Und wenn du hinkommst

»Ich muss dir zuerst das hier zeigen«, sagte Kjetil Berggren und legte vier Gegenstände vor sie auf ein weißes Stück Stoff. »Lass dir nur Zeit dabei.«

Seine Stimme war leise und lief fast über vor Mitgefühl, als stünden sie bereits an Mariannes Grab. Aber dann wären sie beide unpassend angezogen. Inzwischen war Samstag, der 10. Januar, und Kjetil Berggrens verschlissener Anorak hing an einem Haken neben der Tür. Als er um den Tisch ging, um sich wieder zu setzen, musste er einen Strumpf unter seiner Kniebundhose hochziehen.

»Ich hätte mit hautengem Overall und Schlittschuhstiefeln gerechnet«, sagte Synnøve.

Der Polizist gab keine Antwort.

»Mir geht es jetzt besser«, sagte sie tonlos. »Mach dir also keine Sorgen.«

Zum ersten Mal seit genau zwei Wochen hatte sie geschlafen. Wirklich geschlafen. Kaum waren Berggren und die Pastorin am Vorabend bereit gewesen, sie in Ruhe zu lassen, hatte sie die Hunde gefüttert und war ins Bett gefallen. Vierzehn Stunden später wurde sie wach. Einige Sekunden lang war sie liegen geblieben, ohne so recht zu wissen, wo sie war und was sie empfand. Als die Gewissheit von Mariannes Tod über sie hereinbrach, fing sie wieder an zu weinen. Aber es war doch anders. Es gab keinen Grund mehr, sich zu ängstigen. Marianne war tot, und die Suche war zu Ende.

Irgendwann würde sie mit dieser Trauer leben können. Das ahnte sie jetzt, nach vierzehn Tagen in der Hölle. Ein schmerzhafter Stillstand war in Bewegung geraten. Auf etwas zu. Wenn sie dort angekommen wäre, müsste alles besser sein.

Erst an diesem Morgen hatte sie wirklich verstanden, wie angespannt sie in diesen beiden Wochen gewesen war. Ihr Rücken schmerzte und es fiel ihr schwer, den Kopf zu bewegen. Ihre Kiefer wirkten wie verklemmt, als sie versuchte, zu einem späten Frühstück ein paar Löffel Haferbrei zu verzehren. Am Ende gab sie auf und ließ sich ein heißes Bad einlaufen. Dort lag sie dann, bis das Wasser nur noch lau war und die Haut an den Fingerspitzen sich kräuselte.

Synnøve Hessel war durch das stille Haus gewandert. Sie hatte Kaja als Trost und als Gesellschaft hereingeholt, zum allerersten Mal. Marianne hatte Polarhunde nur unter der Bedingung gehalten, dass die immer draußen blieben. Kaja hatte an der Türschwelle gezögert, hatte sich dann aber ins Haus und aufs Sofa locken lassen. Dort hatten sie zusammen getrauert, Synnøve und der Hund, bis Kjetil Berggren wie vereinbart um drei Uhr gekommen war, um sie abzuholen.

Jetzt saß sie im selben Raum wie beim letzten Mal. Ein Polizist aus Oslo war da gewesen, aber sie wollte mit niemandem außer Kjetil reden.

»Ich verstehe ja, dass es furchtbar viel für dich ist, Synnøve, und ich …«

»Kjetil«, fiel sie ihm ins Wort. »Ich meine es wirklich ernst. Wenn du wüsstest, wie mir in der ganzen Zeit seit Mariannes Verschwinden zumute war, dann …«

Sie verstummte und schloss die Augen.

»Bringen wir es einfach hinter uns. Okay?«

»Hast du die Wunden in deinem Gesicht behandeln lassen?«, fragte er.

»Die sind nur ganz oberflächlich.«

Kjetil Berggren schien widersprechen zu wollen. Aber dann nickte er zu dem Stoffstück hinüber, das auf dem Tisch lag.

»Kann ich ihn nehmen?«, fragte sie.

»Nein. Leider nicht.«

Der Trauring aus Weißgold war etwas größer als ihr eigener. Der eingelassene Diamant war matt und wäre kaum zu sehen gewesen, wenn sie nicht gewusst hätte, dass er dort war. Marianne hatte sich Diamanten gewünscht. Synnøve war für einen ganz schlichten Goldring gewesen, sie wollte mit Marianne verheiratet sein, weiter nichts, und der Ring sollte aus Gold und schlicht sein.

»Wir haben es nie geschafft, zu heiraten«, sagte sie.

»Ich dachte, ihr wärt …«

»Wir waren registrierte Partnerinnen. Als ob wir zusammen ein Geschäft geführt hätten. Aber jetzt, mit dem neuen Gesetz, wollten wir im Sommer richtig heiraten.« Die Tränen brannten in den Kratzern in ihrem Gesicht.

»Der Ring sieht jedenfalls aus wie ihrer.«

Sie streckte die rechte Hand aus, um den anderen Ring zu zeigen. Dann holte sie Luft und redete übertrieben schnell weiter: »Die Halskette ebenfalls. Der Schlüsselbund ist einwandfrei ihrer. Diesen Speicherstick hab ich noch nie gesehen, aber bei uns liegen sicher dreißig von der Sorte rum. Kannst du das jetzt wegnehmen? Kannst du das wegnehmen!«

Sie schlug die Hände vors Gesicht. »Ich gehe davon aus«, sagte sie erstickt, »dass ich die Sachen identifizieren soll, weil ihr nicht wollt, dass ich Marianne sehe.«

Kjetil Berggren gab keine Antwort. Rasch, ohne die vier Gegenstände zu berühren, verstaute er jeden in einer Plastiktüte und legte vorsichtig das Tuch um alle zusammen.

»Wir lassen natürlich noch eine DNA-Analyse durchführen«, sagte er. »Aber leider sind wir ziemlich sicher, dass es sich bei der Toten um Marianne handelt.«

»Sie haben gesagt, sie hätte bezahlt«, sagte Synnøve und ließ endlich die Hände sinken. »Das Hotel sagt, dass Marianne für das Zimmer bezahlt hatte.«

»Ja, es war bezahlt. Aber nicht von ihr.«

»Von wem denn sonst? Wenn jemand anders das getan hat, dann muss es doch der Mörder gewesen sein, und dann muss es doch leicht sein, den zu … Haben die keine Videoüberwachung? Gästeliste? Es muss doch das Einfachste auf der Welt …«

Als sie Kjetils Gesicht sah, verstummte sie.

»Das Hotel Continental hat an einigen Punkten im Haus Videoüberwachung«, sagte er langsam. »Unter anderem in der Rezeption. Aber leider werden die Aufnahmen nach einer Woche gelöscht. In der kommenden Woche wechseln sie zu digitalen Aufnahmegeräten, dann wird alles viel länger aufbewahrt. Aber bisher haben sie altmodische Geräte benutzt. VHS, ganz einfach. Können Kassetten nicht in alle Ewigkeit aufbewahren, weißt du.«

»VHS«, flüsterte sie ungläubig. »In einem Luxushotel?«

Er nickte. »Die Rechnung wurde schon am Abend des 19. bezahlt. Das geht aus dem Kassenbericht hervor. Der Concierge meint, dass ein Mann für das Zimmer bezahlt hat. Eine genauere Beschreibung fällt ihm schwer. An jenem Abend war sehr viel los, es war doch mitten in der Zeit der Weihnachtsfeiern. Das Theatercafé war überfüllt, und von dort kann man direkt weiter zu Dagligstuen gehen, wo ebenfalls serviert wird. Auf dem Weg kommt man an der Rezeption vorbei.«

»Bedeutet das, dass …«

Synnøve wusste selbst nicht, was das bedeuten sollte.

»Außerdem wurde an diesem Abend dort eine Hochzeit gefeiert«, sagte der Polizist jetzt. »Viel Lärm und Gedränge. Es hat wohl auch einen ziemlich dramatischen Zwischenfall mit einem Kind gegeben, das aus dem Hotel weggelaufen war und fast vom Bus überfahren wurde. Nein, ich glaube, es war die Straßenbahn. Es herrschte jedenfalls große Aufregung, und der Concierge kann sich einfach nicht mehr genau daran erinnern, wie das mit dem Bezahlen vor sich gegangen ist.«

»Aber wer … Wer in aller Welt könnte denn ein Interesse daran haben, das alles zu tun? Ich kann einfach nicht begreifen … Sie umzubringen, sie zu verstecken, die Rechnung zu bezahlen … das ist so absurd, so … Wer um alles in der Welt kann denn auf so eine Idee kommen!«

»Das versuchen wir herauszufinden«, sagte Kjetil ruhig. »Der Schlüssel liegt in der Frage, warum Marianne umgebracht worden ist. Wenn du irgendetwas weißt, was uns helfen könnte …«

»Natürlich weiß ich nichts«, fiel sie ihm ins Wort. »Natürlich habe ich nicht die geringste Ahnung, warum jemand Marianne hätte umbringen sollen. Wenn, dann müssten das doch ihre Scheißeltern sein.«

Er ließ diese ungerechte Behauptung ohne Kommentar im Raum stehen.

Synnøve zog an ihrem Pullover. Sie nahm das Wasserglas und stellte es zurück, ohne zu trinken. Spielte an ihrem Trauring herum. Fuhr sich mit den Fingern durch die Haare.

Versuchte, die Zeit totzuschlagen.

Darauf würde sie sich in den kommenden Tagen konzentrieren müssen. Die Zeit totzuschlagen. Die Zeit heilte alle Wunden, aber immer, wenn sie einen Blick auf die Uhr warf, war wieder erst eine halbe Minute vergangen.

Und keine Wunde war geheilt.

»Kann ich jetzt gehen?«, murmelte sie.

»Natürlich. Ich fahre dich nach Hause. Wir werden dich noch mit weiteren Fragen quälen müssen, aber …«

»Wer?«

»Wer, was?«

»Wer wird mich quälen?«

»Na ja, die Leiche wurde in Oslo gefunden und das Verbrechen wurde allem Anschein nach dort verübt, deshalb ist es ein Fall für die Osloer Polizei. Wir werden ihr natürlich bei allem helfen, aber …«

»Ich möchte gehen.«

Sie erhob sich. Kjetil Berggren fiel auf, dass ihr Pullover viel zu groß war und dass sie die Schultern hängen ließ. Sie musste in zwei Wochen fünf, sechs Kilo abgenommen haben.

»Du musst essen«, sagte er. »Isst du?«

Ohne zu antworten nahm sie ihre Daunenjacke von der Stuhllehne. »Du musst mich nicht fahren«, sagte sie. »Ich gehe …«

»Aber es dauert nur drei Minuten, bis …«

»Ich gehe«, fiel sie ihm ins Wort.

An der Tür drehte sie sich zu ihm um. »Du hast mir nicht geglaubt«, sagte sie. »Du hast mir nicht geglaubt, als ich gesagt habe, dass Marianne etwas Schreckliches passiert ist.«

Er musterte seine Fingernägel, ohne zu antworten.

»Ich hoffe, das quält dich«, sagte sie.

Er nickte, noch immer ohne aufzuschauen.

Das quält mich nicht im Geringsten, dachte er. Es quält mich überhaupt nicht, da Marianne schon längst tot war, als du zu uns gekommen bist.

Aber er sagte nichts.

An der Effektivität war nichts auszusetzen. Der Zeichner der Polizei hatte nicht nur eine Gesichtsskizze vollendet, es gab auch ein Profil, ein Ganzporträt von vorn, dazu eine Zeichnung von einer Art Abzeichen oder Brosche, die Martin Setre am Revers des Mannes gesehen zu haben glaubte. Silje Sørensen blätterte rasch die Zeichnungen durch, dann legte sie alle vier nebeneinander vor sich auf den Tisch.

Sie war skeptisch, was solche Zeichnungen anging, obwohl sie diese hier selbst bestellt hatte.

Die meisten Menschen waren erbärmlich schlechte Zeugen. Ein und dieselbe Situation oder ein und derselbe Mensch konnten im Nachhinein unglaublich unterschiedlich beschrieben werden, Zeugen konnten über Dinge erzählen, die es nicht gab, über Ereignisse, die niemals stattgefunden hatten. Engagiert und detailliert. Sie logen nicht. Sie erinnerten sich nur nicht gut und füllten die Leerstellen in ihrem Gedächtnis mit eigenen Erfahrungen und mit Phantasie.

Andererseits konnten Phantomzeichnungen auch entscheidend sein. Der Zeichner musste gut sein, der Zeuge besonders aufmerksam. Es gab fortschrittliche Computerprogramme, die die Arbeit erleichtern und in einigen Fällen präzisieren konnten, aber sie selbst zog Zeichnungen vor.

Und Zeichnungen hatte sie bekommen.

Sie vertiefte sich in das Porträt.

Der Mann war weiß und mochte zwischen fünfunddreißig und fünfzig Jahre alt sein. Aus den beigefügten Notizen ergab sich, dass Martin Setre nicht sicher war, ob der Mann sich den Schädel rasiert hatte oder ob er einfach kahlköpfig gewesen war. Jedenfalls hatte er keine Haare. Ein rundes Gesicht. Dunkle Augen, keine Brille. Die Nase war gerade und das Kinn breit, fast eckig. Darunter gab es ein schmales Doppelkinn. Er war schwer, das sah sie auch am Bild der ganzen Figur, aber er war nicht sonderlich übergewichtig. Seine Größe wurde mit etwa 170 Zentimeter angegeben.

Ein kleiner dicklicher Kerl, der lächelte.

Silje nahm an, dass das Porträt so ausgefallen war, weil der Mann die ganze Zeit gelächelt hatte. Sie überflog die Notiz und fand dort die Bestätigung für diese Theorie.

Tadelloses Gebiss.

Die Kleidung war dunkel. Dunkler Mantel über dunklem Hemd. Auch der Schlips war dunkel, der Knoten wirkte locker. Die Zeichnung war schwarz-weiß, und die vielen Grautöne ließen sie pessimistisch wirken. Als sie sich das Ganzkörperbild näher ansah, wurde ihr klar, dass es Tausende von Männern geben musste, die ungefähr so aussahen. Martin hatte zwar gesagt, der Mann habe englisch oder amerikanisch gesprochen, aber eine fremde Sprache zu benutzen war ein beliebter Trick.

Er hatte eine Andeutung von Lachgrübchen.

Knut Bork kam herein, ohne anzuklopfen, und sie zuckte zusammen.

»Verzeihung«, sagte er verdutzt. »Ich wusste nicht, dass du hier bist. Hast du an einem Samstagnachmittag nichts Besseres zu tun?«

»Die Tür wäre ja wohl verschlossen gewesen, wenn ich nicht hier säße.«

»Ich …«

Knut Bork war groß und hell, fast bleich, mit rotblonden Haaren und eisblauen Augen. Wenn er rot wurde, dann sah er aus wie eine Verkehrsampel.

»Ist nicht so schlimm«, sagte Silje lächelnd und streckte die Hand aus. »Was wolltest du mir hinlegen?«

»Das hier«, sagte er kleinlaut und reichte ihr einen dünnen Ordner. »Der gehört zum Fall Marianne Kleive.«

Sie nahm den Ordner und legte ihn neben die Phantomzeichnungen, ohne ihn sich genauer anzusehen. »Genau, was wir jetzt brauchen«, sagte sie. »Ein spektakulärer Mord in einem der besten Hotels der Stadt. Hast du die Boulevardpresse gesehen?«

Er hob die Augenbrauen und stieß einen gedehnten Seufzer aus.

»Etwas Neues?«, fragte sie und nickte zum Ordner hinüber.

»Nur zwei neue Zeugenvernehmungen. An dem Abend scheint halb Oslo in diesem Scheißhotel gewesen zu sein. Und du weißt ja, wie das ist, alle glauben, irgendetwas Interessantes erzählen zu können. Die Leute, die reden wollen, lassen die Telefonleitungen heiß werden.«

Silje hob ihre Kaffeetasse. »Kein Zeuge ist manchmal besser als tausend Zeugen«, sagte sie. »Das Schlimmste ist, dass wir alle ernst nehmen müssen. Irgendwer kann ja durchaus etwas Wichtiges gesehen haben. Prost!«

Der Kaffee war bitter und lauwarm.

»Solltest du nicht bald Feierabend machen?«

»Danke gleichfalls«, sagte er. »Hast du die Zeichnungen? Lass sehen.«

Er kam um den Schreibtisch herum und beugte sich über die Bilder. »Keine besonderen Kennzeichen«, murmelte er.

»Nein. Er ist unterdurchschittlich groß, aber aus dem Begriff Durchschnitt ergibt sich ja, dass er nicht der Einzige ist …«

»Glaubst du also, das hier ist eine Sackgasse?«

»Vielleicht«, seufzte sie, »aber es ist die einzige Spur, die wir haben.«

»Was ist das?«, fragte er und zeigte auf das gezeichnete Revers. »Ein Anstecker?«

»So was Ähnliches, ja. Kommt er dir bekannt vor?«

»Ein Kleeblatt, was?«

»Ja.«

»Alle Zeichnungen sind schwarz-weiß, nur das Kleeblatt ist rot.«

»Martin war sich ganz sicher, zumindest behauptet er es. Normalerweise wollen wir keine Farben auf diesen Zeichnungen, weil das verwirren kann. Aber diese Brosche, oder was immer das ist, war also ganz sicher rot.«

»Und diese … Kringel, was sollen die darstellen?«

Beide musterten das Bild. Auf jedem Blatt des Klees saß eine Figur, die an die Buchstaben eines fremden Alphabets erinnern konnte.

»Martin meint, dass es in jedem Blatt einen Buchstaben gab«, sagte Silje. »Aber er weiß nicht mehr, welche das waren.«

Knut Bork griff zu einer Pastillenschachtel, die auf dem Tisch lag. »Kann ich eine haben?«, fragte er und schob den Finger in die Schachtel, ehe Silje hatte antworten können.

»Ja, sicher« murmelte sie. »Nimm fünf. Dieses Zeichen hat etwas Bekanntes, findest du nicht?«

»Doch«, sagte Knut Bork und prustete plötzlich los. »Das kann man wohl sagen. Meine Großmutter hat so ein Ding auf jeder Jacke, die sie besitzt.«

Sein Lachen brach ab. Silje schaute zu ihm auf. Er war wieder knallrot angelaufen und schnappte nach Luft.

»Knut«, sagte sie vorsichtig. »Ist alles in Ordnung? Hast du …«

Sie sprang so schnell auf, dass der Schreibtischsessel hinter ihr gegen die Wand knallte. Knut Bork war um einiges größer als sie. Für einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, auf den Tisch zu steigen, gab diese Idee aber gleich wieder auf. Sie legte von hinten die Arme um ihn, verschränkte die Hände und hielt den rechten Daumen an seinen Körper. Dann drückte sie aus Leibeskräften zu.

Drei schwarze Geschosse flogen aus seinem Mund.

Er hustete, rang nach Atem. »Danke«, keuchte er. »Ich konnte nicht … Sieh mal da!«

Er zeigte auf die Wand gegenüber. Die Halspastillen waren als Dreieck an die Wand geflogen, voneinander nicht mehr als einen halben Zentimeter getrennt.

»Fast ins Schwarze«, sagte er.

Sie sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an und setzte sich wieder. »Kannst du mir jetzt erzählen, was das für ein Abzeichen ist?«

Seine Stimme klang noch immer verzerrt, als er sich noch einmal räusperte und sagte: »Der norwegische Frauensanitätsverein.«

»Was?«

»Die Buchstaben N, K und S. Norske Kvinners Sanitetsforening.«

Sie riss die Zeichnung an sich, als ob er sie beleidigt hätte. Ein rotes Kleeblatt mit Stängel, und ein Buchstabe auf jedem Blatt. »Ich muss das überprüfen«, murmelte sie und tippte den Vereinsnamen ins Sucherfeld auf dem Bildschirm.

»Siehst du«, sagte Knut Bork. »Ich sag’s ja.«

Sie starrte die Webseite des Vereins an.

Das Logo war ein rotes Kleeblatt mit den weißen Buchstaben NKS.

»Was zum …«

Die Gedanken wollten sich in keine brauchbare Reihenfolge bringen lassen. »Ein Freier und möglicher Mörder«, begann sie stockend. »Männlichen Geschlechts. Läuft durch die Gegend. Liest Knaben auf. Im Zentrum von Oslo.«

Sie schluckte und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Mit einem Mitgliedsabzeichen der norwegischen Sanitäterinnen am Revers. Was in aller Welt soll das denn? Will er uns zum Narren halten?«

Knut Bork nahm die Zeichnung und ging zur Pinnwand neben dem Fenster. Er brachte das Bild dort an und trat zwei Schritte zurück. »Vielleicht tut er genau das, Silje. Vielleicht hält dieser Bursche uns zum Narren.«

Als der Anrufer behauptete, von der Polizei zu sein, glaubte Marcus Koll jr. für einen Moment, jemand wolle ihn zum Narren halten. Als er Sekundenbruchteile später begriff, dass er sich geirrt hatte, stand er auf, lief im Wohnzimmer auf und ab und konzentrierte sich dermaßen darauf, unberührt zu wirken, dass er gar nicht mitbekam, was der Anrufer eigentlich sagte.

Sie konnten unmöglich etwas wissen.

Es war ganz einfach nicht vorstellbar.

Er blieb bei den großen Südfenstern stehen.

Der leicht abfallende Garten wurde angestrahlt. Tief verschneite Tannen am Hang wirkten vor der kompakten Dunkelheit auf der anderen Seite des Lattenzauns fast fluoreszierend eisblau. Außerhalb seines Grundstücks schien es keine Welt mehr zu geben.

Nur das Telefon.

»Verzeihung«, sagte Marcus und versuchte, ein Lächeln in seine Stimme zu legen. »Würden Sie das bitte wiederholen? Gerade war für einen Moment die Verbindung gestört.«

»Der Tipp«, sagte die Stimme, hörbar ungeduldig. »Sie haben am Montag etwas über diese Einbrecherbande mitgeteilt.«

Ein leichter Windstoß ließ Schnee vom nächststehenden Baum rieseln. Die trockenen Kristalle glitzerten im Lampenlicht. Unten im Garten standen zwei hohe Fichten mit nackten, kerzengeraden Stämmen und runden Kronen, wie zackige Soldaten auf Posten.

Marcus versuchte, die Erleichterung zu verarbeiten.

Er hatte recht gehabt. Natürlich wussten sie nichts.

Es gab keinen Grund zur Besorgnis.

»Ach«, sagte er nur. »Nein, das war ich nicht.«

»Spreche ich nicht mit Rolf Slettan?«, fragte die Stimme am anderen Ende der Leitung. »Unter der Nummer 2307****?«

»Nein«, sagte Marcus und konzentrierte sich darauf, ruhig zu atmen. »Das ist mein Mann, Rolf. Er hat Sie angerufen. Ich bin Marcus Koll. So habe ich mich ja auch gemeldet.«

Zwei Sekunden Stille am anderen Ende der Leitung.

Der Augenblick des Andersseins, dachte Marcus, dieser Moment stummer Verwirrung. Oder Verachtung. Oder von beidem etwas. Er war daran gewöhnt, wie alle sich an ihr Stigma gewöhnen, wenn sie es lange genug tragen. Ehe Cusi in die Schule gekommen war, hatte Marcus Koll jr. sich von Dagens Næringsliv porträtieren lassen, als der einzige Homosexuelle mit Mann und Kind auf der Liste der hundert reichsten Männer des Landes. Er hatte gehofft, Cusi vor dieser Pause beschützen zu können. Wenn alle es wüssten, brauchten sie diese Pause nicht mehr.

Nicht alle lasen Dagens Næringsliv, das war ihm einige Wochen später klar geworden.

»Ach ja«, hörte er endlich am anderen Ende der Leitung. »Ist … ist er denn da? Rolf Slettan?«

»Ja. Aber er bringt gerade unseren Sohn ins Bett.«

Jetzt dauerte das Schweigen so lange, dass Marcus schon glaubte, die Verbindung sei unterbrochen worden.

»Hallo«, sagte er laut.

»Ja, sicher«, antwortete der Mann. »Ich bin hier. Könnten Sie ihn bitten, mich anzurufen? Seine Mitteilung ist einfach liegen geblieben, und ich habe einige Fragen, die ich gern «

»Soll er die Nummer anrufen, die ich hier im Display habe?«, fragte Marcus.

»Äh  ja, das wäre gut. Er soll nach Kommissar Pettersen fragen. Ruft er heute Abend noch an?«

»Das kann ich mir kaum vorstellen«, sagte Marcus. »Wir haben Pläne für den Abend. Aber wenn es wichtig ist, kann ich natürlich dafür sorgen, dass er sich meldet. In einer halben Stunde oder so.«

»Jaaa … das wäre bestimmt gut. Wir hatten gestern Abend wieder so ein Vorkommnis, und es wäre …«

»Gut. Ich richte es aus.«

Ohne sich zu verabschieden, brach er das Gespräch ab und legte das Telefon auf den Couchtisch. Es war zu dunkel im Wohnzimmer. Langsam ging er von einer Lichtquelle zur anderen, bis das Zimmer taghell erleuchtet war.

Rolf hatte ihm von den Reifenspuren beim Tor erzählt. Marcus hatte zuerst darüber gestaunt, sich fast darüber geärgert, dass Rolf sich dermaßen in belanglose Hinweise darauf verbiss, dass jemand auf dem kleinen Platz oben bei der Straße gehalten hatte. Der Platz bildete eine natürliche Ausweichstelle bei Gegenverkehr. Seit der Schneefall eingesetzt hatte, gab es dort dauernd Spuren. Aber er musste schließlich zugeben, dass es schon seltsam war, dass jemand so lange dort hielt, wie die unterschiedliche Tiefe der Spuren und die Kippen annehmen ließen. Als Rolf hartnäckig behauptete, derselbe Wagen habe oben an der Straße gestanden, während er die Spuren am Tor untersucht habe, und sei verschwunden, sowie Rolf Interesse daran gezeigt hatte, konnte Marcus nichts erwidern.

Rolfs Gefühl, dass jemand sie überwachte, stimmte nur zu gut mit seiner eigenen wachsenden Unruhe überein. Er ertappte sich immer häufiger dabei, dass er sich nach etwas umsah, ohne zu wissen, was er erwartete. Oder vielleicht sah er sich eher nach jemandem um. Bisher hatte er nichts Konkretes benennen können, aber das Gefühl, einen lebenden Schatten zu haben, war immer stärker geworden. Erst nach Neujahr war ihm klar geworden, dass die panische Angst, die ihn kurz vor Weihnachten fast umgeworfen hätte, nachdem sie ihn mehrere Jahre verschont hatte, nicht nur den Gewissensqualen entsprang, mit denen er kämpfte.

Jemand schien ihn im Auge zu behalten.

Und vermutlich hatte das nichts mit Einbrechern und Diebesbanden zu tun.

»Nein«, sagte er laut und setzte sich in den Sessel.

Es musste Einbildung sein.

Es hatte Einbildung zu sein.

Er war zu schreckhaft, und Rolf konnte durchaus ein verliebtes junges Paar gesehen haben, das angehalten hatte, um zu knutschen. Eine Knutsch- und Zigarettenpause. Oder vielleicht war es ein verantwortungsbewusster Autofahrer gewesen, der angehalten hatte, um ein Telefongespräch zu führen.

Es klingelte.

Der Babysitter, dachte er und schloss die Augen.

Es war zehn Uhr, und eigentlich war er zu erschöpft, um auszugehen.

In drei Monaten und fünf Tagen war es zehn Jahre her, dass sein Vater gestorben war.

Marcus Koll öffnete die Augen, erhob sich und zog an seinen Ohrläppchen, um wach zu werden. Die Türklingel ertönte ein weiteres Mal. Als er durch das Wohnzimmer ging, beschloss er, dass der 15. April der Tag sein sollte, an dem alle Sorgen ein Ende hätten. Obwohl der Tag jetzt seine ursprüngliche Bedeutung verloren hatte, würde er ihn doch als Meilenstein in seinem Leben sehen. Der 15. April würde zum Wendepunkt werden, und alles würde so sein wie früher. Er musste nur hinkommen. Das Haus auf dem Hügel sollte wieder zu einer Festung werden, zu einem sicheren Rahmen um die Familie, weit außerhalb des Herrschaftsbereichs seines Vaters.

Es war ein Versprechen, das er vor sich selbst ablegte, und aus irgendeinem Grund fühlte er sich ein wenig besser.