die Menschen, mit dem Rauch die Parasiten abzutöten, die sich im Laufe des Winters eingenistet hatten. Später füllte sich diese Säuberungsaktion, die zur festen Einrichtung geworden war, mit übergeordneten, abstrakteren Inhalten. Nun wollten die Menschen nicht nur Insekten, sondern einmal im Jahr auch böse Geister vertreiben. Sie baten damit symbolisch um einen Schutz für ihre Häuser. Dieser höhere, spirituelle Zweck verband sich mit einer ritualisierten Form.

Wir müssen aber gar nicht so weit zurückgehen in der Geschichte, um den Wert von Bräuchen und Ritualen aufzuzeigen. Nehmen wir als zweites Beispiel das früher übliche gemeinsame Gebet vor jeder Mahlzeit. Dieses Ritual war in einer Zeit, als es noch alles andere als selbstverständlich war, vor einem stets ausreichend gedeckten Tisch zu sitzen, zunächst einmal Ausdruck ehrlich empfundener Dankbarkeit. Missernten, Hungersnöte und Versorgungsengpässe in den Wintermonaten waren noch vor wenigen Jahrzehnten auch hierzulande keine Seltenheit. Mit dem Gebet bedankten sich die Menschen lange Zeit dafür, dass sie überhaupt etwas zu essen hatten. In üppigeren Zeiten und in vielen Familien bis in die heutige Zeit hinein ist das Tischgebet die Erinnerung daran, dass es auch in der Gegenwart nicht selbstverständlich ist, genug zu essen zu haben.

Heute machen Mediziner auf dieses Ritual aufmerksam, um zu betonen, wie sinnvoll es auch für die Gesundheit ist, vor dem Essen zur Ruhe zu kommen und sich mit Wertschätzung einer Mahlzeit zu widmen, anstatt mit Heißhunger und womöglich nebenher noch lesend oder telefonierend möglichst schnell so viel wie möglich hinunterzuschlingen. Das Tischgebet ist also ein spirituelles Ritual mit einer überaus lebenspraktischen Seite. Es ist gewissermaßen ein Atemholen, das dem Prinzip des Fastfood entgegensteht. So sind viele nützliche und auf mehreren Ebenen wirkende Traditionen an gewisse Riten gebunden worden, um nicht vergessen zu werden.

Tradition und zünftiges Handwerk

An anderer Stelle habe ich bereits von der Bedeutung des eigenen Profils gesprochen. Wenn wir diesem unserem Profil nicht untreu werden wollen, spielen auch Traditionen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Denn wenn wir authentisch und unseren Werten treu sein wollen, müssen wir auf manchen Traditionen geradezu beharren. Beziehungsweise ihnen treu bleiben, weil sie eben ein wichtiger Teil unserer Persönlichkeit und verinnerlichte Werte sind, die uns zur zweiten Natur geworden sind.

Eine der wichtigsten Traditionen in unserem Unternehmen lässt sich auf unsere Vorfahren zurückführen, auf ihren Handwerkerstolz, dem es allererstes Gebot ist, immer bestmögliche Qualität herzustellen. Nur das, was wirklich sehr gut ist, ist dem echten Handwerker gut genug. Mit diesem Stolz im Bewusstsein, diesem Berufsethos gibt er sich nicht mit dem Zweitbesten oder dem irgendwie Genügenden zufrieden. Der Handwerkerstolz gilt in unserem Unternehmen weiterhin, er gibt den Takt vor und appelliert an Verantwortlichkeit und Gewissen eines jeden Mitarbeiters. Die Tradition des Handwerkerstolzes steckt uns sozusagen in den Knochen. Dieses Prinzip verfolge ich als Unternehmer jedoch nicht nur im Hinblick auf unsere Produkte. Ich sehe unsere Mitarbeiter als Menschen, die dieses Berufsethos verinnerlicht haben und damit keine austauschbaren, bloß ausführenden Arbeitnehmer sind, sondern Menschen, für die der Handwerkerstolz ebenfalls kein leeres Wort ist.

Bereits von meinem Großvater rührt die Tradition her, alle Menschen, mit denen wir zu tun haben, gut zu behandeln und von jedem immer zunächst nur das Beste anzunehmen. Das ist eine Lebenshaltung, die in unserem Unternehmen zur Tradition wurde, zur gelebten Unternehmenskultur. Ich muss dies ausdrücklich betonen, da diese Haltung in Unternehmen alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist. Schon gar nicht in den Zeiten meines Großvaters, als autoritäre Strukturen der Normalfall waren und der kleine Angestellte wenig zu sagen und schon gar nichts zu entgegnen hatte. Damals waren die Chefs noch Patriarchen alten Schlags und blickten zumeist misstrauisch auf ihre Untergebenen. Auch heute noch, in Zeiten der angeblich flachen Hierarchien, der Teamarbeit und der lernenden Organisation hören wir immer wieder von Unternehmen, die ihre Unternehmenskultur auf Misstrauen aufbauen und ihren Mitarbeitern stets das Schlechteste unterstellen. Solche Unternehmen zeichnen sich aus durch Kontrollwahn, Repression und Bespitzeln der Mitarbeiter. Schlechtes Betriebsklima inklusive.

Von daher erlebe ich zum Bespiel die Tradition der Wertschätzung unserer Mitarbeiter als Geschenk und als wertvolle Richtschnur für mein eigenes Leben. So ist es mit allen Traditionen: Sie werden mir gegeben von jemandem, der diesen Wert erhalten wissen will. Ich eigne mir – vielleicht mit anfänglichen Zweifeln oder auch Auseinandersetzungen – diesen Wert, diese Tradition an und versuche, damit umzugehen. Ich versuche, damit zu leben und mich mit dieser Tradition anzufreunden. Wenn es mir dann damit gut geht, verinnerliche ich sie ganz und gebe sie dann weiter.

Traditionen schützen uns. Dank ihrer müssen wir keine unnötigen Umwege gehen, und wir müssen nicht immer wieder ganz von vorne anfangen, um das Rad neu zu erfinden. Nehmen wir zum Beispiel die Arbeit eines Handwerkmeisters, der seinen jungen Lehrlingen sein Handwerk beibringt. Er sagt ihnen ganz genau, wie sie etwas zu machen haben. Und er begründet es, indem er sagt: „So hat es sich bewährt. Anders geht es nicht, Du wirst es sehen.“ Er gibt sein Können und seine Erfahrung an die nächste Generation weiter. Ausbilder, Lehrer und Professoren helfen ihren Lehrlingen, Schülern und Studenten, an unserem Weltwissen und unserer Kultur teilzuhaben. Vieles davon, was sie uns beibringen, begleitet uns bis ins hohe Alter. Das Unterweisen und Anlernen ist eine typische und eine der wichtigsten Arten der Traditionswahrung, die zum Beispiel auch in den Zünften gepflegt worden ist. Wenn jemand eine Sache zunftgerecht oder zünftig macht, bedeutet das, dass er sie auf die einzig richtige Weise macht. Über Jahrhunderte ist dieser feste Strang der Handwerkstradition nie abgerissen.

Sorge bereitet mir in der Gegenwart jedoch, dass sich im Bezug auf das handwerkliche Wissen und im Blick auf viele Jahrhunderte alte Fertigkeiten zunehmend blinde Flecken bilden. Ich fürchte, dass manches Wissen um Fertigkeiten und Techniken heute nur noch theoretisch überlebt. So konnte es zu dem mittlerweile oft gehörten Ausspruch kommen: „Jeder weiß, wie es geht, aber keiner kann es mehr.“ Das ist eine Tendenz, die ich für fatal halte. Denn wenn Fertigkeiten und Techniken nirgendwo mehr praktisch unterrichtet werden, wenn also das ganz konkrete Können nicht mehr weitergegeben wird, dann stirbt eine Tradition. Schon jetzt gibt es zum Beispiel nur noch wenige Handwerker, die es verstehen, die venezianischen Gondeln zu bauen. Irgendwann wird es niemand mehr können. Die schriftliche Aufzeichnung und sonstige Dokumentationsformen, die dann nachzulesen sind, halten eine Tradition nicht lebendig. Google oder Wikipedia werden die lebendige Tradition erst recht nicht ersetzen.

Tradition und Veränderung

Wie alles auf der Welt haben auch Traditionen ihre Kehrseite. Wenn sie nicht lebendig bleiben oder exerziert werden, ohne immer wieder aufs Neue befragt und neu mit Leben gefüllt zu werden, können sie hinderlich und geradezu zum Bremsmechanismus werden. Nämlich dann, wenn das Gute aus der Vergangenheit nur noch deswegen geschätzt wird, weil es eben immer so war. Wenn alle Chancen und Verbesserungen, die sich in der Gegenwart bieten, mit dieser Begründung abgeschmettert werden. Von dem großen Komponisten, Dirigenten und Opernerneuerer Gustav Mahler ist der schöne Ausspruch überliefert: „Tradition ist Schlamperei.“ Damit pflegte er Kritiker zu parieren, die ihm vorwarfen, mit seinen neumodischen Praktiken die Tradition zu missachten. Ebenfalls Gustav Mahler zugeschrieben, tatsächlich aber aus der Feder von Thomas Morus stammt ein weiterer kritischer, oder sagen wir besser differenzierender Satz: „Tradition ist nicht das Halten der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme.“ Beide sprichwörtlichen Sätze bringen die Kehrseite der Tradition und des bloßen Bewahrens auf den Punkt. Denn wenn wir etwas immer und immer wieder auf eine bestimmte Weise tun, ohne dieses Tun kritisch zu befragen und auf seine aktuelle Gültigkeit zu prüfen, dann trifft es unter Umständen die Zeit nicht mehr.

Die meisten Menschen fürchten – aus durchaus guten Gründen – das Risiko, einen bewährten Weg zu verlassen und sind überängstlich, etwas zu verändern. In der Schweiz gibt es dazu das Sprichwort „Ztood gfüürcht isch ou gschtorbe“ („Zu Tode gefürchtet ist auch gestorben“). Oft werden wir auch von überalterten Vorschriften und Gesetzmäßigkeiten behindert, die zu neueren Entwicklungen einfach nicht mehr passen wollen. Dagegen wehren viele Menschen sich zu Recht. Traditionen sind gut und wichtig, um Werte und Kenntnisse zu bewahren und uns als Richtschnur zu dienen. Jenseits aller Traditionen müssen wir uns aber auch die Freiheit bewahren, neue Ideen wachsen lassen zu können. Es kann niemals ein hinreichender Grund sein, an Etwas festzuhalten, nur weil dieses etwas immer so war. Manchmal müssen wir eben mit Altem auch brechen und die Dinge ganz anders machen.

Den Heizer beispielsweise, der aus Tradition noch lange Zeit auf der Elektrolokomotive mitfahren musste, weil eben immer ein Heizer dabei gewesen war, den brauchten wir damals schon nicht mehr. Wir sollten so beweglich sein, das, was wir als Verbesserung und Fortschritt erkennen, auch selbstverständlich anzunehmen und mutig umzusetzen. Das, was wir verändern, können wir dann als eine neue Tradition weitergeben, bis wieder etwas noch Besseres kommt.

Ich selbst habe mit mancher Tradition in meiner Familie bewusst gebrochen. Nicht leichtfertig oder aus purer Provokationslust. Sondern immer dann, wenn mir eine Tradition unsinnig erschien. Ein schönes Beispiel dafür ist die Essensordnung im heimatlichen Elternhaus. Bei uns war es üblich, dass sich am Sonntagmittag alle Familienmitglieder zu einem festlichen Familienessen versammelten. In meiner Erinnerung schien draußen derweil meistens herrlich die Sonne, und ich hätte gern Sport getrieben oder einen Ausflug gemacht. Das erschien mir viel verlockender, als um einen Tisch herumzusitzen und die schönste Zeit des Tages mit einem langen Essen zu verbringen. Dementsprechend gelangweilt und traurig war ich bei diesem sonntäglichen Ritual. Als Erwachsener habe ich später in meiner eigenen Familie mit dieser Tradition gebrochen. Meine Kinder waren nicht dazu verpflichtet, am Sonntagmittag alle da zu sein. Wir haben uns lieber am Abend getroffen. Ich habe also mit einer Tradition gebrochen, um eine neue einzuführen.

In einem Unternehmen werden oft Traditionen aufgegeben, sobald neue Erkenntnisse über grundlegende Produktionsprozesse vorliegen. Das halte ich für einen elementaren und ausgesprochen wichtigen Prozess. Wenn es neue technische Möglichkeiten gibt, wirkt sich dieser Fortschritt auf alle bislang bewährten Verfahrenswege aus. Wie viele Dinge wurden früher traditionell von Hand gefertigt und werden heute dank technischer Errungenschaften maschinell erledigt. Und wie oft erlebe ich, dass junge Mitarbeiter sagen: „Die Zeiten sind vorbei, das geht doch heute viel eleganter!“ Und fast immer haben sie recht. Oft waren früher aus sicherheitstechnischen Gründen bestimmte Abläufe festgelegt, die heute dank technischer Weiterentwicklung oder einer verbesserten Kenntnis der Rohstoffe gar nicht mehr nötig sind.

Die für die erfolgreiche Weiterentwicklung des Unternehmens wichtigen Schritte hingegen sind häufig nicht einmal so grundlegend wie solche Veränderungen der Produktionsabläufe. Ein Unternehmen kann beispielsweise auch mit der Tradition brechen, dass eine Mitarbeitersitzung stets eine Stunde dauern muss. Weil es schon immer so war. Die Verantwortlichen beschließen dann einfach, dass die erforderlichen Abstimmungen auch in einer kürzeren Zeit zu schaffen sind. Oder ein Unternehmen beendet bewusst eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit einem Berater, um neue Ideen ins Unternehmen hereinzubekommen. Es kann auch vorkommen, dass ein Unternehmer jahrelang mit einer Agentur zusammengearbeitet hat, die im Marketing eine Image-Tradition aufgebaut hat, die irgendwann einfach nicht mehr funktioniert. Wenn der Unternehmer dann merkt, dass sich die Zahlen nicht mehr gut entwickeln, muss er – nach gründlicher Analyse natürlich und der Erkenntnis, dass das Marketing einer Richtungsänderung bedarf – die Zusammenarbeit beenden. Denn das Image des Produkts wird offenbar als veraltet wahrgenommen. Und damit leider auch das Image der Firma, weil das altbackene Image des Produkts auf sie zurückwirkt. Wir alle wissen es: Nichts ist so schnelllebig wie die Werbung. So entsteht immer wieder die Notwendigkeit, neue Ideen umzusetzen. Werbeauftritte, die vor 50 Jahren die Menschen begeistert haben, funktionieren heute nicht mehr. Daher ist es im Marketing geradezu brennend notwendig, sich immer wieder zu verändern und mit Traditionen gelegentlich auch zu brechen.

Es gibt unzählige andere Beispiele für Traditionsbrüche und die Reibungen, die sie verursachen. Wenn zum Beispiel in der Kirche etwas am Ritus geändert wird oder bekannte Melodien in der Kirchenmusik wegfallen und dafür Synkopen oder Rhythmen eingesetzt werden, die von der Gemeinde nicht gut beherrscht werden, dann empfinden das viele Menschen als einen starken Bruch und sagen: „Schade, dass es nicht mehr so ist wie früher.“ Im Bewusstsein derer, die ihr Gefühl so oder ähnlich äußern, geht durch diese Veränderung für immer etwas Wertvolles verloren. Gerade in der Kirche umfasst Tradition in besonderem Maße auch Geborgenheit.

Ein anderes Beispiel aus der Welt der leiblichen Genüsse: Ein Gast liebt ein bestimmtes Restaurant ganz besonders, weil es eine wunderbare alte Einrichtung besitzt, in der er sich seit langem sehr wohl fühlt. In diesem Lokal wird selbstverständlich auch traditionell gekocht und es schmeckt immer so wie früher und immer wie erwartet. Dann aber erkennt der Inhaber plötzlich: „Mir bleiben die jungen Leute weg, ich muss etwas ändern“. Er reißt die alte Einrichtung heraus, schreibt eine neue Speisekarte und entwickelt überhaupt ein ganz anderes Konzept. Diese grundsätzliche Veränderung und Neuausrichtung wird später als Grundstein einer neuen Tradition wahrgenommen werden, denn diejenigen, die sich nun in der renovierten Umgebung wohlfühlen, werden wiederum an dieser rasch wie an einer alten Tradition hängen. Aber zunächst einmal ist die Neuorientierung ein deutlich wahrnehmbarer Bruch. Und das heißt leider auch, dass der Wirt mit ziemlicher Sicherheit einige seiner alten Stammgäste verlieren wird.

Nur so entstehen aber jederzeit neue Traditionen für die kommenden Generationen. Das können wir auch an vielen ganz alltäglichen Beispielen beobachten. Wir sind als Studenten zum Beispiel gerne in ein paar kleine Lokale im Münchener Szene-Stadtteil Schwabing gegangen, die damals aber noch gar nicht als besonders modern galten und nicht teuer waren. Die fanden wir einfach gut und waren treue Gäste. Wenn ich heute eines dieser Lokale betrete, kann ich mir sicher sein, dass es mir dank mancher Erinnerung warm ums Herz wird. Anderen wird das Lokal gar nichts bedeuten und nur eines von vielen Schwabinger Restaurants sein. Jeder hat seine ureigenen Erinnerungsorte und Traditionen.

Einschreibung und Emanzipation

Ebenso wenig, wie die Tradition nur um ihrer selbst wegen gewahrt werden sollte, steht auch das Prinzip der Veränderung im Spannungsverhältnis von Notwendigkeit und sinnloser Missachtung der Tradition. Denn wer die Dinge nur um der Veränderung willen verändert handelt schnell orientierungslos und begibt sich auf einen höchst brüchigen Holzweg. Um Dinge wirklich neu denken zu können, müssen wir die Traditionen kennen, in denen wir stehen. Die Kunst besteht eben darin, in doppelter Hinsicht das eine zu tun, ohne das andere zu lassen. Will sagen, das Gute weiterzugeben und das Belastende aufzugeben.

In der Tradition wird es immer wieder Einzelheiten geben, die inzwischen veraltet und nicht mehr zeitgemäß sind. Da hilft keine Nostalgie und kein fundamentales Festhalten an alten Dingen. Wir müssen die alten Formen vielmehr mit neuen Inhalten auffüllen. Die eigentliche Herausforderung der Tradition besteht darin, sie anzunehmen und sie zu etwas Eigenem zu machen, nur so bleibt sie lebendig.

Unsere Eltern, Lehrer und Meister meinten es gut mit uns, als sie uns ihre Traditionen weitergaben. Dennoch kam irgendwann einmal für jeden von uns der Punkt, an dem wir uns von ihnen – von den Eltern, Lehrern und Meistern ebenso wie von ihren Traditionen – irgendwie absetzen und unterscheiden wollten. Jeder Lehrer kann die Schüler bei allem Wohlwollen ab einer bestimmten Zeit in ihrer Entwicklung auch einengen. Und leider gibt es natürlich auch viele Lehrer, die ihrer wirklichen Aufgabe, nämlich der guten Balance von Erziehung und Loslassen, nicht gewachsen sind und es geradezu provozieren, dass sich die Schüler von ihnen absetzen wollen.

Machen wir uns nichts vor: Lernen ist anstrengend und mit Mühe verbunden. Vor allem geht es für die Lernenden immer auf Kosten der persönlichen Freiheit. Deswegen haben Schüler zu allen Zeiten die Neigung gehabt, sich wo es nur geht vor der Schule zu drücken oder sich gar über ihre Lehrer lustig zu machen. Beides sind ganz natürliche Reflexe auf das Gefühl, in der Schule vieles unfreiwillig und unter Druck tun zu müssen. Während die eigenen Neigungen – vom kindlichen Spieltrieb ganz zu schweigen – häufig unter die Räder dieses Drucks zu kommen scheinen.

In meiner Schulzeit habe ich einmal meinen Musiklehrer gefragt, woran es eigentlich liege, ob ein Lehrer bei den Schülern ankommt oder nicht. Beziehungsweise, was darüber entscheidet, ob er als natürliche Autorität ernst genommen wird, oder Opfer von Spott und Streichen wird. Er erklärte mir, aus seiner Erfahrung habe der Lehrer genau dann gewonnen, wenn er es in einer neuen Klasse schaffe, die Schüler innerhalb der ersten zehn Minuten einmal herzhaft zum Lachen zu bringen. Noch entscheidender sei es freilich, dieses Lachen innerhalb kurzer Zeit auch wieder einzubremsen. Ansonsten laufe er Gefahr, als unverbindlicher Alleinunterhalter wahrgenommen zu werden.

Das bedeutet: Wenn die Schüler das Gefühl haben, der Lehrer meint es gut mit ihnen, dann werden sie ihn gerne akzeptieren und sich von ihm leiten lassen. Wenn er aber nur von oben herab Kraft seines Amtes ein Terrorregime ausübt und die Schüler schikaniert, wird er die Herzen der Schüler nicht gewinnen und auch nur schwerlich Begeisterung für die Sache wecken können. Solcher Machtmissbrauch kommt an Schulen auch in subtiler Form leider immer noch vor. Dann werden Tradition und der Erwerb von Wissen zu Belastungen, die intuitiv abgelehnt werden.

Unabhängig von solchen Extremfällen können wir immer wieder Wellenbewegungen im Emanzipationsstreben der nächsten Generation beobachten. Nehmen wir zum Beispiel die Kunst, und im Speziellen das Theater oder die Oper. Im Moment sind unter den Meinungsführern traditionelle Aufführungen eher verpönt und das sogenannte Regietheater zwar in der Kritik, aber noch immer im Trend. Mir als Theater- oder Opernbesucher drängt sich häufig der Eindruck auf, dass es bei vielen der Regie-Experimente mehr um die Selbstdarstellung des Regisseurs geht, als um das Werk selbst. Diese oft skandalträchtigen Inszenierungen gehen im Grunde nach einem immer gleichen Muster vor: Absichtlich und mitunter krampfhaft werden Traditionen gebrochen von Menschen, die sich ganz offensichtlich vor allem selbst darstellen möchten. Werktreue gilt diesen Künstlern als negatives Qualitätsmerkmal.

Viele mögliche Besucher meiden deshalb dieses Regietheater. Sie denken sich womöglich, dass sie die Bilder im Museum auch im Original anschauen möchten und nicht in einer willkürlichen Übermalung, um dadurch angeblich neue Interpretationen zu ermöglichen. Auch bei mir gibt es diese Grenzen des Verständnisses. Viele moderne Inszenierungen finde ich schlüssig und spannend, aber nicht alles Neuartige findet meine Zustimmung. Problematisch wird es für mich vor allem dann, wenn ich das zugrunde liegende Stück nicht mehr erkennen kann.

Ich denke, der aktuelle Emanzipations- und Selbstdarstellungsdrang vieler Regisseure wird sich eine Zeit lang noch weiter austoben, und dann wird es auch wieder vorbei sein damit. Denn irgendwann einmal kommt in jeder Entwicklungsphase zwischen Tradition und Neuerung der Umschlagpunkt. Es ist wie in allen Lebensbereichen: Solange eine Regie-Tradition gut und erfolgreich ist, lohnt es sich, sie aufrecht zu erhalten. Wenn dies nicht mehr der Fall ist, werden andere Sachen ausprobiert.

Genauso gibt es die Fälle, wo wir eine Tradition unverändert stehen lassen, weil sie so, wie sie ist, nicht mehr verbessert werden kann und sich über Jahrzehnte oder Jahrhunderte bewährt hat. Das ist dann das, was wir eine unantastbare Tradition nennen.

Lebkuchen können wir beispielsweise industriell herstellen und über die richtigen Gewürze ein recht ordentliches Geschmackserlebnis erzielen. Richtige, echte Lebkuchen lassen sich aber nur in der uralten Tradition herstellen. Nach dem Originalrezept wird der Lebkuchenteig bereits im Februar angerührt und den ganzen Sommer über in Fässern gelagert, in denen er fermentiert. Dieser fermentierte Stammteig entwickelt übers Jahr einen Geschmack und eine Würze, die mit anderen Mitteln niemals zu erreichen sind.

Beim Wein verhält es sich ähnlich. Wir können viele der Prozesse industriell optimieren, aber ohne handwerkliche Sorgfalt und den zeitaufwendigen Einsatz von Menschen wird kein erstklassiger Wein herzustellen sein. Es gibt eben gewisse traditionelle Verfahren, die industriell einfach nicht ersetzbar sind. Denken Sie nur an das mühsame Schütteln der Flaschen bei der Champagner-Herstellung, das vom Kunden honoriert wird.

Oder nehmen Sie ein ganz einfaches Beispiel: Sie können heute in jedem Baumarkt zu vertretbaren Preisen die tollsten Geräte kaufen, darunter viele, die noch vor einem Jahrzehnt nur für Handwerksbetriebe einer gewissen Größe erschwinglich waren. Aber was machen Sie, wenn Sie einen Nagel in die Wand schlagen wollen? Sie werden nach wie vor zum Hammer greifen. Wohl gibt es Hunderte spezielle Formen, dazu ständige Verbesserungen beim Material. Aber die Grundform des Werkzeugs ist seit Tausenden von Jahren unverändert.

In unserer Zeit, die ungeheuere technische Möglichkeiten bietet, ist schon seit Längerem zu beobachten, dass die Menschen gerade die traditionellen Dinge wieder besonders schätzen. Ganze Branchen leben davon, Dinge wieder auf traditionelle Weise herzustellen, und die Menschen sind dazu bereit, die wesentlich höheren Preise dafür auch zu bezahlen. Weil sie den Wert der Tradition, der alten Techniken und der Handarbeit erkennen und wertschätzen. Seien es Koffer oder Uhren, Küchengeräte, Textilien oder eben auch Lebensmittel. Der Aufstieg der Bio-Branche wäre anders nicht zu erklären. Ebenso wenig die Erfolgsgeschichte einer Einzelhandelskette wie Manufactum, die gezielt auf die Suche nach den letzten verbliebenen Handwerksbetrieben und Manufakturen geht und ihnen zu neuer Kundschaft verhilft. Die Handarbeit und das alte Handwerk feiern – trotz des Kultes von Billigwaren und Ramschpreisen – eine beachtliche Renaissance.

Freilich sind es nur gewisse Bereiche, wo wir Traditionen gerne unberührt lassen oder in ihrer alten Form wieder erstehen lassen. Wir wollen zum Beispiel sicher nicht zum Zahnarzt gehen und dort mit Mitteln wie vor hundert Jahren behandelt werden. In diesem Bereich schätzen wir durchaus den Laserbohrer und die Implantat-Technik. Ohne Zögern befürworten wir den neuesten Stand der Technik und alles, was hilft, möglichst schonend und schmerzfrei über die Runden zu kommen. Und ebenso macht es zwar Spaß, gelegentlich in einem Oldtimer zu sitzen. Aber auf Dauer fahren wir doch lieber ein Auto mit Airbag, Stoßdämpfern und einem Navigationssystem, das auf dem neuesten Stand der Technik ist.

Umgangsformen und Höflichkeit

Zu den tradierten Werten, die bleiben, auch wenn wir sie immer wieder an die jeweilige Gegenwart anzupassen haben, gehören auch und vor allem unsere Umgangsformen. Also die Art und Weise, wie wir mit unseren Mitmenschen und mit den Dingen des Alltags umgehen. Umgangsformen sind keineswegs leere Rituale, denn sie befördern oder behindern das zwischenmenschliche Miteinander, sie drücken Achtung und Respekt aus und demonstrieren Verbindlichkeiten. Davon erzählt uns unter anderem die Bibel: Schon zu Zeiten Jesu galt es als ungehörig, einer Einladung zu einem Fest unentschuldigt, also ohne triftigen Grund und ohne höfliche Absage, nicht nachzukommen.

Höflichkeit muss allerdings nicht immer nur anerzogen sein. Sie kann ihre Begründung auch in einer Art natürlicher Herzensbildung finden. Ich habe zum Beispiel einen Freund, der im Elternhaus keine übertriebenen Umgangsformen gelernt hat, aber er macht all diese Dinge von Natur aus fast immer richtig – denn er hat Taktgefühl. Dieser Freund fragt sich stets, wie er seinen Mitmenschen eine Freude bereiten und wie er nett sein kann, ohne sich anzubiedern oder aufdringlich zu sein.

Genau darin liegt der tiefere Sinn der Höflichkeit. Es geht nicht um das mechanische Befolgen eines komplizierten Regelwerks, das sich gegen die Menschen richtet, sondern darum, dass wir den Mitmenschen wahrnehmen und harmonisch miteinander auskommen, ohne uns selbst aufzugeben. Höflichkeit ermöglicht uns, in allen Situationen das Gesicht zu wahren. Sie wirkt zivilisatorisch, sie schafft eine freundliche Atmosphäre, durch sie werden Konflikte vermieden oder verringert.

Unhöflich ist es beispielsweise, wenn jemand die natürliche „Bannmeile“ seiner Mitmenschen unterläuft. Wenn mir jemand zu nahe rückt, bekomme ich schlechte Laune und fühle mich bedrängt. Also gehe ich entweder rückwärts oder reagiere aggressiv. Wie viel besser wäre es doch, dieser jemand hielte von sich aus den gebührenden Abstand? Oder umgekehrt, wenn ich jemanden mit einer dummen Frage belästige, fühlt dieser sich zu Recht angegriffen und verletzt. Wieso kann ich mich nicht zügeln? So haben kleine Ursachen oft große Wirkungen, und eine unbedachte Unhöflichkeit oder Laune kann Beziehungen und damit ganze Projekte nachhaltig stören. Das Nichtbeachten der einfachsten Umgangsformen behindert letztlich sogar das Fortkommen unserer Ideen.

Dagegen ist es zum Beispiel eine schöne Tradition, dass ich in der Oper, im Theater oder im Kino, wenn ich durch eine schon gut gefüllte Reihe gehen muss, um meinen Platz zu erreichen, den Menschen, an denen ich mich vorbeizwänge, mein Gesicht zukehre und nicht das Hinterteil. Das ist höflich und drückt meinen Respekt aus. In jeder Situation hilft zudem der gesunde Menschenverstand, um nicht unfreiwillig rücksichtslos oder unhöflich zu sein. Wenn ich weiß, dass ich in der Mitte einer Reihe sitze, gehe ich doch am besten schon ein bisschen früher an meinen Platz und nicht auf den letzten Drücker, um nicht im wahrsten Sinne des Wortes einen Aufstand zu erzeugen.

Genauso sollte ich mich bei einem Konferenztermin besser nicht so prominent fühlen, dass alle auf mich warten müssen, bis ich selbst dann endlich als Letzter erscheine. Das alles sind Gesten der Rücksichtnahme. Ein Sinn für solche Traditionen der Höflichkeit hilft im Leben ungemein. Natürlich gibt es auch auf dem Felde der Höflichkeit Rituale, die krampfhaft am Leben erhalten werden, künstlich aufgesetzt wirken und nicht mehr wirklich notwendig erscheinen. Denken wir nur an die alten Verbeugungen oder Knickse, die heutzutage nur noch gültig sind, wenn wir an einen Hof geladen sind. Oder denken wir an die antiquierten und uns heute skurril erscheinenden Umgangsformen in manchen Studentenverbindungen. Dass der Mann traditionell links von der Dame geht, gilt heute auch nur noch beschränkt. Diese Tradition hat aber, wie so viele, einen praktischen Hintergrund: Der Mann trug früher einen Degen auf der linken Seite. So hätte die Dame blaue Flecken bekommen, wäre sie auf dieser Seite gegangen. Und sie konnte Schutz finden, falls der Mann sie mit der rechten Hand hätte verteidigen müssen. Diese Sitte wird sehr wahrscheinlich in naher Zukunft vollkommen in Vergessenheit geraten sein und nicht mehr zum Kanon der Höflichkeit gehören, da sie ihren Inhalt verloren hat.

Einzelne Konventionen der Höflichkeit werden sich jedoch immer wieder ändern, sie gehen mit der Zeit, um den ewig gleichen und zeitlos aktuellen Zweck zu erfüllen, respektvoll miteinander umzugehen. Das spanische Hofzeremoniell, das im kaiserlichen Wien noch gegolten hat, ist an den heutigen Höfen schon abgerüstet worden. Neue Gebote kommen jedoch immer wieder hinzu: So konnte es ein Mobiltelefon-Verbot beim Essen früher aus verständlichen Gründen nicht geben. Heute ist es meines Erachtens unverzichtbar geboten, wenn ich dem Essen und meinen Tischnachbarn die nötige Wertschätzung entgegenbringen möchte.

Als wir Kinder waren, hat ein Chauffeur unsere Familie manchmal in die Stadt gefahren. Dieser Mann kam aus dem Münchener Schlachthofviertel und verfügte über eine ganz eigene Sprache, mit ganz besonders originellen Kraftausdrücken. Uns Kindern hat es damals großen Spaß gemacht, ihm zuzuhören, wie er die anderen Verkehrsteilnehmer anschrie und ausschimpfte und welche herrlichen Wörter er dabei gebrauchte. Nur manchmal wurde das Schlachthof-Gepolter meinem Vater zu viel, dann schritt er offiziell ein, obwohl auch er sich amüsiert hat. Heute wäre es generell unmöglich, im Straßenverkehr einfach das Fenster runterzukurbeln und dem Gegenüber solche Schimpfkanonaden an den Kopf zu werfen. Damals aber war das der übliche Umgangston in München, und es war im Übrigen auch gar nicht so böse gemeint. Es war eben so Sitte und das Zeichen, das einer dazugehört.

Auch die Kleiderordnungen ändern sich enorm im Laufe der Zeit. Dennoch ist es immer noch ein Akt der Höflichkeit, sich mit seiner Kleidung der jeweiligen Umgebung einigermaßen anzupassen und in Maßen konform zu verhalten. Niemand sollte sich zum Beispiel so auffällig dekorieren, dass er damit zwangsweise im Mittelpunkt steht und die Aufmerksamkeit aller auf sich zieht. Bei meinen eigenen Kindern habe ich in Sachen Dresscode glücklicherweise nie ein Problem gehabt. Meine Söhne sind im Geschäftsleben von klein auf schon immer korrekt angezogen gewesen, sie haben sich stattdessen im Privatleben ausgetobt. Ich muss gestehen, ich selbst war da etwas „wilder“ und habe mich als junger Mensch gegen diese Art der Anpassung an die Konventionen des Geschäftslebens vehement gewehrt. Wenn mein Vater mir eindringlich empfahl, in Anzug und Krawatte zu erscheinen, habe ich mich stets gesträubt. Mir ging es damals um meine Individualität, die ich mit meiner Kleidung ausdrücken wollte. So habe ich ewig mit meinem Vater diskutiert, warum er denn etwas dagegen hätte, wenn ich mich ein bisschen bunter anziehen würde. Solange nichts Schmutziges dabei wäre, müsse das doch in Ordnung sein. Er entgegnete stets und unnachgiebig, dass auf einer Industriemesse ein grauer Anzug das richtigere Kleidungsstück sei, weil wir dort einen guten Firmennamen vertreten und entsprechend geachtet werden möchten. Ich aber behielt meinen Dickkopf und bestand darauf, anders sein zu wollen.

Heute sehe ich, dass das für meinen Vater damals eine schwere Belastung war, die ich ihm hätte ersparen können. Es war eine Wichtigtuerei meinerseits anderen gegenüber, die absolut nicht notwendig war. Heute habe ich auf mein damaliges Verhalten einen anderen Blick. Vielleicht bin ich auch einfach gelassener geworden. Wenn ich in einer Gruppe bin und es in dieser gewisse gesellschaftliche Verhaltensnormen gibt, ist es für mich heute nicht der Rede wert, mich diesen anzupassen. Es ist vielmehr eine selbstverständliche Reverenz an die Gemeinsamkeit. Ganz bestimmt braucht es in der Entwicklung eines jeden Menschen die Erfahrung der Abgrenzung, um eine eigenständige Persönlichkeit zu werden. Aber die muss nicht unbedingt im Verletzen von Kleiderordnungen bestehen. Mich beeindruckt viel mehr eine individuelle Leistung oder das Vorbringen einer individuellen Meinung, als ein ausgefallenes und nur oberflächlich provozierendes Kleidungsstück.