Detektivin wider Willen
Seine Unterhose lag auf dem Boden. Die Bremsspur war abscheulich deutlich zu sehen, sogar auf dem dunkelgrünen Baumwollstoff. Sie packte den Hosenbund mit Daumen und Zeigefinger und ging ins Badezimmer, um sie in den Korb für schmutzige Wäsche zu werfen. Da er offenbar Verdauungsstörungen hatte, wollte sie die Hose hinterherwerfen. Die lag gleich hinter der verschlossenen Schlafzimmertür. Die Socken hatte sie unterwegs aufgelesen. Leise öffnete sie die Tür und trat ein. Es roch nach Krankheit, und sie riss die Balkontür weit auf. Sie atmete zweimal tief ein, ehe sie sich zu ihm umdrehte.
Er schlief so tief, dass er nicht auf den eiskalten Luftzug reagierte. Seine Haare wurden schon schütter. Die Geheimratsecken waren in den vergangenen beiden Jahren immer tiefer geworden, aber ihr fiel zum ersten Mal auf, dass er oben eine kahle Stelle bekam. Das berührte etwas in ihr, er wirkte so verletzlich, wie er dort lag.
»Lukas«, sagte sie leise und ging zum Bett.
Er schlief weiter.
Sie setzte sich auf die Bettkante und fuhr ihm vorsichtig über die Haare.
»Lukas«, sagte sie noch einmal, jetzt lauter. »Du musst aufwachen.«
Er grunzte und versuchte, sich die Decke über den Kopf zu ziehen. »Ich will schlafen«, murmelte er. »Geh weg.«
»Nein, Lukas, gleich muss ich die Kinder holen, und vorher muss ich unter vier Augen etwas mit dir besprechen. Etwas Wichtiges.«
»Das muss warten. Es tut so weh …«
Er schluckte laut und jammerte. »Im Hals!«
»Yngvar Stubø hat angerufen.«
Die Decke hob und senkte sich nicht mehr. Sie merkte, wie er sich verspannte, und fuhr ihm noch einmal über den Kopf.
»Er hatte eine seltsame Frage«, sagte sie leise. »Und ich muss dich auch etwas fragen.«
»Mein Hals. Der brennt.«
»Gestern«, fing sie an und räusperte sich. »Gestern Vormittag hatte ich Kopfschmerzen. Da wir kein Paracet mehr hatten, wollte ich mir eine von deinen Migränepillen holen.«
Er fuhr hoch. »Bist du verrückt«, fauchte er, »diese Pillen sind verschreibungspflichtig und nur für mich bestimmt. Ich weiß nicht mal, ob sie noch gegen andere Kopfschmerzen helfen oder nur gegen Migräne.«
»Reg dich ab«, sagte sie ruhig. »Ich habe keine genommen. Aber ich muss zugeben, dass ich deine Schublade aufgemacht habe und …«
»Du hast was getan?«
Seine Stimme kippte ins Falsett um.
»Ja, ich wollte nur …«
»Da geben wir uns alle Mühe, den Kindern beizubringen, dass sie die Sachen anderer in Ruhe lassen müssen«, sagte er heiser, »keine fremden Briefe öffnen dürfen. Nicht in fremde Nachttischschubladen schauen. Und dann … Und dann kommst du und …«
Die Fäuste schlugen dumpf auf die Bettdecke.
»Lukas«, sagte Astrid ruhig. »Lukas, sieh mich an.«
Als er endlich den Blick hob, fuhr sie zusammen. »Wir müssen miteinander reden«, flüsterte sie. »Du hast Geheimnisse vor mir, Lukas.«
»Ich habe keine andere Wahl.«
»Doch. Wir haben immer eine Wahl. Wer ist die Frau auf dem Bild? Und warum hast du das Bild aus dem Rahmen genommen und in der Schublade eingeschlossen?«
Sie legte die Hand auf seine. Er zog sie nicht weg, öffnete sie aber auch nicht. »Ich glaube, ich habe eine Schwester«, flüsterte er.
Astrid traute ihren Ohren nicht.
»Ich glaube, ich habe vielleicht eine Schwester«, wiederholte er mit kratziger Stimme. »Eine ältere Schwester, die jedenfalls Mutters Kind ist. Vielleicht auch Vaters. Von damals, als sie ganz jung waren.«
»Ich glaube, du bist verrückt geworden«, sagte Astrid sanft.
»Nein. Es ist mein Ernst. Das Bild stand so lange da, und ich habe nie gewusst, wen es zeigt. Einmal habe ich Mutter gefragt …«
Ein Hustenanfall zwang ihn, sich aufzurichten. Astrid ließ seine Hand los, stand aber nicht auf.
»Ich habe Mutter gefragt, wer es ist. Sie hat nur gesagt, es sei eine Freundin, die ich nicht kenne.«
»Dann war das sicher die Wahrheit.«
»Warum hätte Mutter neben ihrem Bett ein Bild von einer Frau haben sollen, wenn es nicht meine Schwester wäre? Die anderen Bilder zeigen mich und Vater.«
»Ich habe deine Mutter zwölf Jahre lang gekannt, Lukas. Eva Karin war der redlichste, reinste und durch und durch ordentlichste Mensch auf Erden. Niemals, niemals hätte sie ein Kind verheimlicht. Nie und nimmer.«
»Sie kann es zur Adoption freigegeben haben. Das wäre doch nicht ehrenrührig gewesen. Im Gegenteil, es hätte Mutters Entschiedenheit erklären können, wenn es um Abtreibung ging und …«
Seine Stimme gab vollständig nach, und er griff sich an den Hals. »Was wollte Stubø wissen?«, flüsterte er.
»Wer auf dem Bild ist.«
»Was hast du geantwortet?«
»Nichts.«
»Nichts?«
»Ich habe gesagt, dass ich es nicht weiß. Und das ist die Wahrheit. Ich weiß es ja nicht. Aber wenn es für die Ermittlung von Bedeutung sein kann, musst du mit Stubø reden.«
»Es kann unmöglich etwas mit dem Fall zu tun haben. Ich will das nicht an die Öffentlichkeit bringen. Das ist das Letzte, was Mutter gewollt hätte!«
»Aber Lukas«, sagte sie leise. »Warum, glaubst du, nimmt Stubø dieses Bild so wichtig? Er meint doch offenbar, dass es von Bedeutung sein kann. Und wir wollen doch, dass dieser Fall aufgeklärt wird, Lukas. Was?«
Er gab keine Antwort. Seine mürrische Miene mit dem gesenkten Blick erinnerte so sehr an ihren ältesten Sohn, dass sie lächeln musste.
»Vater hatte es weggenommen«, murmelte er.
»Wann denn?«
»Wahrscheinlich am Tag nach dem Mord. Nachdem Stubø zum ersten Mal bei uns war. Er hatte sich in Mutters Zimmer verirrt, und einige Tage später ist ihm offenbar aufgefallen, dass das Bild verschwunden war.«
Er zog eine Handvoll Papiertücher aus einer Schachtel auf dem Nachttisch und putzte sich die wunde Nase.
»Woher hast du es?«, fragte sie. »Wenn Erik es weggenommen hatte?«
»Lange Geschichte«, sagte er. »Aber jetzt muss ich schlafen, Astrid. Wirklich. Ich fühle mich total elend.«
Sie blieb sitzen. Es zog so heftig durch die offene Tür, dass die Zeitung auf dem Nachttisch raschelte. Es regnete jetzt wieder und die schweren Tropfen prasselten auf den Balkonboden. Sie strich sanft über die Bettdecke und sagte: »Na gut. Aber wir müssen unbedingt darüber reden.«
Er zog die Decke wieder bis zum Kinn und kehrte ihr den Rücken zu. »Würdest du die Tür zumachen?«
»Ja«, antwortete sie.
Das Holz hatte sich in der ewig langen Regenperiode verzogen, und die Balkontür ließ sich nicht ganz schließen. Sie ließ sie angelehnt und verließ mit Lukas’ schmutziger Hose und seinen Socken unter dem Arm das Zimmer.
Unten klingelte das Telefon.
Fast hoffte sie, es wäre Yngvar Stubø.
»Hast du mit deinem Mann gesprochen … Weiß Yngvar Stubø das alles?«
Silje Sørensen hatte Inger Johanne fast eine Dreiviertelstunde lang zugehört. Ab und zu hatte sie eine Notiz gemacht, und ein einziges Mal hatte sie eine Antwort eingeschoben. Ansonsten hatte sie immer angespannter zugehört. Irgendwann während Inger Johannes überzeugender und unglaublicher Darstellung hatte eine feine Röte sich über den Hals der Hauptkommissarin ausgebreitet. Jetzt sah Inger Johanne ihre Halsschlagader deutlich pochen.
»Nein«, gab Inger Johanne nach kurzem Zögern zu. »Er ist gerade in Bergen.«
»Das ist mir schon klar, aber es ist doch …«
Silje fuhr sich mit den Fingern durch die halblangen Haare. Der Diamant funkelte. »Mal sehen, ob ich das richtig zusammenfassen kann.«
Ein blauer Kugelschreiber schwebte zwischen Mittel- und Zeigefinger.
»Die 25er«, begann sie, »sind also eine Organisation, über die nur sehr wenig bekannt ist. Du glaubst, dass sie nach Norwegen gekommen sind, aber du weißt nicht, weshalb. Du nimmst an, dass sie begonnen haben, Homosexuelle oder Sympathisanten nach einem ziemlich genau festgelegten Zeitplan umzubringen, und dieser Zeitplan basiert auf den Zahlen 19, 24, und 27. Die kryptischen Zahlen beziehen sich auf den Koran und zwei Stellen im Brief des Paulus an die Römer.«
Sie schaute von ihren Notizen auf.
»Ja«, sagte Inger Johanne kleinlaut.
»Ist dir klar, dass sich das total verrückt anhört?«
»Ja.«
»Möchtest du wissen, warum ich mir das seit fast …«
Sie schaute auf ihre Omega-Uhr aus Gold und Stahl.
»… einer Stunde anhöre?«
»Ja.«
Inger Johanne bereute alles bitterlich. Natürlich hätte sie mit Yngvar sprechen müssen; mit Ynvgar, der sie kannte und wusste, was sie konnte und wie sie dachte. Jetzt fühlte sie sich neben dieser Hauptkommissarin mit den gepflegten Nägeln und den Haaren, die sicher am selben Morgen noch von einem Friseur gelegt worden waren, wie das letzte Trampel.
Silje Sørensen stand auf.
Sie öffnete eine Schreibtischschublade. Sie war so klein, dass sie sich fast nicht zu bücken brauchte. Inger Johanne kam der Gedanke, dass es ihr schwergefallen sein musste, die körperlichen Anforderungen für die Aufnahme an der Polizeihochschule zu erfüllen. Silje Sørensen blieb eine Weile schweigend stehen und sah sich irgendetwas an, was Inger Johanne nicht erkennen konnte. Dann wurde die Schublade wieder geschlossen, und Silje Sørensen trat ans Fenster. »Und am 27. Dezember hast du eigentlich keinen Mord«, sagte sie mit dem Rücken zu Inger Johanne. »Du nimmst nur an, dass dieser …«
Die Pause dauerte so lange, dass Inger Johanne murmelte: »Niclas Winter.«
»Dass dieser Niclas Winter ermordet wurde und nicht an einer Überdosis gestorben ist.«
Inger Johanne überlegte, ob sie sich einfach verabschieden sollte. Die Schultertasche lag zu ihren Füßen, halb geöffnet, und sie konnte sehen, dass sie drei Anrufe verpasst hatte.
»Außerdem«, sagte Silje Sørensen so plötzlich und so laut, dass Inger Johanne zusammenzuckte, »scheinen sie in den USA doch nur Homosexuelle umzubringen und keine Sympathisanten. Oder?«
»Aber es ist so wenig über sie bekannt, und sie haben …«
»Weißt du wirklich, dass sie sich an Daten gebunden fühlen?«
»Ja!«
Das hatte Inger Johanne fast gerufen. »Ich habe meine …«
Sie riss sich zusammen, sie hatte ohnehin schon Glaubwürdigkeitsprobleme, da brauchte sie nicht auch noch auf eine Freundin zu verweisen.
»Ich habe Anwältin Winslow beim APLC angerufen«, korrigierte sie sich. »Dieses Büro, von dem ich erzählt habe.«
Das stimmte. Auf dem Weg zur Polizei hatte Inger Johanne das Bedürfnis verspürt, ihre magere Geschichte ein wenig auszupolstern, und sie hatte Karen in den USA angerufen. Erst als ihre Freundin sich gemeldet hatte, war Inger Johanne eingefallen, dass in Alabama Nacht war. Es spiele keine Rolle, hatte Karen beteuert, sie habe jedenfalls nicht geschlafen.
»Wie gesagt, der Hintergrund des Namens ›The 25’ers‹ ist von Numerologen ermittelt worden. Sie hatten natürlich mehr, worauf sie aufbauen und ihre Theorien erstellen konnten. Die sechs Morde, die sie bisher mit der Organisation in Verbindung bringen, wurden am 19., 24. und 27. verübt. Das weiß ich von Anwältin Winslow.«
Sie wischte sich die Oberlippe ab und fügte verlegen hinzu: »Seit heute Morgen.«
Silje Sørensen ging wieder zu ihrem Schreibtisch. Öffnete die Schublade, schaute hinein.
Plötzlich setzte sie sich. Die Schublade stand noch immer offen. »Wenn du vor einer Woche gekommen wärst«, sagte sie, »dann hätte ich dich nach fünf Minuten hinauskomplimentiert. Heute habe ich das nicht getan, denn …«
Sie sahen einander an. Inger Johanne biss sich auf die Lippe.
»Ich weiß nicht, ob es richtig von mir ist, dir das zu erzählen«, sagte Silje, ohne ihren Blick loszulassen. »Du bist ja nicht bei der Polizei. Rein offiziell, meine ich.«
Inger Johanne schwieg.
»Andererseits gehe ich davon aus, dass du in Verbindung mit deinem Forschungsprojekt von den zuständigen Behörden sozusagen eine General-Vollmacht besitzt. Ich halte es für selbstverständlich, dass du weitreichende Befugnisse besitzt, was Zugang zu unseren Strafsachen bedeutet, jedenfalls wenn wir den Verdacht haben, dass es sich um Hasskriminalität handelt.«
Inger Johanne öffnete den Mund zum Widerspruch.
Silje hob abwehrend die Hand. »Ich gehe davon aus, habe ich gesagt! Ich habe nicht vor, dich zu fragen. Ich sage nur, was ich annehme. Damit ich dir das hier zeigen kann.«
Sie zog ein Blatt Papier aus der Schublade, musterte es einen Moment und reichte es dann Inger Johanne.
Die nahm das Blatt und rückte ihre Brille zurecht.
Auf dem Zettel standen drei Namen und drei Daten.
»Ich kenne den Namen von Marianne Kleive«, sagte sie. »Aber bei den beiden anderen ahne ich nicht …«
»Runar Hansen«, fiel Silje ihr ins Wort. »Am 19. November im Sofienbergpark niedergeschlagen und getötet. Hawre Ghani. Minderjähriger Asylbewerber, der …«
»Sofienbergpark«, unterbrach Inger Johanne. »Ost- oder Westseite?«
»Ostseite«, sagte Silje mit einem fast unmerklichen Lächeln. »Und von Hawre Ghani hast du vielleicht gehört. Wir haben seine Leiche am letzen Adventssonntag aus dem Hafenbecken gefischt.«
Inger Johannes Mund war wie ausgedörrt. Sie sah sich nach etwas zu trinken um, aber von ihrem Kakao war nur noch ein brauner Belag in der Tasse übrig.
»Er war«, sagte Silje und hielt den Atem zu einer Kunstpause an, »unter sehr viel anderem auch Stricher.«
»Ich muss etwas trinken«, sagte Inger Johanne.
»Wir wissen nicht genau, wann er ermordet worden ist, aber es gibt Grund zu der Annahme, dass es am 24. November war. Gemäß einer Zeugenaussage ist er an diesem Tag mit einem Freier losgezogen. Seither ist er nicht mehr gesehen worden. Der Zeitpunkt passt zu den Ergebnissen der Rechtsmedizin.«
»Ich muss nur schnell zur Toilette«, sagte Inger Johanne. »Ich muss ganz einfach einen Schluck trinken.«
»Hier«, sagte Silje und nahm eine Flasche Mineralwasser aus dem Schrank hinter sich. »Ich kann schon verstehen, dass das einen gewissen Eindruck auf dich macht. Du hast zwei und zwei schneller zusammengezählt als wir. Das alles hängt mit …«
»Euch fehlt ein Mord am 27. November«, sagte Inger Johanne.
Ihr wurde immer heißer. Der Schraubverschluss wollte sich nicht von der Flasche drehen lassen.
»Das alles kann Zufall sein«, sagte sie nun und hörte, wie schrill ihre Stimme klang.
»Das glaubst du doch selbst nicht. Und du irrst dich. Uns fehlt kein Mord am 27. November. Als mein Kollege und ich am Dienstag einen auffälligen Zusammenhang zwischen den drei Fällen gesehen haben, für die ich im Moment die Verantwortung trage …«
Sie beugte sich über den Tisch und zeigte auf die Flasche. Inger Johanne reichte sie ihr, und mit geschickter Handbewegung schraubte Silje den Verschluss ab.
Sie gab die Flasche zurück und sagte: »Es ist ziemlich bedenklich, wenn eine Hauptkommissarin allein für drei Morde verantwortlich ist. Ich hatte sogar vier, aber den vierten konnte ich an einen Kollegen abgeben. Ich hielt den Fall zunächst für Routinekram: Ein Wagen kam in Maridalen von der Straße ab, und da auf dieser lebensgefährlichen Strecke niemand die Geschwindigkeitsbegrenzung einhält, starb die Fahrerin. Der Fall wurde als Autounfall behandelt. Dann kam heraus, dass die Bremsen möglicherweise … manipuliert worden waren. Das wusste ich inzwischen auch, aber was ich nicht geahnt hatte, war, dass das Opfer, eine Schwedin namens Sophie Eklund, mit Katie Rasmussen zusammengelebt hat.«
Inger Johanne brauchte einige Sekunden. Sie hatte die Mineralwasserflasche schon zur Hälfte geleert. »Parlamentsmitglied«, sagte sie endlich. »Sprecher der Schwulenbewegung der Sozialdemokraten.«
»Ich glaube, sie wird lieber als Sprecherin bezeichnet.«
»Glaubst du … Richtete sich die Sabotage gegen sie? Ist ihre Lebensgefährtin durch ein Versehen ums Leben gekommen?«
»Ich weiß oder glaube rein gar nichts. Ich sage dir nur, dass deine absurde Theorie ein wenig zu plausibel wirkt, als dass ich sie so einfach zurückweisen könnte.«
»Es kann sich natürlich auch um andere handeln«, sagte Inger Johanne. »Um eine andere Organisation. Oder um Trittbrettfahrer. Oder …«
»Hör mal zu«, sagte die Hauptkommissarin. »Jetzt hörst du mir mal gut zu.«
Sie stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte die Handflächen aneinander. »Du hast einen guten Ruf, Inger Johanne. Vielen hier im Haus ist klar, was du für die Kripo geleistet hast, ohne Dank und Ehre einzuheimsen. Mir bist du vor allem aufgefallen, als die Kripo vor einigen Jahren die Sache mit den ermordeten Kindern aufgeklärt hat. Dass dein Einsatz jedenfalls dem einen entführten Mädchen das Leben gerettet hat, das ist in unseren Kreisen kein Geheimnis.«
Inger Johanne starrte sie ausdruckslos an. Sie begriff nicht, worauf die Hauptkommissarin hinauswollte.
»Aber angeblich bist du ziemlich …«
Sie setzte sich gerade und kniff die Lider zusammen, dann hatte sie ein Wort gefunden, das ihr gefiel: »Widerwillig«, sagte sie. »Weißt du, wie du bei der Kripo genannt wirst?«
Inger Johanne hielt die Flasche an den Mund und trank. Lange.
»The reluctant detective.«
Siljes Lachen war herzlich, warm und ansteckend.
Inger Johanne lächelte und schraubte den Verschluss auf die Flasche. »Das wusste ich nicht«, sagte sie ehrlich. »Yngvar hat es nie erwähnt.«
»Vielleicht weiß er es nicht. Mir geht es jedenfalls darum, dass du jetzt hier sitzt und zeigst, dass du diesen Spitznamen absolut verdient hast. Zuerst lancierst du eine Theorie, die aus einem amerikanischen Horrorfilm stammen könnte, dann versuchst du, vor der Idee wegzulaufen, wenn ich dir erzähle, dass sie durchaus zutreffen kann. Und dann muss ich doch …«
Laute Rufe auf dem Gang. Eine Männerstimme brüllte, eilige Schritte folgten dem Geheul einer Frau. Inger Johanne starrte entsetzt auf die geschlossene Tür.
»Da versucht jemand abzuhauen«, sagte Silje ruhig. »Aber das schafft keiner.«
»Sollten wir nicht helfen?«
»Du und ich? Glaub ich nicht.«
Jemand hatte den Ausbrecher offenbar ruhiggestellt, denn es kehrte wieder Stille ein. Inger Johanne zupfte an ihrem Pulloverbund herum, dann fiel ihr Blick auf einen Kalender, der hinter Silje hing. Ein roter magnetischer Kreis zog sich um Donnerstag, den 15. Januar.
»Unabhängig von meiner Theorie«, sagte Inger Johanne, »ist es eine Tatsache, dass wir im November und Dezember insgesamt sechs Morde mit … irgendeinem homosexuellen Bezug hatten, so müssen wir das wohl nennen. 19., 24. und 27. November. Dieselben Tage im Dezember. Heute schreiben wir den 15. Januar.«
Noch immer haftete ihr Blick an dem roten Ring. Als sie blinzelte, hatte der sich wie ein grünes O auf ihrer Netzhaut eingeprägt.
»Ja«, sagte Silje Sørensen. »In vier Tagen ist der 19. Januar. Wir haben möglicherweise nicht mehr viel Zeit.«
Auf diesen Gedanken war Inger Johanne noch nicht gekommen. Ihre Arme überzogen sich mit Gänsehaut, und sie streifte die Ärmel nach unten. »Habt ihr irgendeine Spur? Yngvar macht jedenfalls den Eindruck, als ob sie drüben in Bergen feststeckten.«
Silje Sørensen schob die Unterlippe vor und bewegte den Kopf leicht hin und her, als wüsste sie nicht so recht, ob sie das, was sie jetzt suchte, eine Spur nennen könnte. Sie zog drei Schubladen auf, ehe sie die richtige erwischte, und nahm einen Stapel Zeichnungen heraus. Die Schublade knallte zu, als Silje dann aufstand und zu der leeren Pinnwand hinüberging. »Wir haben das hier«, sagte sie. »Phantomzeichnungen des Mannes, der von Hawre Ghani Sex kaufen wollte, als der zuletzt lebend gesehen worden ist.«
Sie befestigte die Zeichnungen mit knallroten Heftzwecken an der Pinnwand. Inger Johanne erhob sich und wartete, bis alle vier Blätter dort hingen. Ein Ganzkörperbild, ein Gesicht von vorn, eins von der Seite und eine seltsame Zeichnung von etwas, was wie ein Revers mit einem Anstecker aussah.
»Ist alles in Ordnung?«
Siljes Stimme schien von weit, weit her zu kommen.
»Inger Johanne!«
Jemand packte ihren Arm. Ihr Kopf fühlte sich so leicht an, als könnte er sich losreißen und wie ein Heliumballon zur Decke steigen, wenn sie sich nicht zusammenriss.
»Setz dich! Setz dich, um Himmels willen!«
»Nein. Ich will hier stehen!«
Sogar ihre eigene Stimme wirkte fremd.
»Hast du … Weißt du, wer das ist, Inger Johanne?«
»Von wem ist das Bild?«
»Von unserem festen Zeichner, er heißt …«
»Nein, das meine ich nicht. Welcher Zeuge hat den Mann beschrieben?«
»Ein Junge. Straßenjunge. Stricher. Weißt du, wer das ist?«
Noch immer hielt sie Inger Johannes Arm. Ihr Griff wurde fester.
»Ich habe diesem Mann eine Ohrfeige verpasst«, sagte Inger Johanne.
»Was?«
»Entweder spielt der Zeuge mir einen Streich, oder er ist der aufmerksamste Beobachter der Welt. Diesen Mann werde ich nie vergessen. Er …«
Das Blut kehrte in ihren Kopf zurück. Sie hatte das Gefühl, lange nicht mehr so klar gedacht zu haben. Eine seltsame Ruhe überkam sie, als hätte sie endlich erkannt, was sie wollte und woran sie glaubte. »Er hat meiner Tochter das Leben gerettet«, sagte sie. »Er hat Kristiane davor gerettet, von der Straßenbahn überfahren zu werden, und ich habe ihm zum Dank eine gescheuert.«
Anwalt Kristen Fabers Sekretärin hatte es endlich geschafft, die Schublade ihres Chefs aufzustochern. Natürlich hatte sie keinen Schlosser oder Schreiner holen müssen. Sie hatte nur ein wenig energisch mit einem Federmesser, das zur Zierde auf ihrem Schreibtisch lag, am Schloss herumgebohrt. Klick, sagte es, und die Schublade öffnete sich.
Da lag der Umschlag. Groß und braun, handschriftlich mit Niclas Winters Namen und Personenkennnummer versehen. Der Umschlag war auf altmodische Weise versiegelt, mit Lack und Stempel. Als zusätzliche Garantie gegen unbefugtes Öffnen hatte jemand eine absolut unleserliche Unterschrift quer über die Stelle gesetzt, an der der Umschlag zugeklebt war.
Als Kristen Faber die Kanzlei vom alten Anwalt Skrøder übernommen hatte, war zunächst viel zu tun gewesen. Ulrik Skrøder war im letzten halben Jahr, ehe sein Sohn den armen alten Mann entmündigen und die Kanzlei verkaufen konnte, total senil gewesen.
Das hatten sie jedenfalls so gehört. Die Sekretärin, die für Ordnung sorgen und sich um die Wiedervorlagetermine kümmern musste, die entweder schon verstrichen waren oder kurz bevorstanden, hatte den Eindruck gehabt, der Mann sei schon seit vielen Jahren durcheinander gewesen. Nichts war in Ordnung, und sie brauchte mehrere Monate allein für die Grobsortierung.
Als sie endlich damit fertig war, wurde Kristen klar, dass er für die Kanzlei viel zu viel bezahlt hatte. Es gab weniger laufende Fälle als zugesichert, und die meisten Mandanten waren offenbar im Alter ihres Anwalts. Sie starben ganz einfach, einer nach dem anderen, ihre Angelegenheiten in penibler Ordnung und ohne Bedarf an anwaltlicher Hilfe.
Anderthalb Jahre später gewann Kristen eine Klage auf Erstattung der halben Summe, die er hingeblättert hatte.
Die Sekretärin konnte Kristens Frustration darüber, die Katze im Sack gekauft zu haben, gut verstehen. Trotzdem musste sie ihn ab und zu an die vielen versiegelten Umschläge erinnern, die in einem Schrank im Archiv gelegen hatten. Einige sahen uralt aus, und Anwalt Skrøders Sohn hatte behauptet, sie könnten hohe Werte enthalten. Sie seien von einigen der ältesten und reichsten Familien der Stadt in Verwahrung gegeben worden. Sein Vater habe immer gesagt, der schwere Eichenschrank mit den ihm anvertrauten Unterlagen sei der Beweis für sein hohes Renommee. Da alle versiegelt waren, ordentlich beschriftet mit Namen oder Inhalt, hatte Kristen Faber sich damit begnügt, vielleicht ein Dutzend von ihnen zu öffnen, damals, als er ganz besonders verzweifelt darüber gewesen war, eine Kanzlei gekauft zu haben, die nicht den geringsten Gewinn abwarf.
Abgesehen von Aktien in Firmen, die längst nicht mehr existierten, Eheverträgen zwischen Paaren, die längst nicht mehr lebten, und Banknoten, die längst nicht mehr gültig waren, fand er nur einen Romanentwurf eines unbekannten Autors, und er konnte nach zehn Seiten sagen, dass der Text rein gar nichts taugte. Danach knallte er die Schranktür zu, fest entschlossen, den ärgerlichen Verlust zu vergessen und sich aus eigener Kraft hochzuarbeiten.
Seither hatte der Schrank einfach nur dort gestanden.
Sie selbst hatte ihn zum ersten Mal in fast neun Jahren geöffnet, als der junge Niclas Winter angerufen hatte. Er wirkte frustriert, war ziemlich unhöflich und wollte wissen, ob sie einen Umschlag mit seinem Namen im Archiv hätten. Da sie Zeit genug hatte und von Natur aus neugierig war, hatte sie im Schrank nachgesehen. Und da lag er. Bei genauerem Betrachten wirkte er neuer als fast alles andere in diesem Schrank.
Jetzt hielt sie den Umschlag ins Licht.
Es war unmöglich zu sehen, was darin steckte. Niclas Winter hatte auch nichts darüber gesagt, als er sie kurz vor Weihnachten am Telefon mit schmatzenden Kusshänden bedacht hatte. Das war sein Dank dafür, dass sie den Umschlag gefunden hatte.
Die Versuchung, das Siegel zu brechen, war fast unwiderstehlich. Sie legte die Hand auf das dicke Papier. Solche Umschläge ließen sich zwar über Dampf öffnen, aber das Siegel war ein Problem.
Mit leisem Seufzer legte sie den Umschlag auf Kristen Fabers Tisch und ging wieder an ihren Platz.
Sie würde jedenfalls dabei sein, wenn er ihn öffnete.
»Wir können damit nicht an die Öffentlichkeit gehen«, sagte Silje Sørensen und legte die ganze Hand über das Bild des geheimnisvollen Mannes. »Jedenfalls noch nicht. Wenn wir das Bild veröffentlichen, verliert es viel von seinem Wert. Alle werden sich eine Meinung bilden, die Anrufe werden nur so hereinströmen, und aller Erfahrung nach bleiben wir erst einmal stecken, ehe es endlich etwas zu holen gibt. Jetzt dagegen …«
Sie betrachtete das Bild noch einige Sekunden lang, ehe sie sich wieder setzte. »Jetzt haben wir ein Ass im Ärmel. Wir haben etwas, und er weiß nicht, dass wir es haben.«
Inger Johanne nickte. Als sie wieder zur Besinnung gekommen war, nachdem sie den Mann auf dem Phantombild erkannt hatte, waren sie die Sache noch einmal Punkt für Punkt durchgegangen. Jetzt hatte sie eine weitere Flasche Mineralwasser halb geleert und versuchte, ein Rülpsen zu unterdrücken.
»Und du bist ganz sicher?«
Es war das dritte Mal, dass Silje diese Frage stellte.
»Ich bin ganz sicher, dass diese Zeichnung eine unbegreifliche Ähnlichkeit mit dem Mann hat, der Kristiane gerettet hat, ja. Als ob er Modell gestanden hätte. Dass es sich wirklich um denselben Mann handelt, kann ich natürlich nicht beschwören. Es geht darum, dass …«
Sie musste aufstoßen. »Verzeihung«, sagte sie und presste sich die Faust auf den Mund. »Es geht darum, dass es hier inzwischen so viele Zusammenhänge gibt, dass nicht mehr von purem Zufall die Rede sein kann. Dass der Mann, mit dem Hawre Ghani zuletzt gesehen worden ist, dort auftaucht, wo Marianne Kleive ermordet wurde, muss doch als Durchbruch betrachtet werden. In beiden Fällen, möchte ich hinzufügen.«
»Du kannst hier anfangen.«
Silje deutete ein Lächeln an, dann trat eine neue Furche zwischen ihre schmalen Augenbrauen, und sie fügte hinzu: »Und wo du gerade den Durchblick hast, kannst du dieses Abzeichen da erklären?«
Sie richtete den Finger auf die Zeichnung. »Das hat uns reichlich verwirrt.«
»Das war auch der Sinn der Sache«, sagte Inger Johanne. »Die Zeiten für falschen Bart und gefärbte Haare sind vorbei. Kennst du Hitchcocks Strangers on a train?«
Silje runzelte die Stirn noch mehr.
»Das ist der Film, wo zwei sich in einem Zug begegnen«, sagte Inger Johanne. »Beide möchten einen Mord begehen. Der eine schlägt vor, die Morde zu tauschen, damit beide sich ein hieb- und stichfestes Alibi zulegen können. Der Mörder hat dann kein Motiv, und wie wir wissen, versucht die Polizei als Erstes, ein Motiv zu finden.«
Zum zweiten Mal in kurzer Zeit musste sie an Wencke Bencke denken. Sie verdrängte den Gedanken und versuchte zu lächeln.
»Ich … Ich seh mir so was nicht sehr oft an«, sagte Silje.
»Das solltest du aber. Wie auch immer: Das Abzeichen ist da, weil es rein gar nichts mit dem Fall zu tun hat. Sieh dir seine Kleidung an: Dunkle neutrale Sachen ohne ein einziges besonderes Kennzeichen. Jeder halbwegs aufmerksame Beobachter wird an dem knallroten Abzeichen hängen bleiben. Und dann vergeudet ihr jede Menge Energie an …«
»Aber woher hat er es?«
»Kann von überall her sein. Und es kann alles Mögliche sein. Etwas, was er irgendwo aufgelesen hat. Wenn wir uns nicht irren, haben wir es mit einem professionellen Mörder zu tun. Seine Haare, zum Beispiel. Hat er eine Glatze oder hat er sich den Schädel rasiert? Ich tippe auf Letzteres.«
»Als ob du das gelesen hättest«, sagte Silje und schwenkte die Notizen des Zeichners. »Martin Setre war sich nicht sicher.«
»Aber er hat sich diese Frage gestellt? Ich nehme an, dieser Mann …«
Sie nickte zur Pinnwand hinüber. »… hat eigentlich ganz normale Haare. Statt eine Perücke zu tragen oder sich die Haare zu färben, was ja nie so ganz echt aussieht, rasiert er sie weg.«
Silje schüttelte kurz den Kopf. »Wir haben uns schon gefragt, ob der Mann uns zum Narren hält.«
Sie schwiegen. Inger Johanne hatte sich längst wieder auf ihre Hände gesetzt. Jetzt wurden ihre Finger taub, und ein rascher Blick sagte ihr, dass sie nicht mehr nur ungepflegt waren, sondern noch dazu kreideweiß und mit roten Flecken.
»Ganz allein kann er nicht operieren«, sagte Silje, mehr als Frage denn als Überlegung.
»Nein, das glaube ich auch. Sie sind eine Gruppe. Aber nichts ist bewiesen.«
»Ich muss weitermachen«, sagte Silje laut und schlug mit beiden Handflächen auf den Tisch. »Wir müssen möglichst bald eine offizielle Zusammenarbeit mit der Kripo beginnen. Und mit der Bergenser Polizei. Und …«
Sie holte Luft und ließ sie dann zwischen den zusammengepressten Lippen entweichen. »Das hier ist so verdammt viel, dass ich kaum weiß, wo ich anfangen soll.«
Inger Johanne staunte, als die schmale feminine Gestalt fluchte.
»Vielleicht irre ich mich ja«, sagte sie leise.
»Ja, aber das Risiko dürfen wir nicht eingehen.«
Sie standen gleichzeitig auf, wie auf Kommando. Inger Johanne nahm ihre große Umhängetasche und ihren Dufflecoat und ging zur Tür.
Sie hatte nichts über das Gefühl gesagt, dass Kristiane überwacht wurde. Als sie zum Abschied Siljes Hand nahm, bereute sie es. Silje Sørensen war eine Fremde, ohne Isaks und Yngvars spontane Abwehrreaktionen gegen Inger Johannes Überängstlichkeit. Silje war selbst Mutter, wenn Inger Johanne die Familienbilder auf der Fensterbank richtig deutete.
Vielleicht hätte sie ihr geglaubt, zumal es auch für den Fall von Bedeutung sein konnte.
»Danke, dass du mir zugehört hast«, sagte sie und ließ Siljes Hand los.
»Eigentlich müssten wir uns bedanken«, sagte Silje mit freudlosem Lächeln. »Und wir reden sicher bald weiter.«
Als Inger Johanne zwei Minuten später in ihrem Auto saß, begriff sie nicht, warum sie nichts über den verschwundenen Ordner, den Mann am Gartenzaun und ein undefinierbares, beängstigendes Gefühl darüber gesagt hatte, dass es dort draußen jemanden gab, der ihrer Tochter nicht unbedingt Gutes wollte.
Es wäre ein Verrat an Yngvar, nicht zuerst mit ihm zu reden.
Jetzt, da die Osloer Polizei sie ernst nahm, würde er sicher aufmerksamer zuhören.
Hoffte sie.
Astrid Tomte Lysgaard hätte sich von Lukas so sehr eine andere Antwort gewünscht. Sie bezweifelte nicht, dass er die Wahrheit gesagt hatte, so gut kannten sie einander. Trotzdem hatte er in letzter Zeit etwas an sich, was sie nicht verstand. Seit sie auf dem Gymnasium ein Paar geworden waren, hatte sie Lukas immer bewundert. Er sah gut aus, war in der Schule gut, und er war lieb. Mit den Jahren kamen finanzielle Verpflichtungen hinzu, drei Kinder, Alltag. Lukas nahm alles ernst. Niemals gerieten sie mit Rechnungen in Verzug. Er hatte, seit der Älteste in den Kindergarten gekommen war, nicht einen Elternabend versäumt und sich freiwillig in den Elternrat gemeldet, sowie der Junge eingeschult wurde. Lukas war geschickt und fleißig und hatte Anbau und Garage selbst errichtet. Niemals würde er für Schwarzarbeit bezahlen. Immer wehrte er sich gegen jede Form von Rassismus oder übler Nachrede.
Ihre Freundinnen konnten ab und zu die Bemerkung fallen lassen, Lukas sei langweilig.
Sie kannten ihn nicht, wie sie ihn kannte.
Lukas war alles andere als langweilig, aber jetzt verstand sie ihn nicht.
Der Schock über den Mord an Eva Karin musste in etwas noch Schlimmeres übergegangen sein und hatte ihm mehr als nur tiefen Kummer zugefügt. Dass er nicht alles tat, um der Polizei zu helfen, war unbegreiflich.
Lukas machte doch niemals etwas falsch.
Der Polizei nicht zu helfen, das war falsch.
Sie goss sich Kaffee ein und setzte sich aufs Sofa. Sie hielt sich die Tasse ans Gesicht und spürte, wie der feuchte Dampf sich auf ihre Haut legte und kalt wurde.
Lukas hatte keine Schwester. Wenn Eva Karin aus einem früheren Leben eine Tochter gehabt hätte, mit Erik als Vater oder nicht, dann hätte sie dazu gestanden. Wenn das Kind zur Adoption freigegeben worden wäre, hätte sie es ihrer Familie erzählt. Eva Karin hatte in einzelnen Zusammenhängen zwar distanziert wirken können, fast verschlossen. Astrid hatte diese flüchtige Zerstreutheit der Tatsache zugeschrieben, dass eine Geistliche viele Geheimnisse anderer Menschen mit sich herumtrug. Eva Karin flößte Vertrauen ein. Sie war leise, sogar auf der Kanzel, mit einer singenden, schlichten Sprache, die an sich bereits zu Geständnissen aufforderte. Und niemals, nicht ein einziges Mal in all diesen Jahren hatte Astrid erlebt, dass Eva Karin Dinge gesagt hätte, die sie nicht sagen dürfte.
Was sie selbst anging, war Eva Karin jedoch großzügig gewesen.
Sie sprach offen über Fehler und Torheiten, die sie begangen hatte. Sie hatte eine gewaltige Achtung vor dem Leben, auch wenn es wilde Sprünge machte. Ihr inniger Glaube an Jesus grenzte ans Fanatische, ging aber nie zu weit. Als sie vor einigen Jahren für ein kleines Vermögen das seltsame Messiasporträt gekauft hatte, das jetzt am Nubbebakken an der Wohnzimmerwand hing, war sie vor Freude außer sich gewesen. Es war ein Entwurf zu einem Altarbild für eine Kirche irgendwo in Ostnorwegen, aber Eva Karin hatte gesagt, nur auf dieser Skizze habe der Künstler dem Erlöser eisblaue Augen gegeben. Zweimal glaubte Astrid, die Schwiegermutter im Gespräch mit dem blonden Jesus mit den kurzen Struwwelhaaren überrascht zu haben. Eva Karin hatte ein wenig über sich gelacht, die Situation dann aber mit einer Bemerkung über das Wetter entschärft.
Wenn Astrid das richtig verstanden hatte, war Jesus in Wirklichkeit braunäugig und langhaarig gewesen.
Jesus sei Vergebung, hatte die Schwiegermutter immer gesagt.
Für Jesus ist jegliches Leben heilig.
Ein Kind geheim zu halten wäre eine Beleidigung für das Leben. Wenn es eine zur Adoption freigegebene Tochter gäbe, würden sie doch nur ein Babybild von ihr haben.
Lukas war nicht er selbst. Normalerweise nahm er ihr alles ab, wenn die Welt kompliziert für sie wurde. Jetzt war sie an der Reihe. Sie musste das tun, was für ihn richtig wäre.
Sie ging mit der Tasse in die Küche und stellte sie in die Spülmaschine.
Wenn sie wartete, würde sie sich die Sache vielleicht anders überlegen. Als sie zum Telefon griff, sah sie, dass ihre Hände zitterten. Stubøs Nummer stand noch als Erste in der Liste der eingegangenen Anrufe.
»Hallo«, sagte sie leise, als er sich nach nur einem Klingelton meldete. »Hier ist Astrid, die Frau von Lukas. Ich glaube, Sie sollten sofort herkommen.«
»Du wolltest doch sofort Bescheid sagen!«
Rolf war ungewöhnlich gereizt. Im Hintergrund konnte Marcus einen jämmerlich winselnden Hund hören, eine Frauenstimme versuchte, das Tier zu beruhigen.
»Ich habe es vergessen«, sagte Marcus müde. »Wir wollten essen gehen, und ich habe es einfach vergessen.«
»Wenn die Polizei mich in einer schwerwiegenden Strafsache um Rückruf bittet, dann gerate ich in verdammt schlechtes Licht, wenn ich mich nicht melde.«
»Das ist klar, Rolf. Wie gesagt, es tut mir leid.«
»Das reicht einfach nicht. Was ist eigentlich im Moment mit dir los?«
Rolfs Stimme hatte einen aggressiven Unterton, den Marcus noch nie gehört hatte. Er holte tief Luft und wollte zu einer weiteren Entschuldigung ansetzen, als Rolf ihm zuvorkam: »Du bist zerstreut, wortkarg, reizbar. Du vergisst noch die normalsten Dinge. Gestern hast du für Cusi nicht mal die Schulbrote geschmiert, obwohl du an der Reihe warst. Ich habe es durch einen Zufall entdeckt und in aller Eile noch erledigen können.«
»Ich bedauere das alles. Es gibt … viel zu tun. Du weißt, die Finanzkrise und …«
Marcus hörte am anderen Ende der Leitung eilige Schritte.
»Warte«, fauchte Rolf. »Ich geh nur nach nebenan.«
»Vor noch nicht drei Wochen hast du dich wegen der Finanzkrise glücklich gepriesen, Marcus«, sagte Rolf endlich, noch immer wütend. »Du hast gesagt, du seist der Einzige in deiner Bekanntschaft, den die Finanzkrise nicht anfechte. Du hast gesagt, die Firma könne die Anker lichten, verdammt.«
»Aber du weißt, dass …«
»Ich weiß nichts, Marcus! Ich habe keine Ahnung, warum du nachts nicht schlafen kannst. Ich habe keine Ahnung, warum du so ungeduldig bist. Nicht nur bei mir, sondern auch bei Cusi und deiner Mutter und …«
»Tut mir leid, hab ich gesagt.«
Jetzt wurde auch Marcus lauter. Er stand auf und ging ans Fenster. Die Sonne hing rotorange und tief am Himmel. Der Schiffsverkehr hatte kreuz und quer durch das Eis auf dem Fjord seine Fahrrinnen gezogen. Das Hafenbecken vor ihm war von verdrecktem Eismatsch bedeckt. Die Fähre nach Nesodden legte gerade an, und ein paar Menschen strömten fröstelnd in den eiskalten Nachmittag hinaus.
»So geht das nicht länger«, sagte Rolf resigniert. »Du bist fast die ganze Zeit im Büro. Es kann doch nicht nötig sein, dass du …«
Er hatte recht.
Marcus war immer stolz darauf gewesen, sich an die üblichen Bürozeiten zu halten. Seine Philosophie sagte, wenn man seine Arbeit nicht zwischen acht und vier erledigen könnte, dann habe man Organisationsprobleme. Es kam natürlich vor, dass er Überstunden machen musste, wie alle anderen auch. Da aber nichts wichtiger war als die Familie, versuchte er, jeden Tag zur normalen Zeit zu Hause zu sein und an den Wochenenden frei zu haben.
Jetzt blieb er nachmittags und abends immer häufiger im Büro. Ohne besonders viel zu tun. Das Büro auf Aker Brygge war zum Zufluchtsort geworden. Zum Schutz vor Rolfs forschenden Blicken und Anklagen. Wenn alle gegangen waren und er allein war, setzte er sich in den Sessel vor dem Fenster und sah zu, wie der Abend sich über die Stadt senkte. Er hörte Musik. Er las ein wenig, versuchte es jedenfalls, aber es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren.
»Verdammt«, sagte Rolf jetzt resigniert. »Du bist doch kein Geldmann, Marcus! Du hast immer gesagt, dass das Geld für uns da ist, nicht umgekehrt! Wenn die Firma dich verschlingt, dann können wir den ganzen Dreck doch auch liquidieren und einfacher leben als bisher.«
»Es ist der 15. Januar«, protestierte Marcus kleinlaut. »Zwei Wochen Stress für dermaßen drastische Überlegungen, das ist nicht viel. Ich finde außerdem, um ganz ehrlich zu sein, dass du ganz schön ungerecht bist. Ich weiß nicht, an wie vielen Abenden und Wochenenden du davonstürzen musst, um irgendeinem Vieh das Bein zu schienen oder Hündinnen zu entbinden, die so degeneriert sind, dass sie nicht mal aus eigener Kraft werfen können.«
Am anderen Ende der Leitung war alles still.
»Das ist etwas ganz anderes«, sagte Rolf endlich. »Es geht immerhin um Leben, Marcus, und meine Arbeit liegt mir am Herzen. Ich habe nie gesagt, dass die Tiere mir nichts bedeuteten. Du behauptest immer, das Geld spiele für dich keine Rolle. Außerdem waren wir doch immer beide der Ansicht, dass du für Cusi zu Hause sein sollst, wenn ich los muss. Wir haben doch … Das haben wir gemeinsam beschlossen, Marcus. Aber ich glaube nicht, dass wir hier weiterkommen. Am Telefon wenigstens nicht.«
Die Kälte in seiner Stimme machte Marcus Angst. »Ich komme heute Abend früh nach Hause«, sagte er eilig. »Und hast du das mit der Polizei klären können?«
»So irgendwie. Sie schicken heute Abend einen Streifenwagen, um die Kippen zu holen. Die Fotos von den Reifenspuren hab ich ihnen schon gemailt. Ich glaube ja nicht, dass es ihnen hilft, aber dennoch … Bis dann.«
Er sagte nicht einmal: Mach’s gut.
Marcus starrte das stumme Telefon an, dann ging er langsam zum Sessel und setzte sich. Dort blieb er sitzen, bis der Himmel schwarz wurde und die Lichter der Stadt aufleuchteten, eins nach dem anderen, und die Aussicht vor dem großen Fenster zu einem postkartenschönen Bild einer winterlichen Großstadtnacht machten.
Das Allerschlimmste war, dass Rolf ihn Geldmann genannt hatte.
Marcus wusste nicht, woher er die Kraft nahm, um aufzustehen.
»Weißt du, was das ist?«, fragte Anwalt Faber seine Sekretärin höchst unnötigerweise.
Das Siegel war ungebrochen.
»Natürlich nicht«, sagte sie sanft. »Du hast doch gesagt, ich sollte es liegen lassen, bis du es selbst aufmachen könntest. Aber … Wäre das nicht eigentlich ein Verstoß gegen das Briefgeheimnis? Es steht doch deutlich ein Empfänger auf dem Umschlag, und auch wenn er tot ist, so …«
»Briefgeheimnis«, murmelte Kristen Faber verächtlich, während er im Chaos auf seinem Schreibtisch nach einem Brieföffner wühlte. »Es verstößt ja wohl nicht gegen das Briefgeheimnis, einen Umschlag zu öffnen, den ich in meinem eigenen teuer bezahlten Büro gefunden habe. Wie hast du übrigens die Schublade aufgekriegt?«
»Hier«, sagte sie und reichte ihm ein scharfes langes Messer. »Mit den Waffen einer Frau.«
Der Umschlag würde geöffnet. Kristen steckte zwei Finger in den Spalt und zog ein Papier heraus. Es waren nur zwei Seiten, und oben auf dem ersten Blatt stand in Großbuchstaben TESTAMENT.
»Das ist ein Testament«, sagte er enttäuscht und abermals höchst unnötigerweise.
Die Sekretärin stand neben ihm und sah dasselbe wie er. Er wandte sich gereizt von ihr ab und bat um eine Tasse Tee. Sie nickte und verschwand im Vorzimmer.
Der Name des Erblassers kam Kristen Faber bekannt vor, wenn er ihn auch nicht unterbringen konnte. Niclas Winter war der einzige Erbe. Ein rascher Durchgang wies auf ein umfangreiches Erbe hin, auch wenn Ausdrücke wie »das gesamte Portfolio« und »die komplette Baumasse« nicht alle Welt bedeuten mussten.
Das Dokument erfüllte alle formalen Ansprüche. Es war vom Erblasser und zwei Zeugen, die im Testament nicht bedacht waren, paginiert und signiert. Als der Anwalt das Datum sah, runzelte er die Stirn, dann schrieb er auf einen Klebezettel eine Notiz.
Die Sekretärin kehrte mit dem Tee zurück. Rasch steckte er das Testament wieder in den Umschlag und klebte ihn mit Klebeband zu. Den gelben Zettel pappte er auf die Vorderseite.
»Leg das in den Safe«, sagte er. »Ich muss erst feststellen, was wir damit machen sollen. Niclas Winter ist tot, aber er kann ja Erben haben.«
»Nein«, sagte die Sekretärin. »In der Zeitung hat gestanden, dass er nicht einen einzigen Erben hat. Wenn ich es richtig begriffen habe, dann fällt alles an den Staat.«
»Na«, sagte Kristen Faber und zuckte mit den Schultern. »Dann ist es ja nicht so schlimm. Der Staat knöpft den meisten Leuten wirklich genug ab. Ich glaube jedenfalls, dass dieses Dokument vors Nachlassgericht gehört. Ich erkundige mich morgen danach.«
»Morgen musst du mit einem neuen Fall vor Gericht«, erinnerte sie ihn. »Vielleicht könnte ich …«
»Ja«, sagte er kurz. »Mach das. Ruf beim Nachlassgericht an und frag, was wir tun sollen.«
»Natürlich«, sagte sie lächelnd. »Gleich morgen früh. Schmeckt der Tee?«
Er ließ sich nicht zu einer Antwort herab.
»Tausend Dank, dass Sie sich die Mühe gemacht haben und sofort gekommen sind«, sagte sie leise und lächelte den kräftigen Polizisten verlegen an. »Ich habe die beiden ältesten Kinder zu den Nachbarn geschickt und William ist fast eingeschlafen. Der arme Lukas hat den ganzen Tag geschlafen.«
Yngvar Stubø streifte die Schuhe ab und reichte ihr den Mantel, dann betrat er das helle, gemütliche Wohnzimmer. Hier und dort lagen Spielzeug und Kinderbücher herum, und über einem Esszimmerstuhl hing ein Wollpullover zum Trocknen. Trotzdem machte das Zimmer einen ordentlichen Eindruck. Behaglich, dachte Yngvar und bemerkte die riesige Kinderzeichnung, die gerahmt über einem mit bunten Kissen überfüllten beigen Sofa hing.
»Wer ist der Künstler?«, fragte er lächelnd und nickte zu dem Bild hinüber.
»Die Mittlere«, sagte sie. »Andrea.«
»Wie alt ist sie?«
»Sechs.«
»Sechs? Himmel, sie ist begabt.«
Astrid zeigte auf das Sofa. »Bitte, setzen Sie sich. Kaffee?«
»Nein, danke, so spät nicht mehr.«
Sie schielte zu einer Wanduhr in der Küche hinüber. Es war gerade erst sieben. »Wasser? Etwas anderes?«
»Nein danke.«
Er verschob ein paar Kissen, ehe er sich setzte. Es duftete nach Gebäck und ein wenig nach Zitrone, und im Kamin knisterte ein Feuer. Dieses Haus hier hatte etwas ganz Eigenes. Es war friedlicher, als er es von anderen Familien mit kleinen Kindern her kannte, und trotz der leichten Unordnung wirkte alles gepflegt. Er schaute auf, als sie trotz seiner Ablehnung eine Tasse Kaffee, ein Kännchen Milch und Hefebrötchen vor ihn hinstellte.
»Das tut mir gar nicht gut«, sagte er und nahm ein Hefebrötchen.
Sie lächelte und ging zu einem Regal neben dem Fenster zum Garten. Als sie zurückkam, zögerte sie einen Moment, dann setzte sie sich neben ihn.
Yngvar hatte bereits ein halbes Brötchen verschlungen. »Ungeheuer lecker«, murmelte er mit vollem Mund. »Was nehmen Sie als Füllung?«
»Ganz normale Marmelade«, sagte sie. »Erdbeermarmelade. Hier.«
Sie hielt ihm ein Foto hin. Verwirrt legte er den Rest des Brötchens auf die Untertasse und wischte sich die Finger an seiner Hose ab, ehe er das Bild nahm und auf sein rechtes Knie legte.
Das Papier war dick und sahnefarben. Eine Großaufnahme.
»Ich hoffe, das ist richtig von mir«, sagte sie fast unhörbar.
»Das ist es.«
Er sah sich das Bild genau an. Wenn die Frau auch nicht gerade als hübsch bezeichnet werden konnte, so hatte das junge Gesicht doch etwas Ansprechendes. Die Augen waren groß, und er tippte darauf, dass sie blau waren. Sie hatte ein liebes Lächeln, mit der Andeutung eines Grübchens in einer Wange. Ein Vorderzahn schob sich ein wenig über den anderen.
»Es kommt mir so vor, als ob ich sie schon einmal gesehen hätte«, murmelte er.
Astrid gab keine Antwort. Sie sah aus, als nehme sie Anlauf zu einer Bemerkung, die sie gar nicht machen wollte.
Er kam ihr zuvor. »Hat ein wenig Ähnlichkeit mit Lukas, nicht wahr?«
Sie nickte. »Lukas glaubt, dass er eine Schwester hat«, sagte sie. »Deshalb wollte er Ihnen das Bild nicht zeigen. Er will sie allein finden und keine öffentliche Aufmerksamkeit erregen. Er meint wohl, dass die Familie genug gelitten hat, deshalb soll nicht auch das noch ins Scheinwerferlicht gezogen werden. Vor allem denkt er wohl an seinen Vater. Aber auch an den Ruf seiner Mutter. Und an sich selbst, glaube ich.«
»Schwester«, sagte Yngvar nachdenklich. »Eine unbekannte Schwester passt eigentlich in diese Geschichte, aber sie ist …«
»Das ist nicht möglich«, fiel Astrid ihm ins Wort und setzte sich gerade.
Sie saß neben ihm wie eine Königin, angespannt, ohne den Rücken anzulehnen, mit geschlossenen Beinen. »Eva Karin hätte Lukas niemals eine Schwester verheimlicht.«
»Das glaube ich Ihnen«, sagte Yngvar, ohne den Blick von dem Bild abzuwenden. »Denn diese Frau, wenn sie noch lebt, ist heute zu alt, um Lukas’ Schwester zu sein.«
»Zu alt? Woher wissen Sie das? Auf dem Bild steht doch keine Jahreszahl, und …«
Diesmal fiel Yngvar ihr ins Wort. »Wir sind ja auch selbst schon auf den Gedanken gekommen, dass es ein Kind geben könnte. Diese Geschichte, dass sie mit sechzehn Jesus begegnet ist, war für Eva Karins Leben offenbar entscheidend. Es ist durchaus denkbar, dass sie damals schwanger war und in diesem Zusammenhang bekehrt wurde. Das Übliche damals war, dass ledige junge Mütter ihre Kinder zur Adoption freigaben. Aber …«
Er schüttelte kurz den Kopf. »Ich habe mir in diesen Wochen ein ziemlich gutes Bild der Bischöfin gemacht. Und ich muss Ihnen zustimmen. Wenn es ein Kind aus jener Zeit gäbe, dann hätte sie Lukas davon erzählt. Zumindest, als er erwachsen war. Heute würde man sie ja durchaus nicht mehr verurteilen. Im Gegenteil, eine solche Geschichte würde alles untermauern, was sie sagt … Alles, was sie in der Abtreibungsfrage gesagt hat.«
Astrid griff nach dem Bild und hielt es vorsichtig hoch. »Die Ähnlichkeit kann ein Zufall sein«, sagte sie. »Ich war immer der Meinung, dass Lukas Ähnlichkeit mit Lill Lindfors hat, und sie sind bestimmt nicht verwandt.«
»Lill Lindfors?«
Yngvar lächelte, als er sich das Foto noch einmal ansah.
»Diese Frau sieht ihr auch ähnlich. Und Sie haben recht, es trifft auch auf Lukas zu. Er ist eine dunkelhaarige männliche Ausgabe von Lill Lindfors.«
»Und Sie haben Ähnlichkeit mit Brian Dennehy«, sagte Astrid lächelnd. »Dieser amerikanische Schauspieler, wissen Sie. Auch wenn er bestimmt nicht Ihr Bruder ist.«
»Das habe ich schon oft gehört«, sagte Yngvar grinsend und setzte sich sehr gerade. »Aber ist er nicht dicker als ich, was meinen Sie?«
Sie gab keine Antwort. Er nahm sich noch ein Brötchen.
»Wieso glauben Sie, dass sie zu alt ist?«, fragte sie.
»Eine Frau, die 1962 oder 1963 geboren ist, ist heute …«
Er rechnete kurz. »Um die sechsundvierzig. Sechsundvierzig Jahre. Was glauben Sie, wie alt die Frau war, als das Bild gemacht wurde?«
»Weiß nicht so recht«, sagte sie zögernd. »Dreiundzwanzig? Fünfundzwanzig?«
»Vermutlich jünger. Vielleicht nur achtzehn. Früher sah man ein bisschen älter aus, wenn Bilder beim Fotografen gemacht wurden. Es hing sicher mit Kleidung und Frisuren und so zusammen. Ich bin 1956 geboren, und ich würde schwören, dass die Frau auf dem Bild älter ist als ich.«
»Aber wieso … Sie können doch nicht …«
»Erstens haben Sie die Papierqualität«, sagte er und berührte vorsichtig einen Rand des Bildes. »Wenn diese Frau wirklich zu Anfang der Sechzigerjahre geboren wurde, dann wäre das Bild …«
Wieder rechnete er in Gedanken kurz nach. »Um 1980 aufgenommen. Finden Sie, dass dieses Bild auf irgendeine Weise danach aussieht?«
Astrid schüttelte den Kopf.
»Ich auch nicht«, sagte Yngvar. »Ich glaube, es stammt vom Beginn der Sechzigerjahre. Kann noch von 1965 sein, aber wohl kaum später. Sehen Sie sich die Kleider an! Und die Frisur!«
»Ich bin 1980 geboren«, sagte sie kleinlaut. »Ich weiß nur wenig über die Mode aus den Sechzigerjahren. Aber das bedeutet doch, dass diese Frau … diese Dame … sie muss in Eva Karins Alter sein!«
»Ja«, sagte Yngvar und ertappte sich dabei, dass er nach einem weiteren Brötchen greifen wollte. »Und dann …«
Wieder legte er sich das Bild aufs Knie. Er beugte sich darüber und musterte jeden einzelnen Zug. Die feine gerade Nase. Die gewölbte, faltenlose Stirn. Die Wangen waren glatt, die Haare schienen angemalt zu sein, sie lagen in schönen Wellen, mit einem Schwung über den Schläfen. »Kann es eine Schwester sein?«, murmelte Yngvar. »Sie hat keine Ähnlichkeit mit Eva Karin, aber es könnte die Ähnlichkeit mit Lukas erklären. Ab und zu ist es seltsam, welche Umwege unsere Gene einschlagen, und …«
Astrid starrte ihn erschrocken an. »Schwester? Eva Karin hat zwei Geschwister, beide sind jünger als sie. Einar Olav, der ist wohl Mitte fünfzig, und Anne Turid, die letztes Jahr fünfzig geworden ist. Nein, vorletztes Jahr. Und sie ist es nicht.«
Sie hörten von der Haustür her Lärm. Helle Kinderstimmen. Jemand lachte, und die Tür fiel ins Schloss.
Astrid schob eilig das Bild in den Umschlag, aus dem sie es gezogen hatte. Sie zögerte nur eine Sekunde, dann reichte sie ihn Yngvar.
»Still, Kinder.«
Sie ließ seinen Blick nicht los.
»Papa und William schlafen. Seid still, ja?«
Yngvar erhob sich. Er ging auf die Tür zu und wurde von den beiden Kindern fast umgerannt. Sie schauten ihn neugierig an.
»Wer bist du?«, fragte die Jüngere.
»Ich bin Yngvar. Und du bist Andrea, der neue Picasso.«
Die Kleine lachte. »Nein, ich setze Ohren und Füße an die richtige Stelle.«
»Das ist gut so«, sagte Yngvar und fuhr ihr durch die Haare. »Es ist immer gut, so was an der richtigen Stelle zu haben.«
»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte Astrid.
Sie lehnte sich an den Türrahmen und verschränkte die Arme auf der Brust. Auf irgendeine Weise wirkte sie erleichtert. Sie lächelte nicht mehr ganz so verkrampft wie bei seinem Eintreffen, und sie lachte ein wenig, als der Achtjährige ihr ein Abwaschtattoo vom Emblem des Fußballvereins Brann auf seinem Unterarm zeigte.
»Ich muss mich bedanken«, sagte er, hielt den Umschlag zu einem Abschiedsgruß hoch und ging hinaus auf die Steintreppe.
Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss, und er lief zum Auto. Ehe er den Motor anlassen konnte, kam Astrid gelaufen. Er kurbelte das Fenster herunter und schaute zu ihr auf.
»Ich dachte, Sie hätten die gern«, sagte sie und steckte ihm eine Plastiktüte mit den restlichen Brötchen zu. »Ganz frisch sind sie am besten, und sie haben Ihnen ja offenbar geschmeckt.«
Ehe er Danke sagen konnte, lief sie schon wieder zurück. Er blieb einen Moment sitzen, dann öffnete er die Tüte und nahm noch eins der köstlichen Brötchen. Als er hineinbeißen wollte, versetzte sein schlechtes Gewissen ihm einen Stich.
Aber ganz frisches Hefegebäck ist eben etwas ganz Besonderes.
Und er hatte noch nie so wunderbare Erdbeermarmelade gegessen.