Jahrmarkt der Eitelkeit

Es nicht zu wissen, dachte Niclas Winter, das war am schlimmsten. Er lebte schon so lange am Rande des finanziellen Zusammenbruchs, dass die Gewissheit, einen Käufer verloren zu haben, ihn abermals zur Flasche hatte greifen lassen. Ganz zu schweigen von allem anderen, was er sich einverleibte, um seine Nerven unter Kontrolle zu halten. Eigentlich hatte er schon längst aufgehört mit diesem Dreck, der seine Sinne abstumpfte und ihn träge machte. Platt. Unproduktiv.

Nicht so, wie er sein wollte.

Als im Herbst 2008 die Finanzkrise von allen Seiten losgegangen war, hatte sie auf Norwegen nicht dieselbe Wirkung gehabt wie auf viele andere Länder. Mit mehreren Tausend Milliarden im Sparschwein und einem zum Bersten gefüllten politischen Werkzeugkasten konnte die rot-grüne Regierung Gegenmaßnahmen einleiten, die so teuer und solide waren, wie sich das einige Monate zuvor niemand hätte vorstellen können. Die Nation pumpte nun schon so lange Geld aus der Nordsee, dass sie nach dem wirtschaftlichen Erdbeben in den USA fast unverletzlich wirkte. Der Immobilienmarkt in Norwegen, ohnehin schon aufgebläht und überhitzt, lief im Frühherbst zwar heftig vor die Wand. Aber er hatte sich doch wieder erholt. Es gab jedenfalls Lebenszeichen. Konkurseröffnungen hatten sich in den vergangenen Monaten vervielfältigt, aber viele hielten das für einen Prozess des Gesundschrumpfens unter nicht lebensfähigen Unternehmen. In der Baubranche stieg die Arbeitslosigkeit, was natürlich ernst genommen wurde. Aber dieser Zweig der Wirtschaft arbeitete vor allem mit importierter Arbeitskraft. Polen, Balten und Schweden hatten die sympathische Eigenschaft, nach Hause zu fahren, wenn es keine Arbeit mehr für sie gab; jedenfalls die, die nicht erkannt hatten, dass man durch die norwegische Sozialgesetzgebung gutes Geld holen konnte. Außerdem gab es genug Wirtschaftsweise, die auf jeden Fall untereinander meinten, eine Arbeitslosigkeit von etwa vier Prozent sei nur gut für die Flexibilität in der gesamten Arbeitskapazität.

Überhaupt lief die AS Norwegen weiter, und wenn auch nicht ganz so wie zuvor, so doch ohne katastrophale Folgen für Land und Bevölkerung. Die Leute kauften weiterhin Lebensmittel, sie brauchten noch immer Kleidung für sich und ihre Kinder, sie gönnten sich Wein am Wochenende und gingen nicht weniger häufig ins Kino.

Nur die Luxuswaren hatten Absatzprobleme.

Und Kunst wurde als Luxus betrachtet.

Niclas Winter riss die Metallfolie von der Champagnerflasche, die er sich am Todestag seiner Mutter geleistet hatte. Er versuchte sich zu erinnern, ob er jemals so eine Flasche gekauft hatte. Als er sich mit dem Draht abmühte, war er sicher, dass es das erste Mal war. Er hatte zwar schon ansehnliche Mengen dieses edlen französischen Getränks konsumiert, vor allem in den vergangenen Jahren, aber immer auf Kosten anderer.

Der Schaum spritzte, und er lachte, während er den sprudelnden, zischenden Wein in das Plastikglas am Rand des überfüllten Arbeitstisches goss. Er stellte die Flasche sicherheitshalber auf den Boden und hob das Glas an den Mund.

Das knapp dreihundert Quadratmeter große Atelier, ursprünglich eine Lagerhalle, war in natürliches Licht getaucht. Für Außenstehende herrschte hier das pure Chaos, in diesem großen Raum mit Oberlicht und hohen Bogenfenstern in der Südostwand. Aber Niclas Winter hatte alles unter Kontrolle. Hier lagen Schweißgerät und Lötkolben, Computer und alte Toilettenbecken, Kabel aus der Nordsee und ein halbes Autowrack - das Atelier wäre für alle wissbegierigen Elfjährigen ein Paradies gewesen. Kinder wären jedoch nie im Leben eingelassen worden. Der Installationskünstler Niclas Winter hatte drei Phobien: große Vögel, Regenwürmer und Kinder. Es war schwer genug gewesen, die eigene Kindheit zu überstehen, und er wurde nicht gern daran erinnert, wenn er Kinder sah, die spielten und lärmten und glücklich waren. Dass das Atelier nur zweihundert Meter von einer Grundschule entfernt lag, war eine bedauerliche Tatsache, mit der er einigermaßen leben konnte. In jeder anderen Hinsicht waren diese Räumlichkeiten perfekt, die Miete war niedrig, und die meisten Kinder hielten sich fern, seit er ein Schild mit der Aufschrift »Vorsicht vor dem bissigen Hund« und dem Bild eines Dobermanns an die Tür gehängt hatte.

Das Atelier war ein Rechteck von etwa sechzehn mal achtzehn Metern. Das ganze Chaos konzentrierte sich auf die Wände, dicht an dicht mit Schrott und Sperrmüll drapiert, um eine freie Fläche mitten im Raum. Dort arbeitete Niclas Winter an seinen Installationen. An einer Querwand standen außerdem vier Installationen, die so gut wie vollendet waren, die er aber noch niemandem gezeigt hatte.

Er nippte am Champagner, der ein wenig zu süß und auch nicht kalt genug war.

Das hier war das Beste, was er je gemacht hatte.

Das Werk hieß I was thinking of something blue and maybe grey, darling und war eigentlich von StatoilHydro gekauft.

Mitten im Kunstwerk ragte ein Monolith aus Schaufensterpuppen auf. Die waren ineinander verflochten wie das Original im Vigelandspark, aber aufgrund der Steifheit der Puppen – außer an Knien, Ellbogen, Hüften und Schultern – wirkte die sechs Meter hohe Figur irgendwie stachlig. Köpfe auf angebrochenen Nacken, steife Finger und Füße mit aufgemalten Zehennägeln zeigten tot in den Raum hinein. Alles war umwickelt mit einem dünnen, funkelnden Stacheldraht aus Silber. Echtem Silber natürlich, allein der Stacheldraht hatte ein kleines Vermögen gekostet. Trat man näher, so konnte man sehen, dass die nackten, leblosen Puppen kostbare Uhren am Handgelenk trugen und mit Halsketten geschmückt waren. Die Schaufensterpuppen waren geschlechtslos gewesen, als er sie gekauft hatte. Nur die breiten Schultern und die fehlenden Brüste unterschieden die Männer von den Frauen, dazu kam eine Erhebung am Unterleib. Niclas Winter war ihnen zu Hilfe gekommen. Er hatte über das Internet so viele Dildos gekauft, dass er einen beträchtlichen Mengenrabatt erhalten hatte, und diese Dinger hatte er den kastrierten Puppen aufmontiert. Die Dildos wurden als »natürlich« angepriesen, aber Niclas Winter wusste, dass das nicht stimmte. Sie waren riesig. Er besprühte sie mit fluoreszierenden Farben und machte sie dadurch noch auffälliger.

»Perfekt«, murmelte er und leerte sein Glas.

Er trat einige Schritte zurück und schüttelte den Kopf.

Niclas Winters letzte Ausstellung war ein überwältigender Erfolg gewesen. Drei Freiluftinstallationen hatten vier Wochen lang am Rådhuskai gestanden. Die Leute waren begeistert. Die Kritiker ebenfalls. Er hatte alles verkauft. Zum ersten Mal in seinem Leben war er fast schuldenfrei. Das Beste aber war, dass StatoilHydro, die bereits Vanity Fair, reconstruction gekauft hatten, aufgrund einer Skizze I was thinking erwerben wollten. Für den Preis von zwei Millionen. Eine halbe Million hatte er als Vorschuss erhalten, aber dieses Geld und noch viel mehr war bereits vom Material verschlungen worden.

Dann überlegten die Ärsche es sich anders.

Er kannte sich nicht gerade gut mit Verträgen aus, und als er wütend zu einem Anwalt ging, mit dem Dokument, das er im Oktober erhalten hatte, war ihm klar geworden, dass er einen Agenten brauchte. StatoilHydro war nämlich im Recht. Der Vertrag enthielt eine Rücktrittsklausel. Niclas Winter hatte das Schriftstück damals kaum gelesen, ehe er es, benommen vor Glück, unterschrieben hatte.

Beim derzeitigen finanziellen Klima, schrieben sie und bedauerten alles sehr. Unglücklicher Signaleffekt Angestellten und Eignern gegenüber, faselten sie weiter. Sparmaßnahmen. Eine gewisse Zurückhaltung bei nicht zwingend nötigen Ausgaben.

Bla, bla, bla. Zum Teufel.

Der verdammte Brief war vier Tage vor dem Tod seiner Mutter eingetroffen.

Als er in den letzten Stunden bei ihr saß, eher um den Schein zu wahren, als weil er wirklich getrauert hätte, kam die Wende. Niclas Winter verließ das Zimmer seiner toten Mutter im Hospiz Lovisenberg mit einem Lächeln auf den Lippen, neuer Hoffnung und einem Rätsel, das er lösen musste.

Und das war ihm gelungen.

Es hatte natürlich seine Zeit gedauert. Die Mutter hatte sich so vage ausgedrückt, dass er viele Wochen gebraucht hatte, um das richtige Anwalts-Büro zu finden. Er hatte sich zu sehr angestrengt und unterwegs einige Patzer gebaut. Aber jetzt war es geschafft. Die Besprechung war für den ersten Arbeitstag nach Neujahr anberaumt, und der Mann, den er dann treffen würde, sollte Niclas Winter zu einem reichen Mann machen.

Er goss sich Champagner nach.

Der leichte Rausch tat ihm gut, und sein Werk war fertig. Wenn StatoilHydro nicht wusste, was sich gehörte, dann würde es andere Käufer geben. Mit dem Geld, das ihm bald gehören würde, könnte er das Angebot einer Ausstellung in New York im Herbst annehmen. Er könnte mit allen sinnlosen Zusatzarbeiten aufhören, die ihm Kraft und Kreativität raubten. Auch mit den Drogen sollte endlich Schluss sein. Und mit dem Trinken. Ohne Sorgen würde er rund um die Uhr arbeiten.

Niclas Winter war fast glücklich.

Er glaubte, ein Geräusch zu hören. Ein ganz leichtes Klicken.

Er drehte sich halb um. Die Tür war abgeschlossen, niemand war dort. Er trank weiter. Vielleicht eine Katze auf dem Dach. Er schaute auf.

Jemand packte ihn. Er begriff nichts, als Hände sich um sein Gesicht legten und seinen Mund aufzwangen. Als die Spritze sich in die linke Seite seiner Wange bohrte, war er eher überrascht als verängstigt. Die Nadelspitze streifte seine Zunge, und der Schmerz, als sie die empfindliche Schleimhaut traf und geleert wurde, war so heftig, dass er endlich aufschrie. Ein Mann stand noch immer hinter ihm und hielt seine Hände fest. Blitzschnell strahlte sein Mund jetzt Hitze aus, und er konnte kaum noch atmen. Der Fremde fing ihn auf, als er fiel. Niclas Winter lächelte und versuchte, den Film wegzublinzeln, der sich über seinen Blick legte. Er bekam keine Luft. Seine Lunge streikte.

Er registrierte kaum, dass sein linker Pulloverärmel aufgekrempelt wurde. Die nächste Spritze fraß sich in die blaue Ader auf der Innenseite des Ellbogens.

Es war jetzt der 27. Dezember 2008, und es war drei Minuten nach halb zwölf Uhr vormittags. Als Niclas Winter starb, mit zweiunddreißig Jahren und kurz vor dem internationalen Durchbruch als Künstler, lächelte er noch immer überrascht.

Ragnhild Vik Stubø lachte ihr fröhlichstes Lachen. Inger Johanne lachte zurück, hob alle Würfel auf und warf noch einmal.

»Du spielst nicht gerade gut Yatzy, Mama.«

»Pech im Spiel, Glück in der Liebe. Damit muss ich mich trösten.«

Die Würfel zeigten zwei Einser, einen Dreier, einen Vierer und einen Fünfer. Inger Johanne zögerte kurz, dann ließ sie die Einser liegen und setzte zum letzten Wurf an.

Das Telefon klingelte.

»Nicht schummeln, wenn ich weg bin«, befahl sie mit aufgesetzter Strenge und stand auf.

Das Telefon lag in der Küche. Sie drückte auf das grüne Symbol. »Inger Johanne«, sagte sie kurz.

»Hallo, ich bin’s.«

Sie verspürte einen Stich der Irritation, weil Isak sich niemals vorstellte. Es hätte Yngvars Privileg sein müssen, sich ohne Namensnennung an sie zu wenden. Isak und sie waren schließlich seit über zehn Jahren geschieden. Er war der Vater ihrer älteren Tochter, na gut, und es war ein Glück für sie alle, dass sie zusammenarbeiten konnten. Ein engeres Familienmitglied aber war er nicht mehr, auch wenn er sich so aufführte.

»Hallo«, sagte sie ohne Begeisterung. »Danke dafür, dass du Ragnhild gestern nach Hause gefahren hast. Wie geht es Kristiane?«

»Ja, deshalb rufe ich an. Jetzt musst du … Jetzt musst du versprechen, dass du nicht …«

Inger Johanne spürte, wie die Haut zwischen ihren Schulterblättern sich zusammenzog. »Was denn?«, fragte sie, als er zögerte.

»Ja, also … Ich bin im Einkaufszentrum Sandvika. Wollten ein paar Weihnachtsgeschenke umtauschen und … Kristiane und ich. Jetzt ist das Problem aber … Wenn du böse wirst, dann hilft uns das auch nicht weiter.«

Inger Johanne versuchte zu schlucken. »Was ist mit Kristiane passiert?«, fragte sie und zwang sich, leise zu bleiben.

Sie hörte, wie Ragnhild im Wohnzimmer immer wieder neu würfelte.

»Sie ist verschwunden. Also, nicht verschwunden. Aber ich … Ich finde sie nicht. Ich wollte nur …«

»Du hast Kristiane aus den Augen verloren? Im Einkaufszentrum Sandvika?«

Sie sah das riesige Einkaufszentrum vor sich, das größte in Skandinavien, drei Etagen, über hundert Geschäfte und so viele Ausgänge, dass ihr schwindlig wurde. Sie stützte sich auf den Küchentisch.

»Jetzt bleib mal ganz ruhig, Inger Johanne. Ich hab der Direktion Beschied gesagt, und es wird schon nach ihr gesucht. Ist dir klar, wie viele Kinder hier jeden Tag verloren gehen? Jede Menge! Sicher wühlt sie ganz vertieft in irgendeinem Laden herum. Ich rufe auch nur an, um zu fragen, ob es irgendein Geschäft hier gibt, das ihr besonders gut gefällt …«

»Verdammt, du hast mein Kind verloren!«

Inger Johanne schrie, ohne an Ragnhild zu denken. Die Kleine fing an zu weinen, und Inger Johanne versuchte, sie aus der Entfernung zu trösten, während sie gleichzeitig weiterredete.

»Das ist ja streng genommen unser Kind«, sagte Isak am anderen Ende der Leitung. »Und sie ist nicht …«

»Ragnhild, das ist alles gar nicht schlimm. Mama hat sich nur für einen Moment aufgeregt. Warte noch kurz, dann komme ich.«

Die Kleine ließ sich nicht beirren. Sie brüllte los und warf die Würfel auf den Boden. »Ich will nicht verloren werden, Mama!«

»Versuch es im Teddyladen«, fauchte Inger Johanne ins Telefon. »Da, wo man die Teddys selbst bauen kann. Er liegt am Ende des Übergangs vom alten in den neuen Teil des Zentrums.«

»Mama! Mama! Wer hat mich verloren?«

»Pst, Liebes. Mama kommt gleich. Niemand hat dich verloren, das ist doch klar. Ich komme!«

Das Letzte fauchte sie ins Telefon.

»Lass das Mobiltelefon eingeschaltet. Ich kann in zwanzig Minuten bei dir sein. Ruf mich sofort an, wenn etwas geschieht.«

Inger Johanne beendete das Gespräch, steckte das Telefon in die Hosentasche, lief ins Wohnzimmer, hob ihre jüngere Tochter auf und tröstete sie, während sie durch die Wohnung und zur Treppe nach unten stürzte.

»Niemand verliert dich, das ist ja wohl klar. Du brauchst nicht zu weinen, Mama ist doch da.«

»Warum hast du gesagt, dass irgendwer mich v-v-verloren hat?« Ragnhild schluchzte, hatte sich aber ein wenig beruhigt.

»Das hast du falsch verstanden, Schatz. So was kommt vor.«

Sie wurde langsamer, als sie die Treppe erreicht hatte, und ging mit ruhigen Schritten nach unten. »Jetzt machen wir einen kleinen Ausflug. Ins Einkaufszentrum Sandvika.«

»Sandzentrum Einkaufsvika«, sagte Ragnhild und lächelte unter Tränen.

»Genau.«

»Was krieg ich da?«

»Du kriegst gar nichts, Herzchen. Wir wollen nur … Wir wollen nur Kristiane abholen, weißt du.«

»Kristiane kommt morgen«, widersprach das Kind. »Heute Abend wollen nur ich und du mit Popcorn auf dem Sofa Kino sehen.«

»Zieh die Stiefel an. Beeil dich bitte.«

Ihr Herz flimmerte. Sie schnappte nach Luft und streifte ihre Jacke über, während sie sich ein Lächeln abrang. »Deine Jacke nehmen wir einfach mit. Komm jetzt.«

»Ich will eine Mütze! Und Handschuhe. Draußen ist es kalt, Mama!«

»So«, sagte Inger Johanne und riss etwas aus dem Regal. »Du kannst dich im Auto anziehen.«

Ohne auch nur die Haustür abzuschließen, nahm sie ihre Tochter an der Hand und lief die Vortreppe hinunter und über den Kiesweg zum Auto, das zum Glück gleich vor dem Tor stand.

»Das tut weh«, protestierte Ragnhild. »Mama, du hältst zu fest!«

Inger Johanne wurde es schwindlig. Wieder verspürte sie die Angst von damals, als sie Kristiane zum ersten Mal in den Armen gehalten hatte. Wunderbar, sagte die Hebamme. Schön und gesund, sagte Isak. Aber Inger Johanne wusste es besser. Sie schaute ihre eine halbe Stunde alte Tochter an, die so still war und die irgendetwas an sich hatte, das Inger Johanne in Stücke zu sprengen drohte.

»Steig ein«, sagte sie ein wenig zu streng und öffnete die Tür zur Rückbank. »Ich schnall dich gleich an.«

Das Telefon klingelte. Zuerst hatte sie vergessen, dass sie es in die Hosentasche gesteckt hatte, und betastete ihre Jackentasche.

»Dein Po ruft an«, sagte Ragnhild und kletterte ins Auto.

»Ja«, sagte Inger Johanne atemlos ins Telefon, als sie es aus der Tasche gefischt hatte.

»Ich hab sie gefunden«, sagte Isak lachend von weither. »Sie war im Teddyladen, genau wie du gedacht hast, und es geht ihr richtig gut. Ein Mann hatte sich um sie gekümmert, und sie waren in ein nettes Gespräch vertieft, als ich gekommen bin.«

Inger Johanne lehnte sich an den Wagen und versuchte, gleichmäßig zu atmen. Eine gewaltige Erleichterung darüber, dass Kristiane aufgetaucht war, wurde von Isaks Worten überschattet.

»Was für ein Mann?«

»Was für ein … ha? Da rufe ich an, um dir zu sagen, dass es Kristiane bestens geht, genau wie ich erwartet hatte, und da verbeißt du dich in…«

»Ist dir überhaupt klar, dass Einkaufszentren ein Eldorado für Pädophile sind?«

Ihre Worte wurden in der eiskalten Luft zu Wolken aus grauem Dampf.

»Mama, willst du mich nicht anschnallen?«

»Gleich, Herzchen. Was für ein …«

»Nein, ehrlich, Inger Johanne. Das lasse ich mir einfach nicht gefallen.«

Isak Aanonsen wurde nur sehr selten böse.

Sogar als Inger Johanne an einem späten Abend vor einer Ewigkeit vom Sofa aufgestanden war und erklärt hatte, die Ehe sei ihrer Ansicht nach nicht mehr zu retten und sie habe schon die nötigen Papiere besorgt, hatte Isak versucht, positiv zu sein. Er hatte eine Weile allein im Wohnzimmer gesessen, während Inger Johanne weinend zu Bett gegangen war. Eine Stunde später hatte er an die Schlafzimmertür geklopft, schon darauf gefasst, nicht mehr die wichtigste Vertrauensperson zu sein. Kristiane sei das Wichtigste, sagte er. Kristiane werde immer für sie beide das Wichtigste sein, und er wollte versuchen, sich mit ihr darüber zu einigen, wie sie für ihre Tochter die praktischen Fragen regeln könnten, ehe sie zu schlafen versuchten. Als der Morgen graute, hatten sie ihre Abmachung. Seither hatte er sich stets zuverlässig daran gehalten.

Jetzt war er wütend. »Das ist Hysterie. Der Mann, der mit Kristiane geredet hat, war ein ganz normaler Mann, der offenbar bemerkt hatte, was für … was für eine Art Kind sie ist. Er war freundlich, und Kristiane hat gelächelt und ihm zugewinkt, als wir gegangen sind. Jetzt steht sie hier und …«

Inger Johanne konnte im Hintergrund Kristianes übliches Dam-di-rum-ram hören. Sie fing an zu weinen. Leise, um Ragnhild nicht noch mehr zu verstören.

»Verzeihung«, flüsterte sie in den Hörer. »Verzeihung, Isak. Wirklich. Ich hatte nur so schreckliche Angst.«

»Die hatten wir ja wohl beide«, sagte er nach kurzem Zögern, seine Stimme klang wieder freundlich. »Aber es ist ja gut gegangen. Ich glaube, es ist besser für dich, wenn ich sie heute schon nach Hause bringe. Oder was meinst du?«

»Danke. Tausend Dank, Isak. Es wäre wunderbar, sie bei mir zu haben.«

»Dann hole ich unser Zusammensein irgendwann nach.«

»Vielleicht könntest du auch bleiben«, rutschte es Inger Johanne heraus.

»Bei euch? Klar. Super!«

Für einen Moment sah sie die dunkelblauen Augen vor sich, die zu Schlitzen in dem immer unrasierten Gesicht wurden, wenn er sein seltsames schiefes Lächeln zeigte, in das sie einmal so verliebt gewesen war.

»Bin in einer knappen halben Stunde da«, sagte er. »Soll ich irgendwas besorgen, wo wir schon mal hier sind?«

»Nein danke. Kommt einfach. Kommt.«

Das Gespräch wurde unterbrochen. Eine tiefe Müdigkeit senkte sich über sie. Sie legte beide Arme auf das Autodach. Das Blech war so kalt, dass sie eine Gänsehaut bekam. Vielleicht könnte sie Isak von dem Mann erzählen, den sie am ersten Weihnachtstag im Garten gesehen hatte. Wenn sie erzählte, dass ihre Angst nicht aus der Luft gegriffen war, dass sie guten Grund gehabt hatte, ängstlich zu werden, dass der Mann Kristianes Namen gewusst hatte, obwohl die Kinder ihn beide nicht kannten, wenn sie …

Nein.

Langsam richtete sie sich auf und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab. »Komm«, sagte sie und bückte sich lächelnd über Ragnhild. »Wir fahren doch nicht nach Sandvika. Isak und Kristiane kommen zu uns.«

»Aber wir wollten doch einen Film sehen und Kino spielen«, protestierte Ragnhild heftig. »Nur ich und du.«

»Das können wir mit den anderen zusammen tun. Das wird richtig lustig. Komm jetzt.«

Ragnhild rutschte widerwillig aus dem Kindersitz und kletterte aus dem Auto.

Als sie über den Kiesweg zurückgingen, blieb Ragnhild plötzlich stehen und stemmte die Hände in die Hüften. »Mama«, sagte sie streng. »Zuerst mussten wir ganz schnell zum Einkaufszentrum Sandvika. Jetzt gehen wir wieder ins Haus. Zuerst wollten wir Kino spielen, ich und du, und jetzt sollen plötzlich Kristiane und Isak dabei sein. Yngvar hat total recht.«

»Womit denn?«, fragte Inger Johanne und streichelte die Haare ihrer jüngeren Tochter.

»Dass du manchmal ganz einfach nicht weißt, was du willst. Aber du bist trotzdem die beste Mama auf der Welt. Die allerbeste Supermama mit Sahne.«

Hauptkommissarin Silje Sørensen von der Gewaltsektion des Polizeiabschnitts Oslo hatte zwei Tassen Kakao mit Sahne getrunken, und ihr war schlecht.

Die Bilder, die vor ihr lagen, machten die Sache nicht besser.

Der Heilige Abend war in diesem Jahr auf einen Mittwoch gefallen, was großartig für alle war, die sich möglichst lange Urlaub wünschten. Der erste und zweite Weihnachtstag waren offizielle Feiertage, der dritte Weihnachtstag war ein Samstag.

Norwegen fuhr auf halber Flamme, Silje Sørensen tat das nicht.

Der Anblick des riesigen Stapels der zu erledigenden Dinge am ersten Weihnachtstag hatte sie in eine elende Stimmung versetzt. Am Ende war es ziemlich leicht, ihre Familie davon zu überzeugen, dass es das Beste für alle wäre, wenn sie einen zusätzlichen Arbeitstag einlegte.

Oder vielleicht war es die Erinnerung an Hawre Ghani, die ihre Aufmerksamkeit stahl, egal, was sie zu tun versuchte.

Sie blätterte rasch durch die Bilder des Leichnams, nahm das Foto des lebenden Jungen und ein neues Schriftstück heraus und klappte den Ordner zu.

Am Nachmittag des ersten Weihnachtstags hatte sie den Kollegen Harald Bull angerufen, wie er sie gebeten hatte. Der Mann war nur mäßig daran interessiert, an den Feiertagen über die Arbeit zu sprechen. Mit »so bald wie möglich« hatte er den 5. Januar gemeint. Obwohl so spät im Jahr alle Überstundenkonten längst erschöpft waren, beschlossen sie, Kommissar Knut Bork auf den Hintergrund des kurdischen Asylbewerbers anzusetzen. Kommissar Bork war jung, single und ehrgeizig, und Silje Sørensen war beeindruckt von dem Bericht, den er noch am selben Morgen geschrieben und für sie ins Büro gelegt hatte.

Sie überflog die Seiten.

Hawre Ghani war vor anderthalb Jahren nach Norwegen gekommen und hatte sein Alter mit fünfzehn angegeben. Keine Eltern. Da er kein einziges Ausweispapier besaß, zogen die norwegischen Behörden seine Altersangabe schnell in Zweifel.

Trotz der Meinungsverschiedenheiten über das Geburtsdatum des Jungen war er in ein Asylbewerberheim in Ringebu gesteckt worden. Dort gab es noch andere seiner Art, alleinstehende Asylbewerber unter achtzehn. Nach drei Tagen lief er dort weg. Seither war er fast ununterbrochen auf der Flucht gewesen, mit Ausnahme einiger Tage in einer Untersuchungszelle, wann immer der gewitzte Knabe doch nicht gewitzt genug gewesen war.

Vor einem Jahr hatte er sich auf Prostitution verlegt.

Mehrere Aussagen deuteten an, dass er sich teuer und an alle Welt verkaufte.

Einmal jedenfalls hatte Hawre Ghani einen Kunden ausgeraubt, was durch einen Zufall entdeckt worden war: Er hatte ein Paar schwarze Nike Shox im Sporthaus Storo gestohlen. Ein Sicherheitswächter hatte den Jungen überwältigt, auf den Boden gelegt und auf ihm gesessen, bis eine Dreiviertelstunde später die Polizei anrückte. Bei der Durchsuchung im Arrest fanden sie bei Hawre eine Brieftasche von Montblanc mit Kreditkarten, Papieren und Quittungen auf den Namen eines bekannten Sportreporters. Dieser hatte kein Interesse an einer Anzeige, hieß es trocken in Kommissar Borks Bericht, mehrere Kollegen, die sich in der Stricherszene auskannten, konnten jedoch bestätigen, dass der Junge und sein Opfer dort wohl bekannt waren.

Einmal war versucht worden, Hawre mit einem nordirakischen Kurden in Verbindung zu bringen, der eine vorübergehende Aufenthaltsgenehmigung ohne Recht auf Familienzusammenführung besaß. Der Mann, der seit über zehn Jahren mit Gnadenfrist in Norwegen lebte und fließend Norwegisch sprach, arbeitete in Teilzeit als Jugendleiter im Stadtteil Gamlebyen. Er hatte bisher mit seinen Projekten bei verhaltensgestörten Jugendlichen großen Erfolg gehabt. Bei Hawre sah es nicht so gut aus. Nach drei Wochen zog der Junge mit vier Kumpels aus dem Jugendzentrum auf Raubzug durch die Kellerverschläge im Westend, versuchte, mit einem Brecheisen einen Geldautomaten zu knacken, stahl einen vier Jahre alten Audi TT und fuhr den Wagen zu Schrott.

Silje Sørensen starrte das Bild des unreifen Knaben mit der riesigen Nase an. Seine Lippen hätten einem Zehnjährigen gehören können. Die Haut war glatt.

Vielleicht war sie naiv.

Natürlich war sie naiv, auch nach all den Jahren bei der Polizei, als ihre Illusionen wie Seifenblasen geplatzt waren, während sie im Rang aufgestiegen war.

Aber dieser Junge war so jung. Es war natürlich unmöglich zu sehen, ob er fünfzehn war oder siebzehn, aber das Bild war nach seiner Ankunft in Norwegen aufgenommen worden, und sie hätte schwören können, dass der Tag seiner Volljährigkeit noch in weiter Ferne gelegen hatte.

Jetzt spielte das alles keine Rolle mehr.

Langsam legte sie das Bild auf den Rand des Schreibtisches.

Dort würde es bleiben, bis sie diesen Fall gelöst hätte. Wenn es stimmte, dass jemand Hawre Ghani ermordet hatte, worauf die vorläufigen Funde ja hinwiesen, würde sie herausfinden, wer es getan hatte.

Hawre Ghani war tot, und niemand hatte sich um ihn bemüht, als er noch am Leben war.

Jetzt, da er tot war, würde sich das ändern.

»Machen Sie sich meinetwegen keine Mühe«, Yngvar Stubø winkte dem Mann ab. »Ich habe heute schon drei Tassen Kaffee getrunken, mehr tut mir wirklich nicht gut.«

Lukas Lysgaard zuckte mit den Schultern und ließ sich in einen der gelben Ohrensessel fallen. In den seines Vaters. Yngvar hätte es noch immer unpassend gefunden, sich an Eva Karins Platz zu setzen, und er zog denselben Stuhl vom Esstisch wie bei seinem ersten Besuch.

»Sind Sie schon weitergekommen?«, fragte Lukas, aber seine Stimme verriet kein nennenswertes Interesse.

»Was macht die Migräne?«, fragte Yngvar.

Der junge Mann zuckte abermals mit den Schultern, ehe er sich mit den Fingern durch die Haare fuhr und die Lider zusammenkniff. »Ist schon besser. Die kommt und geht.«

»Das ist so bei Migräne, habe ich gehört.«

Eine Standuhr schlug tönend ein Mal. Yngvar widerstand der Versuchung, auf seine eigene Uhr zu schauen, er war sicher, dass es schon nach zwei sein musste. Er nahm einen schwachen Luftzug im Nacken wahr, als stünde ein Fenster einen Spaltbreit offen. Es roch nach gebratenem Speck und nach etwas anderem, das Yngvar nicht richtig zu fassen bekam.

»Wir haben wenig Neues, fürchte ich.«

Yngvar beugte sich im Stuhl vor und legte die Ellbogen auf die Knie.

»Vieles von dem Beweismaterial ist zur genaueren Analyse geschickt worden. Wir gehen davon aus, dass es am Tatort genetische Spuren gibt. Da sie von der Polizei gefunden wurde, offenbar kurze Zeit nach dem Mord, hoffen wir, das Material auf die bestmögliche Weise sichern zu können.«

»Aber Sie wissen noch nicht, wer es getan hat?«

Yngvar ertappte sich dabei, dass er die Augenbrauen hob. »Nein, natürlich nicht. Wir müssen noch …«

»Die Zeitungen sprechen von blinder Gewalt. Sie berufen sich auf polizeiliche Quellen, die behaupten, dass nach einem Verrückten gesucht wird. Nach einer dieser ›tickenden Zeitbomben …«

Seine Finger punktierten die Luft. »… die die Psychiatrie viel zu früh laufen lässt. Und nach Asylanten. Somaliern. Solchen Leuten.«

»Es ist natürlich möglich, dass wir einen kranken Menschen suchen. Alles ist möglich. Zu diesem Zeitpunkt der Ermittlungen ist es aber wichtig, sich nicht in eine bestimmte Theorie zu verbeißen.«

»Wenn diese Streife so schnell am Tatort war, kann der Täter doch nicht sehr weit gekommen sein. Ich habe heute in der Zeitung gelesen, dass sie schon zehn, fünfzehn Minuten nach ihrem Tod gefunden worden ist. Am Heiligen Abend hat man sicher nicht die ganz große Auswahl. An Leuten, die sich spätabends auf der Straße herumtreiben, meine ich.«

Er bereute offenbar sofort, das gesagt zu haben, und nahm ein Glas mit einer gelben Flüssigkeit, die Yngvar für Apfelsinensaft hielt.

»Nein«, sage Yngvar. »Ihre Mutter, zum Beispiel.«

»Hören Sie«, sagte Lukas und leerte das Glas, ehe er weitersprach. »Ich verstehe natürlich, was Sache ist. Ich würde die Welt darum geben, zu wissen, was meine Mutter vorhatte, so spät am Heiligen Abend. Aber ich weiß es nicht, okay? Ich weiß es nicht. Wir … das heißt meine Frau und meine drei Kinder, sind zu Weihnachten immer abwechselnd bei ihren Eltern und bei meinen. Diesmal waren meine Schwiegereltern bei uns. Meine Eltern waren allein. Ich habe meinen Vater gefragt, natürlich habe ich das, Herrgott …«

Er schnitt eine Grimasse. »Ich habe ihn gefragt, und er weigert sich, zu antworten.«

»Alles klar«, sagte Yngvar wohlwollend. »Alles klar. Deshalb würde ich Ihnen gerade zu diesem Thema gern ein paar Fragen stellen.«

Lukas machte eine resignierte Handbewegung. »Fragen Sie.«

»Ging Ihre Mutter gern spazieren?«

»Was?«

»Ist sie gern spazieren gegangen?«

»Alle gehen wohl gern … Doch. Doch, sicher, das ist sie wohl.«

»Abends? Viele haben ja die Angewohnheit, vor dem Schlafengehen noch einmal frische Luft zu schnappen. War Ihre Mutter auch so?«

Zum ersten Mal seit ihrer ersten Begegnung vor drei Tagen schien Lukas Lysgaard nachzudenken.

»Ich wohne ja schon seit vielen Jahre nicht mehr zu Hause«, sagte er schließlich. »Ich habe … Wir haben schon mit zwanzig das erste Kind bekommen, meine Frau und ich. Wir haben im Sommer nach dem Abitur geheiratet, und …«

Er verstummte und ein Lächeln huschte über sein verweintes Gesicht.

»Das war aber sehr früh«, sagt Yngvar. »Ich hätte nicht gedacht, dass es das heute noch gibt.«

»Meine Eltern, vor allem mein Vater, waren sehr dagegen, dass wir zusammenzogen, ohne verheiratet zu sein. Wo wir doch davon überzeugt waren, dass wir … Aber Sie wollten wissen, ob meine Mutter abends oft spazieren gegangen ist.«

Yngvar nickte und zog möglichst unauffällig sein Notizbuch aus der Brusttasche.

»Das ist sie wirklich. Jedenfalls, als ich noch zu Hause gewohnt habe. Als Pastorin hat sie nach der Arbeitszeit oft die Gemeindemitglieder besucht. Sie war eine … sehr fürsorgliche Pastorin, meine Mutter. Es konnte passieren, dass sie abends aus dem Haus ging und erst zurückkam, wenn ich schon eingeschlafen war. Ich habe jedoch nie erlebt, dass sie am Heiligen Abend … Hausbesuche gemacht hätte.«

Er zuckte mit den Schultern. »Eigentlich schon gut von ihr, Menschen, die sie brauchten, abends aufzusuchen. Sie hatte nämlich Angst vor der Dunkelheit.«

»Angst vor der Dunkelheit«, wiederholte Yngvar. »Na gut. Aber sie ist nachts also gern allein spazieren gegangen. Hier in Bergen, meine ich. Seit Sie wieder hergezogen sind, meinen Sie?«

»Nein … das heißt … als meine Mutter zur Bischöfin gewählt wurde, war ich schon erwachsen. Ich weiß ja nicht, ob sie noch immer so viele Besuche gemacht hat wie früher.«

Er atmete schwer und griff zu seinem Glas. Als er feststellte, dass es leer war, blieb er sitzen und drehte es in seiner Hand. Sein linkes Knie zitterte, als hätte er Ameisen im Bein. »Als ich jünger war, habe ich mich ehrlich gesagt nicht so sehr dafür interessiert, was sie abends gemacht hat. Umgekehrt war das schon anders, könnte man sagen.«

Diesmal war sein Lächeln echt. »Ich war wohl wie die meisten Jugendlichen. Habe versucht, die Grenzen auszutesten. Hatte sogar eine Freundin. Eigentlich habe ich mir das nie überlegt, aber vielleicht hatte meine Mutter die Gewohnheit, abends noch ein wenig spazieren zu gehen. Auch in Stavanger. Aber wenn wir hier sind, meine eigene Familie, meine ich, dann tut sie das natürlich nicht.«

»Sie wohnen in Os, nicht wahr?«

»Ja. Das ist nur eine gute halbe Stunde von hier. Außerhalb der Stoßzeiten. Dann kann es ewig dauern. Aber wir besuchen sie oft. Und sie uns. Da sie bei uns niemals diese Abendspaziergänge macht, oder wenn wir hier sind, da …«

»Verzeihen Sie die Unterbrechung, aber übernachten Sie dann? Wenn Sie hier sind?«

»Ab und zu. In der Regel nicht. Die Kinder schlafen natürlich oft hier. Sie verstehen sich sehr gut mit meinen Eltern. Am Heiligen Abend und anderen Feiertagen übernachten wir immer hier. Wir trinken ja gern ein wenig.«

»Ihre Eltern sind also keine Antialkoholiker?«

»Nein. Durchaus nicht.«

»Was wollen Sie mit ›durchaus nicht‹ sagen?«

»Was? Ich meine … Sie trinken gern ein Glas Rotwein zum Essen. Mein Vater trinkt gelegentlich gern einen Whisky. Ganz normale Menschen, mit anderen Worten.«

»Hat Ihre Mutter manchmal getrunken, ehe sie spazieren gegangen ist?«

Lukas Lysgaard seufzte demonstrativ. »Hören Sie mal«, sagte er wütend. »Ich sage doch, dass ich das alles nicht so genau weiß. Irgendwie bilde ich mir ein, dass meine Mutter abends gern einen Spaziergang gemacht hat. Zugleich weiß ich, dass sie Angst vor der Dunkelheit hatte. Richtige Angst. Alle haben sich wegen dieser Phobie über sie lustig gemacht, wo sich doch gerade sie in Gottes Gegenwart hätte sicher fühlen müssen. Und in Seiner Gegenwart ist man doch eigentlich immer …«

Dazu zog er eine kleine Grimasse, ließ sich im Sessel zurücksinken und stellte das leere Glas weg.

»Darf ich mich einmal umsehen?«, fragte Yngvar.

»Äh … ja. Nein, ich meine … Mein Vater ist bei meiner Familie, da ist es ein wenig unpassend, wenn Sie ohne seine Einwilligung in seinen Sachen herumschnüffeln.«

»Ich werde nicht schnüffeln«, sagte Yngvar lächelnd und hob beide Handflächen. »Das nun wirklich nicht. Ich will nur einen Blick auf alles werfen. Wie ich schon gesagt habe, ist es wichtig für mich, den bestmöglichen Eindruck vom Opfer zu bekommen. Deshalb bin ich hier. In Bergen, meine ich. Ich muss versuchen, mir ein klareres Bild von Ihrer Mutter zu machen. Ihr Haus zu sehen, das kann eine kleine Hilfe sein. Das dürfte doch kein Problem sein. Oder?«

Wieder zuckte Lukas mit den Schultern. Yngvar deutete das als Einverständnis und erhob sich.

Als er den Notizblock in die Tasche steckte, bat er Lukas, ihm den Weg zu zeigen. »Damit ich mich nicht blamiere«, sagte er lächelnd. »Wie beim letzten Mal.«

Das Haus am Nubbebakken war alt, aber gut erhalten. Die Treppe in den ersten Stock war überraschend schmal und schlicht im Vergleich zum übrigen Haus.

Lukas ging vor ihm her und warnte ihn vor einem Vorsprung in der Decke. »Das ist ihr Schlafzimmer«, sagte er und öffnete eine Tür.

Ein Doppelbett, bezogen.

Die Tagesdecke war aus verschiedenfarbigen Flicken zusammengesetzt und wirkte in dem riesigen und ziemlich leeren Zimmer beruhigend. Auf den Nachttischen türmten sich Bücherstapel und auf dem Boden neben dem zur Tür hin stehenden Bett lag eine zusammengefaltete Zeitung, Bergens Tidende, wenn Yngvar das richtig sehen konnte. Ein großes Gemälde hing gleich dem Bett gegenüber an der Wand, abstrakte Muster in Blau und Lila. Hinter der Tür, Yngvar sah ihn nur im Spiegel zwischen den beiden großen Fenstern, stand ein geräumiger Kleiderschrank.

»Danke«, sagte Yngvar, nickte und trat zurück.

Im ersten Stock befanden sich ein frisch renoviertes Badezimmer, zwei ziemlich anonyme Schlafzimmer, von denen das eine Lukas’ altes Kinderzimmer war, und ein großes Arbeitszimmer, wo beide Ehepartner ihre eigenen Schreibtische hatten. Yngvar brannte darauf, sich die Papiere näher anzusehen. Lukas’ Entgegenkommen ging nun aber zu Ende, er nickte zur Treppe hinüber. Auf dem Weg dorthin kamen sie an einer schmalen Tür vorbei, in deren Schloss ein schmiedeeiserner Schlüssel steckte, Yngvar tippte auf eine Dachbodentreppe.

»Warum wohnen sie hier?«, fragte er auf dem Weg nach unten.

»Was?«

»Warum wohnen sie nicht im Bischofssitz? Soviel ich weiß, besitzt das Bistum Bjørgvin einen eigenen Bischofssitz in Landåslien.«

»Das hier ist das Elternhaus meines Vaters. Sie wollten hier wohnen, als wir nach Bergen gezogen sind. Als meine Mutter Bischöfin wurde, hat mein Vater darauf bestanden, hier einzuziehen. Das war seine Bedingung für sein Einverständnis. Dass meine Mutter Bischöfin werden durfte, meine ich.«

Sie hatten den langen Gang vor dem Wohnzimmer erreicht.

»Aber gibt es denn keine Vorschriften?«, fragte Yngvar. »Soviel ich weiß, ist man verpflichtet «

»Hören Sie«, fiel Lukas ihm ins Wort, presste den Daumen an das eine und den Zeigefinger an das andere Auge. »Es hat eine Menge Ärger gemacht, die Erlaubnis einzuholen, aber ich habe eigentlich keine Ahnung. Ich bin entsetzlich müde. Können Sie jemand anderen fragen? Bitte?«

»In Ordnung«, sagte Yngvar schnell. »Ich lasse Sie in Ruhe. Ich muss nur noch einen kurzen Blick in das Zimmer dort werfen.«

»Tun Sie sich keinen Zwang an«, murmelte Lukas und zeigte mit ausgestreckter Hand auf die Tür.

Erst als er das Zimmer betreten hatte, wunderte sich Yngvar, dass Lukas sich ihm nicht in den Weg gestellt hatte. Im Gegenteil, der Sohn der Bischöfin war ins Wohnzimmer zurückgegangen, und Yngvar war allein. Er schaute sich eilig um.

Die Vorhänge waren geschlossen, es roch nicht mehr süßlich nach Schlaf. Das Zimmer war kühler als in seiner Erinnerung, und die Kleider, die über dem Stuhl gelegen hatten, waren verschwunden.

Ansonsten wirkte alles wie beim ersten Mal.

Er bückte sich, um die Titel der Buchrücken in dem kleinen Stapel auf dem Nachttisch zu lesen. Eine dicke Biographie über den Kriegshelden Jens Christian Hauge, ein Kriminalroman von Unni Lindell und ein abgegriffenes Exemplar von Segen der Erde.

Yngvar stand ganz still da. Seine Sinne waren geschärft. In diesem Zimmer hatte sie ihre Nächte verbracht, da war er sich sicher. Vorsichtig öffnete er die Tür des Kleiderschranks. Röcke, Kleider, gebügelte Hemden und Blusen hingen in der einen Hälfte, die andere war in Fächer unterteilt. Unterwäschefach, Strumpffach. Ein Fach für Hosen und eins für Gürtel und Abendtaschen. Ein Fach ganz unten für alles, was kein eigenes Fach brauchte.

Man bewahrt die Alltagskleidung nicht in einem Gästezimmer auf, dachte Yngvar und schloss den Schrank lautlos.

»Sind Sie bald fertig?«, hörte er Lukas rufen.

»Ja, sicher«, sagte Yngvar und ließ seinen Blick ein letztes Mal durch das Zimmer wandern, ehe er wieder auf den Gang trat. »Danke.«

An der Haustür drehte er sich um und streckte zum Abschied die Hand aus.

»Ich wüsste ja gern, wann er vorübergeht«, sagte Lukas, ohne die Hand zu nehmen. »Dieser Schmerz.«

»Der geht niemals vorüber«, sagte Yngvar und ließ die Hand sinken. »Eigentlich nicht.«

Lukas Lysgaard schluchzte auf.

»Ich habe meine erste Frau und meine erwachsene Tochter verloren«, sagte Yngvar leise. »Vor über zehn Jahren. Durch ein banales Unglück bei uns zu Hause. Ich hatte nicht gewusst, dass etwas so wehtun könnte.«

Lukas’ Gesicht veränderte sich. Der abweisende Ausdruck verschwand, und er legte die Hände in einer Geste der Verzweiflung in seinen Nacken. »Verzeihung«, flüsterte er. »Verzeihung. Ein Kind zu verlieren … Es tut mir leid. Hier rede und rede ich und …«

»Das braucht Ihnen nicht leidzutun«, sagte Yngvar. »Trauer ist nicht relativ. Ihre Trauer ist in sich groß genug. Irgendwann werden Sie lernen, damit zu leben. Es wird lichter, Lukas. Das Leben hat eine gesegnete Tendenz, sich selbst zu heilen.«

»Sie war doch nur meine Mutter. Sie dagegen …«

»Ich wache noch immer mitten in der Nacht auf und glaube, dass Elisabeth und Trine da sind. Eine Sekunde vergeht, zwei vielleicht, dann begreife ich, wo in der Zeit ich mich befinde. Und die Trauer, die ich in diesem Moment verspüre, eben in diesem Moment, ist dieselbe wie am Tag ihres Todes. Aber es geht viel schneller vorbei, natürlich. Nach einer halben Stunde kann ich meinen sorglosesten Schlaf schlafen.«

Er deutete ein Lächeln an. »Aber jetzt muss ich gehen.«

Die feuchte Kälte schlug ihm entgegen, als er auf die niedrige Steintreppe trat. Der Regen peitschte von der Seite und Yngvar stellte seinen Kragen auf, als er auf das Gartentor zuging, ohne sich noch einmal umzuschauen.

Das Einzige, woran er denken konnte, war, dass eins der Bilder auf dem Regalbrett in dem sogenannten Gästezimmer verschwunden war.  Am ersten Weihnachtstag hatten dort vier Fo tos gestanden. Heute waren es nur noch drei. Eins von Lukas als Kind, auf Eriks Schoß. Eins von der ganzen Familie in einem Boot. Das dritte Foto zeigte einen sehr ernsten und sehr jungen Erik Lysgaard mit Abiturientenmütze. Die Quaste war auf der Schulter arrangiert. Die Mütze war korrekt schräg gerückt.

Als Yngvar das Tor öffnete und zum Kreischen der Angeln eine Grimasse schnitt, fragte er sich, ob es ein Fehler gewesen war, Lukas nicht zu fragen, was mit dem vierten Bild geschehen war.

Andererseits hätte er aller Wahrscheinlichkeit nach keine Antwort erhalten.

Jedenfalls keine glaubwürdige.

Dass überhaupt jemand eine solche Geschichte glauben konnte, war einfach nicht zu fassen.

Inger Johanne hatte den Laptop auf dem Schoß und surfte ziellos umher. Sie hatte bei der New York Times und der Washington Post vorbeigeschaut, aber es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren. Auf den Websites des National Enquirer wurde sie immerhin unterhalten.

Ragnhild schlief schon tief, und Isak brachte gerade Kristiane ins Bett. Ohne dass ihr das so richtig gefiel, ertappte Inger Johanne sich bei dem Wunsch, dass er bliebe. Um diesen Gedanken abzuschütteln, sah sie ihre Mails durch. Drei neue Mitteilungen. Zwei nervige Reklameangebote, eins für ein aus Krill und Bärenklauen entwickeltes Schlankheitsmittel. Außerdem ein Brief von einer Absenderin, die sie in ihrem Gedächtnis einen Moment lang suchen musste.

Karen Ann Winslow.

Inger Johanne erinnerte sich an Karen Ann Winslow. Sie und Karen hatten vor zwei Ehen und einer Ewigkeit in Boston zusammen studiert. Damals hatte Inger Johanne noch Psychologin werden wollen, und sie hatte nicht geahnt, dass sie bald darauf ihre Ausbildung vorübergehend aufgeben würde, um sich einem FBI-Kurs zu widmen, der sie dann fast das Leben gekostet hatte.

Sie öffnete die Mail, die von einer privaten Adresse stammte und nicht verriet, wo Karen arbeitete.

Dear Inger. Remember me? Long time no see. We had some great days back at school and I’ve been thinking of you now and then. How are you? Married? Kids? Can’t wait to hear.

I googled your name and found this address. Hope it’s correct.

I’m going to a wedding in Norway, 10th of January. A dear friend of mine is marrying a Norwegian cardiologist. The wedding is taking place in a small town called Lillesand, not far from Oslo. Are you still living there?

Inger Johanne dachte, dass Karens amerikanische Vorstellung von »not far« auf der kurvenreichen lebensgefährlichen E 18 an die Südküste eine brutale Bruchlandung machen würde.

I’ll have to go without my husband and three children (two daughters and a son, gorgeous kids!), due to other family activities. I’ll arrive in Oslo three days before the wedding and would be absolutely thrilled to meet you. Is it possible? We have SO much catching up to do. Please let me hear from you as soon as possible. I’ll be staying at the Grand Hotel, by the way, in the center of Oslo.

Lots of Love,

Karen

In Bezug auf das Hotel hat sie immerhin recht, dachte Inger Johanne, als sie die E-Mail schloss, sich zu Google weiterklickte und Karens vollständigen Namen ins Suchfenster eingab.

Zweihundertsechs Treffer.

Offenbar gab es zwei Amerikanerinnen dieses Namens, denn viele Artikel bezogen sich auf eine dreiundsiebzig Jahre alte Kinderbuchautorin. Wenn sie sich richtig erinnerte, hatte Karen ihr Jurastudium in dem Herbst aufnehmen wollen, in dem Inger Johanne selbst nach Quantico gegangen war. So wie sie sich an die junge Frau erinnerte, hatte die ihr Studium sicher mit Glanz beendet. Viele Treffer bezogen sich denn auch auf eine Anwältin, die in Alabama in einer Kanzlei namens American Poverty Law Center, APLC, arbeitete. Diese Karen Ann Winslow, die nach einem raschen Überblick über die Artikel in Inger Johannes Alter war, hatte unter anderem eine gegen den Staat Mississippi gerichtete Kampagne geleitet, bei der es darum ging, die großen Gefängnisse für minderjährige Verbrecher zu schließen. Denn noch die grundlegendsten Kinderrechte wurden dort mit Füßen getreten.

Als Inger Johanne die Website sah, wusste sie, dass sie die Seite schon besucht hatte. Die Kanzlei gehörte zu den wichtigsten in den USA, wenn es um die Verfolgung von Hassverbrechen ging. Sie leistete armen Opfern, vor allem Afroamerikanern, Gratisbeistand, außerdem engagierte sie sich für Mittellose und Verfolgte. Und sie entfaltete beeindruckende Aktivitäten, um sich einen Überblick über Hassgruppen im ganzen riesigen Bereich der USA zu verschaffen.

Inger Johanne klickte sich durch die inhaltsreiche Website. Es gab keine Bilder der Angestellten. Aus Sicherheitsgründen, nahm sie an. Nachdem sie zehn Minuten lang gelesen hatte, war sie jedenfalls davon überzeugt, dass die Anwältin Karen Ann Winslow beim APLC mit ihrer alten Kommilitonin identisch war.

»Perfekt«, murmelte sie.

»Finde ich auch«, sagte Isak und ließ sich in den Sessel fallen, der Inger Johannes Sofa genau gegenüber stand. »Beide Kinder schlafen, und wenn du gestattest, werfe ich einen Blick in deinen Kühlschrank und sehe mal, was ich daraus machen kann.«

Inger Johanne schaute von ihrem Rechner nicht einmal auf. Sie hatte sich zu Outlook zurückgeklickt. »Nur zu«, murmelte sie. »Diese Würstchen haben mich nicht gerade satt gemacht.«

Dear Karen!

Thanks so much for your mail. Of course I want to see you. I live in Oslo, and you are more than welcome to stay with us for a couple of days. Have to warn you, though, I am blessed with two daughters that are more than a handful.

Die Finger huschten über die Tastatur. Inger Johanne dachte nicht nach, es schien eine direkte Verbindung zwischen ihren Händen und allem zu geben, was sie in mehr als siebzehn Jahren erlebt hatte. Als ob nichts der Bearbeitung, der Abwägung bedurfte; sie schien nicht zu erklären, nur zu erzählen. Sie schrieb unbefangen über die Kinder, über Yngvar, über die Arbeit. Karen Winslow war weit weg, auf der anderen Seite des Ozeans, die alte Freundin kannte hier niemanden. Inger Johanne schrieb über ihre Leben als Forscherin, über ihre Angst, keine ausreichend gute Mutter für eine Tochter zu sein, mit der außer ihr selbst niemand umgehen konnte. Sie eigentlich auch nicht, wenn sie ehrlich sein sollte. Sie schrieb ohne Hemmungen an eine Frau, mit der zusammen sie einmal jung und frei gewesen war.

Es kam ihr fast vor wie eine Beichte.

»Voilà«, sagte Isak und stellte einen großen Teller vor sie hin. »Spaghetti carbonara mit einem witzigen kleinen Dreh. Du hattest keinen Speck, und da hab ich Schinken genommen. Du hattest keine Eier, deshalb habe ich eine Soße aus einem Rest Schimmelkäse hergestellt. Du hattest keine Spaghetti, und deshalb gibt es Tagliatelle. Und darauf wahnsinnige Mengen von fein gehacktem, kurz angebratenem Knoblauch. Also doch nicht ganz Spaghetti carbonara.«

Inger Johanne schnupperte. »Duftet himmlisch«, sagte sie zerstreut. »Im Eckschrank steht Wein, wenn du eine Flasche aufmachen möchtest. Ich trinke Mineralwasser. Würdest du mir welches holen?«

Sie starrte auf den Bildschirm und kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum,

Entschlossen markierte sie den ganzen Text, abgesehen von den ersten vier Zeilen, und drückte auf Löschen, ehe sie die kurze verbleibende Mitteilung beendete:

Let me know the details of your stay as soon as possible. I’m really looking forward to seeing you, Karen. Really.

All the best,

Inger.

»Wem schreibst du denn so viel?«, fragte Isak und legte die Beine auf den Tisch, ehe er sich den Teller auf den Brustkorb stellte und drauflos spachtelte.

Seine Tischmanieren waren ihr immer auf die Nerven gegangen.

Er hatte keine.

Er packte das bis zum Rand gefüllte Rotweinglas mit der ganzen Hand und schlürfte mit vollem Mund.

»Du isst wie ein Schwein, Isak.«

»Wem schreibst du also?«

»Einer Freundin«, sagte sie kurz. »Einer sehr alten Freundin.«

Dann klappte sie den Laptop zu, stellte ihn zur Seite und beugte sich über ihren Teller. Das Essen schmeckte so gut, wie es duftete. So saßen sie da, ohne miteinander zu reden, bis beide Teller leer waren.

Das Whiskyglas war leer.

Whiskycocktails waren Marcus’ Schwäche.

In seiner Generation waren sie kaum noch bekannt, und seine Freunde rümpften die Nase, wenn er in hohen Gläsern schweineteuren Whisky mit Sodawasser mischte. Solche Cocktails waren der feste Longdrink des Großvaters gewesen, jeden Samstag um acht Uhr abends, nach dem allwöchentlichen Bad samt Haarwäsche. Marcus jr. hatte am Tag seiner Konfirmation den ersten bekommen. Es hatte widerlich geschmeckt, aber er hatte ihn hinuntergezwungen. Männer tranken solche Cocktails, meinte der Großvater, und auf diese Weise wurde das archaische Getränk zu Marcus’ Wahrzeichen.

Er spielte mit dem Gedanken, sich noch einen zu mischen, überlegte es sich aber anders.

Rolf war im Einsatz. Ein Dressurpferd hatte Probleme mit dem linken Knie, und bei einem Einkaufspreis von anderthalb Millionen Kronen wollte der Besitzer nur ungern warten, bis die Praxis am 5. Januar wieder geöffnet wäre. Rolfs Sprechzeiten waren bestenfalls ein Anhaltspunkt, schlimmstenfalls irreführend. Mindestens zweimal in der Woche wurde er abends angerufen und musste los.

Cusi schlief.

Die Hunde hatten sich zur Ruhe gelegt, und das Haus war still.

Er versuchte, den Fernseher einzuschalten. Eine vage Unruhe machte es schwer, zu entscheiden, ob er schlafen gehen oder sich irgendeine Fernsehserie anschauen sollte. Cold Case vielleicht. Egal was, wenn es seine Gedanken nur zur Ruhe brachte.

Der Apparat war tot. Er schlug mit der Fernbedienung auf sein Knie und machte noch einen Versuch. Nichts. Vermutlich die Batterien. Marcus Koll gähnte und beschloss, doch ins Bett zu gehen. Mails durchsehen, Zähne putzen, sich hinlegen.

Er schlenderte aus dem Wohnzimmer, durch die Diele und in sein Arbeitszimmer. Der Rechner war eingeschaltet. Die Mailbox enthielt nichts Interessantes. Träge ging er auf Dagbladet.no. Auch dort nichts von Interesse. Er scrollte die Seite nach unten.

Umstrittener Künstler tot aufgefunden.

Die Schlagzeile flimmerte vorüber.

Sein Zeigefinger erstarrte auf der Maus. Er lief die Seite wieder hoch.

Umstrittener Künstler tot aufgefunden.

Sein Herz raste los. Sein Kopf kam ihm leicht vor.

Nicht schon wieder. Nicht noch ein Anfall.

Es war nicht die Panik, die ihn überkam.

Er fühlte sich stark. Klar. Langsam fing er an zu lesen.

Als er fertig war, loggte er sich aus und schaltete den Rechner ab. Der Schreibtischschublade entnahm er einen kleinen Schraubenzieher. Er ging auf dem Boden in die Hocke, drehte vier Schrauben im Deckel des Gerätes ab, öffnete es und zog die Festplatte vorsichtig heraus. Aus einer anderen Schreibtischschublade nahm er eine zweite Festplatte. Es war leicht, sie einzusetzen. Er schraubte den Deckel vorsichtig wieder fest und legte den Schraubenzieher zurück. Zuletzt schob er den Rechner unter den Schreibtisch.

Die herausgenommene Festplatte nahm er mit, als er ging.

Er war hellwach.

Die Frau in der Auslandsankunftshalle auf Gardermoen staunte darüber, wie wach sie sich fühlte. Sie war weit gefahren und hatte zudem zwei Nächte nur unruhig geschlafen. Die letzten paar Dutzend Kilometer bis zum Flughafen hatte sie gefürchtet, hinter dem Lenkrad einzunicken. Und jetzt schien sich die Unruhe, die sie am Schlafen gehindert hatte, wieder einzustellen.

Zum soundsovielten Mal schaute sie auf die Uhr.

Das Flugzeug hatte zwar Verspätung gehabt, wie die Tafel in der Ankunftshalle mitteilte. Der Flug SK 1442 von Kopenhagen hätte um 21.50 landen sollen, hatte aber erst vierzig Minuten später auf dem Boden aufgesetzt. Und das war jetzt über eine Dreiviertelstunde her.

Sie lief vor dem Eingang zur Zollschleuse auf und ab. Der Flugplatz war still, fast verödet, so spät an einem Samstag kurz nach Weihnachten. Die Stühle vor der kleinen Cafeteria, wo sie vorhin einen Kaffee und ein ungenießbares Stück Pizza zu sich genommen hatte, waren leer. Sie konnte nicht einmal genug Ruhe finden, um sich zu setzen. Dabei mochte sie Flughäfen. In jüngeren Jahren, damals, als der norwegische Hauptflughafen in Dänemark gelegen hatte und das kleine Fornebu der größte im Lande selbst gewesen war, liebte sie es, sonntags einfach hinzufahren und zu schauen. Die Flugzeuge anzusehen. Die Menschen. Die Gruppen von selbstsicheren Piloten und lächelnden Frauen, die damals noch Stewardessen hießen und bildschön waren; sie hatte dort stundenlang mit Tee aus ihrer Thermoskanne sitzen und sich Geschichten über all die Menschen ausdenken können, die kamen und gingen. Der Flugplatz versetzte sie in eine ganz eigene Stimmung aus Neugier, Erwartung und Heimweh.

Jetzt war sie so unruhig, dass sie fast die Nerven verlor.

Es war schon lange niemand mehr aus der Zollschleuse gekommen.

Als sie sich wieder zur Anzeigetafel umsah, stand dort über SK 1442 nicht mehr »bags on belt«. Sie wusste, was das bedeutete, wollte es aber nicht an sich heranlassen. Noch nicht.

Marianne hätte Bescheid gesagt, wenn etwas dazwischengekommen wäre.

Sie hätte eine SMS geschickt. Angerufen. Sie hätte Bescheid gesagt.

Für die Reise von Sydney hierher waren über dreißig Stunden anberaumt worden, mit Zwischenlandungen in Tokio und Kopenhagen. Natürlich konnte etwas dazwischengekommen sein. Irgendwo. In Tokio. In Sydney. Oder auch in Kopenhagen.

Marianne hätte Bescheid gesagt.

Eine winzig kleine Angst verbiss sich in ihrem Nacken. Plötzlich fasste sie einen Entschluss und lief zur Schleuse, die zum Zoll führte. Gegen das Verbot zu verstoßen, hier weiterzugehen, war sicher nicht ratsam. Die Sicherheitsmaßnahmen, die die Fluggesellschaften seit dem 11. September 2001 einhielten, konnten ja sogar den Zöllnern das Recht auf den finalen Tötungsschuss zubilligen.

»Hallo«, sagte sie halblaut und schaute um die Wand herum. »Ist hier jemand?«

Niemand.

»Hallo«, sagte sie noch einmal, diesmal lauter.

Ein Mann in Zolluniform kam von der gegenüberliegenden Wand, fünf Meter weiter.

»Ja? Sie dürfen hier nicht weitergehen.«

»Das weiß ich doch! Ich wollte nur wissen … Ich erwarte jemanden mit der Maschine aus Kopenhagen. Die vor einer Stunde gelandet ist. SK 1442. Aber sie ist nicht gekommen. Könnten Sie … könnten Sie freundlicherweise nachsehen, ob da hinten noch irgendwelche Fluggäste sind?«

Für einen Moment schien er sich weigern zu wollen. Er war hier ja schließlich nicht als Laufbursche angestellt. Dann überlegte er es sich aus irgendeinem Grund anders, zuckte mit den Schultern und lächelte. »Ich glaub, es ist ganz leer da hinten. Moment mal.«

Er verschwand.

Die Akkus in Mariannes oder in ihrem eigenen Mobiltelefon konnten leer sein.

Natürlich, dachte sie und atmete leichter. Die Götter mochten wissen, wie schwer es heutzutage war, einen Münzfernsprecher zu finden. Und wenn man einen fand, hatte man kein Kleingeld. Die meisten nahmen zwar auch Karten, aber wenn sie sich die Sache genauer überlegte, dann musste es Mariannes Telefon sein, das hier die Probleme machte.

»Leer. Stumm wie im Grab.«

Der Zollbeamte steckte die Hände in die Hosentaschen. »Wir erwarten heute Abend noch zwei oder drei Maschinen, aber gerade ist niemand da. Das Band mit dem Gepäck aus Kopenhagen ist auch leer.«

Er zog die Hände aus den Taschen und hob sie zu einer Geste des Bedauerns.

»Danke«, sagte sie. »Tausend Dank für die Hilfe.«

Sie zog den Kopf zurück und ging auf die Rolltreppe zu, die zur Abflughalle führte. Holte ihr Mobiltelefon hervor. Keine Mitteilung. Kein entgangener Anruf. Noch einmal versuchte sie, Marianne anzurufen, wurde aber wieder auf den Anrufbeantworter umgeschaltet. Ihre Beine fingen wie von selbst an zu laufen. Die Rolltreppe bewegte sich zu langsam, deshalb lief sie auch dort. Als sie oben angekommen war, erschrak sie.

Niemals hatte sie die Ankunftshalle so leer und still gesehen.

Nur hier und da saß gelangweiltes Bodenpersonal hinter einem Schalter. Zwei lasen Zeitung. Ganz hinten konnte sie das Dröhnen einer Reinigungsmaschine hören, die langsam über den Boden fuhr, gelenkt von einem dunkelhäutigen Mann. Nur eine Sicherheitskontrolle war noch geöffnet, aber sie sah dort keinen Menschen. Es war wie eine Szene aus einem Weltuntergangsfilm. Gardermoen müsste von Menschen nur so wimmeln, müsste nervig und unfreundlich sein, überfüllt von ungeduldigen Reisenden und Angestellten, die nur das taten, was unbedingt nötig war.

Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und sie ging zielstrebig auf den SAS-Schalter am anderen Ende der Halle zu. Auch hier war kein Mensch. Sie schluckte mehrmals und wischte sich mit dem Ärmel kalten Schweiß aus dem Gesicht.

Eine Frau mittleren Alters tauchte aus einem Raum hinter dem Schalter auf. »Kann ich etwas für Sie tun?«

»Ja, ich wollte jemanden abholen …«

Die Frau nahm am Schalter Platz. Sie loggte sich in einen Computer ein, ohne aufzuschauen.

»Ich wollte jemanden abholen, der mit dem Flugzeug aus Kopenhagen kommt.«

»Und er ist nicht gekommen?«

»Sie. Meine Lebenspartnerin. Marianne Kleive.«

Die Frau schaute verwirrt auf, dann legte sie ihr Gesicht in korrekte Falten und konzentrierte sich abermals auf die Tastatur. »Aha«, sagte sie. »So ist das.«

»Aber sie ist nicht aufgetaucht. Sie war in Australien und musste in Tokio und Kopenhagen zwischenlanden. Ich möchte wissen, ob sie … Könnten Sie nachsehen, ob sie überhaupt in diesem Flugzeug war?«

»Nein, leider nicht. Ich bin nicht befugt, solche Auskünfte zu erteilen.«

Vielleicht war es die bedrohliche Leere in der riesigen Halle. Vielleicht waren es auch die schlaflosen Nächte oder die unerklärliche Unruhe, die sie die ganze Woche lang gequält hatte. Es konnte auch sein, dass sie wusste, im tiefsten Herzen, dass sie allen Grund zur Verzweiflung hatte. Jedenfalls begann die Frau im roten Anorak, zum allerersten Mal in ihrem Erwachsenenleben, in der Öffentlichkeit zu weinen.

Still, ganz lautlos liefen die Tränen über ihre Wangen, über die tiefen Lachgrübchen, weiter über das spitze Kinn. Langsam, in großen Tropfen, fielen sie auf das helle Holz des Schalters.

»Weinen Sie?« Die SAS-Frau runzelte mitfühlend die Stirn.

Die Frau auf der anderen Seite gab keine Antwort.

»Hören Sie«, sagte die SAS-Frau und senkte die Stimme. »Es ist spät. Sie sind sicher müde. Hier ist sonst niemand und …«

Sie schaute sich kurz um. »Welcher Flug, haben Sie gesagt?«

Die Frau im Anorak legte ein zusammengefaltetes Papier auf den Tresen. »Eine Kopie des Reiseplans«, flüsterte sie und fuhr sich mit beiden Handrücken übers Gesicht.

Es war nicht möglich, von ihrem Standpunkt aus den Bildschirm zu sehen. Stattdessen richtete sie ihren Blick auf die Augen der älteren Frau. Die jagten zwischen Tastatur und Schirm hin und her.

Plötzlich vertiefte sich ihr Stirnrunzeln. »Sie hatte gebucht«, sagte sie endlich. »Aber sie war nicht in dem Flugzeug. Sie … Marianne Kleive hatte gebucht, aber sie hat nicht eingecheckt.«

»In Kopenhagen?«

»Nein. In Sydney.«

Es war unbegreiflich. Es war nicht möglich. Marianne hätte auf jeden Fall Bescheid gesagt, wenn etwas sie an der Heimreise gehindert hätte. Vor mehr als dreißig Stunden hatte das Flugzeug vom australischen Boden abgehoben, und in dieser Zeit hätte Marianne ein Telefon gefunden. Einen Computer mit Internetanschluss. Irgendetwas, und das hier war einfach unbegreiflich.

»Einen Moment«, sagte die Frau und griff noch einmal nach der Kopie der Reiseunterlagen.

Die Frau im Anorak war dreiundvierzig Jahre alt und hieß Synnøve. Ihre blonden Haare waren zu einem Zopf geflochten, sie trug keinerlei Make-up und hätte durchaus als zehn Jahre jünger durchgehen können. Sie war nur hundertfünfzig Meter vom Gipfel des Mount Everest entfernt gewesen, als sie den Rückzug antreten musste, und sie war um die ganze Welt gesegelt. Sie war vor den Kanarischen Inseln auf Piraten gestoßen und wäre bei Stord um ein Haar beim Tauchen ertrunken. Synnøve Hessel war eine Frau, die rasch und konstruktiv denken konnte und die mehrmals durch ihre Reaktionsfähigkeit ihr eigenes und das Leben anderer gerettet hatte.

Jetzt stand alles still. Ganz, ganz still.

»Tut mir leid«, flüsterte die Frau hinter dem Tresen. »Marianne Kleive hatte für den vergangenen Sonntag einen Flug nach Sydney gebucht. Aber ich sehe hier, dass sie …«

Als sie dem Blick der anderen begegnete, zuckte sie zusammen. »Es tut mir leid«, sagte sie dennoch. »Sie ist nicht geflogen. Marianne Kleive hat ihren Flug verfallen lassen. Sie ist jedenfalls nicht nach Sydney geflogen. Es kann ja sein, dass sie mit einem anderen Ticket geflogen ist, meine ich.«

Ohne für die freundliche und absolut regelwidrige Hilfe zu danken, ohne überhaupt ein Wort zu sagen, sogar ohne die Kopie des Reiseplans mitzunehmen, der nicht eingehalten worden war, wandte Synnøve Hessel sich vom Schalter der SAS ab und lief durch die menschenleere Abflughalle.

Sie hatte nur keine Ahnung, wohin.