»Aber das hat ja wohl kaum etwas mit der Sache zu tun.«

»Sagen Sie das nicht. Sagen Sie das nicht. Aber sie ist also am Freitag, dem 19. Dezember, von Sandefjord aus aufgebrochen, mit dem Zug um …«

»12.38 Uhr.«

»Mm. In Oslo hatte sie zuerst noch eine Verabredung …«

»Und die hat sie jedenfalls eingehalten. Das habe ich überprüft.«

»Danach hat sie im Hotel übernachtet und wollte am Sonntagmorgen um 09.30 Uhr nach Kopenhagen fliegen.«

»Und dort ist sie also nicht eingetroffen.«

»Sie ist nicht in Kopenhagen eingetroffen?«

»In Gardermoen. Das heißt, es ist natürlich möglich, dass sie dort war, aber sie hat das Flugzeug nach Kopenhagen nicht genommen. Und deshalb können wir davon ausgehen, dass sie auch nicht nach Tokio und Sydney weitergeflogen ist.«

Der Polizist hatte kein Gespür für diesen Sarkasmus. Er kratzte sich ungeniert im Schritt. Griff nach der Colaflasche und stellte sie wieder weg, als er merkte, dass sie leer war. »Warum ist Ihnen das erst gestern aufgefallen? Hat sie kein Mobiltelefon, diese … Ihre Bekannte?«

»Sie ist nicht meine Bekannte. Sie ist meine Partnerin. Genauer gesagt, meine Ehepartnerin. Meine Frau, wenn Sie wollen.«

Die Grimasse des Mannes zeigte mit aller Deutlichkeit, dass er nicht wollte.

»Und wie schon mehrmals erwähnt«, sagte Synnøve und beugte sich mit dem Mobiltelefon in der Hand zu ihm vor, »habe ich im Laufe der Woche drei Nachrichten erhalten. Alles wies also darauf hin, dass Marianne wirklich in Australien war.«

»Aber Sie haben nicht miteinander gesprochen.«

»Wie gesagt, ich habe seit Sonntag mehrmals versucht, sie anzurufen, habe sie aber nicht erreicht. Gestern Abend habe ich es mindestens zehnmal versucht. Ich lande immer sofort beim Anrufbeantworter, deshalb nehme ich an, dass ihr Akku leer ist.«

»Zeigen Sie mal die Mitteilungen«, sagte der Mann.

Synnøve tastete sich rasch vor und reichte ihm das Telefon.

»Alles OK. Spannedes Land. Marianne.«

Der Mann las nicht einmal flüssig, sondern machte ein großes Geschrei darüber, dass »spannend« falsch geschrieben war.

»Nicht sonderlich …«, sagte er dann und suchte nach dem passenden Wort, eher er die nächste Nachricht las. »Nicht sonderlich romantisch, würde ich sagen. Alles klar hier, Marianne.«

Er sah sie über den Rand seiner Brillengläser an. Sein Lutschtabak hatte sich als schwarzer Rand in den Mundwinkeln abgelagert, und immer wieder spuckte er kleine Körner in die Luft.

»Sind ihre Nachrichten immer so … kurz?«

Zum ersten Mal blieb Synnøve stumm. Sie hatte keine Ahnung, was sie antworten sollte. Die Frage war durchaus angebracht, das wusste sie, denn gerade diese knappen, unpersönlichen und untypischen Mitteilungen hatten sie beunruhigt. Über die erste, die vom Montag, hatte sie nicht weiter nachgedacht. Marianne konnte ja beschäftigt gewesen sein. Die Tante war vielleicht anstrengend. Es konnte tausend gute Gründe dafür geben, dass eine SMS eher karg ausfiel. Am Heiligen Abend war nur ein kurzes »Fröhliche Weihnachten« gekommen, was Synnøve ziemlich verletzt hatte. Die letzte Mitteilung darüber, dass bei Marianne alles klar sei, nicht mehr und nicht weniger, hatte ihr zwei schlaflose Nächte beschert.

»Nein«, sagte sie, als das Schweigen peinlich wurde. »Deshalb glaube ich ja nicht, dass sie das geschrieben hat. Sie würde sich bei einem Wort wie spannend niemals verschreiben.«

Der Polizist riss so dramatisch die Augen auf, dass er einem Clown bei einem misslungenen Kinderfest ähnelte. Haarbüschel ragten hinter seinen Ohren auf, der Mund war rot und feucht, die Nase sah aus wie eine einigermaßen runde Kartoffel. »Dann haben wir also eine Theoriiiie«, sagte er und zog das I, so lang er konnte. »Jemand hat Mariannes Telefon gestohlen und an ihrer Stelle Meldungen versandt.«

»Das habe ich nicht gesagt«, protestierte Synnøve, obwohl sie genau das gesagt hatte. »Aber verstehen Sie doch … Wenn Marianne einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist und wenn jemand …«

Verbrechen.

Das Wort durchbohrte sie. Es tat wirklich weh. Sie hatte bisher nicht einmal gewagt, diesen Gedanken zu denken. Nicht mit dem richtigen Begriff.

Verbrechen.

»… und jemand wollte die Entdeckung erschweren, dann …«

»Die Entdeckung?«

»Ja! Dass sie verschwunden ist, meine ich. Oder dass sie …«

Zum zweiten Mal in weniger als vierundzwanzig Stunden brach sie vor einem fremden Menschen in Tränen aus.

Es wurde an die Tür geklopft.

»Kvam. Du wirst in der Zentrale gesucht.«

Ein uniformierter Mann betrat lächelnd das Zimmer. Er legte dem übel riechenden Kollegen die Hand auf die Schulter und zeigte auf die Tür. »Es scheint dringend zu sein.«

»Ich bin mitten in …«

»Das kann ich übernehmen.«

Kommissar Kvam erhob sich mit verärgerter Miene und wollte seine Unterlagen zusammenraffen.

»Lass alles liegen. Ich mach das hier fertig. Jemand ist verschwunden, war das nicht so?«

Kvam zuckte mit den Schultern, deutete ein Nicken an und verschwand. Die Tür knallte hinter ihm ins Schloss.

»Synnøve Hessel«, sagte der neue Polizist. »Lange nicht mehr gesehen.«

Sie stand auf und nahm die ausgestreckte Hand. »Kjetil? Kjetil … Berggren?«

»The one and only. Ich hab dich draußen gesehen, und ich hab mir …«

Er drehte die Handflächen nach oben und schwenkte die Hände hin und her.

»… doch Sorgen gemacht, als ich gesehen habe, dass Ola Kvam die Anzeige aufnehmen sollte. Er ist nicht … Eigentlich ist er schon in Rente, aber jetzt, um Weihnachten, holen wir Vertretungskräfte, um alles zu schaffen … Du weißt schon. Wir haben alle unsere Macken. Ich bin gekommen, sowie ich das erledigt hatte, womit ich gerade beschäftigt war.«

Kjetil Berggren war auf der Schule eine Klasse unter ihr gewesen. Sie hätte sich kaum an ihn erinnert, wenn er nicht der Beste der Schule in Leichtathletik gewesen wäre. Er hatte schon mit sechzehn einen Rekord über 3000 Meter aufgestellt, und ehe er nach dem Abitur auf die Polizeihochschule übergewechselt war, hatte er der Juniorennationalmannschaft angehört.

Er sah noch immer aus, als könnte er wirklich jedem davonlaufen.

»Ich hab dich nicht aus den Augen gelassen, weißt du.« Er lächelte strahlend, verschränkte die Hände im Nacken und ließ sich so weit zurücksinken, dass der Stuhl kippelte.

»Schöne Sendungen. Vor allem die aus …«

»Du musst mir helfen, Kjetil!«

Seine Pupillen wurden kleiner, glaubte sie. Vielleicht, weil ihm plötzlich Licht in die Augen fiel, als er die vorderen Stuhlbeine auf den Boden knallen ließ und sich zu ihr vorbeugte. »Deshalb bin ich da. Wir. Die Polizei. To protect and to serve

Wieder versuchte er ein Lächeln, und auch dieses Mal wurde es nicht erwidert.

»Ich bin ganz, ganz sicher, dass meiner Liebsten etwas Entsetzliches passiert ist.«

Kjetil Berggren schob langsam die Papiere vor sich zusammen und steckte sie in eine Mappe, die er dann links auf den großen Tisch zwischen ihnen legte. »Dann wäre es besser, du erzählst mir alles«, sagte er. »Von Anfang an.«

Anfangs hatte er seinen Vater verstanden.

In der Nacht zum ersten Weihnachtstag hatte die Polizei an der Tür des Hauses in Os geklingelt, als sie gerade zu Bett gehen wollten. Da hatte Lukas Lysgaard in erster Linie an seinen Vater gedacht. Die Mutter sei tot, sagte die Polizei und wirkte ehrlich verzweifelt darüber, diese traurige Nachricht überbringen zu müssen. Sie hatten zwar den Propst von Fana bei sich, den vertrautesten Kollegen der Mutter, aber der arme Mann war dermaßen außer sich, dass er im Wagen blieb, während zwei Polizisten die schwere Last auf sich nahmen, Lukas Lysgaard mitzuteilen, dass seine Mutter vor drei Stunden ermordet worden war.

Lukas hatte sofort an seinen Vater gedacht.

Natürlich auch an die Mutter, er liebte seine Mutter. Eine dumpfe Trauer raubte ihm alle Kraft, als ihm wirklich aufgegangen war, was die Polizei gesagt hatte. Aber Sorgen machte er sich um seinen Vater.

Erik Lysgaard war ein sanfter Mann.

Manche hielten ihn für hilflos, andere wussten den gelassenen, zurückhaltenden Mann zu schätzen. Er machte außerhalb der Familie nie viel Wesens um sich. Und auch dort nur selten. Er sagte wenig, hörte umso genauer zu. Erik Lysgaard war ein Mann, der bei näherer Bekanntschaft gewann. Er hatte natürlich Freunde, einige aus seiner Kindheit und zwei Kollegen aus der Schule, wo er gearbeitet hatte, bis sein Rücken nicht mehr mitmachte und er in den vorzeitigen Ruhestand treten musste.

Aber vor allem war er der Ehemann seiner Frau.

Ganz allein ist er niemand, dieser Gedanke kam Lukas, als er vom Tod seiner Mutter erfuhr. Vater ist niemand ohne Mutter.

Und anfangs hatte er seinen Vater verstanden.

In der Nacht, der heiligen, grausamen Nacht, die Lukas in seinem Leben nie vergessen würde, hatte die Polizei ihn zum Nubbebakken gefahren. Der ältere der beiden Polizisten hatte gefragt, ob sie bis zum Morgen bleiben sollten.

Das hatten weder er noch sein Vater gewollt.

Der Vater war zu etwas geschrumpft, was Lukas nur mit Mühe erkannt hatte. Er war so schmal und gebeugt und warf fast keinen Schatten, als er seinem Sohn die Tür öffnete, und ohne ein Wort kehrte er ihm den Rücken zu und ging zurück ins Wohnzimmer.

Er weinte so beängstigend. Zuerst fast lautlos, dann heulte er endlos und gedehnt, ohne zu schluchzen, ein Tierschmerz, der Lukas Furcht einjagte. Er fühlte sich hilfloser, als er erwartet hatte. Und sein Vater wollte keinen physischen Kontakt. Er wollte auch nicht reden. Als langsam der Tag heraufzog, ein regenschwerer, kohlschwarzer Weihnachtsmorgen, war Erik endlich zu dem Versuch bereit gewesen, schlafen zu gehen. Aber auch jetzt hatte er seinem Sohn untersagt, ihm zu helfen. Obwohl Eva Karin ihm doch immer abends die Socken ausgezogen und ihm ins Bett geholfen hatte, um dann den wehen Rücken mit einer selbst gemachten Salbe einzureiben, die ihm ein treues Gemeindemitglied seit den Jahren in Stavanger noch immer zusandte. Lukas hatte ihn trotzdem verstanden.

Aber das nahm jetzt ein Ende.

Es war der fünfte Tag seit dem Mord, und nichts hatte sich verändert. Der Vater hatte nichts gegessen, rein gar nichts. Er trank bereitwillig Wasser, viel Wasser, und nachmittags zwei Tassen Kaffee mit Zucker und Milch. Auch als Lukas ihn zu seiner eigenen Familie gefahren hatte, in der Hoffnung, die Enkelkinder würden irgendeine Art von Lebensfunken in ihm wecken, hatte Erik nichts essen wollen. Der Besuch war ein Fehlschlag gewesen. Die Kinder hatten Angst bekommen, als sie den Opa auf so seltsame Art weinen sahen, und der Achtjährige hatte mehr als genug mit der Gewissheit zu kämpfen, dass Oma nie, nie, nie wieder zurückkommen würde.

»So geht das nicht. Vater.«

Lukas zog einen Fußschemel neben den Ohrensessel des Vaters und setzte sich darauf. »Wir müssen an die Beisetzung denken. Du musst essen. Du bist nur noch ein Schatten deiner selbst, Vater, und so kann das nicht weitergehen.«

»Die Beisetzung ist erst möglich, wenn die Polizei sie gestattet«, sagte der Vater.

»Schon. Aber wir müssen planen.«

»Das kannst du tun.«

»Das wäre nicht richtig, Vater. Wir müssen es zusammen machen.«

Schweigen.

Die alte Standuhr war stehen geblieben. Erik Lysgaard hatte die bleischweren Messinggewichte nicht mehr jeden Abend vor dem Schlafengehen aufgezogen. Er hatte nicht mehr das Bedürfnis, die Zeit vergehen zu hören.

Staub tanzte im Licht vor dem Fenster.

»Du musst essen, Vater.«

Erik hob den Blick, und behutsam nahm er zum ersten Mal seit Eva Karins Tod die Hände des Sohnes in seine. »Nein. Du musst essen. Du musst weiterleben.«

»Vater, du …«

»Du warst der Sohn unseres Glücks, Lukas. Nie ist ein Kind willkommener gewesen als du.«

Lukas schluckte und lächelte. »Das sagen alle Eltern. Ich sage das meinen Kindern auch.«

»Aber es gibt so viel, was du nicht weißt.«

Die Geräusche der Stadt schienen nicht in das tote Haus am Nubbebakken eindringen zu können. Lukas spürte nicht einmal sein eigenes Herz schlagen.

»Wie meinst du das?«, fragte er.

»Mit einem Menschen verschwindet so viel. Mit Eva Karin ist alles verschwunden. So muss es sein.«

»Ich habe das Recht, es zu erfahren, Vater. Wenn etwas mit Mutters Leben, mit eurem Leben, wenn da …«

Das trockene Lachen des Vaters machte ihm Angst. »Du brauchst nur zu wissen, dass du ein geliebtes Kind warst. Du warst immer meine und deiner Mutter große Liebe.«

»Das war ich?«

»Mutter ist tot«, sagte der Vater mit harter Stimme. »Und ich selbst werde wohl nicht mehr lange leben.«

Lukas ließ unvermittelt die Hände des Vaters los und setzte sich gerade. »Nimm dich zusammen«, sagte er. »Jetzt musst du dich endlich zusammennehmen.«

Er sprang auf und lief im Zimmer hin und her. »Das muss aufhören. Jetzt. Sofort! Hörst du, Vater?«

Der Vater reagierte nicht auf diesen heftigen Ausbruch. Er saß in seinem Sessel mit demselben leeren Ausdruck im Gesicht wie seit fünf Tagen.

»Ich lasse mir das nicht gefallen«, rief Lukas. »Mutter lässt sich das nicht gefallen!«

Er riss eine Porzellanfigur von einem Beistelltisch vor dem Fernseher. Zwei Schwäne in einem zarten Herzen, das Hochzeitsgeschenk von Eva Karins Eltern. Es hatte acht Umzüge überlebt und zu den liebsten Besitztümern der Mutter gehört. Lukas würgte die Schwäne mit beiden Händen und schlug sie so fest gegen seinen Oberschenkel, dass es wehtat. Die Figur zerbrach. Die scharfen Kanten der Scherben bohrten sich in seine Handflächen. »Du darfst nicht sterben! Du darfst verdammt noch mal nicht sterben!«

Das war nötig gewesen.

Lukas Lysgaard hatte nie, nicht einmal in der trotzigsten Jugendphase, gewagt, vor den Ohren seiner Eltern zu fluchen. Jetzt sprang der Vater schneller auf, als Lukas ihm das zugetraut hätte. Mit drei Schritten stand er bei ihm und hob den Arm mit geballter Faust bis vor die Wange des Sohnes. So blieb er stehen, wie erstarrt in einem absurden Tableau; größer jetzt und breiter. Der ganze Mann weitete sich aus. Lukas hielt den Atem an. Er fürchtete sich unter dem Blick des Vaters, als wäre er wieder ein trotziges Kind. Papas kleiner Knabe.

»Warum war Mutter an dem Abend unterwegs?«, flüsterte er.

Erik ließ die Hand sinken. »Das geht nur Eva Karin und mich etwas an.«

»Ich glaube, ich weiß es.«

»Sieh mich an.«

Lukas musterte seine geöffneten Handflächen. Unter jeder Daumenwurzel klaffte ein tiefer Schnitt.

»Sieh mich an«, sagte Erik noch einmal.

Als Lukas noch immer nicht das Gesicht hob, spürte er die Hand des Vaters an seiner unrasierten Wange. Endlich schaute er auf.

»Du weißt nichts«, sagte Erik.

Doch, dachte Lukas. Vielleicht habe ich es immer schon gewusst. Jedenfalls schon lange.

»Du weißt wirklich nichts«, beharrte sein Vater.

Sie standen so dicht beieinander, dass jeder den Atem des anderen spürte. Und wie böse Gedanken sich zu harten Geheimnissen verkapseln, wenn sie nie mit jemandem geteilt werden, so besaßen sie jetzt beide eine Gewissheit über etwas, von dem sie glaubten, dass der andere es nicht wüsste. Sie standen einfach da, jeder auf seine Weise beschämt, und hatten einander nichts zu sagen.

»Es ist mir ja peinlich, das sagen zu müssen, Synnøve, aber in solchen Fällen warten wir erst einmal ab.«

Kjetil Berggren hatte die Temperatur in dem kleinen Raum immerhin senken können. Jetzt saß er mit vorschriftswidrig hochgekrempelten Hemdsärmeln da und trommelte zerstreut mit einem Bleistift auf dem Oberschenkel.

Sie hatte alles wahrheitsgemäß geschildert. Dass sie mit jedem Wort Mariannes Verschwinden weniger verdächtig gemacht hatte, wurde ihr erst jetzt klar.

»Na gut«, sagte sie kleinlaut.

»Da ist noch etwas: Du hast bisher nicht mit ihren Eltern gesprochen.«

»Marianne hatte keinen Kontakt mehr zu ihnen, seit wir zusammengezogen sind.«

»Das ist schon klar«, sagte er und fuhr sich mit der Hand über seine Stoppelfrisur. »An sich stimme ich dir ja zu, dass es Grund zur Sorge gibt. Es ist nur so, dass …«

Er war jetzt merklich weniger wohlwollend als vor anderthalb Stunden, als er sie vor Ola Kvam gerettet hatte. Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her und machte sich schon längst keine Notizen mehr. »Man muss normalerweise zuerst bei den nächsten Angehörigen anfragen. Wenn ich es richtig verstanden habe, hast du eigentlich mit niemandem gesprochen. Nicht einmal mit ihren Eltern«, betonte er.

Als ob die Eltern einer zweiundvierzig Jahre alten Frau alle Antworten wüssten.

»Sie sind nicht gekommen, als wir geheiratet haben«, sagte Synnøve müde. »Woher um alles in der Welt sollten sie jetzt plötzlich etwas über Marianne wissen?«

»Aber sie wollte doch die Tante ihrer Mutter besuchen, war das nicht so? Es wäre doch möglich, dass die Mutter …«

»Diese Großtante ist plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht. Hör zu, Kjetil. Marianne hat sich vor über dreizehn Jahren nach einem schrecklichen Streit mit ihren Eltern überworfen. Dabei ging es natürlich um mich. Sie hat nur noch eine Art Kontakt zu ihrem Bruder. Die Großeltern sind tot, und der Vater ist ein Einzelkind. Die Mutter übt eine eiserne Kontrolle über ihre eigenen Geschwister aus. Marianne hat mit anderen Worten so gut wie keine Familie. Dann kam im Herbst ein Brief von dieser Großtante. Sie ist vor Mariannes Geburt ausgewandert und war in der Familie … persona non grata. Bohemienne. Hatte Anfang der Sechzigerjahre einen Afroamerikaner geheiratet, was damals in den feinen Familien in Sandefjord nicht gerade üblich war. Dann hat sie sich scheiden lassen und ist nach Australien gegangen. Sie …«

Synnøve unterbrach sich. »Warum erzähle ich dir lauter irrelevante Dinge über eine verschrobene alte Dame, die plötzlich entdeckt hat, dass sie eine Großnichte hat, die von ihrer Familie genauso verstoßen worden ist wie sie selbst? Es geht doch darum, dass Marianne nie bei der Tante angekommen ist!«

Als sie mit den Armen fuchtelte, traf sie eine volle Kaffeetasse. Sie fluchte, als die heiße Flüssigkeit ihre Oberschenkel traf, und sprang auf.

Ehe sie sich’s versah, stand Kjetil Berggren mit einer Mineralwasserflasche neben ihr. »Hat das geholfen? Soll ich Kaltes nachgießen?«

»Nein, danke«, murmelte sie. »Das geht schon. Danke.«

Kjetil Berggren zog Papierhandtücher aus einem Gestell neben einem kleinen Waschbecken in der Ecke. »Hinzu kommt noch, dass sie schon vorher einmal verschwunden ist«, sagte er mit dem Rücken zu ihr.

Synnøve ließ sich wieder auf den unbequemen Stuhl sinken. »Sie war nicht verschwunden. Sie hatte Schluss gemacht. Das ist etwas ganz anderes.«

»Hier.«

Er reichte ihr einen dicken Stapel Papierhandtücher. »Du hast gesagt, dass sie damals vierzehn Tage fort war«, sagte er und setzte sich wieder. »Ohne sich zu melden, meine ich. Ich glaube, du verstehst, dass das nicht ohne Bedeutung ist, Synnøve. Dass die Frau … dass Marianne vor drei Jahren nach einem heftigen Streit einfach nach Frankreich gefahren ist, ohne dir auch nur mitzuteilen, wo sie ist. Solche Dinge müssen wir hier bei der Polizei berücksichtigen, wenn wir entscheiden, ob wir wirklich alle Kapazitäten …«

»Aber wir haben uns nicht gestritten. Wir haben uns überhaupt nicht gestritten.«

Er kam um den Tisch herum und stellte einen Fuß neben ihr auf den Stuhl. Das war vermutlich als freundschaftliche Geste gemeint.

»Ich sehe aus wie ein Bergrutsch«, murmelte sie und wich zurück. »Und stinke wie ein Pferd. Tut mir leid.«

»Synnøve«, sagte er ruhig, ohne sich anmerken zu lassen, dass sie recht hatte.

Seine Hand war warm, als er sie auf ihre Schulter legte. »Ich werde natürlich tun, was ich kann. Ich nehme jetzt deine Vermisstenmeldung entgegen. Das ist immerhin ein Anfang. Aber ich kann dir nicht garantieren, dass wir alle Hebel in Bewegung setzen. Nicht sofort jedenfalls. Inzwischen gibt es aber genug, was du selbst tun kannst.«

Sie erhob sich. Vor allem, um sich seiner Berührung zu entziehen, die ihr überraschend wenig willkommen war. Als sie nach ihrem Pullover griff, trat Kjetil Berggren zur Seite.

»Setz dich ans Telefon«, sagte er. »Ihr kennt so viele Leute. Wenn da vielleicht … Untreue im Spiel ist …«

Zum Glück hatte sie den Pullover über dem Kopf. Sie wurde sehr schnell rot. Sie machte sich an dem Kleidungsstück zu schaffen, bis sie sich wieder unter Kontrolle hatte.

»… dann ist das meistens jemandem aus dem Freundeskreis bekannt.«

»Schon verstanden«, sagte sie kurz.

»Und wenn ihr ein gemeinsames Bankkonto habt, dann kannst du ja feststellen, ob sie Geld abgehoben hat. Und wenn ja, wo. Ich rufe dich übermorgen an und lasse mich auf den neuesten Stand bringen. Oder ich schaue vorbei. Wohnst du noch in dem alten Haus im Hystadvei?«

»Wir wohnen im Hystadvei. Marianne und ich.«

In dem Moment, als sie das sagte, wusste sie, dass es nicht stimmte.

»Abgesehen davon, dass Marianne tot ist«, sagte sie hart, riss ihren Anorak an sich und lief zur Tür. »Vielen Dank, Kjetil. Thank you for fucking nothing.«

Sie knallte so wütend mit der Tür, dass diese aus den Angeln sprang.