Kleine Schlüssel, große Räume

»Himmel«, sagte Yngvar Stubø und fuhr in der Tür zurück. »Habe ich Sie geweckt?«

Lukas Lysgaard blinzelte und schüttelte den Kopf. »Nicht doch«, murmelte er. »Oder doch. Ich hab heute Nacht fast nicht geschlafen, und als ich dann hier so saß …«

Er hob den Blick und lächelte müde. Yngvar hätte ihn fast nicht erkannt. Die breiten Schultern hingen herab. Seine Haare wurden fettig, und die Haut lag in schlaffen dunklen Falten um seine Augen. Im linken Auge war eine kleine Ader geplatzt, sein Blick war blutrot.

»Das kann ich verstehen«, sagte Yngvar und zog den Stuhl von der anderen Seite des Tisches heran.

Lukas Lysgaard zuckte mit den Schultern.

Yngvar wusste nicht so recht, was das bedeuten sollte. »Die Wölfe sind los«, sagte er und setzte sich. »Es war ja nur eine Frage der Zeit, bis die Presse es erfahren würde.«

Der andere nickte.

»Waren sie schon bei Ihnen?«, fragte Yngvar und warf einen Blick auf die Uhr, die einige Minuten vor halb neun zeigte.

Der Mann nickte müde.

»Ich bin Ihnen jedenfalls sehr dankbar dafür, dass Sie gekommen sind«, sagte Yngvar. »Ich sehe, dass mein Kollege die Formalitäten bereits erledigt hat. Ist Ihnen etwas zu trinken angeboten worden? Kaffee? Wasser?«

»Nein, danke. Warum sind Sie eigentlich hier?«

»Ich?«

»Ja.«

»Wie meinen Sie das?«

Lukas beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Sie sind bei der Kripo.«

Yngvar nickte.

»Die Kripo ist nicht mehr das, was sie einmal war.«

»Nein …«

Yngvar begriff nicht, worauf der Mann hinauswollte.

»Soviel ich weiß, ist die Kripo vor allem eine nationale Einheit zur Bekämpfung von organisierter Kriminalität. Glaubt ihr, dass die Mafia meine Mutter umgebracht hat?«

»Nein, nein, nein!«

Für einen Moment glaubte Yngvar, der Mann habe das ernst gemeint. Ein freudloses, fast unmerkliches Lächeln brachte ihn auf andere Gedanken. »Alle guten Kräfte sind für diesen Fall mobilisiert worden«, sagte er und goss sich aus einer Thermoskanne Kaffee ein. »Und von manchen werde ich auch dazugezählt. Wie geht es Ihrem Vater?«

Es kam keine Antwort.

»Auf jeden Fall wollte ich Sie zuerst ein wenig informieren«, sagte Yngvar und schob einen kleinen Ordner über den Tisch.

Es sah nicht so aus, als ob Lukas Lysgaard den öffnen wollte.

»Ihre Mutter wurde erstochen. Ihr Herz wurde getroffen. Das bedeutet, dass sie sehr schnell gestorben ist.«

Yngvar schaute forschend in das Gesicht des anderen und fragte sich, ob er weitersprechen sollte. »Sie weist keine anderen Verletzungen auf, bis auf einige Schrammen, die vermutlich vom Sturz stammen. Sie scheint also keinerlei Widerstand geleistet zu haben.«

»Sie war …«

Lukas hielt sich die Faust vor den Mund und räusperte sich. »Sie war zweiundsechzig Jahre alt. Da kann man wohl kaum erwarten, dass sie gegen einen Mörder sehr viel ausrichten konnte.«

Er hustete noch einmal, dann fügte er rasch hinzu: »Oder gegen eine Mörderin. Ich gehe davon aus, dass es auch solche gibt.«

»Auf jeden Fall «

Yngvar nickte und spielte mit dem Gedanken, den Ordner wieder an sich zu nehmen. Sie schwiegen ein wenig zu lange. Es wurde peinlich, und Yngvar merkte, dass Lukas Lysgaards wenig freundliche Haltung sich über Nacht kaum geändert hatte. Lukas Lysgaard starrte die Tischplatte an und hatte die Arme verschränkt.

»Meine Frau ist Kriminologin«, sagte Yngvar plötzlich. »Und Juristin. Und sie hat Psychologie studiert.«

Jetzt schaute Lukas immerhin auf. Eine überraschte Falte zeigte sich über seiner Nasenwurzel.

»Sie ist um einiges jünger als ich«, fügte Yngvar hinzu.

Weder der halsstarrigste Zeuge noch der feindseligste Festgenommene blieben unberührt, wenn Yngvar fast übergangslos anfing, von seiner Familie zu erzählen. Es wirkte so unprofessionell, dass der Vernommene irritiert war, überrascht oder ganz einfach interessiert.

»Sie sagt bisweilen …«

Yngvar hob die Tasse und trank langsam und geräuschvoll. »Sie will lieber, dass ihre Nächsten an einer langen und schmerzhaften Krankheit sterben, als dass sie einem Verbrechen zum Opfer fallen.«

Kaum hatte er das gesagt, da verspürte der den vertrauten Stich schlechten Gewissens, weil er Inger Johanne Ansichten unterstellte, die sie überhaupt nicht hatte. Der Stich legte sich, als er Lukas’ Reaktion sah.

»Was meint sie … Was meinen Sie damit? Es ist doch entsetzlich, jemandem, den man liebt, so etwas zu wünschen, und …«

»Ja, nicht wahr? Das sehe ich genauso wie Sie. Es geht ihr aber darum, dass die Familie des Opfers nach einem Verbrechen notwendigerweise zum Gegenstand sorgfältiger Untersuchungen wird, und das kann eine gewaltige Belastung sein. Wenn jemand aus anderen Ursachen stirbt, dann …«

Yngvar hob beide Handflächen. »… ist alles vorüber. Die Familie wird mit Sympathie überschwemmt und es werden keine Fragen gestellt. Ganz im Gegenteil, behauptet meine Frau hartnäckig. Natürliche Todesfälle üben eine versiegelnde Wirkung auf die möglicherweise vorhandenen Familiengeheimnisse aus. Sind der oder die Tote jedoch einem Verbrechen zum Opfer gefallen, dann …«

Er schüttelte gutmütig den Kopf und steckte einen imaginären Schlüssel in ein unsichtbares Schlüsselloch. »Dann muss alles ans Licht. Das meint sie damit. Ich stimme ihr nicht zu, wie gesagt, aber so ganz unrecht hat sie auch wieder nicht. Oder?«

Lukas zeigte durchaus nicht, ob er dieser Meinung war oder nicht.

»Ich gehe davon aus«, sagte er plötzlich und beugte sich über den Tisch, »dass Sie mir zu sagen versuchen, dass es in meiner Familie Geheimnisse gibt, die erklären könnten, warum meine Mutter auf offener Straße erstochen wurde?«

Seine Stimme schlug zum Ende des Satzes ins Falsett um. »Dass sie sozusagen selbst schuld war! Dass meine Mutter, die liebste, fürsorglichste …«

Seine Stimme versagte gänzlich und er fing an zu weinen. Yngvar saß ganz still da, hielt die Kaffeetasse in der rechten Hand und ließ einen Kugelschreiber zwischen Zeigefinger und Mittelfinger der linken balancieren.

»Mutter hatte doch keine Geheimnisse«, sagte Lukas verzweifelt und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Nicht meine Mutter. Sie nicht.«

Yngvar sagte noch immer nichts.

»Meine Eltern haben einander über alles geliebt«, sagte Lukas jetzt. »Sie hatten sicher ihre Meinungsverschiedenheiten, aber sie haben schon mit neunzehn Jahren geheiratet. Das macht …«

Er schluchzte, während er in Gedanken nachrechnete. »Das macht über vierzig Jahre. Sie sind seit über vierzig Jahren verheiratet, und jetzt kommen Sie und behaupten, zwischen ihnen habe es jede Menge Geheimnisse gegeben. Das ist … das ist …«

Yngvar machte einige Notizen, dann schob er seinen Notizblock so energisch zurück, dass der zu Boden fiel. Er hob ihn auf und legte ihn mit der beschriebenen Seite nach unten wieder hin.

»Das ist unverschämt«, sagte Lukas tonlos. »Anzudeuten, meine Mutter hätte …«

»Es tut mir wirklich leid, wenn Sie mich für unverschämt halten«, sagte Yngvar. »Das wollte ich nun wirklich nicht. Aber es ist schon interessant, dass Sie sofort leidenschaftlich über die Ehe ihrer Eltern sprechen, wenn ich ganz lose die Tatsache erwähne, dass alle Menschen Erfahrungen haben, die sie mit anderen nicht teilen wollen. Dinge, die sie getan haben. Dinge, die sie nicht getan haben. Vielleicht etwas, wodurch sie sich Feinde zugezogen haben. Etwas, das anderen geschadet hat. Das muss natürlich nicht bedeuten, dass …«

Er ließ den Satz in der Luft hängen.

»Meine Mutter hatte keine Feinde«, sagte Lukas und versuchte sich zusammenzureißen. »Meine Mutter wurde doch ganz im Gegenteil als Vermittlerin betrachtet, als Sprachrohr der Versöhnung. Und zwar im Amt und im Privatleben. Sie hat mir gegenüber nie erwähnt, dass jemand es auf ihr Leben abgesehen haben könnte. Das ist doch …«

Er schluckte und fuhr sich mehrmals mit den Fingern durch die Haare. »Was meinen Vater angeht, da …«

Er holte tief Luft, es klang wie ein Keuchen. »Vater hat immer in Mutters Schatten gestanden.«

Plötzlich machte er einen resignierten Eindruck. Und schien ein Selbstgespräch zu führen. »Das liegt doch auf der Hand. Mutter mit ihrer Karriere, und Vater, der nie über das erste Staatsexamen hinausgekommen ist. Er wollte wohl nicht …«

Wieder verstummte er.

»Wie haben sie einander kennengelernt?«, fragte Yngvar ruhig.

»Auf dem Gymnasium. Sie waren in derselben Klasse.«

»Highschool sweethearts«, sagte Yngvar und lächelte kurz.

»Ja. Mutter hat mit sechzehn zum Glauben gefunden. Sie kam aus einer ganz normalen Arbeiterfamilie. Mein Großvater hat bei BMV gearbeitet.«

»In Deutschland?«

Yngvar schaute überrascht in den Ordner, der vor ihm lag.

»Nein, BMV, nicht BMW. Bergen Mekaniske Verksted. Er war Mitglied der NKP und eingeschworener Atheist. Mutter war die Allererste in ihrer Familie, die aufs Gymnasium gehen konnte. Es war für meinen Großvater sehr schwer, mit ansehen zu müssen, wie seine Tochter Theologie studierte, aber zugleich war er unendlich … stolz auf sie. Er hat leider nicht lange genug gelebt, um sie als Bischöfin zu erleben. Das wäre …«

Er zuckte mit den Schultern. »Mein Vater dagegen kommt aus einem durch und durch akademischen Milieu. Mein Großvater väterlicherseits war Geschichtsprofessor, zuerst an der Universität Oslo. Als mein Vater vielleicht zehn war, sind sie nach Bergen gezogen. Großmutter war Studienrätin. Es war damals nicht üblich für Frauen, dass sie …«

Wieder unterbrach er sich. »Sie wissen schon«, fügte er dann am Ende hinzu.

Yngvar wartete.

»Mein Vater wurde wohl in vieler Hinsicht als … Wie soll ich sagen? Als Schwächling betrachtet.«

Er schluchzte, als er dieses Wort aussprach, und wieder strömten ihm die Tränen übers Gesicht. »Aber das ist er überhaupt nicht. Er ist ein phantastischer Vater. Klug und belesen. Überaus fürsorglich. Aber er hat es nie geschafft … alles zu tun … so zu werden wie … Wissen Sie, seine Eltern hatten große Hoffnung in ihn gesetzt. Haben viel von ihm erwartet. Vater neigt eher zum Grübeln, als das bei Mutter der Fall war. Religiös gesehen ist er … strenger, in gewisser Hinsicht. Er ist stark vom Katholizismus fasziniert. Ohne Mutters Position und Haltung wäre er vermutlich längst konvertiert. Im Herbst war Mutter auf einem ökumenischen Kongress in Boston, und er hat sie begleitet. Da hat er jede einzelne katholische Kirche in der Stadt besucht.«

Lukas zögerte für einen Moment. »Er ist auch strenger zu sich selbst, als Mutter das war. Er ist wohl nie darüber hinweggekommen, dass er seine Eltern enttäuscht hat. Er war Einzelkind, wissen Sie.«

Letzteres fügte er mit einer Miene hinzu, als ob damit alles erklärt wäre.

»Das sind Sie auch, wie ich sehe.«

Yngvar schaute wieder in seine Papiere, drehte den Notizblock um und kritzelte rasch einige Sätze.

»Ja.«

»Sie sind … neunundzwanzig Jahre alt?«

Yngvar staunte, als er das Geburtsdatum in seinen Unterlagen sah. Am Vortag hatte er den Sohn der Bischöfin auf Mitte dreißig geschätzt.

»Ja.«

»Ihre Eltern waren bei Ihrer Geburt also seit vierzehn Jahren verheiratet.«

»Sie haben lange studiert. Meine Mutter jedenfalls.«

»Und weitere Kinder haben sie nicht bekommen?«

»Nicht dass ich wüsste.«

Das säuerliche Misstrauen war wieder da.

Yngvar lächelte entwaffnend und fragte rasch: »Wenn Sie sagen, dass Ihre Eltern einander unendlich geliebt haben, wie erklären Sie sich das?«

Jetzt sah der Mann ehrlich überrascht aus. »Wie ich … Wie meinen Sie das?«

Ohne auf Antwort zu warten, fügte er hinzu: »Sie haben es jeden Tag hundertmal gezeigt! Wie sie miteinander geredet haben, die Erlebnisse, die sie geteilt haben, das alles … Herrgott, was ist das für eine Frage!«

Sein Blick war fast beängstigend, weil er das blutrote Auge weit aufgerissen hatte. Plötzlich erstarrte er und hörte auf zu atmen.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte Yngvar nach einigen Sekunden. »Lukas Lysgaard! Stimmt etwas nicht?«

Langsam ließ der Mann die Luft aus seiner Lunge entweichen. »Migräne«, sagte er leise. »Jetzt gerade setzen die Sehstörungen ein.«

Seine Stimme klang monoton und er blinzelte. »Ich sehe ein Schimmern in der einen Hälfte von …«

Er hob eine Hand und legte sie wie eine Sperre zwischen sein rechtes und sein linkes Auge. »Das bedeutet, dass ich in ziemlich genau fünfundzwanzig Minuten entsetzliche Kopfschmerzen haben werde. Ich muss gehen. Ich muss machen, dass ich nach Hause komme.«

Er sprang so plötzlich auf, dass sein Stuhl umkippte. Für einen Moment verlor er das Gleichgewicht und stemmte eine Hand gegen die Wand. Yngvar schaute auf die Uhr. Er hatte den ganzen Tag für dieses soeben erst begonnene Gespräch reserviert. Er hatte zwar schon genug erfahren, um einige Überlegungen anzustellen, aber seine Verärgerung darüber, jetzt aufhören zu müssen, ließ sich kaum verbergen. Es spielte keine Rolle. Lukas Lysgaard schien für diese Welt verloren zu sein.

»Ich lasse Sie nach Hause bringen«, sagte Yngvar leise. »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«

»Nein. Nach Hause. Gleich.«

Yngvar nahm Lukas’ Mantel von einem Haken an der Wand. Der Mann machte nicht einmal Miene, den Mantel anzuziehen. Er schleifte ihn einfach hinter sich her, als er zur Tür stürzte.

Yngvar machte einige rasche Schritte und überholte ihn. »Ich sehe, dass es Ihnen nicht gut geht«, sagte er mit der Hand auf der Klinke. »Natürlich verschieben wir den Rest dieses Gesprächs auf einen besseren Zeitpunkt. Aber eine Frage muss ich leider noch stellen. Sie haben Sie gestern schon kurz gehört.«

Der Mann vor ihm verzog keine Miene. Er schien fast nicht mehr zu wissen, dass Yngvar sich im Raum befand.

»Wieso war Ihre Mutter am Heiligen Abend noch so spät unterwegs?«

Lukas Lysgaard hob den Kopf. Er sah Yngvar in die Augen, leckte sich die Lippen und schluckte hörbar. Es kostete ihn offenbar gewaltige Kraft, sich gegen die Schmerzen zu stemmen, die auf ihn zukamen. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Ich habe keine Ahnung, warum Mutter draußen unterwegs war.«

»Ist sie abends oft spazieren gegangen? Vor dem Schlafengehen? Ich meine, war es üblich, dass sie …«

Lukas hatte seinen Blick noch nicht losgelassen. »Ich muss nach Hause«, sagte er heiser. »Nein, ich habe keine Ahnung, wohin meine Mutter wollte oder was sie vorhatte. Bringen Sie mich nach Hause. Bitte.«

Du lügst, dachte Yngvar und öffnete die Tür. Ich kann sehen, dass du lügst.

»Ich sage die Wahrheit«, sagte Lukas Lysgaard und taumelte auf den Gang hinaus.

»Du könntest ja nicht mal lügen, wenn du dafür bezahlt würdest«, lachte Line Skytter und zog die Beine aufs Sofa.

»Jetzt hör aber auf«, sagte Inger Johanne, zu ihrem Erstaunen leicht verärgert. »Ich bin doch sogar Spezialistin für Lügen.«

»Für die Lügen anderer, ja. Nicht für deine eigenen. Wenn du bei Rimi Rippe gekauft und deiner Mutter gesagt hättest, die sei von Strøm-Larsen, dann würde deine Nase von hier bis zum Sognsvann wachsen. Gut für dich, dass du Kabeljau genommen hast.«

»Aber nicht gut genug für meine Mutter«, murmelte Inger Johanne in ihr Weinglas.

»Das ist jetzt scheißegal«, sagte Line gereizt. »Deine Mutter ist einfach nur bezaubernd. Kann gut mit den Kindern umgehen und ist so lieb, wie der Tag lang ist. Sie ist nur … ein wenig emotional inkontinent. Was sie denkt, muss sozusagen sofort aus ihrem Mund heraus. Vergiss es. Prost!«

Inger Johanne hob ihr Glas. Ihre älteste und beste Freundin hatte eine Stunde zuvor an der Tür gestanden, mit zwei Flaschen Wein und drei DVDs in einer Tasche. Inger Johanne war zunächst leicht verärgert gewesen, eigentlich hatte sie sich auf einen weiteren einsamen Abend vor dem Computer gefreut. Jetzt lümmelten sie auf dem riesigen Sofa, und Inger Johanne konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt so gelöst gewesen war. »Herrgott, ich bin vielleicht müde.«

Sie lächelte und gähnte ausgiebig. »Ich merke das immer nur, wenn ich mich entspanne.«

»Du musst aber wach bleiben. Es läuft gleich …«

Rasch sah sie die DVDs auf dem Couchtisch durch. »Zuerst What happens in Vegas. Dieser Ashton Kutcher ist unvorstellbar reizend. Und Kritik ist verboten. Jetzt machen wir es uns einfach nur gemütlich.«

Sie versetzte Inger Johanne einen Tritt, und die schüttelte resigniert den Kopf. »Wie viel schmeißt du eigentlich für so was aus dem Fenster?«, fragte sie.

»Sei nicht so kackvornehm. Dir wird es auch gefallen.«

»Ist es in Ordnung, wenn wir zuerst noch die Nachrichten sehen? Um wenigstens einen Fuß auf dem Boden der Realität zu haben, ehe wir in diese Kitschsuppe springen?«

Line lachte und hob ihr Glas in einer zustimmenden Geste.

Inger Johanne schaltete den Fernseher mit der Fernbedienung ein und erwischte gerade noch die letzten Sekunden der Erkennungsmelodie. Die erste Textzeile war wie erwartet: Bischöfin Eva Karin Lysgaard auf offener Straße ermordet – Polizei noch immer ohne Spuren …

»Was?«, fragte Line und riss den Mund auf, ehe sie sich gerade setzte. »Sie ist ermordet worden? Was um alles in der Welt «

Sie nahm die Beine vom Sofa, stellte das Glas auf den Tisch, stützte die Ellbogen auf die Knie und beugte sich vor.

»Das ist den ganzen Tag im Fernsehen und im Radio wiederholt worden«, sagte Inger Johanne. »Wo warst du denn die ganze Zeit?«

»Skilaufen«, sagte Line Skytter. »Ich habe gestern Abend gehört, dass sie tot ist, aber nichts davon, dass es … pst!«

Der Nachrichtensprecher Christian Borch trug einen dunklen Anzug und war sehr ernst. »Die Polizei bestätigt heute, dass die Bischöfin von Bjørgvin, Eva Karin Lysgaard, am Abend des 24. Dezember ermordet worden ist. Gestern wurde der Tod von Bischöfin Lysgaard bekannt gegeben, die Umstände des Todes wurden jedoch erst in den frühen Morgenstunden des heutigen Tages veröffentlicht.«

Das Bild wechselte vom Studio auf ein verregnetes Bergen, wo ein Reporter den Fall zusammenfasste, was im Grunde zwei Minuten leeres Gerede bedeutete.

»Ist Yngvar deshalb nicht in Oslo?«, fragte Line und dreht sich zu Inger Johanne um.

Die nickte nur kurz.

»Soweit bisher bekannt ist, hat die Polizei noch keine Spuren.«

»Was bedeutet, dass sie jede Menge Spuren haben«, sagte Inger Johanne. »Ohne irgendeine Ahnung davon, wohin die führen.«

Line brachte sie zum Schweigen. Stumm verfolgten beide den ganzen Bericht, der wohl zwölf Minuten dauerte. Diese ungewöhnliche Länge lag nicht nur daran, dass es wie üblich an den Weihnachtstagen nur wenige Neuigkeiten gab. Das hier war etwas Besonderes. Man konnte das allen ansehen, die interviewt wurden, der Polizei, den Geistlichen, den Politikern, den befragten Passanten auf der Straße, alle waren auf eine Weise betroffen, die Norweger in der Öffentlichkeit eigentlich nicht zeigen. Vielen versagte die Stimme. Einige brachen während des Interviews in Tränen aus.

»Das ist fast wie damals bei König Olaf«, sagte Line und schaltete den Fernseher aus.

»Na ja, der ist doch an Altersschwäche gestorben, schön in seinem Bett.«

»Ja, das schon, aber die … Stimmung irgendwie. Wer in aller Welt könnte denn so eine Frau umbringen? Sie war doch so … lieb, irgendwie. So gut.«

Inger Johanne fiel ein, dass sie zwei Tage zuvor fast genauso reagiert hatte. Eva Karin Lysgaard hatte nicht nur wie ein guter Mensch gewirkt, sie hatte offenbar auch beträchtliche diplomatische Fähigkeiten besessen. Theologisch gesehen hatte sie sich ungefähr in der Mitte des bunten Bildes aufgehalten, das die Norwegische Staatskirche bot. Sie war weder sonderlich radikal noch sonderlich konservativ. In der Frage der Homosexualität, die die Kirche seit so vielen Jahren umtrieb und die Norwegen immer weiter auf ein konfessionsneutrales Grundgesetz hintrieb, war sie die Hauptarchitektin hinter dem brüchigen Friedensvertrag gewesen: Es sollte Platz für beide Ansichten geben. Zugleich hatte sie energisch für das Recht ihrer Gegner gekämpft, das genaue Gegenteil zu vertreten. Bischöfin Lysgaard wirkte offen und zugänglich, eine typische Vertreterin der Anhänger einer breiten volkstümlichen Staatskirche. Was sie nicht war. Im Gegenteil, die unvollkommene Unabhängigkeit der Kirche von staatlichen Weisungen erweckte in ihr starke Bedenken, und sie ließ sich kaum eine Gelegenheit entgehen, um für ihre Sicht der Dinge zu argumentieren.

Immer freundlich, immer ruhig. Mit einem vielsagenden Lächeln, das einer scharfen Bemerkung, die ihr durchaus entgleiten konnte, die Kanten abschliff.

Meistens ging es dann um die Frage der Abtreibung.

Eva Karin Lysgaard war auf einem einzigen Gebiet extrem: Sie war Abtreibungsgegnerin. Ganz und gar und unter allen Umständen. Nicht einmal nach einer Vergewaltigung oder bei Lebensgefahr für die Mutter konnte sie einen Eingriff akzeptieren, durch den erschaffenes Leben entfernt wurde. Für Bischöfin Lysgaard war Gottes Schöpfung unantastbar.

Seltsamerweise wurde sie für diese Ansicht respektiert, in einem Land, in dem die Abtreibungsdiskussion eigentlich schon 1978 verstummt war. Die wenigen, die noch immer gegen das Gesetz zum freiwilligen Schwangerschaftsabbruch kämpften, galten zumeist als lächerlich konservativ und – jedenfalls in den Augen der Allgemeinheit – als reichlich extrem. Doch sogar Frauenrechtlerinnen nahmen sich im Gespräch mit Eva Karin Lysgaard zurück. Die Bischöfin stritt ab, dass die Abtreibungsfrage etwas mit dem Kampf der Frauen um Gleichberechtigung zu tun haben sollte.

Es ging um die Heiligkeit des Lebens.

»Was sie wohl da draußen im Wald erlebt hat«, sagte Inger Johanne plötzlich.

»Im Wald? Ich dachte, sie ist auf der Straße ermordet worden.«

»Sicher, ich meine nicht den Mord, sondern damals … Sie ist am Samstag in Magasinet porträtiert worden, hast du das gesehen?«

Line schüttelte den Kopf und schenkte sich noch Wein ein. »Wir waren übers Wochenende auf der Hütte. Sind unglaublich viel Ski gelaufen, haben aber so gut wie keine Zeitung gelesen.«

Das tust du doch nie, egal, wo du bist, dachte Inger Johanne und lächelte, als sie weitersprach: »Sie hat gesagt, dass sie mit sechzehn Jahren im Wald Gott begegnet ist. Es sei etwas ganz Besonderes passiert, aber sie wollte nicht sagen, was.«

»Begegnet man nicht eigentlich Jesus?«

»Was?«

»Ich dachte«, sagte Line, »wenn man bekehrt wird, dann sagt man danach: ›Ich habe Jesus gesehen.‹«

»Gott oder Jesus«, murmelte Inger Johanne. »Ist doch egal.«

Sie sprang auf und lief ins Schlafzimmer. Als sie zurückkam, brachte sie die Zeitung mit und blätterte zum Interview durch. »Hier«, sagte sie und holte Atem. »Ich befand mich in einer ziemlich schwierigen Situation. Das geht uns als Teenager ja oft so. Alles wird dann für uns so viel größer. Mir ging es auch so. Und dann ist mir Jesus begegnet.«

»Ha«, rief Line. »Ich hatte recht!«

»Pst. Aber was ist damals passiert? Ja, das ist die Frage im Interview.«

Inger Johanne schaute Line kurz über ihren Brillenrand hinweg an und las weiter: »Das geht nur mich und Gott etwas an, lacht die Bischöfin, und in ihren Lachgrübchen könnte man sich verstecken. – Wir haben alle unsere geheimen Kammern. So soll es sein. So wird es immer sein.«

Sie faltete die Zeitung langsam zusammen.

»Jetzt will ich einen Film sehen«, sage Line.

»Wir haben alle unsere geheimen Kammern«, wiederholte Inger Johanne und musterte die Großaufnahme von Eva Karin Lysgaard auf dem Titelblatt.

»Ich nicht«, sagte Line achtlos. »Wollen wir zuerst What happens in Vegas sehen oder nehmen wir gleich Der Teufel trägt Prada?«

»Du hast bestimmt ein paar geheime Kammern, Line.«

Inger Johanne nahm die Brille ab und rieb sich die Augen, ehe sie hinzufügte: »Du hast nur die Schlüssel dazu verloren.«

»Kann schon sein«, sagte Line unverdrossen. »Aber was ich nicht weiß, macht mich bekanntlich nicht heiß.«

»Da irrst du dich gewaltig«, sagte Inger Johanne und zeigte träge auf Der Teufel trägt Prada. »Gerade was wir nicht wissen, macht uns heiß.«