„Wer hohe Türme bauen will,
muss lange beim Fundament verweilen‟
Warum neue Ideen eine feste Basis brauchen
„Den Fortschritt“, so der britische Schriftsteller Aldous Huxley, „verdanken die Menschen den Unzufriedenen.“
Als grundsätzlich bedächtiger und wertkonservativer Mensch halte ich es allerdings eher mit dem habsburgischen Kaiser Franz-Joseph, der einmal gesagt hat, seine Politik sei dann richtig, wenn alle Völker seines Reiches gleichmäßig unzufrieden seien. Allgemeiner gesagt: Den Menschen geht es dann am besten, wenn sie ein wenig, aber nicht allzu unzufrieden sind. Und wenn der gefühlte Abstand der besonders Unzufriedenen zu den scheinbar Zufriedenen nicht zu groß ist. Unmäßige Unzufriedenheit ist das Ergebnis von Not oder Angst. Daraus folgen Verzweiflung und Lähmung, im schlimmsten Fall nackte Gewalt. Oder sie ist eine Folge menschlicher Gier. Dann macht sie rücksichtslos und lässt uns das Maß für das Machbare und Nützliche verlieren. Ist dagegen für das Notwendige gesorgt, und bewahren wir in unserem Streben zugleich das rechte Maß, dann macht Unzufriedenheit kreativ.
Nur wer glaubt, alles sei vollständig zum Besten bestellt, hat keinen Anlass, Bestehendes verändern oder auch bloß verbessern zu wollen. Er hat nicht einmal Anlass, sich über das Bestehende groß den Kopf zu zerbrechen. Er nimmt die Dinge einfach, wie sie sind. Der rundum Zufriedene möchte, dass im Wesentlichen alles so bleibt wie es ist.
Gewiss, auch zufriedene Menschen haben Wünsche. So wünschen sie sich ganz gerne mehr vom Gleichen. Oder etwas Abwechslung. Mal den Schweinsbraten mit einer Maß Bier, mal eine Forelle mit einem Gläschen Wein. Zufriedene Menschen unterbreiten Vorschläge. Ins Kino oder ins Theater zu gehen. Dieses Jahr in den Bergen, nächstes Jahr am Meer Urlaub zu machen. Zufriedene Menschen haben Einfälle. Eine neue Frisur. Einen Modellwechsel beim Auto. Es mal mit Tennis zu versuchen. Ebenso gehen sie in allerlei Fragen des Geschmacks mit der Mode. Oder sie suchen eine „neue Herausforderung“ im Beruf – vornehmlich im bereits ausgeübten, versteht sich.
Wohlgemerkt: Gegen all dies ist überhaupt nichts einzuwenden. Im Gegenteil, ein großer Teil unseres Lebens steht nun mal im Zeichen der Wahl zwischen bekannten Möglichkeiten. Wollten alle ständig alles anders machen und niemand auf Vertrautes und Bewährtes setzen, dann würde die Welt nicht funktionieren. Doch Wünsche, Vorschläge, Einfälle, Moden, Wechsel von Geschmäckern, Besitztümern, Wohnorten oder Arbeitsstellen sind eben dies: Varianten des Bekannten. Wenn solche Entscheidungen „Ideen“ genannt werden, ist das eher ein Missverständnis.
Tatsächlich haben Menschen, die mit sich und der Welt rundum zufrieden sind, höchst selten Ideen, jedenfalls nicht in einem anspruchsvollen Sinne des Wortes. Denn eine Idee, das ist eine zunächst rein geistige Vorstellung von etwas, das es zumindest in der gedachten Form nicht gibt. Wer eine Idee nicht nur hat, sondern auch verfolgt, der glaubt, dass das von ihm Erdachte die Welt bereichern, die eigenen Möglichkeiten oder diejenigen anderer Menschen auf irgendeine Weise erweitern wird. Dass das Neue besser sein wird als das Alte. Insofern sind Ideen stets Kinder der Unzufriedenheit mit dem Bestehenden und Bekannten.
Ideen weisen über die vorgefundene Realität hinaus. Wer eine Idee hat, möchte die Welt im Großen oder im Kleinen verändern. Zumindest versucht er, sie im Lichte seiner Idee von einer anderen Warte aus zu betrachten – und andere von dieser neuen Sicht der Dinge zu überzeugen. Auch eine solche Veränderung der Perspektive führt dann häufig zum Wunsch, die betrachtete Sache nicht nur neu zu sehen, sondern künftig auch besser, jedenfalls anders zu machen.
Damit das gelingt, muss eine gute Idee freilich nicht nur ihren Urheber, sondern möglichst viele Menschen inspirieren und begeistern. Oft sprechen wegweisende Ideen uralte Wünsche und Hoffnungen der Menschen an. Dass es in der Welt gerecht zugehen möge. Dass Hunger, Not, Krankheit und Leid so weit als irgend möglich vermieden oder vermindert werden. Zumindest sollten andere den Eindruck gewinnen, durch unsere Idee würden die Möglichkeiten ihres Daseins spürbar erweitert. Denn so gerne die Menschen auch auf vertrauten Pfaden gehen, so sehr haben sie zugleich Verlangen nach Neuem und nach Überraschungen. Dieses Verlangen treibt Forscher, Entdecker, Pioniere und Visionäre an – und es lässt ihnen schließlich auch weniger wagemutige und fantasievolle Menschen folgen.
Zündende Ideen vermitteln uns das Gefühl, mit ihnen komme etwas wirklich Neues in die Welt. Insofern eignet ihnen im Wortsinne immer auch ein utopisches Element: dass hier etwas bislang Unmögliches vom „Nicht-Ort“ (gr. oυ τοπος) in die Welt unserer Möglichkeiten befördert werde.
Ideen in diesem Sinne – Bestehendes kritisch zu überdenken, Neues zu planen und ins Werk zu setzen – können sich auf die verschiedensten Bereiche unseres Lebens beziehen. In unserer Zeit rasanten technischen Wandels denken wir bei Ideen oft zuerst an neue Geräte oder verbesserte technische Prozesse. Etwas voreilig verwenden wir dann die Begriffe „Idee“ und „Erfindung“ synonym. Umgangssprachlich ist das nicht verkehrt. Doch grundsätzlich ist eine Idee etwas viel Abstrakteres als eine Erfindung. Beruht letztere doch mehr oder weniger auf bereits vorhandenem Wissen und technischem Können, die neu kombiniert oder anders genutzt werden. Wogegen eine Idee etwas gedanklich Mögliches gar nicht sofort auf seine praktische Realisierbarkeit hin formulieren muss. Als rein geistige Vorstellungen sind Ideen zunächst hypothetisch. Dass sie logisch schlüssig und gedanklich plausibel sind, ist dabei wichtiger, als dass sie sofort „machbar“ erscheinen.
Erfindungen geht denn ja auch sehr oft eine Art von Ideen voraus, die wir als Entdeckungen oder Erkenntnisse bezeichnen. Hier wird die Realität sozusagen nicht umgebaut, sondern zunächst einmal umgedeutet. Im Lichte neuer Konzepte, Modelle oder Theorien erschließen sich dabei neue Sichtweisen auf den Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen in der Natur. Wodurch wir dann in diese Zusammenhänge gestaltend eingreifen können – sehr oft, aber keineswegs immer mit segensreichen Wirkungen für Mensch und Natur.
So sehr gegenständliche Ideen, so sehr wissenschaftliche Erkenntnisse und Erfindungen die Menschheit vorangebracht haben, noch wichtiger sind wohl jene Ideen, dank derer wir nicht das Was, sondern das Wie unseres Handelns verändern. Dank derer wir die Art und Weise unserer Zusammenarbeit und unseres Zusammenlebens neu gestalten. Die Abschaffung von Sklaverei und Leibeigenschaft, die Formulierung allgemeiner Menschenrechte, Freiheit und Selbstbestimmung, Demokratie und Gewaltenteilung, freie Marktbeziehungen anstelle unkündbarer Abhängigkeiten und Abgabenzwang. All das sind Ideen, die das Gesicht der Welt grundlegend verändert haben – und immer noch verändern.
Andere, manchmal bloß gut gemeinte, manchmal schlechte und manchmal auch schon im Ansatz schreckliche Ideen haben die Menschheit aber auch mit den Abgründen ihres Denkens und Handelns konfrontiert. Vor allem die totalitären Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts – Rassismus, Antisemitismus, Faschismus und Kommunismus – haben Abermillionen von Menschen Elend, Tod und systematische Vernichtung gebracht. Möglich war das, weil leider auch diese Ideen Massen mobilisieren konnten. Ebenso wie religiöser Fanatismus aller Art im Verlauf der Jahrhunderte seinen Blutzoll gefordert hat.
Wann immer Menschen eine Idee absolut setzen, wann immer sie andere Sichtweisen partout nicht gelten lassen wollen, wann immer sie Menschen mit anderen Ideen und Meinungen nicht bloß widersprechen, sondern diese als Feinde bekämpfen, droht ihre Idee ein Werkzeug des Bösen zu werden. Von Natur ist der Mensch weder gut noch böse. Er ist frei, zwischen beidem zu wählen. Doch wenn er seine individuelle Fähigkeit, zu urteilen und zu entscheiden, aufgibt, wenn er sich blind der Masse oder einzelnen Anführern unterwirft, dann gibt er nicht bloß seine persönliche Freiheit auf. Er verliert zugleich jeden Maßstab für sein Handeln. Fantasie, Kreativität, schöpferischer Geist und gestaltender Wille benötigen ein festes Fundament.
Dieses Fundament hat für mich zwei unverzichtbare Ecksteine: einerseits die Grundregel, nach der die Rechte und Freiheiten eines Jeden ihre Grenze in den Rechten und Freiheiten des Anderen finden; andererseits die Grundeinsicht, dass der Mensch nicht allmächtig und allwissend ist. Er ist das ebenbildliche Geschöpf Gottes. Aber er geht einen Bund mit dem Teufel ein, wenn er dessen erster Einflüsterung Glauben schenkt: dass er sein könne wie Gott.
Den ersten Grundsatz kennen wir als „Goldene Regel“. Umgangssprachlich formulieren wir sie meist in dem etwas saloppen Merksatz: „Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg’ auch keinem andern zu.“ Jede Religion, jede spirituelle oder philosophische Lehre, die Menschen je ersonnen haben, kennt eine Version dieser Regel. In der Bergpredigt (Mt 7,12) formuliert Jesus sie so: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden. (…) Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen! Darin besteht das Gesetz und die Propheten.“
Welche Formulierung, welche gedankliche Ausprägung und genaue Begründung der Goldenen Regel jeder Einzelne auch immer für sich wählen mag – die Regel selbst kann schlechterdings nicht bestritten werden. Die Zustimmung zu ihr ist auch nicht von anderen Überzeugungen, von Religionszugehörigkeit, Weltanschauung oder Lebenslage abhängig. Sie gilt für den Gläubigen ebenso wie für den Agnostiker oder den Atheisten, für den Mächtigen wie für den Schwachen, für den Milliardär und den armen Schlucker. Selbst wer dem nackten Recht des Stärkeren huldigt, kann die Goldene Regel nur mithilfe eines geistigen Selbstbetrugs bestreiten: Er sieht sich selbst aufgrund höherer Fügung in jener Position der Überlegenheit, die er in Wahrheit bloß einer Anzahl von Zufällen verdankt. Der Sozialdarwinist formuliert damit sozusagen die Spielregeln des Lebens, nachdem die Mannschaften aufgestellt und die Seitenwahl vollzogen wurden. Nur weil das in Einzelfällen Vorteile verschaffen kann, ist dieser Irrtum unausrottbar.
Mit der Goldenen Regel setzt der Mensch sich in ein angemessenes Verhältnis zu sich selbst und zum Mitmenschen, nämlich in eines von gegenseitigem Respekt und Achtung. Mit der Einsicht in die grundsätzliche Fehlbarkeit seines Denkens und Handelns setzt sich der Mensch dagegen in ein angemessenes Verhältnis zur Welt als Ganzem. Er fügt sich in die Einsicht, dass er die Welt, in der er lebt, nicht selbst geschaffen hat; dass seine Erkenntnisse betreffs ihres Ursprungs, ihres Sinns und ihres Ziels sowie der Gesetze des Weltenlaufs niemals vollständig und niemals unbestreitbar wahr sein können. Beides zusammen führt letztlich zu einer Haltung der Demut und Selbstbescheidung. Anders als manche Zyniker meinen, hat Demut nichts mit Unterwürfigkeit zu tun, sondern mit Bescheidenheit und Respekt – Respekt vor dem Nächsten und Respekt vor der Schöpfung.
Mein Glaube – Wo die Gefahr ihren Schrecken verliert
Das gesamte Fundament all meiner Überzeugungen, Haltungen und Ideen ist für mich persönlich mein Glaube. Wohl umfasst mein Glaube als katholischer Christ eine ganze Reihe von Lehren und Überzeugungen, von lebenspraktischen Regeln und kultischen Gebräuchen, die über die eben beschriebene Grundhaltung hinausweisen. Aber die Ecksteine des Fundaments sind eben jene: Respekt vor dem Mitmenschen und Respekt vor der Schöpfung. Aus dieser Haltung heraus kann ich zugleich jedem begegnen, der andere, darunter durchaus auch zentrale Glaubensgewissheiten nicht mit mir teilt.
Würde ich die Lehren oder Gebote meiner Religion, des römisch-katholischen Christentums, gar noch ihre äußeren Formen absolut setzen, wäre ich bloß noch ein Fanatiker. Die Erfüllung formaler Vorschriften wäre mir dann wichtiger als deren Sinn. Fanatismus jedoch ist das Ende jeder lebendigen Religion. Gerade in Fragen der äußeren Form ist mir der Geist wichtig, in dem sie geübt werden. Unbeschadet der Tatsache, dass die katholische Verwurzelung der Eigentümerfamilie jedem bekannt ist, arbeiten in unserem Unternehmen natürlich viele Menschen, die eher „religiös unmusikalisch“ sind. Ebenso Angehörige anderer Religionsgemeinschaften, aufgrund unseres recht hohen Anteils türkischstämmiger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor allem viele Muslime.
Zu den Sitten und Gebräuchen unseres Unternehmens gehört es unter anderem, dass im Empfangsbereich der Verwaltung, in jedem größeren Büro sowie in den Werkshallen ein Kruzifix hängt. Ebenso wie wir nicht nur Weihnachten im Unternehmen feiern, sondern auch am Dreikönigstag die Räume räuchern und die Segensformel „C+M+B“ („Christus mansionem benedicat“ – „Christus segne dieses Haus“) über viele Türen schreiben lassen. Immer wieder frage ich muslimische Mitarbeiter, ob sie solche christlichen Symbole und Riten stören, gar in ihren eigenen religiösen Gefühlen verletzen. Und immer wieder nehme ich angenehm erstaunt zur Kenntnis, wenn mir versichert wird, dass das schiere Gegenteil der Fall sei. Zwar teile man nicht die hinter solchen Formen stehenden Glaubenslehren, weshalb viele nicht aktiv an solchen Riten teilnähmen, manche ihnen auch fernblieben. Aber man fände es sehr gut, dass die Religion generell eine Rolle für das Unternehmen spiele – und nicht alles allein im Zeichen von wirtschaftlichem Erfolg oder finanziellem Profit stünde. In diesem Punkt habe Bayern mit seiner breit und tief verwurzelten christlichen Tradition weit mehr Ähnlichkeit mit der muslimischen Lebenswelt als andere, der Religion vielleicht fernere Regionen Deutschlands.
Glauben heißt, etwas für wahr zu halten, was ich nicht weiß. Sonst wäre es Wissen. Wissen wiederum beruht auf der Kenntnis von Fakten und auf der Plausibilität von Argumenten, mit denen Fakten zu einem sinnvollen Ganzen verknüpft werden. Aber Fakten gibt es eben unüberschaubar viele. „Die Welt ist alles, was der Fall ist“, sagt der Philosoph Ludwig Wittgenstein. Manche Fakten mögen für meine Idee sprechen, andere dagegen, wieder andere habe ich womöglich übersehen. Ebenso ist noch das plausibelste Argument grundsätzlich bestreitbar. Im Ergebnis ist unser Wissen begrenzt. Auch in dem Sinne, dass es immer nur so weit reicht, wie andere bereit sind, es als halbwegs gesichertes Wissen zu akzeptieren.
Glaube ist demgegenüber etwas zunächst sehr Subjektives. Ich kann für meinen Glauben werben. Ich kann versuchen ihn so zu leben, dass mein Vorbild andere überzeugt. Aber ich kann im strengen Sinne nicht für meinen Glauben argumentieren. Im Gegenteil: Sogar von mir selbst fordert der Glaube, dass ich einen Willen zum Glauben habe; dass ich eben etwas für wahr halten und nicht alles immer diskutieren und in Frage stellen möchte. Auch der Glaube insgesamt bedarf also einer gewissen Demut: So klug bin ich nicht, dass ich alles wissen kann.
Jemand, der an Gott glaubt, der überzeugt ist, Gott hilft ihm, Gott meint es gut mit ihm; jemand, der davon ausgeht, dass es ein Leben nach dem Tod gibt, der ist in einer anderen Situation als ein kühler Realist, für den nur die sichtbare Wirklichkeit zählt, für den es darüber hinaus nichts gibt. Ebenso betrachtet er die Welt anders als ein strenger Rationalist, der überzeugt ist, alles sei der menschlichen Vernunft zugänglich.
Das zeigt sich spätestens dann, wenn ein Mensch an seine Grenzen stößt. Und das kommt ja öfter vor als den meisten lieb ist. Natürlich kann auch ein Atheist oder ein Agnostiker sehr gute Ideen haben. Er hat es zunächst ebenso schwer oder leicht, seine Ideen umzusetzen oder seine Ziele zu erreichen. Aber wenn er nicht nur auf normale Widerstände stößt, wenn er vielmehr von grundsätzlichen Zweifeln geplagt wird, wenn er strauchelt oder gar auf ganzer Linie scheitert, dann muss er nicht nur alles auf sich selbst oder auf die Uneinsichtigkeit und die Widerborstigkeit der Anderen schieben. Er steht dann auch meist ziemlich alleine da. Mehr noch: Je stärker er zuvor von sich und seiner Sache überzeugt war, je lauter er für sie getrommelt hat, umso kleiner wird oft die Zahl der Hände sein, die sich ihm nun helfend entgegenstrecken. „Hochmut kommt vor dem Fall“, werden viele eher sagen.
Wenn ich dagegen als gläubiger Mensch in Schwierigkeiten gerate, wenn mir schwere Zweifel kommen, wenn mir der Boden unter den Füßen wegbricht und ich vermeintlich keinen Ausweg mehr sehe, dann habe ich eine zusätzliche Kraft, auf die ich vertrauen kann: Ich kann zu Gott beten. Das heißt, ich kann die Sorgen und (Irr-)wege meines Lebens vor ihm zur Sprache bringen. Es ist ganz natürlich, dass wir Menschen gelegentlich Zweifel haben, ob unser Tun gelingen wird. In solchen Situationen hilft die Hoffnung, dass es gut geht und wir beschützt werden. Wer an Gott glaubt, der weiß, dass Gott es gut mit uns meint. Auf Gott vertrauen wir im Gebet, und er hat uns versprochen, unser Gebet zu erhören. So ist der Gottgläubige in einer stärkeren Position, da er jemanden hat, an den er sich wenden kann.
Aber das ist eben eine ganz andere Form der Gewissheit als jene, die sich auf Wissen gründet. Diese innere Gewissheit muss ich weder wie eine Monstranz vor mir hertragen, noch muss ich andere ständig von ihrer Festigkeit überzeugen. Mein Glaube hilft mir auch nicht besser, wenn ich möglichst viele von seiner Wahrheit überzeuge. Für meine Ideen, Vorschläge oder Meinungen muss ich aktiv werben. Und wenn andere es dann am Ende besser wissen – auch gut. Für meinen Glauben dagegen kann ich nur einstehen. Aber niemand wird ihn mir abhandeln können. Er hat für mich eine höhere Wahrheit.
Nicht wenige Menschen halten den Gläubigen wegen seines „Drahtes nach oben“ ja schnell für selbstgerecht. Und sicher finden sich immer auch Gläubige, die für diese Ansicht hübsche Beispiele liefern. Doch wahrer Glaube hat mit der triumphalen Gewissheit, es am Ende besser zu wissen, gar besser zu haben, nichts zu tun. Glaube macht stark, aber bescheiden. Wohl lässt er mich meine Grenzen erkennen. Auf das Höhere jenseits dieser Grenzen muss ich dagegen vertrauen. Doch vertrauen kann ich nicht einmal anderen Menschen, wenn ich mich selbst für besser oder weiser halte als sie. Wie sollte das also gegenüber Gott funktionieren?
Eine der für mich zugleich berührendsten und tiefgründigsten Passagen der Bibel findet sich im 18. Kapitel des Evangeliums nach Johannes, das von Jesu Verhör durch Pontius Pilatus berichtet. Dem Statthalter war von den Hohepriestern gesagt worden, Jesus beanspruche, der König der Juden zu sein. Ein durchaus raffinierter Vorwurf, könnte er damit doch zugleich die römische Vormacht in Palästina infrage stellen. Doch Jesus antwortet Pilatus:
Mein Königtum ist nicht von dieser Welt. Wenn es von dieser Welt wäre, würden meine Leute kämpfen, damit ich den Juden nicht ausgeliefert würde. Aber mein Königtum ist nicht von hier. Pilatus sagte zu ihm: Also bist du doch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme. Pilatus sagte zu ihm: Was ist Wahrheit?
Nun wäre es ja ein Leichtes für den Evangelisten gewesen, Pilatus an dieser Stelle als den zynischen und rücksichtslosen Machtmenschen vorzuführen, der er tatsächlich wohl war. Und der ja am Ende auch im Evangelienbericht aus Sorge vor einer Rebellion der aufgepeitschten Menge einknickt. Stattdessen aber bringt Johannes Pilatus für einen Moment sozusagen auf Augenhöhe mit Jesus. Der bestreitet zunächst jede weltliche Ambition, nimmt dann aber eine offenbar höhere Wahrheit für sich in Anspruch. Nahe liegender Weise könnte Pilatus ihn nun fragen: Und welche Art von Wahrheit soll das sein? Worauf Jesus bekennen könnte, dass er Gottes Sohn sei – was der Polytheist Pilatus aber kaum angemessen verstehen würde. Oder Jesus könnte einige seiner Kernaussagen wiederholen, die wir zuvor beim Evangelisten nachlesen konnten, und die der Römer dann im Einzelnen be- oder verurteilen müsste.
Doch weder Pilatus noch Jesus zeigen sich an einem solchen äußerlichen Meinungsstreit interessiert. Auch Jesus sagt ja von sich aus nicht: Dies oder jenes ist meine Lehre. Er sagt schlicht, dass er – und zwar bereits im Angesicht des Kreuzes – für „die Wahrheit Zeugnis ablege“.
Hinter der scheinbar so schlichten Frage des Pilatus steckt denn auch etwas weit Größeres als kriminalistische Neugier („Behauptest Du etwas, das ich als Machthaber nicht dulden kann?“), philosophische Skepsis („Wer kennt schon die Wahrheit?“) oder Ratlosigkeit, was er mit dem Angeklagten machen soll („Wie lautet denn nun der Vorwurf gegen diesen Mann?“). All das klingt an, ist aber nicht der Kern der Frage. Liest man den Text genau, dann fragt Pilatus auch gar nicht Jesus, was Wahrheit sei. Er fragt es sich selbst.
Und damit lautet seine Frage eigentlich: Wie kann sich jemand seiner Sache so sicher sein, dass er bereit ist für sie zu sterben? Weiß dieser Mann etwas, das ich nicht weiß? Und wie könnte ich zu diesem Wissen – besser: zu dieser Gewissheit – Zugang erlangen? So nimmt der Dialog Jesu mit Pilatus die bekräftigende Schlusswendung des Evangeliums vorweg: „Dieser Jünger ist es, der all das bezeugt und der es aufgeschrieben hat; und wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist.“ Dies sagen zu können, fußt gerade nicht auf einer Haltung des Rechthabens. Es fußt auf dem eben so unerschütterlichen wie logisch unbeweisbaren Glauben, dass Gottes Sohn zur Vergebung unserer Sünden sein Leben hingegeben hat. Wen solcher Glaube hochmütig, selbstgerecht oder auch nur allzu selbstsicher macht, der hat etwas falsch verstanden.
Jeder religiöse Mensch – egal, ob Christ, Moslem, Jude oder Angehöriger einer anderen Religion – wird sein irdisches Handeln unter einem höheren Gesichtspunkt betrachten. Denn was bliebe, wenn wir nur an irdische Dinge glaubten? Die Antwort kann dann nur lauten: möglichst glücklich auf Erden zu werden. Wie dieses Glück aussehen soll, kann der nichtreligiöse Mensch sich ebenfalls nur selbst beantworten. So könnte er sein Glück in der Macht über andere suchen. Oder im Reichtum, letztlich auch einer Form der Macht über Sachen und Menschen. Er könnte eine möglichst umfassende leibliche Befriedigung für Glück halten, sei sie nun sexueller oder kulinarischer Natur. Und in der Tat könnte man den heutigen Trend zur „Wellness“ ja auch als eine Art weichgespülter Ersatzreligion beschreiben. Oder man strebt nach Glück in Form von Ruhm – also nach historischer „Unsterblichkeit“ anstelle von seelischen oder spirituellen Formen der Erlösung. Aber was geschieht, wenn sich mein Nachruhm als überaus vergänglich erweist? Wenn die Nachfolgenden meine Lebensleistung gar negativ bewerten? War dann alles umsonst? Und was ist mit den vielen, an deren Leben sich außer ihren Kindern, Enkeln oder ein paar jüngeren Freunden niemand erinnert? Gibt es für diese Menschen letztlich keinen Sinn im Leben und kein Glück? Außerdem: Ist der in der Moderne so hingebungsvoll gepredigte „Glaube an sich selbst“ nicht ebenfalls in Gefahr, eine fade Ersatzreligion zu werden?
Nach Anerkennung, nach einer gewissen materiellen Sicherheit, nach Befriedigung seiner Bedürfnisse – und wohl auch seiner Lüste – strebt jeder Mensch. Aber wenn derartiges Streben zum einzigen Lebensinhalt wird, wenn es ohne größeren Zusammenhang bleibt, dann liegt darin zum einen oft keine Wert- und Sinnschöpfung für die Allgemeinheit. Gerade wer hauptsächlich nach Macht, Geld oder materiellem Wohlstand als Selbstzweck strebt, wird viel nehmen und eher wenig geben. Und selbst wer als Politiker, Erfinder, Unternehmer oder Künstler seinen Absatz in den Geschichtsbüchern bekommt, steht zumindest immer in der Gefahr, dass er sich von dem Bild abhängig macht, das er von sich selbst gemalt sehen will. Statt zum Herrn seines Lebens macht er sich so zum Sklaven seines Nachruhms. Der Gläubige kann ebenfalls erfolgreich sein. Er kann Werte schaffen für die Menschheit, die bleiben. Aber er wird nicht so abhängig von seinem Tun sein, weil es für ihn noch etwas Wichtigeres gibt: vor dem Angesicht Gottes bestehen zu können.
Der Glaube macht frei. Frei von der Furcht, in der Not allein zu stehen. Frei von der dunklen Sorge, mit dem – womöglich auch noch unzeitigen – Tod könne alles vorbei sein. Vor allem aber macht die Freiheit des Glaubens mich unabhängig von irdischen Dingen. Als gläubiger Mensch kann ich schöne Dinge sehr wohl schätzen und genießen. Aber ich muss mich nicht an sie klammern. Ich kann mit Menschen lang anhaltende und innige Beziehungen eingehen und unterhalten. Aber ich stehe nicht allein da, wenn ich Freunde oder Angehörige verliere. Dadurch, dass ich mich als gläubiger Mensch an höheren Dingen orientiere, verlieren die irdischen nicht ihren Wert. Aber sie rücken in die rechte Relation. Sie mögen uns Freude bringen, aber es gibt immer eine Freude, die darüber steht. Natürlich gibt es sehr erfolgreiche Menschen, die sich selbst nicht als gläubig bezeichnen würden. Aber ihre Kandidaten für das höchste Gut sind in meinen Augen allesamt Wackelkandidaten: Reichtum, Macht, Wohlbefinden, Anerkennung, Ruhm – alle schön und gut, aber meist ebenso flüchtig.
Glaube ist natürlich kein Garant für die Verwirklichung und den Erfolg meiner Pläne und Ideen. Für beides muss ich schon auch in einem sehr irdischen Sinne wirken. Nur mit Hoffen und Beten allein ist es nicht getan. Vielmehr wäre es ein sehr merkwürdiges Gottvertrauen, das hauptsächlich in der Hoffnung bestünde, Gott nehme mir auch die Arbeit ab. So ist das schöne Gleichnis Jesu von den Lilien auf dem Felde und den Vögeln unter dem Himmel nicht gemeint. Ja, der himmlische Vater sorgt dafür, dass es geeignete Speise für sie gibt. Aber fliegen müssen die Vögel schon selbst.
Noch weniger ist Glaube deshalb eine Unterform des Wunschdenkens, gar noch mit einer Art Glücksgarantie. Mein Glaube ist nicht nur für die Sonnenseiten des Lebens zuständig. Gerade auch die dunklen Tage und die weniger guten Ereignisse des Daseins haben dort ihren Platz. Mehr noch: Im Gegensatz zu rein innerweltlichen Glückserwartungen hat der Glaube überhaupt keine abschätzige Meinung von Sorge, Angst, Not oder Scheitern. Er begreift all das als integralen Teil menschlicher Lebenserfahrung. Gerade deshalb ist der Gläubige überzeugt, dass der Gefallene auch wieder aufstehen kann, dass sich selbst eine übel stehende Sache zum Guten wenden lässt – wenn die Sache denn an sich vor Gott bestehen kann. Eines wird der Gläubige deshalb niemals tun: sich selbst zum Richter machen und einem Gestrauchelten auch noch hinterher treten.
Die Lebenshaltung, die ich als gläubiger Mensch einnehme, ist im Wesentlichen von Demut geprägt. „Demut“ kommt von „Dien-Mut“, der Bereitschaft zu Dienen. Wenn ich mein Handeln nur an irdischen Zielen orientiere, dann schmerzt mich jeder Fehlschlag, jedes Scheitern. Ich sehe in den Dingen immer schnell den scheinbar unersetzlichen Verlust. Als gläubiger Mensch vermag ich mich leichter zu trösten. Ebenso fällt es mir leichter, von einer Sache abzulassen. Aus dem Glauben heraus ist ein Verzicht nicht so schwer. Das gilt besonders dann, wenn ich im Zweifel bin, ob ich mein Ziel nur erreiche, wenn ich gegen meine Grundregel – Respekt vor dem Nächsten und Respekt vor der Schöpfung – oder gegen andere Gebote meines Glaubens verstoße. Zweifellos halten sich die allermeisten Menschen an Recht und Gesetz, ganz unabhängig davon, ob sie gläubig sind oder nicht. Unser Gewissen hängt nicht exklusiv an der Religion. Aber wer es sich in Gewissensfragen gerne leichter machen will, der hat doch immer dieses kleine Schlupfloch, das für den Gläubigen fest vernagelt ist: die Chance, vielleicht nicht erwischt zu werden.
Dagegen muss für einen gläubigen Menschen ein Fehler, selbst ein schrecklicher Schicksalsschlag kein Weltuntergang sein. Fehlschläge können auch eine Reifung bewirken und mich bereichern, selbst wenn ich den Weg aus dem Dunkel zunächst nicht sehen kann. Ich gehe daher mit einer gewissen inneren Ausgeglichenheit und Gelassenheit an die Dinge heran. Mein Glaube schützt mich vor Verkrampfungen und vor zu viel Ehrgeiz. Und wenn ich nicht weiß, wie es weitergehen soll, wenn mir der Überblick fehlt, wenn meine Hoffnung gerade auf dem Tiefpunkt ist – solche Momente verlieren durch gläubiges Gebet ihren Schrecken. Die „Erleuchtung“, was ich tun kann, um mich aus einer unglücklichen Lage zu befreien, kommt dann meist ganz von selbst.
Mein Lebensthema – Bewahrung der Schöpfung und biologischer Landbau
Auch mein pragmatisches, wenn man so will mein „innerweltliches“ Lebensthema fußt auf den beiden Grundprinzipien meiner Lebenseinstellung: dem Respekt vor dem Nächsten und dem Respekt vor der Schöpfung. Auf Basis dieser Prinzipien könnte ich mich selbstredend für Dutzende anderer vernünftiger Dinge engagieren: bei Amnesty International für die Menschenrechte, beim Bischöflichen Hilfswerk Misereor für die Linderung des Hungers in der Welt, beim WWF für die Tiere der Serengeti oder den heimischen Hirschkäfer. Als Unternehmer könnte ich statt Babynahrung aus biologisch erzeugten Lebensmitteln auch Solarmodule herstellen oder einen fairen Teehandel betreiben. Oder ich könnte in einem konventionellen Chemiewerk dafür Sorge tragen, dass dessen Produktion die Umwelt so wenig wie möglich belastet. Wenn ich also genau das tue, was ich tue, dann nicht, weil ich es für den Königsweg zur Rettung der Welt halte. In unserem Unternehmen habe ich in recht jungen Jahren Verantwortung übernommen, weil mein Vater, als ich 29 Jahre alt war, gestorben ist. Und auch die Entscheidungen für Biolandbau und biologisch einwandfreie Produktion waren in der Familie vorgeprägt. Neben der aktiv gepflegten Liebe zur Kunst stand mein „Lebensthema“ schon deshalb für mich relativ früh fest.
Anders als Glaube und Grundüberzeugungen sind Lebensthemen von vielen Prägungen, sicher auch von den Zufällen der eigenen Lebensgeschichte abhängig. Wichtig scheint mir allein zu sein, dass es einem Menschen gut tut, wenn er für sich so etwas wie ein Lebensthema findet. Solch eine „Überschrift“ für die eigene Biographie muss auch beileibe kein „großes“ Thema ankündigen. Im Gegenteil: Wer sich in der Pflicht sieht, alle Probleme der Welt zu lösen, wird es schwerer haben, wirklich „sein“ Thema zu finden, als der, der sich „nur“ der Steuervereinfachung, dem Jugendtheater oder dem Kugelstoßen widmen möchte.
Ebenso wenig wird es jedem Menschen gelingen, „sein“ Thema im beruflichen Umfeld zu finden. „Make your passion your profession“, sagen die Angelsachsen. Doch nicht immer lässt sich aus einer Leidenschaft ein Geschäft machen. So wie es Berufe gibt, die einer gewiss mit Freude und dem nötigen Engagement ausübt, in denen er aber nicht unbedingt seine persönliche Erfüllung finden kann. Doch was Ihr Lebensthema auch immer sein möge: Sie sollten dafür schon etwas stärker „brennen“ als für ein vorübergehendes Interesse oder Hobby.
Als ich geboren wurde, war Bayern nahezu ein reines Agrarland, sieht man von München und weiteren größeren Städten ab. Außerdem hat unsere Familie mütterlicherseits Schweizer Wurzeln, und dieser Zweig unserer Familie hat ursprünglich Landwirtschaft betrieben. Als Bub habe ich während des Krieges und auch in den Jahren danach viel Zeit auf dem Bauernhof meiner Großmutter Beatrice verbracht. So kam ich von Kindesbeinen an in engen Kontakt mit der Landwirtschaft. Ohne mich jemals zu langweilen, konnte ich stundenlang den Menschen bei ihrer Arbeit zusehen und meinem Alter entsprechend durchaus auch ein wenig mit anpacken. Heu zu wenden, Futter zu bereiten oder eine Kuh zu melken gehört deshalb für mich zu den Dingen, die ich buchstäblich im Schlaf beherrsche. Es machte mich damals sehr stolz, mitarbeiten zu können und gebraucht zu werden. Auch für meinen jüngsten Enkel Quirin, der noch keine zwei Jahre alt ist, gehört es zu einer seiner Lieblingsbeschäftigungen, wenn er mithelfen darf die Kühe und die Pferde zu füttern. Auch das Handwerkliche am und auf dem Bauernhof faszinierte mich von Kind auf. Damals sind auf einem Bauernhof viele Dinge des täglichen Bedarfs sowie etliche Werkzeuge ja noch selbst hergestellt worden. Schließlich habe ich dann auch den ökologischen Gedanken quasi mit der Muttermilch aufgesogen – auch wenn „öko“ damals noch kein umgangssprachliches Präfix war. Aber ein sorgsamer und respektvoller Umgang mit allem Lebendigen, eine umfassende Verantwortung für die Natur, das war für mich nach der christlichen stets die zweite Botschaft.
Schon als Schüler lernte ich in der Schweiz den Nationalrat Dr. Hans Müller kennen, einen Lehrer und promovierten Agrarwissenschaftler, der zusammen mit dem Arzt, Mikrobiologen und Bodenkundler Dr. Hans Peter Rusch zu den Mitbegründern des organisch-biologischen Landbaus zählt. „Landbau lernst du bei mir“, erklärte Müller kurz und bündig, worauf in den fünfziger und sechziger Jahren ungezählte Lehrstunden folgten. In deren Verlauf begriff ich immer besser, warum ein gesunder Boden die Grundlage einer gesunden Ernährung und einer nachhaltigen Landwirtschaft sind – und nicht eine an Masse und Preis, folglich am Einsatz von Kunstdünger, Turbosaaten und schwerer Maschinerie orientierte agrarindustrielle Bewirtschaftung.
Letztere führt nahezu zwangsläufig zu riesigen Monokulturen, die den Boden irgendwann komplett auslaugen. Sie macht die Bauern abhängig von Düngemittel- und Saatgutkonzernen. Sie hat vor allem in der EU und in Nordamerika zu sinnloser Überproduktion, in deren Folge zu einem nachgerade surrealen Subventionsunwesen geführt. Auf der anderen Seite wurde nicht nur eine wettbewerbsfähige Agrarwirtschaft in nahezu allen Entwicklungsländern ruiniert, in den ärmsten Regionen der Welt führte das zu Bodenerosion, Verarmung, massiven Hungersnöten und Landflucht – während die wohlgenährten Bürger des Nordens in schöner Regelmäßigkeit von Lebensmittelskandalen erfahren. Und die nächste Steigerung dieses Wahnsinns steht schon auf der Agenda: Mithilfe einer schönfärberisch „grün“ getauften Gentechnik sollen unsere Nutzpflanzen endgültig in Designprodukte verwandelt werden.
All das würde man vielleicht zu den peinlichen Schattenseiten des Fortschritts zu rechnen geneigt sein, wenn der agroindustrielle Komplex wenigstens hochproduktiv wäre. Doch jenseits einer Ideologie der Brutto-Tonnage, die jeder sozialistischen Planwirtschaft Ehre machen würde, stimmt nicht einmal dies. Die alten Ägypter und die Azteken in Mexiko haben vor Jahrtausenden mit ihren Ernten pro Hektar 15 Menschen ernährt. In den USA reicht die Ernte pro Hektar heute gerade noch für eine Person. Und bei uns sieht es nicht wesentlich besser aus. Wenn also gegenwärtig die Preise für landwirtschaftliche Produkte und für Lebensmittel rasant steigen, dann geht das eher zu geringeren Teilen auf die weiter wachsende Weltbevölkerung oder auf Dürren und klimatisch bedingte Bodenerosion zurück. Es zeigt vor allem, dass die industrielle Landwirtschaft uns in eine Sackgasse geführt hat. Unsere Bauern können von ihrer Arbeit schon heute ohne Subventionen meist nicht mehr leben. Und die Früchte bäuerlicher Arbeit können die Weltbevölkerung auf Dauer nicht mehr ernähren, wenn es nicht zu einer Kehrtwende kommt. „Hiermit übergebe ich euch alle Pflanzen auf der ganzen Erde, die Samen tragen, und alle Bäume mit samenhaltigen Früchten. Euch sollen sie zur Nahrung dienen“, heißt es in Genesis 1,29. Der Mensch soll die Erde nutzen und nicht ausnutzen.
Dazu müssen wir allerdings auch sagen: Die Verbraucher des Nordens stehen am Ende dieser fehlgesteuerten Nahrungskette. Über Jahrzehnte wurde ihnen eingeimpft, dass Lebensmittel nicht nur überreich vorhanden, sondern vor allem auch billig zu haben seien. Noch Anfang der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts gab ein Durchschnittshaushalt ein gutes Drittel seines verfügbaren Einkommens für Lebensmittel und alkoholfreie Getränke aus. Heute sind es gerade noch zehn Prozent. Auch die Preisrelationen bei Lebensmitteln haben teils absurde Züge angenommen, wenn etwa Schweinefleisch billiger ist als frisch geerntete Kartoffeln oder Käse, wenn vom anderen Ende der Welt importierte exotische Früchte weniger kosten als heimische Äpfel. Weshalb eine Umkehr letztlich auch nur beim Verbraucher beginnen kann. Wenn wir qualitativ hochwertige Lebensmittel wollen, dann sollten wir bereit sein, den Preis dafür zu bezahlen, und die Arbeit der Bauern damit entsprechend wertschätzen.
Nur dann lässt sich in der Landwirtschaft auch wieder flächendeckend eine vernünftige Bodenbewirtschaftung durchsetzen. Ein gesunder Boden verliert seine Leistungsfähigkeit nicht, ganz im Gegenteil, er kann sie sogar steigern. Das wiederum führt zu einer besseren Energiebilanz. Eine ökologische Landwirtschaft erzeugt einen Energieüberschuss, während die konventionelle Landwirtschaft mehr Energie in die Erzeugung von landwirtschaftlichen Gütern steckt, als wir am Ende aus unseren Lebensmitteln herausholen.
Für mich gilt deshalb der Grundsatz des Begründers des Bio-Gedankens, Albrecht Thaer (1752-1828): „Gesunder Boden – gesunde Pflanze – gesundes Tier und gesunder Mensch!“ Vor der Zeit, in der mit der modernen Stickstoffchemie eine der Grundlagen unserer industriellen Landwirtschaft gelegt wurde, vertrat Thaer schon in weiser Voraussicht die Meinung, dass die Nahrung der Pflanzen aus den im Boden befindlichen organischen Stoffen bestehen müsse. Damit begründete er die Humustheorie, die lange Zeit viel Gegnerschaft erfuhr und teils heute noch erfährt.
Dr. Müller stellte die Frage: Was macht einen lebendigen und gesunden Boden aus?
Angesichts des Durchmessers unserer Erde (ungefähr 12 000 Kilometer) und der Dicke der äußeren Erdkruste (maximal 35 Kilometer) nimmt sich die Dicke der fruchtbaren Rindenschicht mit ihren 10 bis 30 Zentimetern verschwindend dünn aus. Und doch ist ohne diesen Boden jedes Leben auf der Erde undenkbar. Auch diese hauchdünne „Muttererde“ ist noch in mehrere Schichten gegliedert. Und dieser Boden wächst grundsätzlich von oben nach unten.
Wenn wir organische Substanzen, also etwa Gras, Blätter oder Mist liegenlassen, tritt zunächst ein Fäulnisprozess ein, in dessen Verlauf Giftstoffe entstehen, die jegliche fruchtbaren organischen Prozesse hemmen. Bei ausreichender Luftzufuhr ist dieser Fäulnisprozess normalerweise in rund zwei Wochen, im Sommer gar in wenigen Tagen beendet. Daran schließt sich ein Verrottungsprozess ohne Giftentwicklung an. Hierbei werden die organischen Substanzen nicht nur durch Bakterien, Algen und Pilze, sondern vor allem durch Kleinsttiere wie Würmer, Asseln, Käfer, Tausendfüßler usw. abgebaut. In der oberen Bodenschicht geht es sozusagen drunter und drüber. Einer frisst den anderen und das, was der andere übriglässt, bis nichts mehr da ist, was dieser Mikrofauna als Nahrung dienen könnte. Man nennt diesen Prozess „Zellgare“. Er ist ein Durchgangsstadium zur Humusbildung.
In dieser Schicht des ständigen Durchwühlens und tierischer Völkerwanderungen können weder die Wurzelbakterien noch die Haarwurzeln der Pflanzen richtig gedeihen. Die Pflanzenwurzeln finden hier noch nicht die Nahrung, die sie benötigen. Diese entsteht vielmehr erst in der darunter liegenden Schicht, der sogenannten „Plasmagare“. Hier wird die verbliebene organische Substanz der „Zellgare“ vorwiegend von Bakterien abgebaut, und zwar zu mikroskopischen Kleinsubstanzen, die als unmittelbar aufnehmbare Nahrung den Haarwurzeln der Pflanze zur Verfügung stehen.
In Verbindung mit dem mineralischen Gerüst des Bodens aus Sand, Ton und Kleinstgestein entsteht so die für einen gesunden, fruchtbaren Humus essenzielle Krümelstruktur. In einem Bodenkrümel verbinden sich winzige, zerklüftete und daher extrem oberflächenreiche Tonteilchen mit den ebenso zerfaserten Resten organischer Substanzen zu einer Art Schwamm mit einer Fülle winziger Hohlräume. Die innere Oberfläche gesunder Böden kann deshalb bis zu 20 Quadratkilometer auf einen Quadratmeter Boden betragen. In den Hohlräumen der Krümel befindet sich zudem Luft, ohne die Kleinstlebewesen, Bakterien, Pilze, nicht überleben können, ferner wird dort Wasser gespeichert, das in Dürreperioden als Reserve dient. Im Wasser wiederum werden auch gelöste Salze, die sogenannten „Schwarm-Ionen“, festgehalten, die von den Pflanzen je nach Bedarf entnommen werden können. Eine der wesentlichen Voraussetzungen des organischbiologischen Landbaus liegt daher in der Erzielung einer umfangreichen, möglichst tief reichenden Krümelstruktur. Dazu muss man für die Bakterien im Boden ständig optimale Lebensbedingungen schaffen. Am Ende des Abbauprozesses steht dieselbe Urform des Lebendigen, die am Anfang da war. Hier verbindet sich das übriggebliebene schwammige Plasma mit den zerklüfteten Tonkristallen zu den Dauerkrümeln.
Wir sehen, dass es sich hier um einen fein abgestimmten, hochsensiblen und funktionalen Kreislauf handelt. Die Natur leistet sich nicht die Verschwendung der höchstorganisierten lebenden Substanz bis zu ihrer restlosen Vernichtung durch die Mineralisation. Sie lässt es gar nicht so weit kommen, sondern baut die derart erhaltenen Lebensträger wieder zu neuem Plasma um. In der Plasmagare, dem Dauerhumus, dieser bakteriellen Aufarbeitungszone, liegt gleichsam der Brennpunkt des Kreislaufs des Lebens, die Nahtstelle zwischen Tod und Leben. Das Grundgesetz organisch-biologischer Bodenbearbeitung lautet deshalb, die verschiedenen Bodenschichten so wenig wie möglich zu vermischen. Und die Grundidee der Humustheorie geht davon aus, dass wir dem Ackerboden nichts entnehmen, dass wir nichts von dem zerstören sollten, was er zum Gedeihen braucht. Dass wir ihm aber ebenso wenig Dinge zusetzen müssen, die er nicht von Natur aus schon enthält. So erklärte Dr. Müller mit einfachen Worten, die jeder Bauer verstehen konnte, den biologischen Landbau.
Das Fundament des Mutterbodens ist weit dünner als jenes der Türme von Ideen, von denen das Zitat Anton Bruckners spricht, das diesem einleitenden Kapitel zur Überschrift dient. Aber es ist ein umso empfindlicheres Fundament. Es ruht seinerseits auf dem Fundament der Idee, dass in der Natur das meiste den Gesetzen des Kreislaufs gehorcht, während wir in der Kultur, der Zivilisation, in Technik und Kunst ja vielleicht doch so etwas wie Fortschritt kennen – gewiss nicht immer linear, oft von Brüchen, Krisen und auch Rückschlägen gekennzeichnet. Aber getrieben von den Ideen der Unzufriedenen, die die Welt ein wenig besser machen wollen, als sie sie vorgefunden haben.
Von Karl Marx stammt die berühmt-berüchtigte Formel, die Philosophen hätten die Welt bislang nur verschieden interpretiert, es komme aber darauf an, sie zu verändern. Der Philosoph Odo Marquard hat darauf später spöttisch gekontert, dass einige Zunftgenossen die Welt nicht nur verschieden interpretiert, sondern auch höchst rabiat verändert hätten – es komme aber darauf an, sie zu verschonen. Ich glaube, beide Denker haben ein bisschen recht. Die göttliche Schöpfung der Natur – wozu auch wir selbst als Lebewesen gehören – sollten wir in der Tat so gut wie es uns möglich ist verschonen und für kommende Generationen bewahren. Was wir selbst geschaffen haben, dürfen wir dagegen nicht nur verschieden interpretieren, wir dürfen es auch verändern. Mutig, aber möglichst mit Augenmaß.