Nutze den Augenblick – aber den richtigen

Warum Ideen Zeit brauchen

24 Stunden am Tag. Nicht mehr, nicht weniger. Auch wenn es vielen häufig anders vorkommt: Jeder Mensch hat gleich viel Zeit. Natürlich nicht gleich viel Lebenszeit. Die ist, wie so vieles auf Erden, weder gleichmäßig noch immer gerecht verteilt. Sie wird von unserer Konstitution und vom Schicksal bemessen. Letzteres in Form von Krankheit, Unfällen, Naturkatastrophen oder menschlichem Versagen. In weiten Teilen der Welt auch leider immer noch von ungerechten wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen. Besonders tragisch ist dies, wenn Kinder und junge Menschen sterben müssen, bevor sie auch nur die Chance auf ein eigenständiges, gar ein erfülltes Leben gehabt hätten. Ebenso verkürzen Unvernunft und ungesunde Lebensweise unsere Erdentage, vor allem die vieler Wohlstandsbürger in der westlichen Welt. Und dann sind da noch die Natur und der unergründliche göttliche Ratschluss, welche den Psalmisten sagen lassen:

„Unser Leben währt siebzig Jahre, und wenn es hoch kommt, sind es achtzig. Das Beste daran ist nur Mühsal und Beschwer, rasch geht es vorbei, wir fliegen dahin. (…) Unsre Tage zu zählen, lehre uns! Dann gewinnen wir ein weises Herz.“

Doch solange wir, wie lange auch immer, auf Erden weilen, sind unser aller Tage, Wochen, Monate und Jahre gleich lang. Gerade weil unsere Lebenszeit im Ganzen begrenzt ist, kommt es umso mehr darauf an, wie wir die uns gegebenen 24 Stunden jedes Tages, die sieben Tage jeder Woche und die 365 Tage jedes Jahres nutzen.

Chrónos und Kairós

Im Griechischen gibt es für unseren Begriff „Zeit“ zwei Wörter. Chrónos bezeichnet den abstrakten Lauf der Zeit. Das ist die Zeit, die unser Chronometer misst, die für alle im gleichen Takt verrinnt – und die sich doch für jeden Menschen in jedem Moment so unterschiedlich lang oder kurz anfühlen kann. Die in unserer modernen Welt oft zu rasen scheint. Und die doch manchmal partout nicht „herumgehen“ will.

Auf der anderen Seite gibt es den Begriff des Kairós, der die erfüllte Zeit meint, den rechten Augenblick, den „perfekten“ Moment, in dem uns etwas gelingt, wir etwas Wesentliches erkennen oder Wichtiges sich entscheidet. Wir sagen dann, dass wir „die Gelegenheit beim Schopfe gepackt“ hätten – eine Redensart, die sich aus einem Epigramm des hellenistischen Dichters Poseidippos von Pella (ca. 310 bis 240 v. Chr.) herleitet, der den Gott Kairos als nur an der Stirn, nicht jedoch am Hinterkopf behaart beschreibt. Wir meinen mit dieser Wendung, dass wir im richtigen Moment das Richtige getan haben. Wir sind sozusagen auf einer seligen Insel des Kairós im breiten Fluss des Chrónos gelandet. Selbst wenn sich bedeutende Einfälle, Erlebnisse oder Ereignisse in unserem Leben bisweilen erst später als solche entpuppen, spüren wir doch meist sofort, dass in solchen Momenten alles „stimmt“, dass es gut ist, dass Gedanken oder Entwicklungen, die uns schon länger beschäftigt haben, sich plötzlich fügen. Solche entscheidenden Momente des Kairós sind nicht zuletzt die Ankerpunkte unserer Erinnerung.

In der klassischen griechischen Mythologie spielen Chrónos – nicht zu verwechseln mit Kronos, dem Vater des Zeus – und Kairós zwar keine wesentliche Rolle. Beide wurden erst in hellenistischer Zeit bildlich dargestellt, sodass hier wohl eher zwei abstrakte Zeitvorstellungen nachträglich mit einer olympischen Herkunft ausgestattet wurden. Interessant ist jedoch, dass die späten Darstellungen des Gottes Kairós diesen oft in die Nähe der Rachegöttin Nemesis rücken, welche die menschliche Selbstüberschätzung bestraft. Wir werden so indirekt ermahnt, uns bei der Jagd nach dem rechten Augenblick, nach dem Moment des Gelingens nicht zu versteigen. Denn der Gott „fliegt wie der Wind“ und ist „spitzer als ein Messer“, wie es bei Poseidippos heißt. „Bin ich mit fliegendem Fuß erst einmal vorbeigeglitten, wird mich keiner von hinten fassen, so sehr er sich auch bemüht.“

Der richtige Augenblick, wir können ihn also einerseits verpassen. Ob wir die Gelegenheit gar nicht erst erkannt oder ob wir sie aus Bequemlichkeit, mangelnder Entschlusskraft oder kleinlicher Sorge nicht genutzt haben – so oder so ist es sinnlos, der verpassten Chance, einer verlorenen oder verblassten Idee hechelnd hinterherzulaufen.

Noch weniger aber können wir andererseits den rechten Augenblick, den genialen Einfall, die einmalige Gelegenheit erzwingen. Harte Arbeit oder inneres Ringen mögen vielfach Gutes und Sinnvolles bewirken. Aber das sind eher die Mühen der Ebene, nicht die Glücksmomente der Inspiration. Selbst ein gewisser Druck mag bisweilen über Hindernisse hinweghelfen. Aber je stärker er wird, desto mehr lähmt er in aller Regel unseren Schaffens- und erst recht unseren Erkenntnisdrang. Der Geist weht nun einmal, wo er will. Sodass Gewichtiges, Großes, gar das Geniale meist Kinder des Kairós sind, die sich einfinden, aber nicht herbeizitieren lassen.

Im Übrigen folgt der weitaus größte Teil unserer Zeit eben dem Gesetz des Chrónos, der fließenden Zeit, und nicht dem des Kairós, des erfüllten Augenblicks. Woraus umso mehr folgt: Alles zu seiner Zeit. Es gilt, die „normale“ Zeit nicht achtlos verrinnen zu lassen, sondern sie sinnvoll zu nutzen. Ebenso falsch wäre es freilich, sie auf Gedeih und Verderb mit Aktivitäten zu füllen und sich allein um des Tuns willen jene Muße zu versagen, die wir brauchen, um über das Getane wie das zu Tuende in Ruhe nachzudenken.

Vom Wert wahrer Muße

Für viele Menschen ist ein ausgeklügeltes „Zeitmanagement“ zum Statussymbol geworden. Aufgaben, Projekte, Besprechungen füllen umfängliche papierene oder elektronische To-do-Listen und Kalender. Computer, Laptops und Smartphones helfen uns an jedem Ort der Welt bei unseren Erledigungen – und bescheren uns zugleich eine Fülle neuer Aufgaben. Ständig scheinen E-Mails auf sofortige Reaktion zu warten. Wer auf der Höhe der Zeit sein will, sollte wenigstens ein Nachrichtenportal oder einen „Ticker“ auf dem Schirm haben, jeweils „personalisiert“ für sein Interessenprofil. Wehe dem, der zusätzlich die Aktienkurse in Echtzeit verfolgen muss. Außerdem gilt es, seine „sozialen Netzwerke“ zu pflegen und diverse Blogs zu verfolgen, besser noch selbst hier und da eine rasch getippte Wortmeldung beizutragen. Und da sich nur wenige Menschen diese Fülle an echten wie vermeintlichen Aufgaben merken können, orchestrieren die elektronischen Werkzeuge unseren Tag mit allerlei Weck-, Warn- und Erinnerungsmeldungen. Die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit zerfließt dabei oft über jedes vertretbare Maß hinaus. Schlimmer, sogar ihre Freizeit selbst organisieren viele unter Effizienzgesichtspunkten.

Das alte römische Motto des „Carpe diem – Nutze den Tag“ verkehrt sich damit zunehmend in sein Gegenteil. Als es formuliert wurde, waren die Handlungsoptionen des Menschen noch recht übersichtlich. In unserer Welt des materiellen Überflusses und nahezu unbegrenzter Möglichkeiten geht es uns dagegen im Umgang mit der Zeit ähnlich wie mit unserem Umgang mit der Natur: Wir drohen beides zu übernutzen. Wir stopfen die Zeit mit allem Möglichen, darunter auch mit viel Unsinn voll. Und finden uns am Ende doch oft nur im Hamsterrad eines rasenden Stillstandes wieder.

Muße wird dabei zum Fremdwort, gerät gar in den Verdacht des Müßiggangs, der sprichwörtlich als aller Laster Anfang gilt. Stattdessen spricht man, so als sei der Mensch eine Maschine, von „Leerlauf“. Einmal nichts zu tun zu haben, wird zum horror vacui. Dabei brauchen wir in unserem Leben Zeiten der Ruhe, der Entspannung und der inneren Einkehr, um kreativ sein zu können.

Ich bin gewiss kein Mensch, der sorglos Zeit vertrödelt. Im Gegenteil, auch ich teile meine Tage ziemlich gewissenhaft ein. Wenngleich heute weitgehend meine Kinder im Tagesgeschäft die Verantwortung tragen, widme ich nach wie vor eine beträchtliche Zeit unserem Unternehmen. Die Malerei und meine Lehrtätigkeit, unter anderem an der Kunstakademie im georgischen Tiflis, die Musik sowie verschiedene ehrenamtliche Tätigkeiten fordern ebenfalls ihre Anteile am Zeitbudget. Doch dazwischen gibt es immer wieder genügend Auszeiten.

Leider füllen gerade viele Verantwortungsträger solche vermeintlich nutzlosen Lücken krampfhaft mit Angelegenheiten des Tagesgeschäfts. Da werden Papiere abgearbeitet, mehr oder weniger sinnvolle „Präsentationen“ zum x-ten Male umgearbeitet. Und natürlich wird viel herumtelefoniert. Sieht man von den wohl niemals aussterbenden Dauermitteilungen ab, wer gerade wo ist und wann wo sein will, dann habe ich auf Reisen oft den Eindruck, das frühere „Management by walking around“ sei durch ein „Management by calling aloud“ ersetzt worden. Wodurch die Welt oft mehr über das Geschäftsgebaren in anderen Firmen erfährt als es diesen lieb sein sollte. Von privaten Kalamitäten ganz zu schweigen. Die Zeit, die bleibt, wird mit Internet-Surfen, Filmen oder der Lektüre bunter Blätter totgeschlagen – zu denen ich inzwischen übrigens auch viele marktschreierische Wirtschaftsmagazine zähle.

Ich dagegen nutze Warte- und Transferzeiten meist zum Nachdenken. Oder ich habe etwas zu lesen dabei, das mich bei meinen momentanen Gedanken und Überlegungen wirklich weiterbringt. Und wenn ich das Gefühl habe, ich bräuchte eine Auszeit, um innerlich zur Ruhe zu kommen oder um gründlich über etwas nachzudenken, dann nehme ich mir diese Zeit. Denn was heutzutage kaum noch jemand glauben will: Es gibt immer noch genügend Angelegenheiten, die warten können.

Muße bedeutet ja weder, einfach nur Löcher in die Luft zu starren, noch irgendetwas Sinnfreies oder gar Nutzloses zu tun. Mögen viele Arten der modernen Freizeitgestaltung auch lautstark als „entspannend“ angepriesen werden – in meinen Augen sind die meisten eher ermüdende Zeitbanditen, denen ich persönlich lieber aus dem Weg gehe. Das gilt vornehmlich für den Fernseher, den ich nicht jeden Tag einschalte. Die verschiedenen neuen Informations- und Kommunikationstechniken nutze ich, schreibe E-Mails, recherchiere im Internet und besitze ein jeweils halbwegs aktuelles Handy-Modell. Aber ich muss nicht auf Gedeih und Verderb 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche online sein.

An andere, letztlich wohl ebenfalls sinnvolle Entwicklungen wie das E-Book werde ich mich dagegen kaum noch gewöhnen. Zumal gedruckte Bücher mit ihrer sinnlichen Präsenz mich viel eher zum Lesen anhalten als eine irgendwo gespeicherte Datei. Da passt die Langsamkeit des Mediums für mich einfach besser zum Inhalt. Denn ein gehaltvolles Buch will nicht schnell und nebenbei konsumiert, sondern gründlich gelesen und bedacht werden. So lese ich, um nur das für mich wichtigste Buch zu nennen, regelmäßig die gesamte Bibel, das Alte und das Neue Testament im Wechsel der Jahre. Dazu einen „Reader“ und nicht mein persönliches, mit allen Gebrauchsspuren und Markierungen versehenes, ledergebundenes Exemplar im Taschenformat zu verwenden, käme mir niemals in den Sinn.

Muße bedeutet für mich innezuhalten. Wenn ich einfach nur den Kopf freibekommen will, dann übe ich auf meiner Oboe, höre Musik oder bewege mich an der frischen Luft. Nur mit dem Reiten, einer alten Passion von mir, bin ich in den letzten Jahren kürzer getreten. Vor allem aber ergeben sich über den Tag verteilt immer wieder Gelegenheiten zum stillen Gebet. Dies ist eine der für mich persönlich wichtigsten Formen der Einkehr und der Sammlung.

In jüngeren Jahren habe ich oft genug folgende Erfahrung gemacht: Wenn ich zu sehr verplant, von zu vielen Aktivitäten blockiert und mit allerlei Gedanken vollgestopft war, wenn ich stets an den nächsten Termin dachte, statt mich auf das Nächstliegende zu konzentrieren, dann hatte ich überhaupt keine Chance, für Einfälle und Lösungen offen zu sein. Und so bedeutet „Carpe diem“ für mich, das Richtige zur richtigen Zeit und mit dem richtigen Maß zu tun. Weniger ist da oft mehr. Keine Sache wird ja allein dadurch besser, dass ich mich ihr über viele Stunden widme. Das gilt für praktische Arbeiten, es gilt für die Formulierung von Ideen oder Texten, und es gilt nach meiner Erfahrung auch für die künstlerische Arbeit.

Einer meiner wichtigsten Grundsätze beim Malen lautet, nicht alles zu tun, was ich tun kann, sondern nur das zu tun, was ich tun muss. Weder wenn ich mit einem Bild beginne noch wenn es sich seiner Vollendung nähert, besteht die eigentliche Arbeit im Hantieren mit Farbe, Pinsel und Palette. Am Anfang steht das Ringen um ein Thema. Hier warte ich lieber längere Zeit in Ruhe, bis eine Idee kommt, als dass ich durch Aktivismus das Entstehen von Ideen und meine Aufnahmefähigkeit störe. Denn Fehler, die ich zu Beginn in der Komposition mache, kann ich später mit noch so viel Farbe nicht korrigieren. Sie werden als Last weitergeschleppt und verhindern ein gutes Ergebnis. Schließlich: Höre ich nicht zum richtigen Zeitpunkt auf, kann ich leicht alles kaputtmachen. Weshalb auch zum Schluss hin bei einem Bild ruhige Betrachtung und Überlegung fast wichtiger sind als das Malen selbst.

Wer zuerst kommt, mahlt nicht immer zuerst

Die Vorteile recht verstandener Muße – Einkehr, innere Sammlung, gründliche Überlegung, ausgereifte Entschlüsse – liegen eigentlich auf der Hand. Doch warum neigen Menschen gerade bei wichtigen Angelegenheiten oft zu überbordendem Aktionismus? Mangelnde Geduld mag bei manchen ein Grund sein. Wobei ein Standardsatz aus vielen Bewerbungsgesprächen einen interessanten Hinweis gibt. Zum Handwerkszeug von Personalverantwortlichen gehört ja die Frage an den Bewerber nach seiner größten Schwäche. Meist kommt dann wie aus der Pistole geschossen die Antwort „Ich bin oft zu ungeduldig“. Was der Bewerber damit sagen will, ist folgendes: Eigentlich habe ich gar keine Schwächen. Ich dränge bloß möglichst schnell zur Tat. Sollen die anderen herumschwatzen, ich packe den Stier bei den Hörnern! Doch warum empfiehlt beinahe jeder Bewerbungsratgeber unverdrossen dieses abgenutzte rhetorische Bekenntnis? Dahinter steckt die wohl richtige Vermutung, dass schnelles und entschlossenes Handeln in der Wirtschaft höher bewertet werde als gründliches Abwägen – und gelegentlich eben auch mal begründetes Verwerfen – von Handlungsoptionen. Der „Macher“, so lautet das bedauerliche Missverständnis, fackelt nicht lange herum. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst! Wogegen Bedenkenträger und Problemsucher bloß den Betrieb aufhalten.

An diesem Punkt hat das Nachdenken zudem eine Art Makel: Außenstehende können nicht sehen, ob jemand tatsächlich über etwas halbwegs Wesentliches nachdenkt oder ob er innerlich auf Durchzug geschaltet hat. Anders gesagt: Von außen betrachtet hat die Reflexion eine fatale Ähnlichkeit mit dem völligen Nichtstun. Das macht sie für viele Praktiker, vor allem aber für ausgewiesene Aktivisten und Verteiler von Fleißkärtchen mehr oder weniger verdächtig. Umso mehr gilt das in solchen Umgebungen, in denen Effizienz und „Ergebnisorientierung“ besonders hochgehalten werden. Dabei zählt leider oft weniger, was diese „Ergebnisse“ wirklich wert sind, als vielmehr die Tatsache, dass überhaupt irgendetwas vorgewiesen werden kann.

So wird ein prall gefüllter Terminkalender zur Demonstration von Bedeutsamkeit – wo er doch in Wahrheit bestenfalls ein Zeichen von Betriebsamkeit ist. Möglichst viele Konferenzen nebst mehrseitigen „Ergebnisprotokollen“ gelten in diesem System als Resultate echter, angestrengter Tätigkeit. Ebenso wie ein halbes Dutzend angestaubter Allgemeinplätze sich leicht zum Ausweis „kreativer“ Kopfarbeit veredeln lässt, wenn sie mit neumodischen Business-Anglizismen aufgepeppt und auf bunt animierten Powerpoint-Folien ausgewalzt werden. Ich möchte nicht falsch verstanden werden: Zweifelsohne sind viele Besprechungen notwendig. Und ein guter, frei gehaltener Vortrag, der eine sinnvolle Idee mit klaren Argumenten vertritt, ist für dessen Hörer ebenfalls keine verschwendete Zeit. Doch bei vielen der in Deutschlands Unternehmen, Verbänden oder Gremien abgehaltenen Routinesitzungen habe ich da durchaus meine Zweifel. Und ich weiß wirklich, wovon ich spreche.

Der zweite „Nachteil“ des Nachdenkens: Nach gründlicher Überlegung komme ich nicht selten zu dem Schluss, dass eine Idee noch nicht ausgereift ist. Dass ihre Konsequenzen, ihre Chancen und Risiken noch nicht hinreichend abzuschätzen sind. Oder dass sie überhaupt wenig taugt. Sprich: Wer nachdenkt, der schreitet im Ergebnis zwar oft zur Tat, vielleicht noch öfter aber zur Unterlassung. Weshalb nachdenklichen Menschen oft der Ruf des Bedenkenträgers vorauseilt. Das erstaunt mich umso mehr, als echte Nörgler, die stets wissen, dass etwas Neues niemals funktionieren wird und man das deshalb immer schon wie bisher gemacht habe, ihre Einwände eher selten mit harten Fakten und bedenkenswerten Argumenten untermauern. Statt auf die Macht des Gedankens vertrauen sie eigentlich nur auf die Macht der Gewohnheit. Und statt mit begründeten Einwänden oder gar Alternativen glänzen sie meistens mit dem Vorschlag, einfach alles beim Alten zu lassen. Weshalb der Hinweis auf mögliche Probleme an sich nichts mit Miesmacherei zu tun hat. Und das Ansinnen, sich eine Sache besser noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen, sollte nicht leichtfertig mit Aufschieberei in einen Topf geworfen werden.

Gerade wenn es darum geht, schwierige Entscheidungen zu treffen, gilt bei uns im Unternehmen wie für mich persönlich der Grundsatz: Bevor ich unüberlegt in die falsche Richtung renne, bevor ich am Ende etwas Dummes tue, mache ich zunächst lieber nichts. Manchmal müssen wir einfach Geduld aufbringen, erst einmal Klarheit über alles gewinnen und die Entscheidung reifen lassen. Gewiss darf beim Abwarten auch Tee getrunken werden. Abwarten ist allerdings nicht dasselbe wie Aussitzen – und hoffen, dass die Lösung vom Himmel fällt. Abwarten heißt, sich Zeit zum Nachdenken zu nehmen. Probleme zu erkennen, Chancen und Risiken abzuwägen und die Folgen einer Entscheidung so weit wie möglich abzuschätzen. Das wiederum bedeutet, sich gegebenenfalls weitere Informationen zu beschaffen und diese vor dem Hintergrund seines Wissens und seiner Erfahrung einzuordnen und zu bewerten. Das macht Arbeit. Aber es braucht eben auch Muße – und Zeit.

Den Zeitdieben keine Chance geben

Genau deshalb sollte ein gezielter und ruhiger Umgang mit der Zeit zur Kultur eines Unternehmens gehören. Nun ist es das eine, sich Zeit zu nehmen. Etwas ganz anderes ist es, sich seine Zeit nicht nehmen zu lassen. An unseren 24 Stunden nagen ja nicht allein echte Pflichten. Und nicht allein die nötigen Mußestunden müssen wir ihnen abtrotzen. Ein erschreckend großes Kontingent unserer Zeit vertun wir oft einfach. Oder es wird uns von anderen gestohlen.

Ein vernünftiges Gespräch etwa muss gewiss erst einmal in Gang kommen. Manchmal müssen Menschen, die sich wenig oder gar nicht kennen, dazu wohl auch „warm“ miteinander werden. Wozu der viel gepriesene Smalltalk bisweilen etwas beitragen mag. Aber ich gestehe offen, dass ich persönlich nur sehr begrenzt ein Freund dieses ziellosen Geplauders bin. Wie oft erlebe ich es, dass da Dinge erzählt werden, die mich weder interessieren noch dass sie in meinen Augen von irgendeinem Belang sind. Und das betrifft keineswegs nur das beliebte Thema Wetter. Es ist ja erstaunlich, dass die alte Sorge des Landmanns vor etwaigen Klimakapriolen auch in einer weitgehend nicht mehr agrarischen Welt so unvermindert präsent ist. Obwohl doch das Wetter unser modernes Leben in eher überschaubarem Maße beeinflusst. Das Thema ermöglicht uns damit wohl eine Art entspanntes Hadern mit dem Schicksal in Miniaturversion – denn unabänderlich ist und bleibt das Wetter nun mal für alle Zeit. Weshalb ich mich allerdings auch lieber passend kleide, als lang und breit über das Wetter zu lamentieren.

Warum in Gesellschaft körperliches oder seelisches Befinden so beliebte Plauderthemen sind, erschließt sich mir noch weniger. Da schildern manche ungefragt ihre gesundheitlichen Beschwerden, klagen über Gewichtsprobleme oder geben mit sportlichen Leistungen an. Ein anderer prahlt mit zwischenmenschlichen oder beruflichen Erfolgen. Und wieder andere lassen mich ungefiltert am Schmieden ihrer mehr oder minder vagen Pläne und Projekte teilhaben. Das mag alles schön und gut sein. Aber warum sollte ich mir das anhören? Noch dazu, wenn ich unter Umständen gerade mit ganz anderen Sorgen zu kämpfen habe oder mit ganz anderen Themen beschäftigt bin? Einen Großteil derartigen Geredes empfinde ich deshalb eher als unangenehm.

Ein Sonderfall des Smalltalks ist das Tischgespräch, vor allem, wenn es sich weder um ein Essen im privaten Kreis noch um ein echtes Arbeitsessen handelt. Bekanntlich vergeht kein Kongress, keine Tagung, Versammlung oder Gremiensitzung ohne „geselliges Beisammensein“. War die eigentliche Veranstaltung gut vorbereitet und entsprechend ergebnisreich, dann gäbe es in der Sache eigentlich nichts mehr zu sagen. So sich viele der Teilnehmer ansonsten nicht kennen, vertiefte Kontakte aber von Nutzen sein könnten, sind solche lockeren Veranstaltungen zum Zwecke des neudeutsch „netzwerken“ genannten Treibens sicher auch sinnvoll. Doch wie oft muss ich mir bei solchen Gelegenheiten bloß Variationen der immer gleichen Geschichten von den immer gleichen Leuten anhören. Besonders bei gesetzten Essen zehrt so etwas schnell an meinen Nerven. Je mehr Gänge und je aufwendiger die gereichten Speisen, desto mehr geht das luftige Geplauder in die Breite. Die Krönung solch nutzloser Tischgespräche sind natürlich jene, die sich um das Essen selbst drehen. Sei es nun um das soeben genossene oder um ein – wahlweise viel besseres oder viel schlechteres – Menu in der Vergangenheit. Die einzige Erkenntnis, die ich bei solchen Anlässen gewinnen kann, ist die, dass sich wohl mindestens drei Viertel aller Menschen zum Restaurantkritiker berufen fühlen. Daher: So gerne ich mit meiner Familie, mit Freunden oder guten Geschäftspartnern zum Essen beisammen sitze – förmliche Tischgesellschaften meide ich wann immer möglich. Nicht in jedem Fall lassen die Gebote der Höflichkeit das zu. Doch zumindest abkürzen lässt sich der „gemütliche Teil“ vieler Veranstaltungen fast immer. Zumal es ein Vorteil meines Alters ist, dass niemand mehr von mir erwartet, auch noch bei der Öffnung der letzten Flasche zugegen zu sein.

Eine andere, inzwischen leider auch im Geschäftsleben sehr verbreitete Form des Zeitdiebstahls ist die Weitschweifigkeit. Wenn ich weiß, eine Sache kann nur zu einem einzigen Ergebnis führen, und dennoch wird sie mir bis ins kleinste Detail dargelegt, möglichst einschließlich aller Schritte, wie der Berichterstatter wann und warum zu welchen Schlüssen gelangt ist, dann schalte ich oft schon wegen dieser zeitraubenden Art der Darstellung auf stur, gar nicht einmal aufgrund der Sache selbst. An sich durchaus ein Gemütsmensch, reißt mir der Geduldsfaden endgültig, wenn jemand auch noch ständig Fakten, Argumente und Überlegungen wiederholt, die ich erkennbar längst verstanden habe. Offensichtliches wieder und wieder in minimalen Variationen auszubreiten, ist Zeitdiebstahl in Reinform. Sodass es für mich nur einen Grund geben kann, einem Menschen die Redundanz eines Vortrags nachzusehen: Wenn ich weiß, dass er am Ende motiviert ist und sein Anliegen, so es denn sinnvoll ist, auch umsetzt.

Ebenso ist unnötiger Detailreichtum in vielen Vorträgen, Redebeiträgen oder schriftlichen Ausarbeitungen ein großer Zeitfresser. Die größte Herausforderung besteht darin, das Wesentliche zu bringen – und die Schritte, die zu diesem Ergebnis geführt haben zu kennen, aber nicht alle vorzuführen. Wer zu viele Informationen liefert, darf nicht damit rechnen, dass sich das Publikum all das merkt. Zu viele Verzierungen und Ausschmückungen machen die Sache ebenfalls weder klarer noch schöner, sondern sehr bald nur noch langatmig. Und eine langweilige Rede wird den Zuhörern stets durch ihre Langweiligkeit im Gedächtnis haften bleiben, aber nie aufgrund ihres Inhalts. Wer zu akribischer Faktenhuberei neigt, will seinen Zuhörern nicht Wissen, Argumente oder eine Idee vermitteln, sondern mit seiner Schulweisheit glänzen. Ebenso wie es den Freunden allzu barocker Rhetorik meist um Selbstdarstellung statt um Informationsvermittlung geht.

Wer sich selbst in den Mittelpunkt stellt, und nicht das, was er sagen möchte, raubt seinen Zuhörern mit überflüssigen Pirouetten ihre Zeit. Den Gipfel dieser Kunst können wir in der Politik und in den krebsartig wuchernden Fernseh-Talkshows beobachten. Immerhin ist dort das Ziel klar: Gewonnen hat nach den geltenden Spielregeln derjenige, der die meiste Rede-oder Sendezeit bekommt. Und nicht etwa derjenige, der die besten Argumente oder die luzidesten Ideen vorträgt. Wäre letzteres der Fall, würden sich die Teilnehmer dieser Spektakel nämlich gelegentlich von Mitdiskutanten überzeugen lassen statt ihr immergleiches Sprechblasentheater aufzuführen.

Schließlich gibt es noch eine besonders unangenehme Art von Zeitdieben: Menschen, die immer auf den allerletzten Drücker kommen, um dadurch Zeit zu sparen. Leider übersehen diese Zeitgenossen nicht nur, dass sie sich selbst auf diese Weise ständig unter Zeitdruck setzen. Sie verdrängen vor allem völlig, dass sie ihre vermeintlich gewonnene Zeit in Wahrheit stehlen. Denn jede Unpünktlichkeit nimmt anderen Menschen Zeit weg. Wenn ich beispielsweise einen Vortrag hielte und würde das Publikum warten lassen, wäre das zwar eine Demonstration von Macht. Wenn ich zu spät komme, so sollen die Leute denken, dann muss es ja wohl einen wichtigen Grund dafür geben. Viele Politiker und Führungskräfte treiben diesen Unfug mit großer Hingabe. Das ist nicht nur respektlos, es raubt Dutzenden, manchmal gar Hunderten von Menschen wertvolle Lebenszeit. Dass es zur Rechtfertigung dieser Flegelei hübsche englische Sentenzen gibt – „It is great to be late“ oder „The late must not wait“ – macht die Sache nicht besser. Nicht umsonst gilt die Pünktlichkeit sprichwörtlich als die Höflichkeit der Könige. Denn die wurden früher von so vielen Menschen erwartet wie niemand sonst.

Doch ganz gleich, ob eine Person, ein Freundeskreis, eine Gruppe von Mitarbeitern oder ein großes Auditorium auf Sie warten – bei einer Verabredung oder einem Termin rechtzeitig vor Ort zu sein, ist unabdingbar. Ich selbst komme im Zweifelsfall lieber etwas zu früh. Falls ein Erscheinen vor der Zeit ebenfalls eine Unhöflichkeit wäre, etwa bei einer privaten Einladung, gehe ich noch ein paar Schritte vor der Tür. Auf Reisen haben Wartezeiten sogar einen besonderen Wert, wenn ich sie nur richtig zu nutzen weiß. So stört es mich etwa nicht, wenn ich am Flughafen eine halbe Stunde auf den Abflug meiner Maschine warten muss. Ich habe immer etwas zu lesen dabei, ich feile an einem Vortrag oder einem Text, ich versuche, mein nach wie vor ausbaufähiges Georgisch zu verbessern, oder ich sitze einfach entspannt da und mache mir meine Gedanken. Ich bin jedenfalls lieber zu früh da als auf den letzten Drücker. Es gibt ja solche Virtuosen, die alle Transferzeiten auf die Minute genau ausrechnen, die schon über das Internet oder per Handy einchecken, perfekt sortiert als letzte zur Sicherheitskontrolle erscheinen – und eine Minute vor der Verriegelung der Türen in ihren Sitz plumpsen. Für mich ist das nichts. Denn es sind natürlich genau diese Leute, die immer gleich kurz vor dem Herzinfarkt stehen, wenn es zu Verzögerungen kommt. Ich plane bei auswärtigen Terminen unvorhergesehene Verspätungen von Flug- oder Zugverbindungen von vornherein mit ein. Schon weil sie heute eigentlich eher der Normalfall sind. Und weil das meine Nerven ganz außerordentlich schont. Derartige Wartezeiten sind für mich geschenkte Zeit, keine verlorene oder gestohlene, allein schon deshalb, weil ich völlig ungestört bin. Ich komme da sogar oft auf meine besten Ideen.

Je länger und nachgiebiger unpünktliche und undisziplinierte Menschen ihren Schlendrian gepflegt haben, desto schwerer wird es natürlich für sie, ihre Zeit sinnvoll zu nutzen. Dabei hat doch der, der sie umsichtig einteilt, einen Wettbewerbsvorteil gegenüber jenen, die das nicht so gut können. Denn mit Menschen, die nie fertig werden, die herumtrödeln oder Termine überziehen, ist ja nicht nur die Zusammenarbeit schwierig. Auch ihnen selbst entgleitet die Zeit. Wer mit dem Aufschieben schon in der Frühe beginnt, der wird am Abend meist kaum noch wissen, wo ihm der Kopf steht, so sehr haben sich die Aufgaben bis dahin geballt. Kein Wunder, dass so jemand dann permanent unruhig und unglücklich ist. Denn er hat ja keine Zeit mehr. Weshalb solche Menschen leider auch die fatale Neigung haben, die Dinge trotzdem irgendwie „fertig“ zu bekommen. Mit der Folge, dass sie hektisch und unkonzentriert hingeschludert statt gewissenhaft und gründlich erledigt werden.

Fürs Zuspätkommen gibt es keine Entschuldigung, nur falsche Planung! Für viele notorische Zuspätkommer würde es völlig ausreichen, wenn sie nur fünf Minuten früher aufstünden bzw. aufbrächen, um in Ruhe ihr Ziel zu erreichen. Wenn ein Mensch nur unter großer Hektik zur rechten Zeit ankommen kann, geht das an seine Substanz. Er vergeudet Kraft und damit auch Zeit für anderes: Zeit der Stille, Zeit der Gedanken, Zeit für eine neue Idee.

Wachsam sein für den Einfall

Als der griechische Mathematiker Archimedes das Gesetz des Auftriebs entdeckt hatte, soll er der Legende nach „Heureka!“ gerufen haben – „Ich habe es gefunden“. Nach dem griechischen Verb ευρισκειν („finden“, „entdecken“) wird die Lehre der Erkenntnisgewinnung und der Ideenfindung Heuristik genannt. Die Regeln für die Suche nach Ideen sind naturgemäß weniger streng als die Prinzipien jener philosophischen Disziplin, die sich mit der Begründung von Aussagen mit Wahrheitsanspruch beschäftigt – der Epistemik. Letztere müssen sich der formalen Logik und definierten Verfahren einer objektiven, kritischen Überprüfung fügen. Das gilt vor allem für solche Aussagen und Theorien, die wissenschaftliche Gültigkeit beanspruchen.

Anders als in Logik und Wissenschaft ist in der Heuristik letztlich alles erlaubt. Oder wie es in einem alten Volkslied heißt: Die Gedanken sind frei. Auf der Suche nach Ideen, bei der Formulierung von Gedankengebäuden oder beim Ausdenken neuer Sachen muss einer sich zunächst keine unnötigen Schranken auferlegen oder besonders systematisch vorgehen. Wenn eine Idee später nicht funktioniert oder sie überall auf Ablehnung stößt, dann ist er beim Gedankenflug vermutlich zu weit vom Kurs abgekommen. Das wird höchstens dann zum Problem, wenn allzu kühne geistige Piloten dauerhaft den Funkkontakt zur Erde abbrechen. Oder wenn offensichtlich unsinnige Ideen gleichwohl Publikum finden, wovon vor allem die großen ideologischen Verirrungen des 19. und 20. Jahrhunderts traurige Zeugnisse geben. Dagegen ist es bei großen Ideen, Entdeckungen oder Erfindungen im Grunde völlig egal, wie die Inspiration dazu ihrem Urheber zugeflogen ist.

Wohl gibt es eine Reihe bewährter Techniken, um den kreativen Gedankenfluss in Gang zu setzen und zu strukturieren. Zum Beispiel das bekannte Brainstorming, bei dem zunächst auf jede Bewertung aller vorgetragenen Ideen verzichtet und selbst der größte Blödsinn aufgeschrieben wird. Oder das sogenannte Mind-Mapping, bei dem Einfälle, Gedanken und Assoziationen in baumartigen Diagrammen notiert werden. Wer einen Text verfassen möchte, wird vielleicht mit einer Gliederung seines Themas beginnen. Oder über eine gewisse Zeit Stichworte und kurze Notizen sammeln. Doch ebenso gibt es Autoren, denen kaum etwas einfällt, wenn der erste Satz oder Absatz nicht „sitzt“ – und die dementsprechend tage- oder gar wochenlang an ihm feilen. Forscher und Erfinder probieren auf Basis mehr oder weniger präziser Vermutungen einfach alles Mögliche aus. Und manchmal fliegen einem Ideen eben auch einfach zu. Bei der Ideenfindung ist damit etwas nicht nur erlaubt, sondern geradezu erwünscht, was in der Wissenschaft durch strenge Methoden eliminiert werden soll: die Macht des Zufalls.

Dass gute, ja sogar bahnbrechende Ideen manchmal geradezu vom Himmel zu fallen scheinen, hat freilich auch eine Kehrseite: Wir können den Kairós, den rechten Augenblick, die einmalige Gelegenheit, den genialen Einfall, nicht erzwingen. So wie der Zufall unserem Geist bisweilen auf die Sprünge hilft, so gerne verweigert er uns das Glück, wenn wir uns zu angestrengt um die rechte Idee zur rechten Zeit bemühen. Nicht immer steht uns ein guter Gedanke zur Verfügung, wenn wir ihn bräuchten. Anders gesagt: Ideen sind nur begrenzt planbar. Oft braucht es einfach ein wenig Zeit, bis uns der richtige Einfall kommt.

Warum Ideen „an der Zeit sein“ müssen

Ideen brauchen aber auch in einem anderen Sinne des Wortes ihre Zeit. Keine Idee ist völlig voraussetzungslos. Deswegen kann sie oft erst gefasst werden, wenn ihre Zeit gekommen ist. Und sie kann vor allem nur dann erfolgreich sein, wenn sie zeitgemäß ist. Über viele Ideen, die nicht funktionieren, ist die Zeit dagegen vielleicht einfach schon hinweggegangen. Oder demjenigen, der die Idee hatte, ist jemand zuvorgekommen. In der Regel ist es so: Nur wer als Erster eine wirklich gute Idee realisiert, hat die Chance auf einen großen, manchmal sogar auf einen epochalen Erfolg. Im Falle großer geistiger oder künstlerischer Leistungen winkt dauerhafter Ruhm. Wer dagegen eine Idee, einen Gedanken – oder eine Form, ein Gestaltungsprinzip, einen Stil – bloß reproduziert, der wird dem Ruch des Epigonalen selbst dann kaum entgehen können, wenn er von den „Originalen“ nur vage angeregt wurde, ja selbst, wenn er sie gar nicht kannte.

Gerade die Geschichte der technischen Erfindungen lehrt, dass der Zweite meist auch dann dem Vergessen anheim fällt, wenn er unabhängig vom berühmten Pionier auf die gleiche Idee gekommen ist. Es sei denn, er war derjenige, der eine Ursprungsidee zur Anwendungsreife brachte. Das ist der Grund, warum allgemein James Watt als der Erfinder der Dampfmaschine gilt. Die erste in der Praxis eingesetzte Maschine hatte Thomas Newcomen bereits 1712 konstruiert. Watt erhielt dagegen erst 1769 ein Patent – allerdings für eine bahnbrechende Verbesserung. Seine Dampfmaschine verfügte über einen separaten Kondensator, erzeugte den Wasserdampf also nicht mehr im Zylinder, was den Wirkungsgrad verdreifachte. Manchmal findet ein Erfinder leider auch keinen Markt. So ging es etwa Philipp Reis. Dass er und nicht Alexander Graham Bell der eigentliche Erfinder des Telefons (und übrigens auch des Begriffs) war, wissen oft nur Kenner der Materie. Meist ist es dagegen wie beim ersten Menschen auf dem Mond. Beinahe jeder weiß, dass das Neil Armstrong war. Wer die Mondlandung 1969 selbst miterlebt hat, wird nach etwas Überlegung auch noch auf den zweiten Mann kommen, auf Edwin „Buzz“ Aldrin. Und der dritte? Selbst viele NASA-Mitarbeiter müssten seinen Namen, Charles Conrad, heute vermutlich nachschlagen.

Ob oder wann eine Idee an der Zeit ist, ist gerade im Geschäftsleben eine Frage des unternehmerischen Gespürs. Eine noch so überzeugende Idee wird scheitern, wenn die Umstände noch nicht reif für sie sind. Viele Menschen fragen dann: Wozu soll das gut sein? Selbst wenn wir heute über viele derartige Einschätzungen schmunzeln – zu ihrer Zeit lagen die Leute mit ihrer Skepsis gegenüber Dingen, die für uns selbstverständlich sind, wahrscheinlich sogar richtig. So wurde etwa dem US-Präsidenten Rutherford B. Hayes 1877 ein Telefonapparat vorgeführt. Sein Kommentar: „Eine erstaunliche Erfindung. Aber wer sollte sie jemals benutzen wollen?“ Nicht nur, dass das Gerät technisch noch sehr mangelhaft war. Es konnte sich auch kaum jemand vorstellen, dass Menschen über größere Distanzen miteinander sprechen wollen. Weshalb Philipp Reis anfangs noch daran dachte, seinen Apparat zur Übertragung von Musik, also quasi wie ein Radio zu verwenden.

Andere Fehlprognosen sind legendär. Ausgerechnet Gottlieb Daimler meinte 1901, die weltweite Nachfrage für Kraftfahrzeuge werde „eine Million nicht überschreiten – allein schon aus Mangel an verfügbaren Chauffeuren.“ Die Idee, dass die Leute ihr Auto selbst fahren, schien dem Autopionier einfach undenkbar. Schließlich gehörte doch auch zu jeder Kutsche ein Kutscher. „Wer zum Teufel will denn Schauspieler sprechen hören?“, schimpfte Harry Warner noch wenige Monate, bevor die Warner Brothers 1927 mit „The Jazz Singer“ selbst den ersten abendfüllenden Tonfilm herausbrachten. Der Chef der 20th Century-Fox, Darryl F. Zanuck, prognostizierte 1946: „Der Fernseher wird sich auf dem Markt nicht durchsetzen. Die Menschen werden es sehr bald leid sein, jeden Abend auf eine Sperrholzkiste zu starren.“ Und die ungeschlagene Nummer Eins aller Fehlprognosen, der Satz des IBM-Gründers Thomas Watson „Ich denke, dass es einen Weltmarkt für vielleicht fünf Computer gibt“, war im Jahre 1943 durchaus eine realistische Einschätzung und keine Dummheit.

Wer deshalb zu früh mit einer Idee kommt, der droht gerade als Unternehmer noch spektakulärer zu scheitern als derjenige, der zu spät dran ist. Denn je mehr einer von einer Sache überzeugt ist, umso mehr steigt natürlich auch das Risiko, dass er zur Unzeit hohe wirtschaftliche Wetten auf sie eingeht. Und sich unter Umständen auch noch schwarz ärgern darf, wenn wenige Jahre später Nachahmer den Reibach machen. So hatte etwa mein Vater Georg Hipp als junger Mann die Idee, Fertigteig anzubieten. Doch in den dreißiger Jahren waren Frauen einfach nicht davon zu überzeugen, so ein Produkt zu kaufen. Heutzutage sind Tiefkühlteige und Backmischungen eine Selbstverständlichkeit. Und viele Leute fragen sich wohl eher, warum sie noch selbst Teig ansetzen sollten.

Selbstverständlich macht es mir am allermeisten Freude, wenn ich meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine neue Idee vortrage, sie sofort überzeugt sind und die Idee in der Folge tatkräftig unterstützen. Denn wenn eine Idee schon diejenigen anspricht, die sie letztlich mit ihrer gesammelten Erfahrung auf die Schiene bringen sollen, dann wird sie mit großer Wahrscheinlichkeit auch beim Handel und bei unseren Kunden ankommen. Doch manchmal musste ich eine Idee auch zunächst alleine durchdrücken und zum Ziel führen.

Ein gutes Beispiel für eine Idee, die in meiner Firma zunächst überhaupt keine Zustimmung fand, ist unser Logo. Früher war das ein recht nüchterner Schriftzug aus weißen Lettern auf rotem Grund. Noch zu Lebzeiten meines Vaters fanden wir beide, dass wir unser Erscheinungsbild modernisieren müssten. Doch zunächst verlief sich die Idee. Immerhin gab mir mein Vater die Adresse eines Werbegrafikers in New York, damals sozusagen das Mekka des Markendesigns. Einige Zeit nach seinem Tod im Dezember 1967 fiel mir der Zettel zufällig wieder in die Hand. Ich kontaktierte Francesco Gianninoto, der als erstes ein großes Paket mit allen unseren Werbemitteln und Verpackungen orderte. Darunter war auch ein einzelnes Produkt aus der Schweiz, bei dem irgendjemand den I-Punkt von „Hipp“ durch ein Herzchen ersetzt hatte. Das war mir, ehrlich gesagt, nie besonders aufgefallen. Nach einiger Zeit präsentierte der besagte Grafiker mir dann seine Entwürfe mit dem bunten Schriftzug und den drei Herzen, den wir, nur äußerst behutsam modernisiert, bis heute verwenden. Ich war sofort Feuer und Flamme. Das drückte genau meine Vorstellung der Marke Hipp aus: weich, bunt, kindgerecht; saubere und sorgfältig zubereitete Produkte. Ich will, dass Mütter und Kinder ein Gefühl von persönlicher Nähe, von Zuwendung, ja von Liebe haben, wenn sie unsere Babynahrung verwenden bzw. essen. Diese Überzeugung hatte ich mir nicht etwa rational zurechtgelegt. Ich war emotional zutiefst von diesem Leitbild überzeugt. Und der neue Entwurf drückte das beschriebene Gefühl für mich perfekt aus. Kein einziger Wettbewerber präsentierte sich zudem auch nur annähernd ähnlich.

Natürlich dachte ich, die leitenden Mitarbeiter des Hauses müssten das ebenso vom Fleck weg erkennen – stattdessen ein Sturm der Entrüstung. Viel zu verspielt, kindisch, albern, ja unseriös sei der Entwurf. Das machen die Verbraucher niemals mit, die kommen sich doch veräppelt vor! Auch die Familie war wenig begeistert. Mit unserer Tradition habe das wohl nichts zu tun. Die professionellen Bedenkenträger aus der Werbung untermauerten die Vorbehalte. Das sei zu weit vom eingeführten Markenbild weg. Außerdem habe ein Logo laut Lehrbuch eindeutig, und das heißt einfarbig zu sein – wegen des Wiedererkennungswertes. Es müsse daher etwas Strengeres entworfen werden.

Rational mochte an einigen dieser Gegenargumente sogar etwas dran sein. Aber auch wirtschaftliche Entscheidungen beruhen, wie fast alle unsere Entscheidungen, größtenteils auf einem Gefühl. Das ist wie bei einem Eisberg: Sechs Siebtel – die emotionalen Elemente – liegen unter Wasser. Und es ist fast unmöglich, eine emotionale Entscheidung mit rationalen Argumenten umzudrehen. Eher funktioniert es umgekehrt.

Also habe ich damals getan, was ich in vielen anderen Fällen unterlassen habe: Ich habe meine Entscheidung für den neuen Schriftzug par ordre du mufti durchgesetzt. Das hätte natürlich auch schiefgehen können; was allerdings mein ganz persönliches unternehmerisches Risiko war. Wie es ja auch tatsächlich genug Situationen gegeben hat, wo ich eine Idee umgesetzt habe und wir damit weniger erfolgreich waren. Andere sind dann später gekommen und haben es besser gemacht. Aber im Falle unseres Logos hat mir – und dem Grafiker Francesco Gianninoto – der Erfolg letztlich recht gegeben. Heute repräsentiert es eine der stärksten und bekanntesten deutschen Marken. Ja sie ist, bei aller gebotenen Bescheidenheit, fast ein Synonym für die Produktkategorie, so wie wir das ansonsten nur von bestimmten Klebefilmen, Papiertaschentüchern oder Hautcremes kennen.

Das Hipp-Logo, das zunächst auf so empörte Ablehnung stieß, bildete den Kern unserer heutigen Markenbildung. Jetzt ist es etabliert. Was natürlich auch heißt, dass wir die Grundidee nicht mehr so beherzt ändern würden. Vermutlich wird ja auch eine bekannte schwäbische Automarke solange einen Stern tragen, wie es Autos gibt. Jedenfalls müsste eine neue Idee sehr viel besser sein. Oder die Umstände müssten sich sehr stark ändern. Denn selbst Kinder, die noch gar nicht lesen können, erkennen unser Logo sofort. Und sie verbinden es mit gutem Essen. Wir kennen sogar Geschichten, wo Mütter andere Lebensmittel in unsere Gläschen geben, um am Spielplatz einen guten Eindruck als Markenkäuferin zu machen – aber die Kinder das in aller Regel merken. Weil sie eben auch die Qualität der Produkte kennen, und nicht nur den Schriftzug. Erst beides zusammen, Verpackung und Inhalt, Form und Substanz, machen eine starke Marke aus.

Außerdem zeigt das Beispiel unseres Logos, dass Form und Inhalt, Idee und Adressat zueinander passen müssen. Vor etlichen Jahren haben wir, da gesunde, natürliche Ernährung auch in dieser Zielgruppe ein wichtiges Thema ist, einmal Sportlernahrung angeboten. Hier hat unser Markenschriftzug – was man im Grunde wohl hätte ahnen können – überhaupt nicht funktioniert. Denn Sport, das ist in aller Regel Wettbewerb. Sportlerinnen und Sportler pflegen eine gewisse Kultur der Härte gegen sich selbst. Es geht um Kraft, Ausdauer und Durchhaltevermögen. Zu diesem Selbstbild passt das weiche, kindliche Image unserer Marke nicht, ganz egal wie gut und gesund die Produkte sind.