Furcht

Vielleicht hätte er sich niemals ein Kind zulegen dürfen.

Bei dem bloßen Gedanken brannte die Magensäure in seinem Zwölffingerdarm. Er hob die Knie und legte die Hände an die Stelle, wo er in jüngeren Jahren hatte spüren können, dass die Rippen endeten und der Unterleib begann. Jetzt war alles nur weich, auch wenn er auf dem Rücken lag, ein schlaffer und viel zu großer Bauch mit einem stechenden Schmerz hinter einer Fettschicht.

Marcus Kolls ganzes Leben drehte sich um seinen Sohn.

Arbeit, Firma, Großfamilie, alles hätte ohne Cusi seinen Wert verloren. Rolf war in eine Zweisamkeit eingetreten. Sie waren dennoch bald zu einer Familie geworden, alle drei, zu einer Familie, die Marcus mit aller Kraft beschützen wollte. Aber der Junge war und blieb der eigentliche Mittelpunkt in Marcus Kolls Familienrad.

Cusi hatte sich Rolf rasch angeschlossen. Die Liebe war gegenseitig gewesen. Nach einer Weile hatte Rolf angedeutet, dass er seinen Stiefsohn eigentlich gern adoptieren würde.

Später hatte er dieses Thema nicht mehr erwähnt.

Marcus hatte niemals anderen über die Träume erzählt, die er als junger Mann gehegt hatte.

Er hatte sich Kinder gewünscht.

Er war ein starker Junge gewesen, der Kampf mit dem Vater hatte seinen Mann gefordert. Es hatte ihn überraschend wenig gekostet, zu dem zu stehen, was er war. Als Teenager hatte er stur in seinem Eigensinn wirken können, als Erwachsener wurde er klüger und geschmeidiger. Was Trotz gewesen war, wurde Zielstrebigkeit. Hochmut wurde zu Stolz. Er nahm seinem Anderssein durch Selbstironie die Spitze, und er verspürte niemals das Bedürfnis, die Schwulenszene aufzusuchen. Nicht die in Bergen, wo er studierte, und nicht die in Oslo, wo er sich nach dem Examen wieder niederließ. Im Gegenteil, er hatte es immer als Herausforderung betrachtet, die zu verführen, zu denen er sich hingezogen fühlte. Ehe er Rolf kennenlernte, hatte er ausschließlich heterosexuelle Männer erobert. Dass sie vor ihm Frauen geliebt hatten, war etwas, womit er sich in Gedanken brüstete. Dass sie nach ihm in ihr heterosexuelles Dasein zurückkehrten, machte ihn nicht ganz so stolz.

Marcus Koll jr. war für seine Zeit ein untypischer Schwuler gewesen.

Und er hatte sich ein Kind mehr gewünscht als alles andere. Der einzige Kummer, den er empfunden hatte, als er mit sechzehn oder siebzehn Jahren beschlossen hatte, sich nicht mehr zu verstellen, war, dass die Zukunft ihm keine Kinder bescheren würde. Er hatte diesen Kummer mit niemandem geteilt. Seine Mutter hatte es natürlich gesehen, so wie Mütter manchmal ihre Kinder besser durchschauen als diese sich selbst. Aber sie hatten niemals über den kleinen Hohlraum in Marcus’ Herzen gesprochen: Die Sehnsucht nach einem eigenen Kind, das er lieben könnte.

Viele Jahre hindurch war Marcus Koll dennoch ein zufriedener junger Mann gewesen.

Es ging ihm gut, und er hatte nie das Gefühl, wegen seiner Veranlagung abgelehnt zu werden. Nicht im Beruf und auch nicht unter Freunden und Kollegen. In vieler Hinsicht wurde er für die anderen zum politisch korrekten Alibi. In der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre und zu Beginn der Neunzigerjahre war es noch längst nicht üblich, offen homosexuell zu sein, und seine Anwesenheit im Leben anderer Menschen wirkte in gewisser Weise wie eine Art Aushängeschild.

Er fühlte sich so wohl in seinem Leben, dass er nicht einmal bemerkte, wie er müde wurde. Er war so beliebt, dass er nicht spürte, wie viel Kraft er aufwenden musste, um zu seinem Anderssein zu stehen. In dem durch und durch heterosexuellen Leben, das er führte, mit der kleinen Abweichung, dass er mit Männern ins Bett ging, ohne darüber zu lügen, trug seine Seele langsam immer mehr Risse davon, ohne dass er den Zusammenbruch hätte kommen sehen.

Dann bekamen seine Freunde nach und nach Kinder.

Marcus Koll wollte auch Kinder.

Er hatte immer Kinder gewollt.

Er fasste seinen Entschluss.

Als er nach Kalifornien reiste, um einen Vertrag mit einer Leihmutter und einer Eispenderin abzuschließen, hatte er gerade erst die Leitung der väterlichen Firmen übernommen. Vor ihm lag die Zukunft, er hatte Geld genug, und außerdem konnte er die vielen USA-Reisen im folgenden Jahr mit dringenden Geschäften erklären.

An einem späten Januarabend des Jahres 2001 war er einfach bei seiner Mutter aufgetaucht, mit dem Jungen in den Armen. Sie hatte alles verstanden, sowie sie die Tür öffnete, und fing an zu weinen. Behutsam nahm sie ihr neues Enkelkind, drückte es an die Brust und ging in die große Wohnung, die Söhne und Tochter ihr gekauft hatten, als sie plötzlich reich geworden waren. Sie hatte sich nicht ganz daran gewöhnt, aber als Marcus mit dem Kleinen gekommen war, setzte sie sich mitten auf das luxuriöse Sofa, auf dem noch nie jemand gesessen hatte.

Sie schmiegte die Nase an die Wange des Jungen und flüsterte fast unhörbar: »Jetzt ist Oma zu Hause, mein Junge. Endlich ist Oma zu Hause. Und du bist zu Hause bei Oma.«

»Er heißt Marcus«, hatte Marcus gesagt, und die Mutter weinte und weinte. »Nicht nach mir, sondern nach Opa.«

Die Vorstellung, Cusi zu verlieren, war unerträglich.

Vielleicht hätte er ihn niemals bekommen dürfen.

»Bist du wach?«, murmelte Rolf und drehte sich zur Wand. »Wie spät ist es?«

»Schlaf weiter«, flüsterte Marcus.

»Aber warum schläfst du nicht?«

Er drehte sich auf die Seite und legte den Kopf auf die Hand. »Du bist fast jede Nacht wach«, sagte Rolf und gähnte.

»Nicht doch. Schlaf nur.«

Das Licht der digitalen Ziffern des Weckers machte es möglich, im Zimmer überhaupt etwas zu sehen. Marcus starrte seine Hände an. Seine Haut schimmerte in der Dunkelheit grünlich. Er versuchte zu lächeln.

Die Angst war mit dem Sohn gekommen. Das Anderssein, die unbestreitbare Tatsache, dass er nicht war wie alle anderen, wurde deutlicher. Sich selbst zu beschützen sei einfach, hatte er immer geglaubt. Als der Sohn in sein Leben trat, merkte er, wie ohnmächtig er sich fühlen konnte, wenn er mit Vorurteilen konfrontiert wurde, denen er bisher den Rücken gekehrt und die er als Überreste einer verlorenen Zeit abgetan hatte. Die Welt gehe doch vorwärts, hatte er immer gedacht. Als Cusi kam, hatte Marcus ab und zu das Gefühl, die Entwicklung der Gesellschaft beschreibe stattdessen eine unvorhersehbare asymmetrische Kurve, mit der er nur schwer Schritt halten konnte. Die Freude über die Liebe zu dem Jungen war allgegenwärtig. Die Angst, ihn nicht vor Bosheit und Vorurteilen der Welt beschützen zu können, zerriss ihn. Dann war Rolf gekommen, und vieles war besser geworden. Niemals ganz gut, noch immer fühlte Marcus sich in jeder Bedeutung dieses Wortes als Gezeichneter. Rolf bedeutete trotzdem Kraft und Glück, und Cusi hatte ein phantastisches Leben. Das war das Wichtigste, und Marcus bemühte sich, seine Phasen der Ohnmacht und der Depressionen für sich zu behalten. Und die stellten sich immer seltener ein.

Bis Georg Koll, sein verstorbener verdammter Vater, ihm einen letzten Streich gespielt hatte.

»Was ist los?«, fragte Rolf, jetzt wacher.

Die Decke war halbwegs heruntergerutscht. Er war nackt und lag noch immer auf der Seite, das eine Knie vorgeschoben, das andere Bein ausgestreckt. Selbst in dem schwachen Licht waren seine Bauchmuskeln deutlich zu sehen.

»Nichts.«

»Natürlich ist irgendwas.«

Die Decke raschelte, als er sie ungeduldig wieder über seinen athletischen Körper zog. »Kannst du es mir nicht sagen? Du bist in letzter Zeit wirklich nicht du selbst. Wenn es etwas mit der Arbeit ist, etwas, worüber du nicht sprechen kannst, dann sag das wenigstens. So geht es doch nicht, dass …«

»Es ist wirklich nichts«, sagte Marcus und drehte sich auf die Seite. »Lass uns weiterschlafen.«

Er wusste, dass Rolf so liegen blieb, wie er eben gelegen hatte, und spürte den brennenden Blick im Rücken.

Er hätte mit Rolf reden müssen, sowie das Problem aufgetaucht war. Jetzt, so viele Monate und Sorgen später, wurde ihm klar, dass er nicht einmal an die Möglichkeit gedacht hatte, das alles mit seinem Mann zu teilen. Das schockierte ihn, Rolf war einer der klügsten Menschen, die er kannte. Rolf hätte einen Ausweg gefunden. Rolf hätte die Lage ruhig analysiert und sich dann an eine Lösung herandiskutiert. Rolf war von lichtem Gemüt, optimistisch und mit einem unerschütterlichen Glauben daran, dass alles, noch die finsterste Tragödie, etwas Gutes hatte. Wenn man sich nur die Zeit nahm, dieses Gute zu suchen.

Natürlich hätte er mit Rolf sprechen müssen.

Das hätte er als Allererstes tun müssen.

Zusammen hätten sie alles schaffen können.

Noch immer lag Rolf ganz still da. Marcus starrte den Wecker an. Er blinzelte, als die Ziffern von 03.07 auf 03.08 umsprangen. Plötzlich schnappte er nach Luft und suchte nach Worten, die die schmerzhafte Geschichte tragen könnten.

Ehe er sie gefunden hatte, drehte Rolf sich um.

Sie kehrten einander den Rücken zu.

Nur Minuten später war Rolfs Atem wieder gleichmäßig und tief.

Plötzlich begriff Marcus, warum es zu spät war, Rolf etwas zu sagen: Er würde ihm niemals verzeihen.

Niemals.

Wenn er sich seinem Liebsten anvertraute, wäre das Leben, wie Marcus es kannte und liebte, zu Ende. Er würde nicht nur Rolf verlieren, er würde auch Cusi verlieren. Die Furcht durchjagte ihn, und er blieb schlaflos liegen, bis die Ziffern endlich von 06.59 auf 07.00 umsprangen.

Als Inger Johanne aus dem Schlaf hochfuhr, war sie in Schweiß gebadet. Die Bettwäsche klebte ihr am Leib. Sie versuchte, aus dieser feuchten Umklammerung loszukommen, wickelte aber ihre Füße in die Öffnung des Bettbezugs. Sie fühlte sich gefangen und strampelte verzweifelt. Der Bettbezug zerriss. Endlich konnte sie sich befreien. Sie versuchte sich zu erinnern, was das für ein Albtraum gewesen sein konnte.

Ihr Gehirn war einfach leer.

Ihre Hände zitterten, als sie nach dem Glas Wasser auf dem Nachttisch griff und es leerte. Als sie das Glas zurückstellen wollte, rollte es zu Boden. Sie kniff verärgert die Lider zusammen, dann fiel ihr ein, dass Kristiane bei Isak war. Ragnhild erwachte nie um diese Zeit.

Sie atmete noch immer schwer, als sie sich auf die Kissen zurücksinken ließ und versuchte, sich zu entspannen.

Sie hatte am Vorabend über zwanzig Minuten mit Yngvar telefoniert, hatte aber ihr Gespräch mit Kristiane nicht erwähnt. Sie hatte auch Isak nichts gesagt, als er nach der Schulzeit ziemlich gereizt bei ihr aufgetaucht war. Sie hatte vergessen, ihm mitzuteilen, dass sie allen Plänen und Abmachungen zum Trotz Kristiane geholt hatte. Als er mit düsterem Blick die Treppe hochgekommen war, hatte sie nur gesagt, sie habe sich freinehmen können und die seltene Möglichkeit genutzt, mit Kristiane allein zu sein.

Dass sie vergessen hatte, ihm Bescheid zu sagen, tue ihr natürlich leid.

Wie üblich nahm Isak alles hin, und als er mit seiner Tochter nach Hause fuhr, war er längst besänftigt.

Kristiane hatte in Verbindung mit dem Mord an Marianne Kleive irgendetwas beobachtet. Das stand immerhin fest. Auf jeden Fall musste sie die Tote am Mordabend gesehen haben. Trotzdem hatte Inger Johanne nicht gewusst, was sie Isak und Yngvar berichten sollte. Ihre Tochter hatte nicht direkt gesagt, was geschehen war. Entscheidend waren Kristianes Körpersprache und ihre Miene gewesen, ihre Wortwahl und ihr Tonfall.

In solchen Momenten lachte Isak über sie, und Yngvar versuchte zu verbergen, wie sehr sie ihm auf die Nerven ging.

Wenn einer oder beide ihr wider Erwarten glaubten, würde Yngvar jedenfalls darauf bestehen, sofort die Polizei zu verständigen. Isak vermutlich ebenfalls. Er war in vieler Hinsicht ein guter Vater, hatte aber nie begriffen, wie unendlich verletzlich Kristiane war.

Wenn die Kleine etwas nicht ertragen konnte, dann, dass fremde Menschen in ihre Sphäre eindrangen und sie nach etwas ausfragten, was sie auf ihre Weise offenbar eingekapselt hatte. Einen Mord aufzuklären war natürlich wichtig, aber Kristiane war wichtiger.

Inger Johanne musste allein eine Lösung finden.

Ihr Puls hatte sich jetzt beruhigt. Sie fror und beschloss, das Bett neu zu beziehen. Sie holte frische Bettwäsche, und mit geübten Händen stellte sie in wenigen Minuten ein kühles, frisches Bett her. Yngvars Seite hatte sie nicht neu bezogen. Es sah seltsam aus, mit den unterschiedlich gemusterten Bettbezügen, aber das hatte Zeit bis zum nächsten Tag.

Sie legte sich wieder hin und schloss die Augen.

Aber sie war hellwach. Versuchte, an etwas anderes zu denken.

Kristiane hatte etwas Entsetzliches gesehen. Ein Verbrechen oder dessen Folgen.

Jemand behielt Kristiane im Auge.

Wieder warf sie sich herum. Ihr Puls wurde schneller.

Sie konnte um diese Tageszeit niemanden anrufen, und Kristiane war doch bei Isak in Sicherheit. Auf irgendeine Weise musste Inger Johanne die Nacht überleben.

Am Morgen könnte sie dann mit Yngvar reden.

Sie würde ihn bitten, nach Hause zu kommen. Sie würde nicht sagen müssen, warum, er würde ihrer Stimme anhören, dass es lebenswichtig war. Yngvar würde aus Bergen nach Hause kommen, und sie würde ihm alles erzählen.

Sie könnte ihm nichts erzählen.

Wenn er glaubte, dass sie recht hatte, würde das Kristiane zerstören.

Damit könnte sie nicht leben. Sie packte Yngvars Kissen, legte es sich über den Bauch und klammerte sich daran wie an eins der Kinder.

Sie könnte aufstehen und arbeiten.

Nein.

Auf dem Nachttisch lagen drei Bücher. Sie nahm eins, blätterte zu einem Eselsohr weiter und fing an zu lesen. Die Straße von Cormac McCarthy konnte sie durchaus nicht beruhigen. Nach drei Seiten legte sie das Buch weg.

Ihr Gehirn lief auf Hochtouren und ihr war schlecht.

Yngvar wünschte sich schon lange einen Fernseher im Schlafzimmer. Jetzt bereute sie, nicht nachgegeben zu haben. Zwar hätte sie sich nicht auf irgendetwas konzentrieren können, aber sie hätte wenigstens Stimmen gehört. Für einen wilden Moment fühlte sie sich versucht, Ragnhild zu wecken. Stattdessen schaltete sie den Radiowecker ein. Er war auf NRK P2 eingestellt, und klassische Musik füllte das Zimmer, Musik, so traurig wie McCarthys postapokalyptischer Roman. Sie drehte am Knopf herum, bis sie bei der Frequenz eines Lokalradios gelandet war, das die ganze Nacht aktuellen Pop brachte.

Die Zeitung Dagens Næringsliv war auf den Boden gefallen.

Sie beugte sich aus dem Bett und hob die Zeitung auf. Es war die Ausgabe des Tages, sie hatte sie noch nicht gelesen. Es gab auch nicht viel zu lesen, es ging fast nur um die Finanzkrise. Bisher hatte sie sich vom Zusammenbruch der weltweiten Finanzmärkte nicht betroffen gefühlt, auch wenn sie das nur ungern zugab. Sie und Yngvar waren Staatsangestellte, sie würden ihre Stellen nicht verlieren, und die Zinsen befanden sich im freien Fall. Sie hatten sich schon lange nicht mehr so viel leisten können.

Sie fing auf der letzten Seite an, das machte sie immer so.

Der Hauptartikel nach den Börsennotierungen handelte von dem toten Installationskünstler Niclas Winter. Inger Johanne hatte mehrere seiner Werke gesehen, und vor allem hatte Vanity Fair, reconstruction sie beeindruckt, als die ganze Familie eines Sonntags in die Stadt gefahren war und eine Stunde bei Niclas Winters drei Installationen am Rådhuskai verbracht hatte. Kristiane war zutiefst fasziniert gewesen. Ragnhild hatte sich mehr für Möwen und Springbrunnen interessiert, Yngvar hatte den Kopf darüber geschüttelt, was heutzutage alles als Kunst durchging.

Der Mann hinterließ keine leiblichen Erben, wie sich herausgestellt hatte.

Mutter und Großeltern waren tot. Er hatte keine Geschwister, und auch die Mutter war ein Einzelkind gewesen. Es gab ganz einfach keinen Menschen, der das kleine Vermögen erben würde, das Niclas Winter, ohne es zu wissen, hinterlassen hatte. Neben dem vollendeten I was thinking of something blue and maybe grey, darling hatten sich im Atelier des verstorbenen Künstlers noch viele weitere Installationen gefunden.

Kunstkenner äußerten sich in predigtartigen Wendungen über CockPitt, eine homoerotische Huldigung an Angelina Jolies Gatten. Angeblich war für dieses Werk schon ein anonymes Gebot von vier Millionen eingelaufen. Die Quellen von DN glaubten zu wissen, dass der Schauspieler selbst es kaufen wolle.

Trotz der Finanzkrise saß das Geld für Niclas Winters Kunst jetzt, da er tot war, locker. StatoilHydro hatte die abbestellte Skulptur wiederhaben wollen und erst Ruhe gegeben, als der Nachlassverwalter die Absage gefunden hatte. Seine vorläufige Schätzung des Wertes der Skulpturen lag bei 15 bis 20 Millionen. Vielleicht auch mehr. Im Artikel wurde auf ironische Weise darauf hingewiesen, dass Niclas von armseligen Darlehen und dem Wohlwollen der Mäzene gelebt hatte und dass er erst im Tod zum wohlhabenden Mann geworden war. Ein Schicksal, das Künstlern ja nicht unbekannt sei, wie der Geschäftsmann und Kunstsammler Christen Sveaas betonte, dessen umfangreiche Sammlung in Kistefos zwei kleinere Installationen von Niclas Winter beinhaltete. Zufrieden konnte er jetzt eine radikale Wertsteigerung feststellen.

In einem weiteren Artikel hieß es, Niclas habe offenbar seine Dämonen gehabt. Er war HIV-positiv, hatte den Ausbruch der Krankheit aber mit Medikamenten in Schach halten können. Dreimal hatte er sich Entziehungskuren unterziehen müssen. Der letzte Aufenthalt, vier Jahre zuvor, war ein Erfolg gewesen. Seine besten Werke waren seither entstanden, und zwei seiner Mitarbeiter äußerten großes Erstaunen darüber, dass Niclas offenbar wieder beim Heroin gelandet war. Er hatte vor dem internationalen Durchbruch gestanden und vor allem in den letzten Wochen vor seinem Tod zufrieden gewirkt, fast glücklich. Da die früheren Rückfälle Reaktionen auf künstlerische Misserfolge waren, war nur schwer zu begreifen, warum er sich jetzt wieder auf Drogen verlegt haben sollte.

Inger Johanne spürte, dass sie ruhiger atmete und jetzt sogar müde wurde. Über das Unglück anderer zu lesen, konnte das eigene in eine andere Perspektive rücken. Sie ließ die Zeitung auf die Decke sinken, und die Augen fielen ihr zu.

Kristiane kann nichts passieren, dachte sie, und endlich stellte der Schlaf sich ein.

Kristiane kann bei Isak nichts passieren, und morgen rede ich mit Yngvar. Mit uns allen wird alles gut gehen.

Als sie vier Stunden später aufwachte, lag die Zeitung noch immer vor ihr auf der Decke, aufgeschlagen bei dem Artikel über den toten Installationskünstler Niclas Winter.

»Hast du diesen Artikel gelesen?«

Der Anwalt Kristen Faber schaute unwillig von seinen Unterlagen auf und nahm die Zeitung, die seine Sekretärin ihm hinhielt. »Worum geht es denn?«, murmelte er und versuchte, den Rest seines Kopenhageners zu verzehren, ohne zu krümeln.

Eine feine Schicht Blätterteig rieselte auf sein Hemd, und er beugte sich vor, um alles wegzuwischen, ohne Flecken zu hinterlassen.

»Ist das nicht die Zeitung von gestern?«

»Doch«, sagte die Sekretärin. »Ich nehme sie nach der Arbeit immer mit nach Hause, und da habe ich das hier gefunden. Kein Wunder, dass dein Mandant nicht aufgetaucht ist. Er ist tot.«

»Wer?«

Er hielt die Zeitung mit einer Hand vor sein Gesicht. »Ach«, sagte er mit vollem Mund. »Der also, meine Güte. War der nicht noch ziemlich jung?«

»Wenn du den Artikel liest«, sagte die Sekretärin mit nachsichtigem Lächeln, »dann …«

»Ich lese nie, was hinten in der Zeitung steht. Niclas Winter. Ja. Aha. Überdosis, offenbar. Armer Teufel. Sieht aus wie …«

Jetzt kaute er nicht mehr. »Verflixt. Der war doch bekannt. Nur ich hatte nie von dem Typen gehört. Ich meine, für mich war er nur ein angehender Mandant.«

Als er die Zeitung vor sich auf den Tisch legte, holte seine Sekretärin Kehrblech und Handfeger. Er las weiter, während sie um ihn herum den Boden säuberte, und als er fertig war, kam sie schon mit einer Thermoskanne voll frisch aufgebrühtem Kaffee zurück.

»Dein Frühstück ist nicht unbedingt gesund«, sagte sie freundlich und füllte seine Tasse. »Du müsstest essen, ehe du von zu Hause weggehst. Graubrot oder Müsli. Keine Kopenhagener, meine Güte. Wann hast du zum Beispiel zuletzt ein Glas Milch getrunken?«

»Wenn ich hier eine Mutter bräuchte, würde ich meine eigene einstellen. Wo stecken die verdammten Unterlagen?«

Er blätterte den Stapel der aktuellen Fälle durch. Er war sicher, den braunen versiegelten Umschlag auf dem Haufen auf der linken Schreibtischseite abgelegt zu haben, ehe er nach Hause gefahren war, um nach der anstrengenden Rückreise von Barbados zu duschen. Jetzt war der Umschlag nirgendwo zu sehen.

»Verdammt. Ich muss in einer Viertelstunde im Gericht sein. Kannst du nicht versuchen, die Unterlagen über diesen Typen zu finden? Die liegen in einem versiegelten Umschlag. Darauf steht einfach nur ›gehört Niclas Winter‹ und ein Geburtsdatum.«

Er stand auf, warf das Sakko über und griff auf dem Weg zur Tür zur Aktentasche. »Und Vera! Nicht aufmachen! Die Freude will ich mir nicht nehmen lassen!«

Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss, und wieder war es ganz still in der Kanzlei von Rechtsanwalt Kristen Faber.

Astrid Tomte Lysgaard wusste nicht so recht, ob es ihr gefiel, dass das Haus so still wurde, wenn Lukas zur Arbeit fuhr und die Kinder in Kindergarten und Schule abgeliefert waren. Keine ihrer Freundinnen war nur Hausfrau, abgesehen von dem obligatorischen Jahr nach der Geburt, aber sie hatte den Eindruck, dass die meisten sie um die Ruhe beneideten, die, wie sie glaubten, sich jeden Tag zwischen halb neun und Viertel nach vier über das Haus senkte.

Lange hatte sie das auch so empfunden.

Die tägliche Hausarbeit beanspruchte selten mehr als drei Stunden, oft war sie noch schneller erledigt. Obwohl sie die Kinder brachte und abholte und alle Einkäufe für die Familie tätigte, blieb viel Zeit übrig. Sie las. Sie ging gern spazieren. Zweimal pro Woche ging sie ins Fitnesscenter. Ganz selten verspürte sie einen Anflug von Langeweile. Dass alle Arbeit getan war und das Essen auf dem Tisch stand, wenn Lukas nach Hause kam, ließ die Nachmittage ruhig werden. Das Zusammensein angenehmer. Das Familienleben besser. Sie konnten ihre Zeit den Kindern widmen, und Lukas zeigte ihr jeden Tag, wie dankbar er war, dass sie sich für dieses Leben entschieden hatte.

Seit dem Tod der Schwiegermutter war alles anders.

Lukas trauerte auf eine Weise, die Astrid Angst machte.

Er schien so weit weg zu sein.

Er sagte wenig und konnte sogar zu den Kindern abweisend sein. Normalerweise setzte er sich mit dem Ältesten an die Schulaufgaben, aber jetzt schaffte er es offenbar nicht einmal, sich auf den Stoff für die zweite Klasse zu konzentrieren. Stattdessen mistete er die Garage aus, er wollte an einer Querwand neue Regale bauen. Es musste eiskalt sein, den ganzen Abend dort draußen zu stehen, und wenn er dann endlich ins Haus kam, aß er schweigend zu Abend und schlief ein, ohne sie anzurühren.

Das Haus war so still, und das gefiel ihr nicht.

Sie stellte das Bügeleisen hochkant hin und ging zur Fensterbank, um das Radio einzuschalten. Noch ein trostloser Tag presste sich gegen die nassen Fensterscheiben. Jetzt musste es doch bald zu regnen aufhören. Der Januar war immer ein schrecklich trauriger Monat, doch dieser war schlimmer als sonst. Der Tiefdruck beeinflusste sie auch physisch, seit Tagen schon wurde sie von leichten Kopfschmerzen gequält.

Jetzt waren sie schlimmer geworden. Stechender Schmerz hinter den Schläfen, den sie mit den Fingerspitzen wegzumassieren versuchte. Das half nichts. Sie wollte ins Badezimmer gehen und sich zwei Paracet holen, ehe sie weiterbügelte.

In dem verschließbaren Medizinschränkchen gab es nichts Schmerzstillendes. Verzweifelt wühlte sie zwischen Asterixpflastern und Flux, Jod und Mundwasser. Nichts gegen Schmerzen, abgesehen von Zäpfchen mit Kinderdosierung.

Die Kopfschmerzen schienen sofort schlimmer zu werden, als sie keine Medizin fand.

Lukas’ Migränepillen, dachte sie.

Die würden helfen.

Das Problem war, dass die nicht im Medizinschränkchen lagen. Lukas fand das Schloss zu einfach, und die starken Medikamente könnten für einen neugierigen und geschickten Achtjährigen gefährlich sein. Er hatte seine Medizin deshalb in einer Schublade in dem riesigen Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen. Astrid wusste, dass der Schlüssel hinter einer Erstausgabe von In achtzig Tagen um die Welt lag. Lukas hatte das Buch von seinen Eltern zum zwanzigsten Geburtstag bekommen.

Sie hatte die Schublade noch nie geöffnet und zögerte, ehe sie den Schlüssel ins Schloss steckte.

Sie hatten keine Geheimnisse voreinander, Lukas und sie.

Vielleicht sollte sie anrufen und fragen.

Er ist mein Mann, dachte sie verärgert, und sie brauchte doch nur eine Pille. Lukas hatte ihr nie verboten, die Schublade zu öffnen. Nie wären sie auf die Idee gekommen, sich gegenseitig solche Verbote aufzuerlegen.

Mit einem leisen Klicken sprang das Schloss auf. Sie zog die Schublade heraus und starrte ein Foto an. Eine Frau, es musste ein altes Bild sein. Zuerst blieb sie stehen und sah das Bild nur an, dann nahm sie es vorsichtig hoch und hielt es in das stärkere Licht der Schreibtischlampe.

Das Gesicht kam ihr bekannt vor. Nur konnte sie es nicht richtig unterbringen. Die Gesichtsform und die gerade Nase konnten durchaus an Lukas erinnern, aber das musste ein Zufall sein. Die Frau auf dem Bild hatte zudem diese witzige Zahnstellung, ein Vorderzahn schob sich ein wenig vor den anderen, aber das hatten viele. Lill Lindfors, zum Beispiel, hatte sie immer gesagt, als sie blutjung gewesen waren und sie in alles an ihm verliebt war.

Obwohl sie keine Ahnung hatte, wer die Frau auf dem Foto war, hatte sie das seltsame Gefühl, das Bild schon einmal gesehen zu haben. Sie konnte sich nur nicht erinnern, wo. Während sie die Frau noch anstarrte, merkte sie, dass ihre Kopfschmerzen verflogen waren. Rasch legte sie das Bild zurück, schob die Schublade zu, schloss ab und legte den Schlüssel zurück in sein Versteck.

Als sie Lukas’ Arbeitszimmer verließ, zog sie vorsichtig die Tür hinter sich zu, als hätte sie im Grunde doch etwas Unerlaubtes getan.

Der trostlose Stapel von unaufgeklärten Verbrechen in Silje Sørensens Büro verdarb ihr die Laune. Auf ihrem überfüllten Schreibtisch war kaum Platz für eine Kaffeetasse, auch wenn alles sorgfältig in Ordner sortiert war. Sie setzte sich in den Schreibtischsessel, schob eine Sammlung von Zeitungsausschnitten zur Seite und stellte die Tasse ab, ehe sie alles ein weiteres Mal durchging.

Sie musste ihre Prioritäten neu setzen.

Die Fälle stauten sich auf.

Die mehr oder weniger legalen Aktionen und Proteste der Polizeigewerkschaft gegen schlechte Arbeitsbedingungen, niedrigen Lohn, zu wenige Stellen und bedrohte Pensionsordnungen hatten den Tonfall zwischen Staat und Polizei im vergangenen Jahr verschärft. Die Polizei war nicht mehr bereit, Überstunden zu machen. Also dauerte alles länger. Die über 11 000 Gewerkschaftsmitglieder waren selbstbewusster geworden. Obwohl die Zahlen noch nicht vorlagen, sah es schon im Januar so aus, als wäre der Prozentsatz an aufgeklärten Fällen im Vergleich zum Vorjahr drastisch gesunken. Die Bediensteten pochten auf das Recht auf Freizeit und wurden häufiger krank. Oft bemerkenswert gleichzeitig, und oft vor Wochenenden, an denen mit besonderen Herausforderungen an den Arm des Gesetzes zu rechnen war.

Insgesamt war das Leben der Verbrecher leichter geworden.

Die Öffentlichkeit fühlte sich immer weniger sicher. Die Polizei, die noch nie als besonders vertrauenswürdig gegolten hatte, verlor bei der Bevölkerung weiter an Sympathie. Die Zeitungen berichteten immer häufiger von Verbrechensopfern, die keine Anzeige erstatten konnten, weil die lokale Wache nicht besetzt oder über das Wochenende geschlossen war, und Opfer von Einbrüchen mussten tagelang darauf warten, dass die Polizei kam und mögliche Spuren sicherte. Wenn sich überhaupt jemand blicken ließ.

Silje Sørensen war Gewerkschaftsmitglied, hatte aber längst aufgehört, über ihre Überstunden Buch zu führen. Ihr einziger Maßstab waren die Reaktionen zu Hause. Wenn die Söhne besonders unerträglich waren und ihr Mann einsilbig wurde, versuchte sie, mehr zu Hause zu sein. Ansonsten schlich sie sich möglichst oft außerhalb der regulären Arbeitszeit ins Büro.

Als einziges Kind eines Reeders war sie durchaus nicht für eine Laufbahn bei der Polizei ausersehen gewesen. Ihre Mutter war in einen Zustand aus Schock und Hysterie versunken, als sie von der Berufswahl ihrer Tochter erfahren hatte. Dieser Zustand hatte während des ersten Ausbildungsjahrs angehalten. Die Eltern hatten ein Vermögen für Internate in der Schweiz und in England ausgegeben, und jetzt wollte die Tochter ihre Zukunft im öffentlichen Dienst vergeuden. Und wenn sie sich schon durch den Umgang mit Gewaltverbrechern und Schlimmerem besudeln wollte, konnte sie dann nicht Anwältin werden? Oder wenigstens Polizeijuristin?

Aber auf genau diese Reaktion hatte Silje es angelegt.

Ihr Vater strahlte und küsste sie auf die Stirn, als sie erzählte, dass sie an der Polizeihochschule angenommen worden war.

Silje Sørensen hatte als Kind und Jugendliche niemals aufbegehrt. Auch nicht, als sie mit zehn Jahren ins Ausland geschickt wurde und ihre Eltern nur noch in den Ferien sah. Nicht als sie in dem Sommer, in dem sie fünfzehn wurde, zwei Monate an einer französischen Sprachenschule in der Schweiz zubringen musste, wo der Unterricht um halb sieben begann und die Ordensschwestern durchaus auch zu Strafmaßnahmen griffen, die von der Genfer Konvention verboten waren. Silje wehrte sich nicht einmal, als ihr Vater beschloss, dass sie fünf Schuljahre in zweieinhalb pressen sollte, sie hatte ihren Bachelor in Englisch, ehe sie neunzehn wurde. Inzwischen war sie volljährig, und zum Lohn für ihre stumme Geduld und ihren extremen Fleiß hatte ihr Vater seiner einzigen Tochter mehr als sein halbes Vermögen überschrieben.

Die Polizeihochschule wurde zu Silje Sørensens erster zielgerichteter Protestaktion.

Als sie in ihrem ersten Arbeitsjahr der legendären Hanne Wilhelmsen unterstellt wurde, erkannte sie sehr bald, dass ihre trotzige, aufrührerische Berufswahl ihr Glück bedeuten würde. Sie fühlte sich wohl. Fast alles, was sie über polizeiliche Arbeit wusste, hatte sie von ihrer verschlossenen Mentorin gelernt. Obwohl Hanne Wilhelmsen durch ihren eigenwilligen Stil immer unpopulärer wurde, hörte Silje niemals auf, sie zu bewundern. Als Hauptkommissarin Wilhelmsen bei einem dramatischen Einsatz in Nordmarka angeschossen wurde und danach querschnittsgelähmt war, trauerte Silje wie um eine Schwester. Dass Hanne den wenigen Freunden den Rücken kehrte, die in dem großen, heruntergekommenen Polizeigebäude auf Grønlandsleiret zu ihr hielten, hatte Silje nie verwinden können.

Silje Sørensen war stolz auf ihren Beruf, aber verzweifelt über die Bedingungen, unter denen sie ihn ausüben musste.

Sie beschloss, die Fälle nach ihrem Gewicht zu sortieren, Messerstechereien und Kneipenschlägereien ohne lebensgefährliche Verletzungen legte sie auf einen Stapel für sich.

Ihr kommt vermutlich ungeschoren davon, dachte sie resigniert und versuchte zu vergessen, dass sie es bei mehreren dieser Fälle mit bekannten Tätern zu tun hatten. Die Einstellung der Ermittlungen würde die Opfer gewaltig provozieren. So war es nun aber gekommen, und im Hinblick auf alle Richtlinien, die Generalstaatsanwaltschaft und Polizeileitung erlassen hatten, war es verständlich, wenn sie die schwerwiegenden Fälle vor den minder schwerwiegenden an die Reihe kommen ließ. Die Öffentlichkeit konnte die polizeiliche Definition von schwerwiegenden Vergehen vielleicht nicht verstehen, aber da konnte man nichts machen.

Nach einer knappen Stunde hatte sie die Fälle auf fünf Stapel verteilt.

Silje trank den letzen Rest lauwarmen Kaffee, dann nahm sie drei Stapel und legte sie hinter sich in den Schrank.

Blieben zwei.

Der kleinere bestand aus Mordfällen. Drei Ordner. Der erste ziemlich dünn, der zwei fast ebenso dünn. Der dritte so dick, dass sie ihn mit zwei Gummibändern zusammenhalten musste.

Sie sprang auf und lief zur Pinnwand, die dem Schreibtisch gegenüber angebracht war. Sie überflog alle Zettel, die dort hingen, dann legte sie einen auf den Schreibtisch und warf die anderen in den riesigen Papierkorb. Aus dem Schrank nahm sie drei A4-Bögen. Oben an der Pinnwand war gerade Platz für alle drei nebeneinander.

»Runar Hansen«, schrieb sie mit rotem Filzstift auf den ersten Bogen.

19. 11. 08.

Auf den nächsten schrieb sie »Hawre Ghani«.

24. 11. 08.

Sie nagte am Stift und überlegte, ehe sie ein Fragezeichen hinzufügte.

24. 11. 08?

Noch war es nicht möglich, Hawre Ghanis Todeszeitpunkt genau zu bestimmen, aber dass er ermordet worden war, stand fest. Die Rechtsmedizin hatte klare Beweise dafür gefunden, dass er erwürgt worden war, trotz des kläglichen Zustands der Leiche. Dass der Junge sich selbst an einem Stahldraht aufgehängt haben sollte, bis sein Kopf sich fast vom Rumpf gelöst hatte, um sich danach ins Meer fallen zu lassen, war wenig wahrscheinlich. Die Rechtsmedizin hatte den Todeszeitpunkt nur angedeutet, aber die bisherigen Ermittlungen ließen nicht annehmen, dass der Junge noch am Leben gewesen war, nachdem er zuletzt am Montag, dem 24. November, vor dem Osloer Hauptbahnhof zusammen mit einem Freier gesehen worden war. Natürlich waren alle Überwachungskameras überprüft worden. Ohne Ergebnis. Das stimmte mit der Aussage des Straßenjungen Martin Setre überein. Der Typ hatte sie gleich vor dem Ausgang aufgelesen.

Cleverer Teufel, dachte Silje und seufzte resigniert.

»Marianne Kleive«, schrieb sie auf den letzten Bogen.

19. 12. 08.

Sie steckte die Kappe auf den Filzstift und trat zwei Schritte zurück. Dabei stieß sie gegen die Kante des Schreibtischs und setzte sich darauf.

Drei Morde. Keiner davon aufgeklärt.

Runar Hansen war ihr schlechtes Gewissen. Sie mochte den dünnen Ordner nicht einmal ansehen. Stattdessen starrte sie den Namen an, den nichtssagenden Namen eines Junkies, der im Sofienbergpark niedergeschlagen und ausgeraubt worden war, ohne dass irgendwer sich darum gekümmert hätte. Alles, was Runar Hansen bekommen hatte, waren eine kurze Untersuchung des Tatorts in den Stunden, nachdem er gefunden worden war, ein kurzer Obduktionsbericht und eine Notiz in Aftenposten. Sowie zwei Vernehmungen von Zeugen, die nur berichten konnten, dass Runar Hansen keinen festen Wohnsitz, keine feste Arbeit, dafür aber eine Schwester namens Trude gehabt hatte.

Bei den Ermittlungen im Mord an Hawre Ghani war immerhin etwas passiert. Ein Phantombild war intern im Umlauf. Sie waren zu dem Schluss gekommen, dass es noch zu früh wäre, die Skizze zu veröffentlichen. Aller Erfahrung nach würde das zu einem Strom von Anrufen führen. Der Mann sah so durchschnittlich aus, dass sie in Hinweisen ertrinken würden. Knut Bork befasste sich weiter mit der Prostitutionsszene. Silje selbst wollte das Leben des Jungen seit seinem Eintreffen in Norwegen noch einmal durchgehen, um sich möglicherweise ein klareres Bild von Hawre Ghanis unglücklichem Schicksal machen zu können.

Der Falle Marianne Kleive lief auf Hochtouren.

Der Mord an der zweiundvierzig Jahre alten Vorschullehrerin hatte alles, was eine gute Mediengeschichte braucht. Die privaten Bilder, die Verdens Gang sich gekrallt hatte, zwei Stunden nachdem die Nachricht vom Leichenfund veröffentlicht worden war, zeigten eine selten schöne Frau. Wogende blonde Haare, eine schlanke, athletische Gestalt mit langen Beinen. Genau die Sorte Lesbe, wie die Medien sie liebten. Sie hat etwas von der Handball-Nationalspielerin Gro Hammerseng, dachte Silje, als sie unter dem Namen ein Foto befestigte, das sie aus der Zeitung herausgerissen hatte. Und die Ehefrau Synnøve Hessel war zwar nicht gerade berühmt, nahm aber in der norwegischen Filmszene eine so bedeutende Position ein, dass die Zeitungen zu der verkaufsfördernden Phrase »die bekannte und preisgekrönte« greifen konnten, wenn von der trauernden Witwe des Opfers die Rede war. Sie machte sich auf den Bildern übrigens auch sehr gut, sogar mit Daunenjacke und verfilzten Haaren auf 5208 Metern Höhe im North Base Camp in Nepal.

Hilfreich war auch, dass der Mord im ehrwürdigen Hotel Continental verübt worden war. Zwei Tage nach dem Fund widmete Verdens Gang eine Doppelseite dem Besuch bei einem Mann namens Fritjof Hansen, Faktotum im Hotel. Er hatte die Leiche gefunden, und aufgrund seiner enthusiastischen Vorliebe für die Fernsehserie CSI hatte er alle anderen vom Tatort ferngehalten, bis die Polizei zur Spurensicherung eingetroffen war. Auf dem Bild saß er mit einer Halbliterdose Bier und einer kleinen Tüte Kartoffelchips in einem Sessel und sah aus, als ob das Leid der ganzen Welt auf seinen Schultern ruhte.

Ab und zu wünschte Silje Sørensen, es gäbe keine Massenmedien. Ab und zu wünschte sie die Pressefreiheit zum Teufel.

Sie griff nach der Kaffeetasse.

Diese war leer.

Sie runzelte die Stirn und ließ ihren Blick von einem Namen zum anderen wandern. Sie nahm den Filzstift, ohne den Blick von der Tafel zu lösen. Sie entfernte die Kappe mit den Zähnen und schrieb unter Runar Hansens Namen und Todesdatum »SOFIENBERGPARK«. Unter Hawres Namen schrieb sie »STRICHER« und unter das Bild von Marianne Kleive in Bikinioberteil, Jeansshorts und Bergstiefeln bei Sonnenschein auf Gaustatoppen schrieb sie »PARTNERSCHAFT«.

Als sie ihren Hintern dann wieder auf den Schreibtisch schob, wurde an die Tür geklopft.

Sie nahm die Kappe aus dem Mund und rief: »Herein!«

Knut Bork gehorchte. »Hallo«, sagte er atemlos. »Ich wollte nur …«

»Komm her«, sagte Silje Sørensen. »Stell dich neben mich.«

Kommissar Bork zuckte mit den Schultern und gehorchte wieder. »Was machst du? Was ist das?«

Er nickte zur Pinnwand hinüber.

»Das sind die drei Mordfälle, für die ich im Moment verantwortlich bin.«

»Drei sind zu viel.«

»Ich hatte vier. Hab einen weitergereicht. Siehst du daran etwas Auffälliges?«

»Auffälliges? Dann muss ich erst noch mal in die Unterlagen schauen und …«

»Nein. Du kennst die Fälle, Knut. Sieh dir einfach mal an, was da an der Pinnwand hängt.«

Er runzelte die Stirn, sagte aber nichts.

»Sieh dir an, was ich unter die Namen geschrieben habe.«

»Sofienbergpark«, las er. »Stricher. Partnerschaft.«

Noch immer konnte er da keinen Zusammenhang erkennen.

»Weshalb ist der Sofienbergpark bekannt?«, sagte sie.

»Tja … doch! Die Krankenwagenfahrer, die …«

»Nein. Doch, das auch, wofür noch? Und ich rede jetzt nicht von dem Teil des Parks, der westlich der Sofienbergkirche liegt, sondern von dem dahinter. Dem östlichen.«

»Homosex«, sagte er sofort. »An- und Verkauf und Tauschhandel. Ich würde da im Dunkeln nicht unbedingt hingehen.«

»Genau«, sagte Silje und lächelte müde. »Und da wurde Runar Hansen gefunden. Er wurde an einem kalten, regnerischen Novemberabend zwischen Mitternacht und halb eins gefunden. Das ist so ungefähr das Einzige, was wir in diesem Fall unternommen haben. Festzustellen, wann er umgebracht worden ist, meine ich.«

»War er schwul?«

»Keine Ahnung. Aber egal: Denk an den Ruf der Gegend. Verstehst du dann, worauf ich hinauswill?«

Er kniff verdutzt die Lider zusammen, als er begriff. »Verflixt«, sagte er und fuhr sich mit der Hand über die blonden Bartstoppeln. »Komisch, dass der LLS noch nicht aufgeheult hat.«

Der Landesverband für Lesben und Schwule bedrängte das Justizministerium schon lange, Gewalt gegen Homosexuelle ernster zu nehmen. Das Problem, hatte Silje Sørensen immer gedacht, war, dass die Übergriffe auf Homosexuelle sich nicht sonderlich von anderen Übergriffen unterschieden, die im Suff geschahen. Auf Frauen. Auf Männer. Auf Heterosexuelle. Auf Homosexuelle. Die Leute tranken. Wurden aggressiv. Schlugen, stachen, vergewaltigten und mordeten. Für jedes homosexuelle Opfer hätte Silje hundert heterosexuelle aus dem Ärmel schütteln können. Sie verstand nicht, warum die Homos sich so aufregten.

Aber das hier war auffällig.

»Runar Hansen sucht einen Park auf, der bekannt ist für Ankauf, Verkauf und Tausch von Homosex«, sagte sie langsam. »Hawre Ghani verschwindet mit einem Freier. Marianne Kleive ist mit einer Frau verheiratet. Alle werden auf unterschiedliche Weise umgebracht, an verschiedenen Orten, und keins der Opfer hatte mit dem anderen zu tun. Soviel wir wissen jedenfalls. Aber …«

Sie kniff die Lider zusammen. »Ich trage also die Verantwortung für drei voneinander unabhängige Mordermittlungen, und alle haben möglicherweise etwas mit Homosexualität zu tun. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit für so etwas?«

»Verdammt hoch«, sagte Knut Bork und knabberte an seinem Daumennagel herum. »Was soll das, zum Teufel? Und ganz im Ernst, Silje, warum hat bisher noch niemand einen möglichen Zusammenhang gesehen?«

Sie gab keine Antwort. Lange blickten sie schweigend auf die Pinnwand. »Der erste Fall interessiert einfach niemanden«, sagte sie dann plötzlich. »Über den zweiten Fall wissen wir nichts. Das heißt, die Leute haben in der Zeitung über einen Leichenfund im Hafenbecken lesen können, und sicher gab es auch ein paar Zeilen darüber, dass es sich um einen jungen Asylbewerber handelte. Aber das war alles. Was Marianne Kleive angeht, so ist dieser Fall …«

Sie zögerte so lange, dass er den Satz für sie vollendete. »Dieser Fall ist so ausgefallen und absurd, dass eigentlich niemand ihn mit der Tatsache in Verbindung bringt, dass eine Lesbe das Opfer war.«

Silje ging zur Pinnwand. Nahm die weißen Blätter und den Zeitungsausschnitt herunter, knüllte sie zusammen und warf sie in den Papierkorb. Knut Bork blieb mit verschränkten Armen stehen.

»Das hier«, sagte sie energisch. »Das hier werden du und ich für uns behalten. Bis auf Weiteres. Alles kann ein Zufall sein, wie auch alle Zusammenhänge der pure Zufall sein können, es kann aber auch …«

»… eine verdammt üble Geschichte sein«, vollendete Knut Bork, dessen Daumen jetzt blutete.

Zum zweiten Mal innerhalb von drei Wochen war Inger Johanne allein zu Hause, und es kam ihr fast beängstigend vor. Die Wohnung wirkte ohne die vertrauten Geräusche der Kinder immer so anders. Sie ertappte sich dabei, dass sie durch die Zimmer schlich, um keinen Lärm zu machen.

»Reiß dich zusammen«, murmelte sie und legte eine CD ein, die Line Skytter zusammengestellt, gebrannt und ihr zu Weihnachten geschenkt hatte.

Kristiane würde bis Freitag bei Isak sein, und Ragnhild übernachtete jeden zweiten Mittwoch bei Inger Johannes Eltern.

Sie versuchte nun schon seit Stunden, Yngvar am Telefon zu erreichen, landete aber immer bei seinem Anrufbeantworter. Vermutlich war er in einer Besprechung. Als nach der unruhigen, verängstigten Nacht endlich der Tag gekommen war, hatte sie gewusst, dass sie mit ihm sprechen müsste. Es war kein Platz für noch mehr Zweifel wie in dieser Nacht, als sie immer wieder ihre Meinung geändert hatte. Jetzt stand ihr Entschluss fest, und das allein ließ sie die Lage schon ein wenig lichter sehen.

Wenn sie nur wüsste, was Kristiane wirklich beobachtet hatte. Es erschien ihr nicht ratsam, ihre Tochter noch weiter unter Druck zu setzen. Später vielleicht, dachte sie, als sie auf Socken umherschlich, ohne so recht zu wissen, was sie anfangen sollte.

Die Musik, die Line zusammengestellt hatte, entsprach nicht gerade Inger Johannes Geschmack. Sie ging zum CD-Gerät und drehte Kurt Nilsens Stimme mitten in einem Refrain leiser.

Sie müsste etwas essen, aber sie hatte keinen Hunger.

Yngvars Besprechung schien kein Ende zu nehmen, es war drei Stunden her, seit sie ihn zuerst um Rückruf gebeten hatte.

Natürlich konnte sie sich an die Arbeit setzen.

Oder lesen.

Sich vielleicht einen Film ansehen.

Sie griff zum Telefon und wählte Isaks Nummer, ohne vorher darüber nachzudenken. Er meldete sich sofort.

»Hallo, hier ist Inger Johanne.«

»Hallo.« Sie hörte ihn am anderen Ende der Leitung lächeln.

»Ich wollte nur …«

»… fragen, wie es Kristiane geht«, sagte er. »Der geht es großartig. Wir waren im Bisletbad, obwohl Kinder da eigentlich nur am Wochenende Zutritt haben. Sie ist so leise, dass die Frau an der Kasse sie reinlässt.«

»Lässt du sie allein in die Damenumkleide gehen?«

»Ja, natürlich. Sie ist zu groß, um mit mir zu den Jungs zu kommen. Sie kriegt doch schon Brüste, hast du das gesehen? Und Haare untenrum. Unser Mädel wird groß, Inger Johanne, und natürlich lass ich sie allein in die Damenumkleide gehen.«

Sie gab keine Antwort.

»Inger Johanne«, sagte er resigniert. »Sie kommt wunderbar zurecht. Wir machen gerade Tacos, und sie hat das Hack ganz ohne Hilfe gebraten. Jetzt zerschnibbelt sie das Gemüse. Wenn sie bei mir ist, kochen wir immer zusammen. Sie wird bald vierzehn, Inger Johanne. Du kannst sie nicht ihr Leben lang als Baby behandeln.«

Sie ist ein Baby.

Das verletzlichste kleine Baby auf der ganzen Welt.

»Hallo?«

»Ja, sicher« murmelte Inger Johanne. »Ich bin hier. Wie schön, dass es euch gut geht. Ich wollte nur wissen, ob …«

»Willst du mit ihr reden? Sie steht hier.«

Im Hintergrund ertönte heftiger Lärm.

»Huch«, sagte Isak. »Da ist was zu Boden gegangen. Kannst du nachher noch mal anrufen?«

»Aber nein, das ist nicht nötig. Mach’s gut. Wir sehen uns am Freitag.«

»Bis dann.«

Er verschwand, und sie ließ das Telefon ein wenig zu achtlos auf den Couchtisch fallen. Als sie zu dem großen Fenster ging, schlich sie nicht mehr. Sie stampfte wütend über den Boden, ohne zu wissen, ob ihre Aggression sich gegen sie selbst oder gegen Isak richtete.

Noch immer hatte sie keine Vorhänge angebracht.

Der Schnee war so hoch, dass sie den Zaun zum Hauges vei nicht mehr sehen konnte. Niemand wusste noch, wohin mit dem aus den Einfahrten geschippten Schnee. Aus Mangel an anderen Möglichkeiten wurde er mitten auf die Straße geschafft, was dazu führte, dass er dort landete, woher er gekommen war, wenn dann ein Räumfahrzeug vorüberdröhnte.

Kein Mensch war zu sehen. Die Kälte der Fensterscheibe ließ sie frösteln. Der riesige Schneemann, den die Kinder aus dem Haus gegenüber am vergangenen Wochenende gebaut hatten, starrte sie aus kohlschwarzen Augen an. Er hatte die Nase verloren. Die Arme aus Birkenzweigen standen wie Hexenkrallen von ihm ab. Auf dem Kopf trug er eine ausrangierte Mütze, und ein knallroter Schal verdeckte sein halbes Gesicht.

Er erinnerte sie an den Mann am Zaun.

Sie trat einen Schritt zur Seite.

Am nächsten Tag würde sie Vorhänge besorgen.

Und dann wurde ihr klar, dass sie sich geirrt hatte.

Die Angst, die sie seit Weihnachten quälte, war nicht mit dem Mann am Zaun gekommen. Das Gefühl, dass jemand Kristiane im Auge behielt, war nicht entstanden, als ein Fremder gekommen war und sich nach ihren Weihnachtsgeschenken erkundigt hatte. Die Angst hatte bereits in ihr gesteckt. Die Jagd auf die verdammte Schweinerippe und der Stress, ein Weihnachtsfest zu bereiten, mit dem ihre Mutter zufrieden wäre, hatte das alles nur vorübergehend verdrängt.

Die Angst war seit der Hochzeit da. Seit Kristiane auf den Straßenbahnschienen gestanden hatte und Inger Johanne sicher gewesen war, dass ihre Tochter umkommen würde, hatte sie gespürt, dass ihre Verzweiflung noch etwas Größerem galt. Es war doch alles gut gegangen, und wenn sie auch übermäßig ängstlich war, konnte sie sich nicht erinnern, dass es ihr so schlecht gegangen war, seit Wencke Bencke sie vor fast fünf Jahren auf so subtile Weise bedroht hatte.

Inger Johanne lief zum Rechner und schaltete ihn ein.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Startseite aufgerufen wurde, und als sie den Namen der weltbekannten Krimiautorin eingab, verschrieb sie sich viermal, ehe sie den Namen endlich googeln konnte. 26 900 Treffer. Sie grenzte die Suche ein. Sie wollte über diese Autorin nur wissen, ob sie noch in Neuseeland lebte.

Wencke Bencke hatte ungestraft gemordet. Sie hatte kaltblütig, und ohne dass Inger Johanne ihre Motive jemals wirklich durchschaut hätte, im Winter und Frühjahr 2004 eine Reihe bekannter Personen ums Leben gebracht. Inger Johanne hatte Yngvar und Sigmund bei den Ermittlungen geholfen, bei denen nur herausgekommen war, dass sie alle von Benckes Schuld überzeugt waren. Sie konnten nichts beweisen. Die gefeierte Autorin hatte sie an einem schönen Frühlingstag aufgesucht, als bereits klar war, dass man die Mörderin wohl niemals festnehmen könnte. Inger Johanne war mit der neugeborenen Ragnhild unterwegs gewesen, als Wencke Bencke ruhig und lächelnd die Morde gestanden hatte. Nicht so, dass es vor Gericht Bestand gehabt hätte, aber deutlich genug für Inger Johanne. Die versteckte Drohung, die die Autorin in der Luft schweben ließ, als sie in der Frühlingssonne weiterschlenderte, war ebenfalls raffiniert, aber doch so klar, dass sie Inger Johanne schreckliche Angst gemacht hatte. Ihre Angst hatte sie erst verlassen, als Bencke einen fünfzehn Jahre jüngeren Maori geheiratet hatte und nach Neuseeland gezogen war. Sie kam nur zu Buchvorstellungen nach Norwegen, und deshalb blätterte Inger Johanne im Herbst immer schnell weiter, wenn sie zu den Literaturseiten in den Zeitungen kam.

Da.

Ein Artikel aus Verdens Gang vom September.

Wencke Bencke im Sonnenschein zwischen Schafen. Sie und ihr Mann hatten eine Farm bei Te Anau gekauft. Im vergangenen Herbst war sie zur Veröffentlichung ihres neuesten Buches nicht nach Norwegen gekommen. Stattdessen hatte Verdens Gang sie besucht.

»Hier bin ich jetzt zu Hause, sagt die berühmte Autorin und zeigt stolz ihre riesige Schafherde. Ich schreibe hier besser. Ich lebe hier besser. Hier bleibe ich.«

Inger Johanne atmete ein wenig leichter.

Das hier hatte nichts mit Wencke Bencke zu tun.

Die Angst, die sie jetzt quälte, war am 19. Dezember entstanden, an dem Abend, an dem Marianne Kleive ermordet worden war. Inger Johanne blinzelte und sah die Zahl 19 als grüne schimmernde Zeichnung hinter ihren Lidern.

Diese verdammte Zahl 19.

Sie öffnete die Augen wieder und starrte ins Leere.

Das Telefon klingelte.

Eva Karin Lysgaard war am 24. Dezember ermordet worden.

Niclas Winter, über den sie nachts gelesen hatte, war am 27. gestorben.

Er war gestorben. Es war kein Mord. Er war an einer Überdosis gestorben.

Das Telefon gab nicht nach. Sie griff danach. Es war Yngvar.

19, 24, 27.

Die Quersumme war 25.

Einem Drogensüchtigen eine Überdosis zu verpassen war eine bekannte Methode, um einen Mord zu tarnen.

Das Telefon verstummte. Sekunden später klingelte es wieder.

»Hallo«, sagte sie tonlos, als sie das Gespräch annahm.

»Hallo. Schatz. Ich sehe, dass du ganz oft angerufen hast. Tut mir leid, dass ich jetzt erst antworten kann. Ich hatte den ganzen Nachmittag Besprechungen. Wir kommen nicht weiter und …«

»Ist schon gut«, murmelte sie. »Es war nichts Wichtiges.«

»Ist alles in Ordnung? Du klingst ein bisschen … seltsam.«

»Nicht doch. Ja, alles ist in Ordnung, Lieber. Ich … war nur eingeschlafen. Das Telefon hat mich geweckt. Ich glaube, ich gehe jetzt ganz einfach ins Bett.«

»Jetzt schon?«

»Zu wenig Schlaf. Können wir jetzt einfach aufhören, ich möchte nicht wieder richtig wach werden.«

»Ja, schon …«

Seine Enttäuschung war so deutlich, dass sie es sich fast anders überlegt hätte.

»Dann schlaf gut«, sagte er endlich.

»Mach’s gut, Lieber. Wir reden morgen weiter, ja? Gute Nacht.«

Sie saß lange mit dem stummen Telefon in der Hand da. Toni Braxton jammerte in der Stereoanlage »Un-break my heart«. Ein Wagen stand im Leerlauf im Hauges vei. Der Wind hatte offenbar gedreht, denn das ferne Rauschen von Maridalsvei und dem stark befahrenen Ringvei war so deutlich, als hätte jemand im Badezimmer das Wasser laufen lassen.

Obwohl im Artikel in Dagens Næringsliv nichts über Niclas Winters Veranlagung gestanden hatte, war doch zwischen den Zeilen viel zu lesen gewesen. Der Mann war HIV-positiv. Das konnte am Heroinkonsum, aber auch am unvorsichtigen Sex mit Männern liegen. Die CockPitt-Installation wies jedenfalls in diese Richtung.

Eva Karin Lysgaard war zwar eine heterosexuelle Frau gewesen, verheiratet und Mutter eines Kindes, hatte sich aber als engagierte Vorkämpferin für die Rechte der Homosexuellen ausgezeichnet.

Marianne Kleive war mit einer Frau verheiratet gewesen.

Inger Johanne sprang vom Sofa auf und merkte, dass sie ungeheuer hungrig war.

Aber Angst hatte sie nicht mehr.