Zorn
Gegen Mittag am 9. Januar wurde in einem grauen Haus im Hystadvei in Sandefjord an der Tür geklingelt.
Synnøve Hessel lag auf dem Sofa. Sie befand sich irgendwo zwischen Traum und Wirklichkeit, in einem Dämmerzustand aus düsteren Gedanken. Nachts fand sie keinen Schlaf. Die dunkelsten Stunden des Tages kamen ihr endlos und überflüssig vor. Es war nicht möglich, weiter nach Marianne zu suchen, wenn alle anderen schliefen, aber es war ihr trotzdem versagt, Ruhe zu finden. Die Tage wurden immer schlimmer. Ab und zu nickte sie ein, wie jetzt.
Ihr blieb nicht viel anderes übrig.
Das gemeinsame Bankkonto war nicht angerührt worden. Zu Mariannes eigenem Konto hatte Synnøve noch keinen Zugang. Sie hatte sich in allen norwegischen Krankenhäusern erkundigt, aber auch das hatte nichts gebracht. Alle Freunde hatte sie angerufen. Noch die entferntesten Bekannten und Verwandten hatte sie gefragt, ob sie seit dem 19. Dezember von Marianne gehört hätten. Vor zwei Tagen hatte Synnøve sich zusammengerissen und endlich ihre Schwiegereltern angerufen. Sie hatte zuletzt von ihnen gehört, als Marianne ihren Mann verlassen wollte, um zu ihr zu ziehen. Den Anruf hätte sie sich sparen können. Sowie Mariannes Mutter begriffen hatte, wer da anrief, fauchte sie zwei Minuten lang unzusammenhängende Beschimpfungen und legte dann auf. Synnøve hatte nicht einmal sagen können, worum es ging.
Marianne war und blieb verschwunden.
Synnøve hatte seit anderthalb Wochen kaum etwas gegessen. Die Tage seit Mariannes Verschwinden hatte sie mit Suchen verbracht. Nachts machte sie endlos lange Spaziergänge mit den Huskies. Jetzt brachte sie nicht einmal mehr das über sich. An den vergangenen beiden Tagen hatten die Tiere sich mit dem Hundehof zufriedengeben müssen. Am Vorabend hatte sie vergessen, sie zu füttern. Als ihr das plötzlich einfiel, war es schon zwei Uhr nachts. Ihr Weinen hatte die Leithündin erschreckt, und sie hatte gefiept, mit dem Schwanz gewedelt und unendlich viel Aufmerksamkeit verlangt, ehe sie das Fressen auch nur anrührte. Am Ende war Synnøve in ein Hundehaus gekrochen und dort eingeschlafen, mit Kaja in den Armen. Sie war eine halbe Stunde später starr vor Kälte aufgewacht.
Wieder ging die Türklingel.
Synnøve blieb liegen. Sie wollte keinen Besuch. Viele waren gekommen, nur wenige hatte sie eingelassen.
Noch einmal.
Steif erhob sie sich vom Sofa und faltete die Wolldecke zusammen. Ihr Nacken war verkrampft, und sie massierte sich selbst, während sie zur Haustür schlurfte und sich darauf vorbereitete, einer weiteren Freundin klarmachen zu müssen, dass sie allein sein wollte.
Als sie öffnete und Kjetil Berggren auf der Treppe sah, wurde ihr schwindlig vor Erleichterung. Marianne war gefunden, das wusste sie sofort, und Kjetil Berggren war gekommen, um die gute Nachricht zu überbringen. Alles war ein schreckliches Missverständnis gewesen, aber jetzt würde Marianne zurückkommen und alles würde sein wie früher.
Kjetil Berggren war so ernst. Synnøve trat einen Schritt zurück. Die Haustür glitt weit auf. Hinter Kjetil stand eine Frau. Sie mochte um die fünfzig sein und trug einen Wintermantel. Um den Hals, den alle anderen in der beißende Januarkälte mit einem Schal geschützt hätten, lag ein Pastorenkragen.
Die Pfarrerin war so ernst wie der Polizist.
Synnøve trat noch einen Schritt zurück, dann sank sie in die Knie und hob die Hände an ihr Gesicht. Die Nägel gruben sich in die Haut und zeichneten auf beiden Wangen blutrote Streifen. Sie heulte, ein gleichmäßiges, klagendes Geräusch, wie Kjetil Berggren es noch nie gehört hatte. Erst als Synnøve anfing, mit dem Kopf auf die Bodenfliesen zu schlagen, versuchte er, sie hochzuziehen. Sie schlug nach ihm, hart und wütend, und sank wieder in sich zusammen.
Und die ganze Zeit dieses Heulen.
Das heftige Schmerzgeräusch ließ die Hunde im Hinterhof antworten. Sechs Polarhunde heulten wie die Wölfe. Der Klagechor stieg zur tief hängenden Wolkendecke auf und war bis nach Framnes zu hören, auf dem anderen Ufer des grauen und winteröden Fjords.
Eine Sirene zerriss das gleichmäßige Verkehrsdröhnen, als der Wagen vor einer roten Ampel hielt. Im Rückspiegel bemerkte Lukas ein blaues flackerndes Licht, und er versuchte, mit dem Wagen dichter an den Bordstein heranzufahren, ohne auf dem Bürgersteig zu landen. Der Krankenwagen jagte in viel zu hohem Tempo an der Autoschlange vorbei und hätte fast einen älteren Mann umgerissen, der dicht vor der Motorhaube von Lukas’ großem BMW X 5 vorbeiging. Der Mann war offenbar taub.
»Das war wirklich um Haaresbreite«, sagte Lukas zu seinem Vater und starrte dem verdutzten Fußgänger hinterher, bis die Wagen hinter ihm anfingen zu hupen.
Erik Lysgaard gab keine Antwort. Er saß neben Lukas, so stumm wie immer. Seine Kleidung war deutlich zu groß geworden. Der Sicherheitsgurt ließ ihn flach und mager wirken. Seine Haare hingen in traurigen Strähnen über den Schädel und er wirkte zehn Jahre älter. Lukas hatte den Vater an diesem Morgen unter die Dusche schicken müssen, er hatte einen harschen Geruch ausgeströmt, als er sich am Vorabend widerwillig hatte umarmen lassen.
Nichts hatte sich geändert.
Noch einmal hatte Lukas darauf bestanden, den Vater zu sich nach Os zu holen. Noch einmal hatte Erik protestiert, noch einmal hatte der Sohn sich durchgesetzt. Die Kinder hatten sich beim Anblick des Großvaters wieder so geängstigt, und Astrid hätte zweimal fast die Beherrschung verloren.
»Jetzt müssen wir einen Plan machen«, sagte Lukas. »Die Polizei sagt, die Beisetzung kann irgendwann nächste Woche stattfinden. Es wird wohl oder übel eine große Veranstaltung werden. Mutter war vielen Menschen wichtig.«
Erik saß stumm und ausdruckslos da.
»Vater, du musst einfach etwas dazu sagen.«
»Du kannst alles entscheiden«, sagte der Vater, »mir ist es egal.«
Lukas streckte die Hand nach dem Radio aus und schaltete es aus. Er packte das Lenkrad so hart, das seine Fingerknöchel weiß wurden, und das Tempo, das er auf dem letzten Stück zum Årstadvei vorlegte, hätte ihn bei einer Verkehrskontrolle den Führerschein gekostet. Als er die Auffahrt zum Nubbebakken erreicht hatte, kreischten die Reifen, als er nach links abbog, auf die gegenüberliegende Straßenseite fuhr und auf die Bremse trat. »Vater«, sagte er leise, fast flüsternd. »Warum ist das Bild nicht mehr da?«
Zum ersten Mal sah sein Vater ihn an. »Das Bild?«
»Das Bild in Mutters Zimmer.«
Erik wandte seinen Blick wieder ab. »Ich will nach Hause.«
»Auf dem Regalbrett standen immer vier Bilder. Sie standen da, als ich am Tag nach Mutters Tod bei dir war. Ich weiß das noch, weil der Polizist sich in der Tür geirrt hatte. Ein Foto ist nicht mehr da. Warum nicht?«
»Ich will nach Hause.«
»Du kommst ja nach Hause. Aber antworte, Vater!«
Lukas schlug mit der Faust auf das Lenkrad. Ein scharfer Schmerz schoss durch seinen Arm und er fluchte lautlos.
»Fahr mich nach Hause«, sagte Erik. »Jetzt sofort.«
Die Kälte in der Stimme seines Vaters ließ Lukas verstummen. Er schaltete. Seine Hände zitterten, und er fühlte sich fast so aufgewühlt wie damals, als die Polizei mit der Nachricht von dem Mord vor der Tür gestanden hatte. Als sie jetzt auf den kleinen Hofplatz hinter dem offenen Tor zum Haus seines Vaters fuhren, konnte er die schöne Frau auf dem verschwundenen Bild deutlich vor sich sehen. Sie war dunkel, und obwohl das Foto schwarz-weiß war, glaubte er, dass sie blaue Augen hatte. Genau wie er. Ihre Nase war gerade und schmal, wie seine, und im Lächeln konnte man deutlich sehen, dass ein Schneidezahn sich über den anderen legte.
Genau wie bei ihm.
Das Foto zeigte zu wenig von der Kleidung, um zu erraten, wann es aufgenommen worden war. Erst als Teenager war ihm das Foto überhaupt aufgefallen. Jetzt, da er eigene Kinder hatte und wusste, wie aufmerksam Kinder sein können, war er zu dem Schluss gekommen, dass es früher nicht dort gestanden hatte. Einmal hatte er gefragt, wer die Frau sei.
Seine Mutter hatte gelächelt, seine Wange gestreichelt und geantwortet: »Eine Freundin, die du nicht kennst.«
Lukas hielt an und stieg aus, um seinem Vater zu helfen.
Sie wechselten kein Wort und auch keinen Blick.
Als die Tür hinter Erik ins Schloss fiel, setzte Lukas sich ins Auto. Dort blieb er sitzen, lange, während der Schneeregen die Windschutzscheibe undurchsichtig machte und die Temperatur im Wagen sank.
Die Freundin seiner Mutter hatte eine unheimliche Ähnlichkeit mit ihm selbst.
»Die sieht dir aber ähnlich! Spitting image!«
Karen Winslow lachte, als sie Ragnhilds Bild in die Hand nahm. Sie hielt es schräg, damit es das Licht der Deckenlampe nicht reflektierte, und schüttelte den Kopf. Ragnhild lag in der Badewanne, mit Shampoo in den Haaren und einer riesigen Badeente auf dem Bauch. Sie sah aus wie von dem knallgelben Monster überfallen.
»Das ist also die jüngere Tochter«, sagte Karen und gab das Bild zurück. »Und jetzt zeig die ältere.«
Das Bild war zu Weihnachten aufgenommen worden. Kristiane saß mit ernster Miene auf der Treppe vor dem Haus im Hauges vei. Sie starrte ausnahmsweise voll in die Kamera und hatte gerade die Mütze abgenommen. Ihre dünnen Haare standen vom Kopf ab, und das Licht, das durch das Haustürfenster fiel, malte ihr einen Heiligenschein.
»Wow«, sagte Karen und wurde ernst. »Was für ein unglaublich schönes Kind! Wie alt ist sie? Neun? Zehn?«
»Bald vierzehn«, sagte Inger Johanne. »Und sie ist nicht ganz wie andere Kinder.«
Es fiel ihr überraschend leicht, das zu sagen.
»Was fehlt ihr denn?«
»Wer weiß«, sagte Inger Johanne. »Kristiane wurde mit einem Herzfehler geboren und musste schon im ersten Jahr drei große Operationen über sich ergehen lassen. Ob es dabei passiert ist oder ob sie mit einer angeborenen Behinderung lebt, hat bisher niemand so richtig feststellen können.«
Wieder lächelte Karen und sah sich das Bild genauer an. Ihre alte Kommilitonin machte Inger Johanne klar, wie viele Jahre vergangen waren. Karen war immer schlank und durchtrainiert gewesen. Jetzt hatte sie ein strafferes, magereres Gesicht, und ihre schwarzen Haare wiesen graue Einsprengsel auf. Sie trug jetzt auch eine Brille. Offenbar noch nicht lange, denn sie setzte sie immer wieder auf und ab und wusste offenbar nicht so recht, wohin damit, wenn sie sie gerade nicht brauchte.
Sie hatten einander seit fast achtzehn Jahren nicht mehr gesehen. Als Karen vor dem Restaurant Victor in Sandaker aus dem Taxi gestiegen war, hatten sie einander sofort erkannt, und Inger Johanne konnte sich nicht erinnern, je so lange und herzlich umarmt worden zu sein. Als sie ins Lokal gingen, war Inger Johanne glücklich.
Fast aufgekratzt.
Der Kellner brachte ihnen ein Glas Champagner zur Begrüßung. »Möchten Sie gleich bestellen?«, fragte er lächelnd.
»Können wir noch ein wenig warten?«, fragte Inger Johanne rasch.
»Natürlich. Ich komme zurück.«
Karen hob das Glas. »To you«, sagte sie und lachte. »Dass wir uns wiedersehen. Phantastisch!«
Sie nippten am Champagner. »Köstlich. Erzähl mehr über Kristi … Krysti …«
»Kristiane. Die Fachleute glaubten lange, es könne sich um eine Form von Autismus handeln. Asperger vielleicht. Aber das stimmt nicht so ganz. Sie hat zwar ein großes Bedürfnis nach festen Regeln, und sie kann sich geradezu verbeißen in ihre Vorstellungen von Ordnung und Systematik. Aber dann, ohne dass wir richtig sagen könnten, was diese Veränderung auslöst, ist sie ein ganz normales, ein wenig zurückgebliebenes Kind. Und obwohl es ihr schwerfällt, wirkliche Freundschaften zu schließen, zeigt sie sich anderen Menschen gegenüber ungeheuer flexibel. Sie ist …«
Inger Johanne hob wieder ihr Glas, überrascht darüber, wie gut es tat, über ihre ältere Tochter zu sprechen. »… wirklich liebevoll zu ihrer Familie.«
»Sie ist total adorable«, sagte Karen und reichte das Bild zurück. »Was für ein großes Glück, dass du sie hast.«
Als sie das hörte, fühlte Inger Johanne sich fast beschämt. Isak liebte seine Tochter über alles, und Yngvar war der liebevollste Stiefvater aller Zeiten. Beide Großelternpaare beteten Kristiane an, und sie war in das soziale Umfeld der Familie Stubø Vik so fest integriert, wie das überhaupt nur möglich war. Es kam vor, dass jemand sagte, Kristiane habe großes Glück mit ihrer Familie. Bei Live Smith hatte Inger Johanne das Gefühl gehabt, froh sein zu müssen, dass ihre Tochter bei ihr zur Schule ging.
Aber noch nie hatte jemand gesagt, es sei ein Glück für Inger Johanne, eine Tochter wie Kristiane zu haben.
»Das stimmt«, sagte Inger Johanne. »Ich habe wirklich … Wir haben ein unglaubliches Glück, dass wir sie haben.«
Sie blinzelte rasch, um ihre Tränen zurückzuhalten. Karen legte ihre Hand an Inger Johannes Wange. Diese Geste freute sie, trotz der vielen Jahre, die sie sich nicht gesehen hatten.
»Kinder sind Gottes allergrößtes Geschenk«, sagte Karen. »Sie sind immer, immer ein Segen, egal, woher sie kommen, zu wem sie kommen und wie sie sind. They should be treated, loved and respected accordingly.«
Amerikaner und ihre großen Worte, dachte Inger Johanne. Amerikaner und ihre schwülstige und schöne Wortwahl. Sie lächelte rasch und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.
»Möchten Sie jetzt bestellen?«
Der Kellner stand wieder am Tisch und ließ seinen Blick von einer zur anderen wandern.
»Ja«, sagte Inger Johanne. »Und es wäre schön, wenn Sie das Menü auf Englisch erklären könnten, dann brauche ich für meine Freundin nicht zu übersetzen.«
Das war für den Kellner kein Problem. Bereitwillig erklärte und beschrieb er die Gerichte des Tages und beantwortete Karens sachkundige Fragen. Als sie sich auf Menü und Wein geeinigt hatten, wurde Inger Johanne klar, dass Karen viel weltgewandter war als sie. Sogar der Kellner wirkte beeindruckt.
Sie fingen mit Austern an.
Die standen nicht auf der Speisekarte, und der Kellner hatte sie nicht erwähnt, als er geschildert hatte, was das Restaurant zu bieten hatte. Karen schüttelte den Kopf, als er fertig war, lächelte ihr blendend weißes Lächeln und deutete an, jedes Restaurant, das auf sich hielt, könne Austern anbieten.
Das stimmte.
Das Problem war, dass Inger Johanne noch nie Austern gegessen hatte.
Sie war promovierte Akademikerin. Weit gereist und finanziell unabhängig. Sie aß gern. Sie hatte in China Hundefleisch und an einer Bude in Angkor Wat frittierte Spinnen verzehrt. Aber an Austern hatte sie sich nie herangetraut.
Sie schaute auf ihren Teller. Die Austernschalen lagen auf einem Eisbett, das ein wenig nach Ebbestrand roch. Niemand konnte behaupten, die schleimige grauweiße Masse sähe appetitlich aus. Inger Johanne schaute zu Karen hinüber, die aus einer Schale eine Mischung aus Rheinwein und Essig auf die Austern tropfen ließ, ehe sie die erste Schale an den Mund hob und den Inhalt heraussaugte. Mit geschlossenen Augen schluckte sie und rief: »Perfect!«
Inger Johanne tat es ihr gleich.
Die Austern waren das Köstlichste, was sie je gegessen hatte.
»Inger«, sagte Karen, als die Schalen leer waren. »Tell me more. Tell me everything. Absolutely everything!«
Sie sprachen über die Studienzeit und gemeinsame Freunde von damals. Über Familien und Eltern, Freude und Frustrationen. Über die Kinder. Sie redeten, lachten und fielen sich gegenseitig ins Wort. Das kleine Lokal hatte eine hoffnungslose Akustik, Karens lautes Lachen prallte von den hohen Mauern ab und störte die anderen Gäste. Trotzdem war der Kellner gleichbleibend freundlich und füllte ihre Gläser diskret nach, wann immer sie fast leer waren.
»Karen, ich muss dich etwas fragen.«
Inger Johanne schaute auf ihren vierten Gang, eine Wachtel auf einem Bett aus Topinamburpüree. In einem Ring um den winzigen Vogel lagen kleine Streifen Parmaschinken, hier und da leuchtete eine eingelegte Minitomate.
»Erzähl vom APLC«, bat sie.
»Woher weißt du, dass ich dort arbeite?« Karen wischte sich vorsichtig mit der riesigen Stoffserviette die Lippen, dann griff sie abermals zu Messer und Gabel.
»Ich hab gegoogelt«, sagte Inger Johanne. »Ich arbeite gerade an einem Projekt, wo …«
Karen lachte so sehr, dass die Gläser klirrten. »Jetzt sitzen wir seit zwei Stunden hier, und noch immer haben wir uns nicht erzählt, wo wir arbeiten und was wir machen. Lass hören!«
Und Inger Johanne erzählte. Sie sprach über ihre Arbeit am Institut für Kriminologie, über ihre Doktorarbeit, die sie bereits 2000 vollendet hatte, darüber, wie sie das Forschen liebte, während sie die Unterrichtspflicht, die zu ihrer Stellung gehörte, schwer ertragen konnte, und über die Freuden und Frustrationen beim Versuch, die Karriere und zwei anstrengende Kinder unter einen Hut zu bringen. Endlich brachte sie ihr aktuelles Projekt zur Sprache. Als sie fertig war, waren die Wachteln zu kleinen Skeletten geworden, und die Teller waren ansonsten leer.
»Du musst uns besuchen«, sagte Karen energisch. »Was wir machen, ist ganz besonders relevant für deine Forschungen.«
»Und jetzt bist du dran«, sagte Inger Johanne. »Also los.«
Sie bat den Kellner, mit dem nächsten Gang noch zu warten. Sie merkte, dass sie ein wenig zu viel getrunken hatte, aber das spielte keine Rolle. Wann hatte sie sich zuletzt in einem Restaurant so wohlgefühlt? Als der Kellner nachschenkte, lächelte sie deshalb dankbar.
»Die Firma wurde 1971 gegründet«, fing Karen an und hielt das Rotweinglas ins Licht, um sich an der Farbe zu erfreuen. »Und zwar in Montgomery, Alabama. Die beiden Gründer, übrigens Weiße, waren in der Bürgerrechtsbewegung engagiert. Sie haben das Büro in erster Linie eröffnet, um gegen Rassismus zu kämpfen. Sie waren natürlich dauernd in den roten Zahlen.«
Sie verstummte und schien nach einer Möglichkeit zu suchen, eine lange Geschichte in möglichst kurzer Zeit zu erzählen. »Anfangs war es wohl vor allem ein Büro für kostenlose Rechtsberatung. Aber da war ich natürlich noch nicht dabei!«
Ihr Lachen brandete auf, und ein älteres Ehepaar zwei Tische weiter starrte verärgert zu ihnen herüber.
»Damals ging ich noch nicht einmal auf die elementary school. 1981 eröffnete das Büro eine Nachrichtenabteilung. Es ging darum, unser einziges wirkliches Ziel besser zu erreichen: Vereinigte Staaten, die sich an ihr einst so revolutionäres Grundgesetz halten. In den ersten Jahren waren die Gegner vor allem white supremacy groups.«
»Ku-Klux-Klan«, sagte Inger Johanne leise.
»Die auch. Wir haben etliche Prozesse gegen Klanmitglieder gewonnen. Zweimal konnten wir sogar ihre Trainingslager schließen und ziemlich große aktive Zellen hochgehen lassen. Das Problem ist natürlich …«
Sie seufzte ein wenig und nippte an ihrem Glas. »Der KKK ist nicht allein in der Arena. Wir haben Imperial Klans of America, Aryan Nations, Church of the Creator … You name it. Unsere nachrichtendienstliche Tätigkeit hat sich im Laufe der Jahre ausgeweitet, und derzeit haben wir wohl 926 verschiedene Hassgruppen überall in den USA im Blick. Teilweise sehr aktive Gruppen.«
Das »sehr« betonte sie ganz besonders.
»Nicht alle haben etwas gegen Afroamerikaner, nehme ich an?«
»Nicht doch. Wir haben zum Beispiel schwarze separatistische Bewegungen, die uns andere alle loswerden wollen. Auch die Juden haben überall ihre Feinde. Bei uns eben auch.«
Plötzlich sah Karen älter aus. Die Falten um ihre Augen waren keine Lachfältchen, wie Inger Johanne geglaubt hatte. Jetzt, da Karen ernst war, vertieften sie sich noch.
»Das Institute for Historical Review, die Noontide Press … viel zu viele. Ihrerseits haben die Juden die Jewish Defense League, die einwandfrei als Hassorganisation bezeichnet werden muss. Überhaupt: There is hate enough to go around in this world. Wir haben Gruppen gegen Südamerikaner, gegen native Americans, für native Americans, gegen jegliche Einwanderung auf eher allgemeiner und vorurteilsloser Grundlage …«
Ein ironisches Lächeln beendete den Satz. Sie sprach jetzt leiser. Das Ehepaar am Tisch vor der Wand schaute trotzdem vorwurfsvoll zu ihnen herüber und erhob sich zum Gehen. Als sie hinter Inger Johanne vorbeigingen, murmelten sie etwas über ein ruiniertes Essen und darüber, dass es Grenzen geben müsse, sogar für Amerikanerinnen.
»Und dann hast du natürlich alle, die Homosexuelle hassen.«
Jetzt wurde der Nachtisch gebracht.
»Erdbeercarpaccio mit Vanillekruste«, sagte der Kellner und stellte die Teller vor sie hin. »Begleitet von einem kleinen Champagnersorbet. Guten Appetit.«
»Wie groß sind diese Gruppen eigentlich?«, fragte Inger Johanne, als sie wieder allein waren.
Karen bohrte den Löffel zwischen die Erdbeerscheiben. Sie stützte den Ellbogen auf den Tisch und musterte das Gericht, während sie langsam antwortete: »Diese Frage ist nicht so leicht zu beantworten. Was die rein rassistischen Organisationen angeht, so sind sie größer, als du dir vorstellen magst. Einige sind richtig alt und als paramilitärische Truppen organisiert. Andere wiederum, vor allem die anti-gay groups, sind schwieriger zu …«
Sie schob den Löffel in den Mund, schloss genießerisch die Augen und kaute. »Wie soll ich sagen«, sie zögerte, »zu definieren?«
Inger Johanne nickte. Sie hatte dasselbe Problem, und sie fragte: »Aufgrund der starken Verbindung mit an und für sich legitimen kirchlichen Gemeinschaften?«
»Ja«, sagte Karen. »Unter anderem deshalb. Im Ausgangspunkt definieren wir eine Hassgruppe als eine mehr oder weniger feste Organisation, die auf irgendeine Weise Hass gegen irgendeine Gruppe schürt. Sie wird erst kriminell, wenn sie entweder die Grenzen der Meinungsfreiheit übertritt, die die meisten Länder festgelegt haben, wenn sie zu strafbaren Handlungen auffordert oder sie selbst begeht. Und wenn das individuelle Opfer dieser Kriminalität aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer größeren Gruppe von Menschen mit spezifischen erkennbaren Kennzeichen ausgesucht wird.«
Sie schnappte nach Luft.
»Das hast du ja wirklich gut gelernt«, sagte Inger Johanne lächelnd.
»Hab es ja auch schon etliche Male aufsagen müssen.«
Sie aß jetzt langsamer. Inger Johanne war absolut satt und schob ihr halb verzehrtes Dessert ein wenig weiter auf den Tisch zurück.
»Um ein Beispiel zu nennen«, sagte Karen. »Das war 2007. Ein junger Mann, Satender Singh, machte Ferien am Natoma-See in Kalifornien. Er kam vom Inselstaat Fidschi und saß eines Tages mit indischen Freunden in einem Restaurant. Eine Gruppe russisch sprechender Menschen glaubte zu erkennen, dass Satender homosexuell war, und um eine lange Geschichte ganz kurz zu machen: Sie haben ihn umgebracht.«
Inger Johanne schwieg.
»Dass Homosexuelle umgebracht werden, eben weil sie homosexuell sind, kommt immer wieder vor«, sagte Karen jetzt. »Das Besondere an diesem Fall war, dass die Mörder einer sehr großen Gruppe von slawischen, streng religiösen Einwanderern in der Gegend angehörten. Ihre Gemeinden sind extrem homophob eingestellt. Wir reden hier von fast hunderttausend Menschen, die sich auf siebzig fundamentalistische Gemeinden verteilen, in einem Gebiet, das bisher stark vom homosexuellen Teil der Bevölkerung geprägt war. Zu sagen, dass die Beziehung zwischen beiden Gruppen jetzt aufgeheizt ist, wäre untertrieben. Die Christen betreiben intensive homophobe Propaganda, sie haben eigene Fernseh- und Radiosender und eine enorme Mobilisierungsfähigkeit. Bei einigen der Protestveranstaltungen, die von homosexuellen Organisationen abgehalten wurden, waren mehr Antidemonstranten als Demonstranten.«
Sie holte tief Luft, ehe sie weiterredete: »Aber wann werden diese Gemeinden kriminell? Auf der einen Seite ist es eindeutig, dass sie hassen. Ihr Sprachgebrauch und nicht zuletzt die ganz unverhältnismäßige Aufmerksamkeit, die sie ebendiesem Bereich widmen, weisen auf glattweg verrückten Hass hin. Außerdem weigern sich viele ihrer geistlichen Führer, sich zum Beispiel von dem Mord an Satender zu distanzieren. Andererseits: Die Meinungsfreiheit geht sehr weit, und das ist ja auch richtig so. Viele solcher Gemeinden in den ganzen USA hüten sich davor, offen zum Mord aufzufordern.«
»Sie legen das Fundament für hasserfüllte Übergriffe, sie distanzieren sich nicht davon, und später waschen sie ihre Hände in Unschuld, weil sie nicht offen gesagt haben: ›Tötet sie.‹«
»Genau«, Karen nickte. »Und wenn ein Geistlicher gen Himmel ruft: Die Homos suhlen sich in Sünde und werden eines qualvollen Todes sterben, sie werden in der Hölle brennen, sie werden … Na ja, später kann er dann sagen, er habe nur den Willen Gottes genannt. Dass eins von Gottes Kindern ihn dann beim Wort genommen hat, ist nicht sein Problem. Und Religions- und Meinungsfreiheit sind, wie du sicher weißt …«
»… die eigentliche Grundlage für die Existenz der USA«, vollendete Inger Johanne den Satz.
»Noch Kaffee?« Der Kellner hatte wahrscheinlich ein Universitätsexamen in Geduld abgelegt. Sie saßen seit über einer halben Stunde allein im Lokal. Die Bedienung wartete nur darauf, dass sie endlich fertig würden. Trotzdem ließ der Mann sich die Zeit, ihre Kaffeetassen aufzufüllen und Nachschub an heißer Milch zu holen.
»Das alles ist schlimm«, sagte Karen, als er wieder gegangen war. »Und neben den extremen Gemeinden an mehreren Orten der USA haben wir die eher etablierten Organisationen. Wie die American Family Association. Sie fordern natürlich ebenfalls nicht zum Morden auf, aber sie machen viel Lärm und sorgen für ein sich stetig verschlechterndes Klima in der offiziellen Diskussion. Vor einiger Zeit haben sie sogar eine Boykottaktion gegen McDonald’s gestartet, stell dir das vor.«
»Das klingt doch eigentlich vernünftig«, sagte Inger Johanne lächelnd. »Aber was war der Grund?«
»McDonald’s hat bei einem Gay-Pride-Arrangement Werbefläche gekauft.«
»Und was ist dann passiert?«
»Die ganze Sache ging zum Glück den Bach runter. Diesmal. Aber einige dieser Gruppen sind mächtig, sie haben Geld und Einfluss und scheuen keine Mittel. Sie hassen, aber wir können sie nicht als kriminell bezeichnen. Das Beängstigendste ist …«
Sie hob das Glas zu einem stummen Prost. »Wir haben in letzter Zeit Anzeichen für eine systematischere Verfolgung bemerkt. Sechs Morde an homosexuellen Männern im vergangenen Jahr, drei in New York, einer in Seattle und zwei in Dallas, sind noch immer nicht aufgeklärt. Lange wurde jeder Fall von der lokalen Polizei für sich behandelt. Die Mordmethoden waren unterschiedlich und die Umstände an sich ließen sich auch nicht vergleichen. Unser Büro hat dann aber festgestellt, dass zwei der Opfer Vettern waren, das dritte war mit dem ersten zur Schule gegangen, das vierte war mit dem zweiten auf Interrailtour in Europa gewesen, und die beiden letzten hatten im Zeitraum von zwei Jahren kurze Beziehungen zum vierten. Das FBI hat die Sache jetzt übernommen, um das mal so zu sagen. Nicht dass sie bei der Suche nach den Tätern viel weiter gekommen wären. Unser Büro wird jedoch keine Ruhe geben, bis die Fälle geklärt sind …«
»Himmel«, murmelte Inger Johanne. »Aber was habt ihr für eine Theorie?«
»Wir haben viele Theorien.«
Die Geräusche aus der Küche waren lauter geworden. Quirle und Kochlöffel schlugen gegen Metallflächen, und der Lärm einer Spülmaschine war wirklich störend.
Inger Johanne schaute auf die Uhr. »Ich glaube, wir sollten die Tafel aufheben«, sagte sie und zögerte einen Moment, ehe sie hinzufügte: »Gehst du noch immer gern zu Fuß, Karen?«
»Ich? Ich gehe und gehe!«
Inger Johanne winkte nach der Rechnung. Die lag schon bereit, und Karen riss sie an sich, ehe Inger Johanne den Kellner überhaupt bemerkt hatte.
»Ich bezahle.«
Inger Johanne brachte es nicht einmal über sich, zu protestieren. »Sollen wir zu einem Schlummertrunk zu mir nach Hause gehen?«, fragte sie, während Karen ihre Kreditkarte hervorzog. »Das dauert nur zwanzig Minuten. Oder ein wenig länger, bei diesem Wetter.«
»Super«, sagte Karen begeistert, ehe sie den Kellner mit Komplimenten überhäufte, ihren Mantel nahm und den Ausgang ansteuerte.
»Oslo ist doch eine sehr stille Stadt«, sagte sie überrascht, als sie auf die Straße traten.
Die Ampel an der Kreuzung von Hans Nielsen Hauges gate und Sandakervei sprang von Gelb auf Rot um, nur waren keine Autos da, die hätten anhalten können. Schmutz und Abgase des vergangenen Tages verbargen sich unter einer feinen Schicht Neuschnee. Auf dem Bürgersteig waren kaum Fußspuren zu sehen. Noch immer hingen die Wolken tief über der Stadt, und im Südwesten holten sie sich von den Lichtern der Innenstadt eine kränklich gelbe Farbe.
»Das hier ist vor allem eine Wohngegend«, sagte Inger Johanne. »Und außerdem ist so kurz nach Weihnachten wenig los. Die Norweger toben sich im Dezember aus, der Januar ist dann der Monat der guten Vorsätze.«
Sie gingen am Videoladen an der Ecke vorbei und dann weiter durch den Sandakervei.
»Wo waren wir?«, fragte Karen.
»Die Theorien«, sagte Inger Johanne. »Über diese Schwulenmorde.«
»Genau.«
Karen band sich den Schal fester um den Hals. Inger Johanne hatte vergessen, wie groß und langbeinig ihre Freundin war, sie musste fast laufen, um mit Karen Schritt zu halten.
»Was das anti-gay movement angeht, so sehen wir seltsame neue Konstellationen. Wo Juden und Christen, Muslime und sogar rechtsextreme Gruppen sich viele Jahrhunderte hindurch nicht vertragen konnten, haben sie jetzt einen gemeinsamen Feind gefunden. The gay community. Wir sind vor Kurzem auf eine Gruppe aufmerksam geworden, die sich ›The 25ers‹ nennt. Ihre Besonderheit ist, dass sie unheimlich lautlos arbeiten.«
»Lautlos? Geht es solchen Gruppen nicht darum, möglichst viel Lärm zu machen?«
»Diese hier sind anders. Wir glauben, sie stammen aus eher traditionellen, fundamentalistischen Kreisen, auf islamischer und auf christlicher Seite. Sie scheinen der Meinung zu sein, dass alles zu langsam geht. Dass es Zeit wird, etwas Dramatisches zu unternehmen. Dieselben Menschen wie vorher, aber in einem anderen Zusammenhang. Mit demselben Ziel, aber mit der Bereitschaft, zu ganz anderen Mitteln zu greifen, um dieses Ziel zu erreichen.«
Eine Weile gingen sie schweigend. Das Gespräch hatte eine Wendung genommen, von der Inger Johanne unbedingt mehr hören wollte. »Welche Mittel?«, fragte sie trotzdem, als sie an den Punkt gekommen waren, wo der Sandakervei abflacht und nach Nordwesten abbiegt.
Karen blieb so plötzlich stehen, dass Inger Johanne schon zwei Meter weiter war, als es ihr auffiel.
»Oslo ist keine schöne Stadt«, sagte Karen und sah sich um.
Inger Johanne lächelte. »Ich glaube, die Stelle, an der wir hier stehen, ist die allerscheußlichste von ganz Oslo. Ich finde unsere Stadt ja auch nicht umwerfend schön, aber du darfst nicht danach urteilen, was wir hier sehen.«
Rechts lagen mehrere kastenförmige Lagerhäuser, die auch der Schnee nicht verstecken konnte. Vor ihnen, dort, wo der Nycovei zweihundert Meter braucht, um einen öden Kreisverkehr hinter sich zu bringen, war die Wand des Storsenters zur Hälfte eingerissen worden, da das Zentrum erweitert werden sollte. Dieses Flickwerk von Gewerbezentrum ließ eher an eine Ruine als an eine Baustelle denken. Auf dem Dach blinkte ein riesiges rotes O in die Dunkelheit hinaus, ein entzündetes Zyklopenauge. Zwischen den beiden Straßen lag ein Bürohaus mit waagerechten türkisen Streifen, die im Schnee einen grellen Widerschein erzeugten. Auf der linken Seite reihte sich eine Handvoll gelber Klinkerbauten quer zur Straße. Der Architekt hatte es aus irgendeinem Grund für angebracht gehalten, an allen Gebäuden die Rohre außen zu verlegen, es sah aus wie die Kulisse eines billigen Science-Fiction-Films.
»Alles wird besser, wenn wir erst in Nydalen sind«, sagte Inger Johanne. »Komm.«
Sie stapften weiter, mitten auf der Straße.
»Bisher wissen wir noch zu wenig über die ›25er‹«, sagte Karen. »Aber wir haben Grund zu der Annahme, dass es zu einer gelinde gesagt unheiligen Allianz zwischen fundamentalistischen Muslimen und ihren christlichen Entsprechungen gekommen ist. Wir haben die Theorie, dass der Name die Quersumme der Zahlen 19, 24 und 27 ergibt, die erste Zahl hat mit dem Koran zu tun, die anderen beziehen sich auf Stellen aus Paulus’ Brief an die Römer. Ziemlich kompliziert, das Ganze. Es ist natürlich nicht die Rede von einer Gemeinde. Und auch nicht von einer politischen Gruppierung.«
»Und wovon ist dann die Rede?«
»Von einer militanten Gruppe. Einer paramilitärischen Truppe. Wir glauben, die Identitäten von zumindest drei Mitgliedern zu kennen, zwei ultrakonservative Christen und ein Muslim. Alle drei haben militärische Erfahrungen. Einer war sogar Navy Seal. Das Problem ist, dass sie wissen, dass wir wissen, wer sie sind, und dass sie sich ruhig verhalten. Sie unternehmen derzeit gar nichts, sondern verhalten sich ziemlich normal. Leider besteht trotzdem Grund zu der Annahme, dass die Gruppe ziemlich groß ist. Groß und sehr gut organisiert. Das FBI tritt in der Angelegenheit ziemlich auf der Stelle, und wir vom APLC können auch nicht viel machen. Aber wir versuchen es. Wir geben uns alle Mühe.«
»Aber was in aller Welt machen sie?«, fragte Inger Johanne ungeduldig.
»Bringen Schwule und Lesben um«, sagte Karen. »Die ›25er‹ sind der Klub der Unzufriedenen. Derer, die Taten wollen, keine Worte.«
»In Norwegen begnügen wir uns meistens damit, uns gegenseitig anzupöbeln«, sagte Inger Johanne.
Karen lächelte kurz und blieb vor einem weiteren Kreisverkehr stehen. »So fängt es an«, sagte sie. »Genau so fängt es an.«
Kein Auto war zu sehen, und sie überquerten die Straße.
»Ist die Antihomobewegung in Norwegen vor allem religiös?«, fragte Karen.
»Sowohl als auch. Ich würde sagen, dass das, was sich als Bewegung bezeichnen lässt, von den konservativen Christen geprägt ist. Einzelne versuchen, eine eher moralphilosophische Grundlage für ihre homophobe Argumentation zu konstruieren. Wenn man ihren Argumenten nachgeht, sieht man aber trotzdem, dass sie alle in einem tief verwurzelten Gottesglauben ihren Ausgang nehmen.«
Sie holte tief Luft. »Und dann haben wir den ewigen Ruf aus den Wohnwagen.«
»Aus den Wohnwagen?«
»Ist nur so ein Ausdruck. Ich meine die Tiefe des Volkes. Nicht sonderlich christlich und schon gar nicht sonderlich philosophisch. Mögen eben keine Homos.«
Sie hatten das BI-Gebäude erreicht, und Karen blieb vor einem Schaufenster von G-Sport stehen. Es war offenbar nicht der Winterschlussverkauf, der sie interessierte, denn sie starrte in der Glasscheibe Inger Johannes Spiegelbild an. »Ich dachte immer, ihr seid so progressiv«, sagte sie. »Was Gleichberechtigung angeht. Antirassismus. Homosexuellenrechte.«
Sie beugte sich plötzlich zum Fenster vor und rechnete. »Das sind 1100 Dollar für die Skier. Ich hab genau solche, und die haben 450 gekostet. Langsam verstehe ich, warum die Gehälter hierzulande so hoch sind.«
»Etwas ist passiert, als Homosexuelle angefangen haben, sich Kinder zuzulegen«, sagte Inger Johanne nachdenklich, als sei ihr eine ganz neue Erkenntnis gekommen. Das mit den Kindern hat zu einem heftigen Rückschlag geführt.«
Die Wolkendecke war aufgerissen. Über Grefsenkollen waren jetzt in einem schwarzen Riss drei Sterne zu sehen.
Inger Johanne legte die Hände aneinander und blies in ihre Wollfäustlinge. Dann stopfte sie die Hände in die Taschen. »Immer mehr Lesben bekommen Kinder«, sagte sie dann. »Zum Jahreswechsel ist ein geschlechtsneutrales Ehegesetz in Kraft getreten, das ihnen den gleichen Anspruch auf künstliche Befruchtung sichert wie den Heteros. In den letzten Jahren haben sich auch die Schwulen angeschlossen, sie fahren in die USA und suchen Eispenderinnen und Leihmütter. Das alles hat dazu geführt, dass …«
Sie gingen jetzt schneller.
»Weißt du, wie diese Kinder genannt werden?«, fragte sie heftig. »Halbfabrikate. Konstruierte Kinder!«
Karen zuckte mit den Schultern. »Die Geschichte wiederholt sich«, sagte sie müde. »Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Als die ersten Ehen zwischen Schwarz und Weiß geschlossen wurden, verstieß auch das gegen Gottes Willen und war wider die Natur. Auch diese Kinder bekamen abfällige Bezeichnungen. Half-castes. Das hat doch Ähnlichkeit mit Halbfabrikat. Aber auch das geht vorbei, Inger Johanne. In einigen Tagen wird bei uns ein ›half-caste‹ als Präsident eingesetzt. Vor sechs Jahren hätte niemand, absolut niemand, für möglich gehalten, dass wir zuerst eine Präsidentin bekommen würden und dann einen Afroamerikaner. Das mit Helen Bentley war übrigens schade. Dass sie nicht für eine weitere Amtszeit kandidieren wollte. Ich kann über Obama ja nur Gutes sagen, aber im tiefsten Herzen …«
Es war jetzt halb zwölf. Ein Bus kam ihnen entgegengeschlingert. Der Fahrer gähnte, als er an ihnen vorbeifuhr, zuckte aber zusammen, als plötzlich eine Katze auf die Fahrbahn schoss und ihn zwang, auf die Bremse zu treten.
»Im tiefsten Herzen glaube ich, es war ein noch größerer Sieg, eine Präsidentin zu bekommen«, sagte Karen leise, als vertraue sie Inger Johanne ein gefährliches Geheimnis an. »Und wenn das mächtigste Staatsoberhaupt der Welt nach nur vier Jahren im Weißen Haus behauptet, aus familiären Gründen das Handtuch zu werfen, dann nehme ich mir das Recht, ihr nicht zu glauben.«
Inger Johanne versuchte, ihr Lächeln zu unterdrücken. Nicht oft verspürte sie den Drang, die Geschichte der dramatischen Maitage des Jahres 2005 mit anderen zu teilen. Die Geschichte des Tages, den sie mit Helen Bentley in einer Wohnung in Frogner verbracht hatte, während die ganze Welt davon ausgegangen war, dass die Präsidentin der USA tot sei, war mit den Jahren zu einer eingekapselten Erinnerung geworden, die sie nur selten zur genaueren Betrachtung hervorholte. Sie musste schweigen, aus Rücksicht auf die Sicherheit Norwegens und der USA, und sie hatte alle Versprechen gehalten, zu denen sie sich damals verpflichtet hatte. Jetzt fühlte sie sich zum ersten Mal versucht, diese Versprechen zu brechen.
»Ich habe noch nie von den ›25ern‹ gehört«, sagte sie stattdessen. »Erzähl mehr.«
Sie hatten den Gullhaug Torg erreicht.
Karen hängte sich ihre Tasche über die andere Schulter. Sie öffnete zweimal den Mund, ohne etwas zu sagen, als wüsste sie nicht so recht, welche Worte sie wählen sollte.
»Zorn«, sagte sie endlich. »Während der Rest der Hassbewegung sich an Wut, Vorurteilen und verkorkster Religiosität mästet, gründen Organisationen wie die ›25er‹ auf heiligem Zorn. Das ist etwas anderes. Etwas viel Gefährlicheres.«
Sie blieben auf der Brücke über die Akerselv stehen und beugten sich über das Geländer. Der Wasserstand war niedrig, und an den Ufern hatten sich schöne Eisskulpturen gebildet.
»Wie … wie finanzieren diese Organisationen ihre Aktivitäten?«, fragte Inger Johanne.
»Das wechselt«, antwortete Karen. »Was die extremen Kirchengemeinden angeht, so finanzieren sie sich wie alle anderen durch Spenden. Spenden und großzügige Anhänger. Sie kosten auch nicht so viel. Was die militanteren Gruppen angeht, so sammeln auch die bei ihren Glaubensgenossen. Aber wir haben zudem allen Grund zu der Annahme, dass ein Teil der Mittel solcher Organisationen aus schwerer Kriminalität stammt.«
Sie legte eine Pause ein und musterte einen schönen dunklen Eisbogen zwischen drei Findlingen.
»Ku-Klux-Klan und Aryan Nations zum Beispiel. Der KKK richtet seinen Hass seit jeher vor allem auf Afroamerikaner, und die Götter mögen wissen, wie viele sie im Lauf der Zeit umgebracht haben. Aryan Nations dagegen baut auf einer pseudotheologischen Vorstellung auf, dass die Angelsachsen Gottes auserwähltes Volk sind, nicht die Juden. Sie hassen natürlich auch Schwarze, aber die Juden sind für sie das eigentliche Pestvirus am reinen Leib der Menschheit. Sie haben in den Gefängnissen enormen Zulauf, und das war eine bewusste Politik ihrer Anführer. Ihr Geld holen sie sich aus …«
Sie drehte sich zu Inger Johanne um und hob einen Finger der linken Hand nach dem anderen. »Betrug, Diebstahl, Drogen, Banküberfällen.« Dann hob sie auch den Daumen. »Und Mord. Mord auf Bestellung, zum Beispiel. Es gibt Leute, die so was vermitteln.«
Inger Johanne wusste ungeheuer wenig über die Branche der Auftragsmörder, deshalb schwieg sie.
»Ein Vermittler erhält eine Bestellung für einen Mord«, erklärte Karen. »Wenn das ausgesuchte Opfer zufällig schwul ist, kann man einen von denen anheuern, die meinen, dass solche Menschen sowieso sterben müssten. Wenn das Opfer schwarz ist, geht man zu einer Organisation, die …«
Sie zuckte vielsagend mit den Schultern. »Du weißt schon«, sagte sie und schniefte.
Ein Erpel hatte sich für die Nacht auf dem linken Flussufer niedergelassen. Jetzt holte er den Kopf unter dem Flügel hervor und starrte die beiden Frauen auf der Brücke an, in der Hoffnung auf trockenes Brot. Als nichts passierte, schob er den Kopf zurück und verwandelte sich wieder in einen dunklen Federball.
»Was die ›25er‹ angeht, über die wissen wir noch zu wenig«, sagte Karen. »Bisher wissen wir gerade mal so viel, um an ›The Order‹ zu denken, die in den Achtzigerjahren von Ausbrechern aus KKK und AN entstanden ist. Diese Gruppe wollte damals Revolution machen und die Regierung der USA stürzen. Darunter taten sie es nicht. Der auffälligste Unterschied zwischen ihnen und den neuen Gruppen ist die Zusammenarbeit der Religionen. Und sie sind leider nicht allein. Wir haben zum Beispiel eine weitere Ausbrechergruppe von …«
Inger Johanne legte den Arm um Karens Schultern. »Hör auf«, sagte sie traurig. »Ich ertrage einfach nicht mehr. Können wir sagen, dass es für heute Abend genug Hassgerede war? Ich möchte mehr über deine Kinder sprechen, über deinen Mann, über … deinen Bruder? Ist er noch immer so ein großer Schürzenjäger?«
»You bet! Er ist zum dritten Mal verheiratet.«
Inger Johanne schob die Hand unter Karens Arm, als sie weitergingen. »Jetzt ist es nicht mehr weit«, sagte sie und bog nach rechts ab. »Yngvar wird sich sehr über deinen Besuch freuen.«
Das stimmte. Er würde glücklich sein, egal, wie spät es war.
Wenn die Kinder, die Arbeit, das Haus und die Familie ihren Teil abbekommen hatten, war Inger Johanne meistens tod-müde. Sie und Yngvar gingen manchmal noch zu Freunden zum Essen, aber ihr grauste immer davor. Selten luden sie Gäste ein. Es war immer nett, kostete sie aber viel zu viel Kraft. Yngvar dagegen schaffte es immer, sich seinen Interessen zu widmen, sowie er eine Stunde übrig hatte. Er verbrachte viel Zeit mit Amund, seinem Enkel, der ein Säugling gewesen war, als Yngvars erwachsene Tochter und seine erste Frau bei einem furchtbaren Unfall ums Leben gekommen waren. Auch hatte er jede Menge Kumpels, mit denen er sich regelmäßig traf. In letzter Zeit sprach er sogar davon, sich wieder ein Pferd zuzulegen.
Und immer redete er auf sie ein: Geh doch aus. Lad jemanden ein. Ruf eine Freundin an, geh ins Kino. »Kristiane kann sehr gut ein paar Stunden ohne dich zurechtkommen«, sagte er häufiger, als sie es hören mochte.
Er würde entzückt sein.
Sie näherten sich dem Maridalsvei. Die Wolken trieben über den Himmel, das Rauschen der kahlen Baumkronen übertönte fast den Lärm der Autos auf dem Ringvei im Norden.
Noch drei Minuten, dann wären sie zu Hause.
Fast hatte sie Lust, Kristiane zu wecken.
Nur um sie vorzuführen.