Vierzehn
Die Vergessenen
Lebendige Mythologie
Primogenese
DER GANG DURCH DAS LICHTTOR war wie das Schreiten von einem Raum in einen anderen. Wo gerade noch eine Welt am Rande der Auflösung begriffen war, fand sich Horus nun inmitten einer wogenden Menschenmenge auf einem großen runden Platz wieder, der von hohen Türmen und wunderbar ausgestatteten Marmorgebäuden umgeben war. Tausende Menschen waren hier, und da er auch die größten um die Hälfte überragte, konnte er erkennen, dass noch viele tausend mehr aus insgesamt neun Prachtboulevards hineindrängten.
Seltsamerweise reagierte niemand auf das unvermittelte Auftauchen zweier riesiger Krieger in ihrer Mitte. Ein Haufen Statuen standen im Zentrum des Platzes, und laute Gesänge erklangen aus verrosteten Lautsprechern auf den Häusern, während die Masse die Statuen in endloser Prozession umkreiste. Aus jedem Gebäude erklang Glockengeläut.
»Wo sind wir?«, fragte Horus mit Blick auf die hohen Gebäude mit dem Adler auf der Fassade, die goldenen Zinnen und Buntglasfenster.
Jedes Bauwerk rang mit seinen Nachbarn um die Vorherrschaft in Größe und Prunk, und Horus' Blick für architektonische Proportion und Eleganz erkannte in ihnen vulgäre Ausdrücke der Verehrung.
»Ich kenne den Namen dieses Palasts nicht«, sagte Sejanus. »Ich weiß nur, was ich hier gesehen habe, aber ich glaube, das hier ist irgendeine Schreinwelt.«
»Eine Schreinwelt? Schrein für was?«
»Nicht für was«, sagte Sejanus, indem er auf die Statuen in der Mitte des Platzes zeigte. »Für wen.«
Horus betrachtete sie eingehender. Immer noch wurden sie von den wogenden Massen umkreist. Der äußere Ring der Statuen war aus weißem Marmor gehauen, und jeder glitzernde Krieger trug volle Astartes-Rüstung. Sie umringten eine Figur in der Mitte, die gleichermaßen in eine prächtige Rüstung aus Gold gehüllt war. Kostbare Edelsteine funkelten auf ihr. Diese Gestalt hielt eine brennende Fackel in die Höhe, deren Licht alles um sie erleuchtete. Der Symbolismus war klar — diese zentrale Gestalt brachte ihr Licht zu den Menschen, und die Krieger waren da, um sie zu schützen.
Der goldene Krieger war eindeutig ein König oder Held. Seine Züge waren adlig und patrizisch, obwohl der Bildhauer sie zu lächerlichen Proportionen aufgeblasen hatte. Auch die Proportionen der Statuen ringsherum waren grotesk.
»Wen soll die goldene Statue darstellen?«, fragte Horus.
»Sie erkennen ihn nicht?«, fragte Sejanus.
»Nein. Sollte ich?«
»Sehen wir sie uns genauer an.«
Horus folgte Sejanus, als dieser durch die Menge zur Mitte des Platzes schritt. Die Menschen machten ihm bereitwillig Platz.
»Können diese Leute uns nicht sehen?«, fragte er.
»Nein«, sagte Sejanus. »Oder wenn sie es können, vergessen sie uns sofort wieder. Wir bewegen uns als Geister unter ihnen, keiner wird sich an uns erinnern.«
Horus blieb vor einem Mann in einer fadenscheinigen Kutte stehen, der auf blutigen Füßen rings um die Statue schlurfte. Seine Haare waren zu einer Tonsur geschnitten, und in den Händen hielt er geschnitzte Knochen, die mit Zwirn zusammengebunden waren. Ein blutiger Verband bedeckte ein Auge, und ein an seiner Kutte befestigter langer Pergamentstreifen schleifte über den Boden.
Ohne innezuhalten, machte der Mann einen Bogen um ihn, doch Horus streckte den Arm aus und hinderte ihn am Weitergehen. Wieder versuchte der Mann Horus auszuweichen, wieder wurde dies verhindert.
»Bitte, mein Herr«, sagte der Mann, ohne aufzublicken. »Ich muss vorbei.«
»Warum?«, fragte Horus. »Was tun Sie denn?«
Der Mann schaute verwirrt drein, als habe er Mühe, sich zu vergegenwärtigen, was er gefragt worden war. »Ich muss vorbei«, wiederholte er.
Verärgert über die wenig hilfreiche Auskunft, trat Horus beiseite und ließ ihn passieren.
Der Mann neigte den Kopf und sagte: »Möge der Imperator über Sie wachen, mein Herr.«
Bei diesen Worten spürte Horus, wie es ihn plötzlich kalt überlief. Er drängte sich zur Mitte durch, während sich ein schrecklicher Verdacht in seiner Magengrube bildete. Er holte Sejanus ein, der auf einem Sockel am Fuß der Statuen stand, wo ein riesiges Paar Bronzeadler die Verzierung für eine hohe Kanzel bildete.
Ein extrem fetter Mann in einem goldenen Messgewand und mit einer hohen Mitra aus Seide und Gold auf dem Kopf las laut aus einem dicken, ledergebundenen Buch vor. Seine Worte erreichten die Menge durch silberne Fanfaren. Sie wurden von über ihm schwebenden Gestalten gehalten, die wie geflügelte Kinder aussahen.
Als sich Horus näherte, sah er, dass der Mann nur von der Hüfte aufwärts menschlich war. Die untere Körperhälfte bestand aus einem kompliziert aussehenden Durcheinander aus zischenden Kolben und Messingstäben und war dadurch fest mit der Kanzel verbunden, die, wie er jetzt sah, auf einem Fahrgestell ruhte.
Horus achtete nicht auf ihn, sondern betrachtete die Statuen und erkannte schließlich, was sie darstellten.
Zwar waren die Gesichter unkenntlich, aber ihre Identität war unverkennbar.
Horus stand genau vor Sanguinius, dessen ausgestreckte Schwingen den Adlerflügeln entsprachen, die jedes Haus rings um diesen Platz schmückten. Neben ihm stand Rogal Dorn. Sanguinius' entfaltete Flügel umgaben seinen Kopf mit einem unverkennbaren Halo. Auf der anderen Seite stand jemand, bei dem es sich nur um Leman Russ handeln konnte. Seine Haare waren eine wilde Mähne, und er trug einen Umhang aus Wolfsfellen um die massiven Schultern.
Horus umrundete die Statuen und sah weitere vertraute Gestalten: Guillaume, Corax, Lion, Ferrus Mannus, Vulkan und schließlich Jaghatai Khan.
Jetzt konnte kein Zweifel mehr an der Identität der Gestalt in der Mitte bestehen, und Horus schaute zum gemeißelten Gesicht des Imperators empor. Zweifellos hielten die Bewohner dieser Welt sie für wunderbar, aber Horus wusste, dass sie erbärmlich war und spektakulär daran scheiterte, die Dynamik und Wucht des Imperators einzufangen.
Mithilfe der durch den Sockel gewonnenen Höhe starrte Horus über die langsam kreisende Menschenmenge hinweg und fragte sich, was sie hier zu tun glaubten.
Pilger, kam ihm unwillkürlich in den Sinn.
In Verbindung mit dem Prunk und den vulgären Verzierungen der umliegenden Häuser ließ das nur den Schluss zu, dass dies nicht einfach nur ein Ort der Verehrung war, sondern viel mehr.
»Dies ist eine Pilgerstätte«, sagte er, als sich Sejanus am Fuß der Corax-Statue zu ihm gesellte. Der kühle Marmor fing die blasse Hautfarbe seines wortkargen Bruders perfekt ein.
Sejanus nickte. »Eine ganze Welt, die der Lobpreisung des Imperators überantwortet wurde.«
»Aber warum? Der Imperator ist kein Gott. Er hat Jahrhunderte damit zugebracht, die Menschheit von den Ketten der Religion zu befreien. Das ergibt keinen Sinn.«
»Nicht von Ihrer Position in Zeit und Raum, aber dies ist das Imperium, wie es sich entwickeln wird, wenn die Ereignisse weiter ihrem gegenwärtigen Kurs folgen«, sagte Sejanus. »Der Imperator hat die Gabe der Voraussicht, und er hat diese Zukunft gesehen.«
»Zu welchem Zweck?«
»Um die alten Glaubensbekenntnisse zu zerstören, damit sein Kult sie eines Tages umso leichter ersetzen kann.«
»Nein«, sagte Horus. »Das glaube ich nicht. Mein Vater hat jede Idee von Göttlichkeit immer weit von sich gewiesen. Er hat einmal über die alte Erde gesagt, dass es Brandstifter gab, die Lehrer waren, aber auch Feuerlöscher, die Priester waren. Er würde niemals sein Einverständnis zu so etwas geben.«
»Und doch ist diese ganze Welt sein Tempel«, sagte Sejanus, »und sie ist nicht die einzige.«
»Es gibt noch mehr solche Welten?«
»Hunderte«, nickte Sejanus, »wahrscheinlich sogar Tausende.«
»Aber der Imperator hat Lorgar für solches Verhalten gescholten«, protestierte Horus. »Die Legion der Word Bearers hat große Denkmäler für den Imperator errichtet und ganze Bevölkerungen für ihren Mangel an Glauben ausgerottet, aber der Imperator wollte davon nichts wissen und hat gesagt, Lorgar würde ihn mit solchen Schauspielen beschämen.«
»Damals war er noch nicht bereit, sich anbeten zu lassen: Da hat er die Galaxis noch nicht beherrscht. Und deswegen brauchte er Sie.«
Horus wandte sich von Sejanus ab und blickte in das goldene Gesicht seines Vaters, während er sich verzweifelt bemühte, die Worte abzutun. Zu jeder anderen Zeit hätte er Sejanus für solch eine Behauptung niedergeschlagen, aber er hatte den Beweis direkt vor sich. Er wandte sich ihm wieder zu. »Das sind einige meiner Brüder, aber wo sind die anderen? Wo bin ich?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Sejanus. »Ich war schon oft hier, habe aber noch nie ein Abbild von Ihnen gesehen.«
»Ich bin sein auserwählter Regent!«, rief Horus. »Ich habe auf tausend Schlachtfeldern für ihn gekämpft. Das Blut meiner Krieger klebt an seinen Händen, und er ignoriert mich, als existierte ich nicht?«
»Der Imperator hat Sie im Stich gelassen, Kriegsmeister«, sagte Sejanus drängend. »Bald wird er seinem Volk den Rücken kehren, um sich seinen Platz unter den Göttern zu sichern. Er interessiert sich nur für sich und seine Macht und Herrlichkeit. Wir wurden alle getäuscht. Für uns ist kein Platz in seinem großen Plan, und wenn die Zeit gekommen ist, wird er uns allen den Rücken kehren und sich zur Gottheit aufschwingen. Während wir in seinem Namen Krieg um Krieg ausfechten, baut er insgeheim im Warp seine Macht aus.«
Der monotone Vortrag des fetten Mannes — ein Priester, ging Horus plötzlich auf — setzte sich fort, während die Pilger weiter ihre langsame Prozession um ihren Gott vollführten und Sejanus' Worte in seinen Schädel hämmerten.
»Das kann nicht wahr sein«, flüsterte er.
»Was tut ein Wesen von der Bedeutung des Imperators, nachdem es die Galaxis erobert hat? Was bleibt noch für ihn außer Göttlichkeit? Welche Verwendung hat er für jene, die er zurücklässt?«
»Nein!«, rief Horus, indem er von dem Sockel sprang und den leiernden Priester zu Boden schlug. Der augmetische Prediger-Hybrid wurde von der Kanzel abgerissen und lag schreiend in einer Lache aus Blut und Öl. Sein Geschrei wurde von den Fanfaren der schwebenden Kleinkinder über den Platz verbreitet, obwohl keiner aus der Menge geneigt zu sein schien, ihm zu helfen.
Horus stürmte in blinder Wut auf den dicht bevölkerten Platz und ließ Sejanus hinter sich auf dem Sockel der Statuen zurück. Wieder teilte sich die Menge, ebenso blind für ihn wie bei seiner Ankunft.
Augenblicke später erreichte er den Rand des Platzes und bog auf den nächsten Prachtboulevard ein. Alles war voller Leute, doch auch sie ignorierten ihn, als er sich einen Weg durch sie bahnte. Alle Gesichter waren verzückt dem Bild des Imperators zugewandt.
Ohne Sejanus an seiner Seite ging Horus plötzlich auf, dass er vollkommen allein war. Er hörte das Heulen eines entfernten Wolfs, das wieder klang wie sein Name, blieb in der Mitte der überfüllten Straße stehen und lauschte. Doch das Wolfsgeheul war so plötzlich verstummt, wie es begonnen hatte.
Die Massen fluteten an ihm vorbei, während er lauschte, und Horus sah, dass ihm niemand auch nur die geringste Aufmerksamkeit schenkte. Seit der Trennung von seinem Vater und seinen Brüdern hatte er sich nicht mehr so isoliert gefühlt. Als ihm aufging, wie sehr er unter der Bewunderung seiner Umgebung aufblühte, wurde er schmerzhaft mit seiner eigenen Eitelkeit und seinem Stolz konfrontiert.
In allen Gesichtern sah er dieselbe blinde Verehrung wie bei den Menschen, welche die Statuen umkreisten: hingebungsvolle Ehrerbietung für einen Mann, den er Vater nannte. War diesen Leuten nicht klar, dass die Siege, die ihnen die Freiheit gebracht hatten, mit seinem Blut errungen worden waren?
Es hätte Horus' Statue sein müssen, die von seinen Primarchenbrüdern umgeben war, nicht die des Imperators!
Er ergriff den nächstbesten Mann an der Schulter, schüttelte ihn und brüllte: »Er ist kein Gott! Er ist kein Gott!«
Das Genick des Pilgers brach mit einem lauten Knacken, und Horus spürte, wie die Schulterknochen des Mannes unter seinem eisernen Griff splitterten. Entsetzt ließ er den toten Mann fallen und rannte tiefer ins Straßengewirr der Schreinwelt. Wahllos bog er nach rechts oder links ab, um sich in den überfüllten Gassen zu verlieren.
Alle Wege führten ihn in weitere Straßen mit Pilgern und Wundern, die der Herrlichkeit des Gott-Imperators gewidmet waren. Straßen, auf denen jeder Pflasterstein mit Gebeten beschriftet war, mit kilometerhohen Beinhäusern aus vergoldeten Knochen und Wäldern aus Marmorsäulen. Bilder ungezählter Heiliger prangten darauf.
Riesige Gebetsschiffe schwebten über diesem Teil der Stadt, monströse Zeppeline mit Messingsegeln und riesigen Propellermotoren. Lange Gebetsbanner hingen von ihren fetten silbernen Rümpfen herab, Hymnen plärrten aus Lautsprechern von der Form schwarzer Schädel.
Horus passierte ein großes Mausoleum, wo Scharen elfenbeinhäutiger Engel mit messinggefiederten Flügeln aus dunklen Bogengängen flogen und sich in der vor dem Gebäude versammelten Menge niederließen. Die ernsten Engel flogen über den heulenden Massen hin und her und sammelten sich ab und zu, um eine ekstatische Seele herauszupicken. Schreie der Verzückung und des Lobes folgten den Auserwählten, wenn sie durch die furchtbaren Portale des Mausoleums getragen wurde.
In jedem Buntglasfenster sah Horus die Verherrlichung des Todes, in den Schnitzereien jeder Tür Verehrung. Grabelegien erklangen aus den Fanfaren geflügelter Kinder, die lachten, während sie über der Menge kreisten wie Raubvögel. Flatternde Knochenbanner klapperten. Wind pfiff durch die Augenhöhlen von Schädeln, die auf Bronzestangen in Särgen steckten. Morbidität hüllte diese Welt ein wie ein Leichentuch, und Horus konnte die düstere gotische Feierlichkeit dieser neuen Religion nicht mit der dynamischen Kraft von Wahrheit, Vernunft und Zuversicht in Einklang bringen, die den Großen Kreuzzug zu den Sternen getrieben hatte.
Hohe Tempel und grimmige Schreine huschten verschwommen an ihm vorbei. Mönche und Prediger redeten an jeder Straßenecke zum Geläut Unheil verheißender Glocken auf die Pilger ein. Wohin Horus auch blickte, sah er Mauern, die mit Fresken, Gemälden und Relief-Arbeiten vertrauter Gesichter geschmückt waren -derjenigen seiner Brüder und des Imperators.
Warum gab es kein Bild von Horus?
Es war, als habe er nie existiert. Er sank auf die Knie und reckte die Fäuste in den Himmel.
»Vater, warum hast du mich verlassen?«
Die Rächender Geist kam Loken leer vor. Die solide, beruhigende Ausstrahlung des Kriegsmeisters, so lange als selbstverständlich betrachtet, fehlte schmerzlich. Die Gänge des Schiffs waren leerer und hohler, wie eine Waffe ohne Munition — ehemals machtvoll, doch nun nur noch inaktives Metall.
Bestimmte Bereiche waren zwar immer noch voller Menschen, die in kleinen Gruppen um Kerzen zusammenhockten und sich bei den Händen hielten, aber dem Schiff haftete insgesamt eine Leere an, die Loken aushöhlte.
Jede Gruppe, die er passierte, umschwärmte ihn und vergaß den Respekt vor einem Astartes-Krieger. Sie versuchten, etwas über das Schicksal des Kriegsmeisters zu erfahren. War er tot? War er am Leben? Hatte der Imperator von Terra die Hand ausgestreckt, um seinen geliebten Sohn zu retten?
Loken ließ alle verärgert abblitzen und bahnte sich einen Weg zur Archivkammer Drei, ohne Fragen zu beantworten. Er wusste, dass Sindermann dort sein würde — dieser Tage war er immer dort.
Er würde forschen und über seinen Büchern kauern wie ein Besessener.
Loken brauchte Informationen über die Schlangenloge, und er brauchte sie schnell.
Die Zeit wurde knapp. Er hatte schon einen Umweg durch das Sanitätsdeck gemacht und das Anathame bei Apothekarius Vaddon abgeliefert.
»Seien Sie äußerst vorsichtig damit, Apothekarius«, warnte Loken, indem er den Holzkoffer vorsichtig auf den stählernen Operationstisch zwischen ihnen stellte. »Das ist eine Waffe der Kinebrach und wird Anathame genannt. Sie wurde aus einem bewussten Xenos-Metall geschmiedet und ist absolut tödlich. Ich glaube, sie ist der Grund für die Krankheit des Kriegsmeisters. Tun Sie, was Sie können, um herauszufinden, was passiert ist, aber tun Sie's schnell.«
Vaddon war vollkommen perplex, dass Loken mit etwas zurückgekehrt war, das tatsächlich von Nutzen sein mochte, und hatte nur genickt. Er hatte das Anathame an dessen mit Gold verziertem Knauf genommen und in eine spektrografische Kammer gelegt.
»Ich kann nichts versprechen, Hauptmann Loken«, hatte Vaddon gesagt, »aber ich werde tun, was in meiner Macht steht, um eine Antwort zu finden.«
»Mehr verlange ich nicht, aber je eher, desto besser. Und verraten Sie niemandem, dass Sie diese Waffe haben.«
Vaddon hatte genickt und sich wieder seiner Arbeit zugewandt, und Loken hatte sich aufgemacht, Kyril Sindermann in den Archiven des gewaltigen Schiffs zu suchen. Die Hilflosigkeit, die er zuvor empfunden hatte, war verschwunden nun, denn nun hatte er ein Ziel: Er versuchte, Horus zu retten, und dieses Wissen erfüllte ihn mit neuer Hoffnung, dass es noch eine Möglichkeit gab, ihn an Körper und Seele unbeschadet zurückzuholen.
In den Archiven war es immer still, doch nun lag Trostlosigkeit über allem. Loken lauschte angestrengt, um überhaupt etwas zu hören, und schnappte schließlich ein Kratzen aus den Tiefen der Bücherregale auf.
Rasch folgte er dem Geräusch und wusste noch bevor er den Ausgangspunkt erreichte, dass es sein alter Mentor war. Nur Kyril Sindermann kratzte mit derart intensiven Federstrichen über eine Seite.
Und tatsächlich saß er an seinem Tisch, und als Loken ihn sah, wusste er mit absoluter Gewissheit, dass er den Platz seit ihrem letzten Gespräch nicht verlassen hatte. Wasserflaschen und Verpackungen von Mahlzeiten lagen rings um den Tisch verstreut, und der hagere Sindermann trug feine weiße Stoppeln auf Kinn und Wangen.
»Garviel«, sagte er, ohne aufzublicken. »Sie sind zurückgekommen. Ist der Kriegsmeister tot?«
»Nein«, erwiderte Loken. »Wenigstens glaube ich das nicht. Jedenfalls noch nicht.«
Sindermann sah auf. »Sie glauben es nicht?«
»Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit ich ihn auf den Tisch des Apothekariums gelegt habe«, gestand Loken.
»Warum sind Sie dann hier? Um eine Lektion hinsichtlich der Prinzipien und Ethik der Zivilisation kann es nicht gehen. Was ist passiert?«
»Ich weiß es nicht«, musste Loken zugeben.
»Etwas Schlimmes, glaube ich. Ich benötige Ihr Wissen über … esoterische Dinge, Kyril.«
»Über esoterische Dinge?«, wiederholte Sindermann, wobei er die Feder aus der Hand legte.
»Jetzt bin ich neugierig.«
»Der stille Orden innerhalb der Legion hat den Kriegsmeister zum Tempel der Schlangenloge auf Davin gebracht. Sie haben ihn in einen Tempel verlegt, den sie Delphos nennen, und sagen, die >ewigen Geister toter Wesen< würden ihn heilen.«
»Schlangenloge sagen Sie?« Sindermann zog scheinbar wahllos Bücher aus den Stapeln auf seinem Tisch. »Schlangen ... das ist wirklich interessant.«
»Was denn?«
»Schlangen«, wiederholte Sindermann. »Seit den Anfängen der Zeit wurde die Schlange auf jedem Kontinent, wo die Menschheit Wesen als Gottheiten verehrte, als solche anerkannt und akzeptiert. Von den dampfenden Dschungeln der afriquanischen Inseln bis zu den Eiswüsten Albas wurden Schlangen gleichermaßen angebetet, gefürchtet und verehrt. Ich glaube, die Mythologie der Schlange ist vermutlich die am weitesten verbreitete Mythologie, die der Menschheit bekannt ist.«
»Wie ist sie dann nach Davin gelangt?«, fragte Loken.
»Das ist nicht schwer zu verstehen«, erklärte Sindermann.
»Sehen Sie, Mythen wurden ursprünglich nicht in Worte oder Schrift gekleidet, weil sie als unzureichend erachtet wurden, die in den Geschichten übermittelte Wahrheit auszudrücken. Mythen verbreiten sich nicht mit Worten, Garviel, sondern mit Geschichtenerzählern, und wo es Menschen gibt, wie primitiv oder weit entfernt von der Wiege der Menschheit sie auch sein mögen, gibt es auch Geschichtenerzähler. Die meisten dieser Mythen wurden wahrscheinlich ausgeübt, also getanzt oder gesungen, und zwar häufig in einem Zustand der Hypnose oder Halluzination. Das muss ein unglaublicher Anblick gewesen sein, aber jedenfalls wurde über diese Methode behauptet, sie gestatte den kreativen Energien hinter und unter der natürlichen Welt, ins bewusste Gefilde einzudringen. Früher haben die Menschen geglaubt, Mythen schafften eine Brücke zwischen der metaphysischen und der physischen Welt.«
Sindermann blätterte in einem Buch, das ziemlich neu aussah und in frisches rotes Leder gebunden war. Er drehte es um, damit Loken es sehen konnte. »Hier. Dort sehen Sie es ganz klar.«
Loken betrachtete die Bilder und sah nackte Stammeskrieger, die mit langen, in Schlangen endenden Stäben tanzten, aber auch Schlangen und Spiralen auf primitivem Tongeschirr. Andere Bilder zeigten Vasen mit riesigen Schlangen, die sich über Sonnen, Monde und Sterne wanden, während wieder andere Schlangen zeigten, die unter wachsenden Pflanzen auftauchten oder sich um die Bäuche schwangerer Frauen ringelten.
»Was betrachte ich hier?«, fragte er.
»Artefakte von einem Dutzend verschiedener Welten, gefunden im Verlauf des Großen Kreuzzugs«, sagte Sindermann. »Sehen Sie es nicht? Wir tragen unsere Mythen immer bei uns, wir erfinden sie nicht neu.«
Er blätterte um, zeigte Loken noch mehr Bilder und sagte: »Hier ist die Schlange das Symbol für Energie, spontane, kreative Energie ... und für Unsterblichkeit.«
»Unsterblichkeit?«
»Ja. In alten Zeiten glaubten die Menschen, dass die Fähigkeit der Schlange, sich zu häuten und damit ihre Jugend zurückzugewinnen, ihr Einblick in die Geheimnisse von Tod und Wiedergeburt gewährte. Sie sahen den Mond, der abnahm und zunahm, und betrachteten ihn als das himmlische Gestirn, das über dieselbe Fähigkeit verfügte. Und natürlich hat der lunare Zyklus schon immer Assoziationen mit dem Leben schaffenden Zyklus der Frau geweckt. Der Mond wurde zum Herrn über die beiden Geheimnisse Geburt und Tod, und die Schlange war ihr irdischer Widerpart.«
»Der Mond ...«
»Ja«, fuhr Sindermann fort, der sich in Schwung geredet hatte. »In den frühen Initiationsriten, die symbolisch Tod und Wiedergeburt des Aspiranten herbeiführten, war der Mond die göttliche Mutter und die Schlange der göttliche Vater. Es ist nicht schwer zu erkennen, warum die Verbindung zwischen der Schlange und dem Heilen zu einem Element der Schlangenanbetung wurde.«
»Ist es das?«, hauchte Loken. »Ein Initiationsritual?«
Sindermann zuckte die Achseln.
»Das kann ich nicht sagen, Garviel. Dazu müsste ich mehr davon sehen.«
»Erzählen Sie mir mehr«, knurrte Loken. »Ich muss alles hören, was Sie wissen.«
Verblüfft über Lokens Drängen, griff Sindermann nach mehr Büchern und blätterte darin, während der Hauptmann der 10. Kompanie ungeduldig vor ihm stand.
»Ja, ja ...«, murmelte er, während er die zerlesenen Seiten umblätterte. »Ja, da ist es. Ah ... ja, ein Wort für Schlange in einer der untergegangenen Sprachen Altterras war >nahash<, was anscheinend gleichbedeutend mit dem Verb >raten< ist. Anscheinend hatte es damals ganz verschiedene Bedeutungen je nachdem, welcher etymologischen Herkunft man glauben will.«
»Welche Bedeutungen?«, fragte Loken.
»In der ersten Übersetzung bedeutet es entweder >Feind< oder >Gegner<, aber populärer ist die Übersetzung >Seytan<.«
»Seytan«, sagte Loken. »Das Wort kenne ich irgendwoher.«
»Wir ... äh ... haben im Zusammenhang mit den Flüsterspitzen darüber geredet«, sagte Sindermann leise und schaute sich dabei um, wie um sich zu vergewissern, dass niemand zuhörte.
»Angeblich war es eine alptraumhafte Kraft der Teufelei, mit der ein goldener Held Terra belegt hat. Wie wir mittlerweile wissen, war dieser Samus-Geist wahrscheinlich das örtliche Äquivalent für die Bewohner von Dreiundsechzig-Neunzehn.«
»Glauben Sie das?«, fragte Loken. »Dass Samus ein Geist war?«
»Irgendeiner Art, ja«, sagte Sindermann ehrlich. »Ich glaube, was ich unter den Bergen gesehen habe, war mehr als nur irgendein Xenos-Wesen, was immer der Kriegsmeister auch dazu sagt.«
»Und was ist mit dieser Schlange als Seytan?«
Sindermann, der sich freute, über ein Thema reden zu können, mit dem er sich auskannte, schüttelte den Kopf und sagte: »Es gibt verschiedene Wörter für Schlange, und eines hat seinen Ursprung in den olympischen Sprachen und bedeutet eigentlich >Drache<. Die kosmische Schlange, die als Symbol für Chaos betrachtet wird.«
»Chaos?«, rief Loken. »Nein!«
»Doch«, fuhr Sindermann fort, indem er zögerlich auf eine Textpassage in einem anderen Buch zeigte.
»Dieses >Chaos< oder diese >Schlange< ist es, die überwunden werden muss, um Ordnung zu schaffen und das Leben auf eine Weise zu erhalten, die von Bedeutung ist. Dieser Schlangendrache war eine Kreatur von großer Macht, und seine heiligen Jahre waren Zeiten großer Ambitionen und unglaublicher Risiken. Es heißt, Ereignisse, die in einem Jahr des Drachen stattfänden, wirkten sich dreifach intensiv aus.«
Loken versuchte sein Entsetzen über Sindermanns Worte zu verbergen — die Signifikanz der Schlange und ihr Platz in der Mythologie schien seine Überzeugung zu untermauern, dass die Vorgänge auf Davin furchtbar falsch waren. Er schaute auf das Buch und fragte: »Was ist das?«
»Ein Auszug aus dem Buch Atum«, murmelte Sindermann, als habe er Angst, es ihm zu sagen. »Ich habe es erst kürzlich gefunden, das schwöre ich. Ich habe mir nichts dabei gedacht, eigentlich denke ich mir immer noch nichts dabei ... Schließlich ist das alles nur Unsinn, oder nicht?«
Loken zwang sich, das Buch anzusehen, und spürte wie ihm mit jedem Wort, das er auf den vergilbten Seiten las, das Herz schwerer wurde.
Ich bin Horus, geschmiedet von den Ältesten Göttern,
Ich bin der, welcher Khaos den Weg gebahnt.
Ich bin der große Zerstörer von allem.
Und im Palast meines Willens das Verhängnis herbeiführte.
Mein ist das Schicksal jener, die Diesem Weg der Schlange folgen.
»Ich bin kein Fachmann für Poesie«, schnauzte Loken. »Was bedeutet das?«
»Es ist eine Prophezeiung«, sagte Sindermann zögerlich. »Sie kündet von einer Zeit, in der die Welt ins ursprüngliche Chaos zurückkehrt und die verborgenen Aspekte der überragenden Götter zur neuen Schlange werden.«
»Ich habe keine Zeit für Metaphern, Kyril«, warnte Loken.
»Auf der grundlegendsten Ebene«, sagte Sindermann, »wird der Tod des Universums prophezeit.«
Sejanus fand ihn auf den Stufen einer Basilika, deren weiter Eingang von großen Skeletten in Bestattungsgewändern flankiert wurde. Sie hielten Brenner in den Händen. Zwar war die Dunkelheit hereingebrochen, aber in den Straßen der Stadt wimmelte es immer noch von Pilgern, die alle eine brennende Kerze oder eine Laterne hielten, um ihren Weg zu beleuchten.
Horus blickte auf, als sich Sejanus näherte. Zu jedem anderen Anlass hätte die Prozession aus Licht schön ausgesehen. Das Heidentum und der Pomp der Sänften und Altäre, die durch die Straßen getragen wurden, hätten ihn irritiert, wäre die Prozession ihm zu Ehren gewesen, doch nun verlangte er danach.
»Haben Sie alles gesehen, was Sie sehen müssen?«, fragte Sejanus, als er sich neben ihn auf die Treppe setzte.
»Ja«, erwiderte Horus. »Ich möchte hier weg.«
»Wir können hier weg, wann Sie wollen, Sie brauchen es nur zu sagen«, sagte Sejanus. »Sie müssen ohnehin noch mehr sehen, und unsere Zeit ist nicht unbegrenzt. Ihr Körper stirbt, und Sie müssen Ihre Wahl treffen, bevor Ihnen nicht einmal mehr die Mächte helfen können, die im Warp wohnen.«
»Diese Wahl ...«, sagte Horus. »Beinhaltet sie das, was ich glaube?«
»Das können nur Sie entscheiden«, sagte Sejanus, als sich die Türen der Basilika hinter ihnen öffneten.
Horus blickte über die Schulter und sah das vertraute Rechteck aus Licht, wo sich eigentlich ein dunkles Vestibül hätte befinden sollen.
»Nun gut«, sagte er, indem er sich erhob und dem Licht zuwendete.
»Wohin gehen wir jetzt?«
»Zum Anfang«, antwortete Sejanus.
Nachdem er ins Licht getreten war, fand sich Horus in etwas wieder, das anscheinend ein kolossales Labor mit kavernösen Wänden aus weißem Stahl und silbernen Paneelen war. Es roch steril, und Horus spürte, dass die Lufttemperatur dem Gefrierpunkt nah war. Hunderte Gestalten in geschlossenen weißen Schutzanzügen mit verspiegeltem Goldvisier füllten das Labor und arbeiteten an unzähligen Reihen summender, goldener Maschinen auf langen Stahlbänken.
Zischende Dampfwolken schwebten über jedem Kopf, und lange Schläuche waren um Arme und Beine der weißen Anzüge gewickelt, bevor sie in klobigen Rücken modulen endeten. Zwar wurde nicht gesprochen, aber es herrschte eine Atmosphäre, als würde ein großer Plan in die Tat umgesetzt.
Horus wanderte durch die Anlage. Die Arbeiter ignorierten ihn ebenso wie die Leute auf der Schreinwelt. Instinktiv wusste er, dass er und Sejanus sich tief unter der Oberfläche dieser neuen Welt befanden.
»Wo sind wir jetzt?«, fragte er. »Und wann?«
»Auf Terra«, sagte Sejanus, »am Beginn eines neuen Zeitalters.«
»Was soll das heißen?«
Als Antwort zeigte Sejanus auf eine Laborwand, wo ein schimmerndes Energiefeld eine große silberne Stahltür schützte.
Das Zeichen des Aquila war in das Metall der Tür geätzt, zusammen mit seltsamen, mystisch aussehenden Symbolen, die in einem wissenschaftlichen Labor deplatziert wirkten. Beim bloßen Anblick der Tür wurde Horus unbehaglich, als sei das, was sich dahinter befand, eine Bedrohung.
»Was liegt hinter dieser Tür?«, fragte er, indem er vor dem silbernen Portal zurückwich.
»Wahrheiten, die Sie nicht sehen, und Antworten, die Sie nicht hören wollen«, erwiderte Sejanus.
Horus spürte, wie sich ein seltsames, bisher unbekanntes Gefühl in seiner Magengegend regte, und kämpfte darum, es zu unterdrücken. Trotz aller Kunstfertigkeit, die in seine Schöpfung eingeflossen war, empfand er plötzlich Furcht. Hinter dieser Tür konnte nichts Gutes stecken. Die Geheimnisse dahinter gerieten besser in Vergessenheit, und welches Wissen dort auch wartete, es blieb besser verborgen.
»Ich will es nicht wissen«, sagte Horus, indem er sich von der Tür abwendete. »Es ist zu viel.«
»Sie fürchten sich davor, Antworten zu suchen?«, fragte Sejanus wütend.
»Das ist nicht der Horus, dem ich zwei Jahrhunderte lang in die Schlacht gefolgt bin. Der Horus, den ich kannte, wäre nicht vor unbequemen Wahrheiten zurückgescheut.«
»Vielleicht nicht, aber ich will es trotzdem nicht sehen.« »Ich fürchte, Sie haben keine Wahl, mein Freund«, sagte Sejanus.
Horus blickte auf und sah, dass er vor dem Portal stand. Schwaden eisiger Luft wallten über den Boden, als es sich langsam hob und das Energiefeld erlosch. Blinkende gelbe Lichter leuchteten beiderseits der Tür, doch niemand im Labor achtete darauf, als das Portal in den Paneelen verschwand.
Finsteres Wissen wartete dahinter, das wusste Horus mit derselben Gewissheit, wie er wusste, dass er der Versuchung nicht widerstehen konnte. Er musste wissen, was dahinter lag. Sejanus hatte recht — es lag nicht in seiner Natur, vor etwas zurückzuscheuen. Er hatte sich jedem Grauen gestellt, das die Galaxis ihm gezeigt hatte, und war nicht zusammengezuckt. Hier würde es nicht anders sein.
»Also gut«, sagte er. »Zeig es mir.«
Sejanus lächelte und schlug Horus auf den Schulterschutz. »Ich wusste, wir konnten auf Sie zählen, mein Freund. Dies wird nicht leicht für Sie, aber Sie sollen wissen, dass wir es ihnen nicht zeigen würden, wenn es nicht unbedingt nötig wäre.«
»Tu, was du tun musst«, sagte Horus, indem er die Hand abschüttelte. Für einen winzigen Moment verschwamm Sejanus' Spiegelbild auf dem glänzenden Metall der Tür wie eine flimmernde Maske, und Horus glaubte ein reptilienartiges Grinsen im Gesicht seines Freundes zu sehen.
»Bringen wir es einfach hinter uns.«
Zusammen gingen sie durch den eisigen Nebel und einen breiten Korridor mit Stahlwänden zu einer Tür, die sich bei ihrer Annäherung in die Decke schob.
Die Kammer dahinter war vielleicht halb so groß wie das Labor. Die Wände waren makellos und steril, und es gab weder Techniker noch Wissenschaftler. Der Boden bestand aus glattem Beton, und es war eher kühl als kalt.
Ein erhöhter Mittelgang führte der Länge nach durch die Kammer, auf beiden Seiten lagen flach zehn große zylindrische Tanks von der Größe von Entertorpedos. Auf die Wandungen waren lange Seriennummern gestempelt. Dampf wallte aus der Spitze jeder Tank-Einheit wie Atem. Unter den Seriennummern prangten dieselben mystischen Symbole, die er bereits auf der Tür gesehen hatte.
Jeder Tank war mit einer ganzen Reihe seltsamer Maschinen verbunden, deren Zweck Horus nicht einmal im Ansatz erahnen konnte. Ihre Technologien waren anders als alles, was er bisher gesehen hatte, und ihre Konstruktion überstieg selbst seinen Intellekt.
Er erklomm die Metalltreppe zum Laufsteg. Als er oben ankam, hörte er seltsame Laute, die wie Fäuste auf Metall klangen. Jetzt konnte er erkennen, dass jeder Tank an einem Ende eine breite Luke mit einem Handrad in der Mitte und einer dicken Panzerglasplatte darüber hatte.
Strahlendes Licht flackerte hinter jeder Glasscheibe, und die Luft summte elektrisch. Irgendetwas daran kam Horus schrecklich vertraut vor, und er verspürte den unwiderstehlichen Drang zu erfahren, was in den Tanks war, während er sich gleichzeitig davor fürchtete.
»Was ist das?«, fragte er, als er Sejanus hinter sich hörte.
»Ich bin nicht überrascht, dass Sie sich nicht mehr erinnern können. Es liegt über zweihundert Jahre zurück.«
Horus beugte sich vor und wischte mit dem Handschuh über das Panzerglas in der Luke des ersten Tanks.
Er blinzelte in die Helligkeit, versuchte zu erkennen, was darin war.
Das Licht blendete, und er sah nur eine durch Bewegung verschwimmende Gestalt, die sich wie dunkler Rauch im Wind wand.
Etwas sah ihn. Etwas kam näher.
»Was meinst du damit?«, fragte Horus, fasziniert von dem seltsamen formlosen Wesen, das durch das Licht im Tank schwamm. Seine Bewegungen wurden langsamer, und als es näher ans Glas rückte, wurde es zu einer Silhouette, bekam solidere Konturen.
Der Tank summte vor Kraft, als könne das Metall die von der Kreatur darin erzeugte Energie kaum zähmen.
»Das sind die geheimsten Geno-Gewölbe des Imperators unter den Gipfeln des Himalayas«, sagte Sejanus. »Hier wurden Sie erschaffen.«
Horus hörte gar nicht zu. Er starrte voller Staunen durch das Glas in zwei flüssige Augen, die das Spiegelbild seiner eigenen waren.
Fünfzehn
Offenbarungen
Dissens
Streuung
IN DEN ZWEI TAGEN, seit der Kriegsmeister auf Davin weilte, war die Rächender Geist ein Geisterschiff geworden. Alle Landungsboote, Fähren, Jollen und sonstigen Schiffe, die in der Lage waren, auf dem Planeten zu landen und Horus zu folgen, hatten das gewaltige Schiff verlassen.
Das passte Ignace Karkasy gut, während er mit neuer Zielstrebigkeit und geübter Sorglosigkeit durch das Schiff ging, einen Leinwandbeutel über der Schulter. Jedes Mal, wenn er einen öffentlichen Bereich passierte, vergewisserte er sich, dass niemand zuschaute, bevor er großzügig Pamphlete auf Tischen und Sitzgelegenheiten verteilte.
Die Schmerzen in der Schulter nahmen ab, je mehr Kopien er von Die Wahrheit ist alles, was wir haben verteilte. Jedes Blatt enthielt drei der seiner Ansicht nach bisher stärksten Werke. Gleichgültige Götter war sein persönlicher Liebling. Darin wurden die Astartes unvorteilhaft mit den alten Titanen der Mythologie verglichen. Ein starkes Werk, von dem er wusste, dass es ein größeres Publikum verdiente. Er wusste, dass er vorsichtig sein sollte, aber die Leidenschaft brannte zu stark in ihm, um ihr Fesseln anzulegen.
Er hatte mit lächerlicher Leichtigkeit vom ersten Schrotthändler, den er darauf angesprochen hatte, eine billige Druckerpresse bekommen. Die Qualität war nicht besonders, und auf Terra hätte er sie keines Blickes gewürdigt, aber sie hatte ihn trotzdem einen Großteil seiner Gewinne vom Merci Merci gekostet. Das Ding war armselig, erfüllte aber seinen Zweck, obwohl sein Quartier jetzt nach Druckerschwärze stank.
Leise vor sich hinsummend, setzte Karkasy seinen Weg durch die zivilen Decks fort und erreichte schließlich die Zuflucht. Er war nun vorsichtiger — hier kannte man ihn, und vielleicht waren Leute da.
Seine Befürchtungen waren unbegründet. Die Zuflucht war leer, und das verlieh ihr nur eine noch deprimierendere und abgewracktere Atmosphäre.
Man sollte ein Etablissement, in dem getrunken wird, nie bei voller Beleuchtung sehen, dachte er, da sieht es nur noch trauriger aus.
Er ging herum und legte ein paar Blätter auf jeden Tisch.
Karkasy erstarrte, als er das Klirren einer Flasche an einem Glas hörte.
»Was machen Sie da?«, fragte eine kultivierte, aber eindeutig betrunkene weibliche Stimme.
Karkasy drehte sich um und sah eine heruntergekommene Frau halb zusammengesackt in einer der Nischen am anderen Ende der Zuflucht hocken, was erklärte, warum er sie nicht gesehen hatte. Sie befand sich im Schatten, aber er erkannte in ihr sofort Petronella Vivar, die Dokumentatorin des Kriegsmeisters, obwohl sie längst nicht so aussah wie bei ihrer letzten Begegnung auf Davin.
Nein, das stimmte nicht, fiel ihm wieder ein. Er hatte sie auf dem Hangardeck gesehen, als die Astartes mit Horus zurückgekehrt waren.
Offensichtlich hatte der Vorfall Spuren bei ihr hinterlassen.
»Diese Blätter«, sagte sie. »Was ist das?«
Karkasy ließ schuldbewusst die Blätter los, die über der Tischplatte schwebten, und veränderte den Sitz des Beutels so, dass er auf dem Rücken hing. »Eigentlich nichts«, sagte er, während er auf sie zuging.
»Nur ein paar Gedichte, von denen ich möchte, dass die Leute sie lesen.«
»Gedichte? Sind sie gut? Ich könnte etwas Erhebendes vertragen.«
Er wusste, dass er sie besser ihrer rührseligen Einsamkeit überlassen hätte, aber der Egoist in ihm musste einfach antworten.
»Ja. Ich glaube, sie gehören zu meinen besten.«
»Kann ich sie lesen?«
»Das würde ich in diesem Augenblick an Ihrer Stelle lieber lassen«, sagte er. »Nicht, wenn Sie eine Aufmunterung wollen. Sie sind ein wenig düster.«
»Ein wenig düster«, lachte sie, und der Laut klang rau und hässlich.
»Sie haben ja keine Ahnung.«
»Vivar, nicht wahr?«, sagte Karkasy, als er vor ihrer Nische stand.
»So heißen sie doch, oder?«
Sie blickte auf. Karkasy wusste Räusche einzuschätzen — sie war bis zum Punkt der Empfindungslosigkeit betrunken. Drei leere Flaschen standen auf dem Tisch, eine vierte lag in Scherben auf dem Boden.
»Ja, das bin ich, Petronella Vivar«, sagte sie. »Palatina Majoria von Haus Carpinus, Schriftstellerin und Verräterin ... und sehr betrunken, glaube ich.«
»Das sehe ich, aber was meinen Sie mit Verräterin?«
»Betrügerin«, wiederholte sie undeutlich und trank einen Schluck. »Ich bin hergekommen, um von Horus' Herrlichkeit zu berichten und von der famosen Bruderschaft der Primarchen, wissen Sie? Habe Horus gesagt, wenn er es mich nicht machen ließe, könnte er sich zur Hölle scheren. Ich dachte, damit hätte ich alles verspielt, aber er hat nur gelacht!«
»Er hat gelacht?«
Sie nickte. »Ja, er hat gelacht, aber er hat es mich trotzdem machen lassen. Ich glaube, er hat gedacht, es könnte vielleicht ganz lustig sein, mich in der Nähe zu haben oder so. Ich dachte, ich wäre auf alles vorbereitet.«
»Und hat es sich als das erwiesen, worauf Sie gehofft haben, meine liebe Petronella?«
»Nein, eigentlich nicht, wenn ich ehrlich bin. Wollen Sie was zu trinken? Ich erzähle ihnen davon.«
Karkasy nickte und holte sich ein Glas von der Bar, bevor er sich ihr gegenüber setzte. Sie schenkte ihm etwas Wein ein, wobei mehr auf dem Tisch landete als in seinem Glas.
»Danke«, sagte er. »Also, warum ist es nicht das, was Sie sich erhofft haben? Es gibt so viele Memoratoren, die der Ansicht wären, dass Ihre Stellung der Traum jedes Dokumentators wäre. Mersadie Oliton hätte dafür einen Mord begangen.«
»Wer?«
»Eine Freundin von mir«, erklärte Karkasy. »Sie ist auch Dokumentatorin.«
»Sie würde es nicht wollen, glauben Sie mir«, sagte Petronella, und Karkasy sah, dass die Aufgedunsenheit um ihre Augen ebenso auf Tränen wie auf Alkohol zurückzuführen war. »Manche Illusionen sollten genau das bleiben. Alles, was ich zu wissen glaubte ... auf den Kopf gestellt, einfach so! Glauben Sie mir, sie würde es nicht wollen.«
»Oh, ich glaube doch«, sagte Karkasy und trank einen Schluck.
Sie schüttelte den Kopf und betrachtete ihn eingehender, als sehe sie ihn gerade zum ersten Mal. »Wer sind Sie?«, fragte sie plötzlich. »Ich kenne Sie nicht.«
»Ich heiße Ignace Karkasy«, sagte er, indem er sich in die Brust warf.
»Gewinner des Ethiopischen ...«
»Karkasy? Den Namen kenne ich ...« Mit dem Handballen rieb sie sich die Schläfe. »Augenblick, Sie sind ein Dichter, richtig?«
»Das bin ich tatsächlich«, sagte er. »Kennen Sie meine Arbeiten?«
Sie nickte. »Sie schreiben Poesie. Schlechte Poesie, glaube ich, ich erinnere mich nicht.«
Das beiläufige Abtun seiner Arbeit versetzte ihm einen Stich, und gereizt verlegte er sich auf eine Retourkutsche: »Was haben Sie denn so Tolles geschrieben? Ich kann nicht behaupten, dass ich mich an etwas aus Ihrer Feder erinnere.«
»Ha! Sie werden sich an das erinnern, was ich schreiben werde, das kann ich Ihnen jetzt schon verraten!«
»Wirklich?«, fragte Karkasy mit einer aufreizenden Geste zu den leeren Flaschen. »Und was könnte das sein? Memoiren einer berauschten Salonlöwin? Die Rächenden Geister auf der Rächender Geist?«
»Sie halten sich ja für so clever, nicht?«
»Kommt vor«, sagte Karkasy, obwohl ihm klar war, dass er sich nicht viel darauf einbilden konnte, Punkte gegen eine betrunkene Frau zu machen. Er genoss es dennoch. Jedenfalls würde es Spaß machen, diese verwöhnte reiche Göre — die sich über den größten Glücksfall ihres Lebens beklagte — ein wenig herunterzustutzen.
»Sie haben ja keine Ahnung«, schnauzte sie.
»Nicht?«, fragte er. »Warum erleuchten Sie mich dann nicht?«
»Na schön.«
Und sie erzählte Ignace Karkasy die unglaublichste Geschichte, die er in seinem ganzen Leben gehört hatte.
»Warum hast du mich hergebracht?«, fragte Horus, indem er vor dem silbernen Tank zurückwich.
Die Augen auf der anderen Seite des Glases beobachteten ihn neugierig und waren sich seiner Anwesenheit so bewusst wie bisher niemand auf dieser seltsamen Odyssee. Er wusste zwar mit absoluter Sicherheit, wem diese Augen gehörten, aber er konnte nicht akzeptieren, dass diese sterile Kammer tief unter der Erde der Ort war, an dem die Herrlichkeit seines Lebens begonnen hatte.
Auf Cthonia unter dem schwarzen Rauch der Hochöfen aufgewachsen — das war seine Heimat. Seine frühsten Erinnerungen waren ein Durcheinander verschwommener Bilder und Empfindungen. Nichts in ihm erinnerte sich an diesen Ort oder an das Bewusstsein, das darin gewachsen sein musste ...
»Sie haben das ultimative Ziel des Imperators gesehen, mein Freund«, sagte Sejanus. »Jetzt ist die Zeit gekommen zu erkennen, wie er sein Streben nach Göttlichkeit begonnen hat.«
»Mit den Primarchen?«, sagte Horus. »Das ergibt keinen Sinn.«
»Es ergibt sehr wohl einen Sinn. Die Primarchen sollten seine Generäle sein. Wie Götter würden sie auf Planeten niederfahren und die Galaxis für ihn beanspruchen. Sie waren eine Waffe, Horus, eine Waffe, die man wegwerfen konnte, wenn sie einst stumpf wäre und ausgedient hätte.«
Horus wendete sich von Sejanus ab und marschierte den Laufsteg entlang, wobei er immer wieder stehen blieb, um durch das Glas in die Tanks zu lugen. In jedem sah er etwas anderes, Licht und Form ununterscheidbar, Organismen wie Architektur, Augen und Räder, die sich in Feuerkreisen drehten. Hier waren Kräfte am Werk, wie er sie noch nie erlebt hatte, und er konnte die mächtigen Energien spüren, die die Tanks umgaben und schützten. Sie strichen über seine Haut wie Wellen in der Luft.
Er blieb vor dem Tank mit der aufgestempelten XI stehen und legte die Hand auf den glatten Stahl, spürte die potenziellen Herrlichkeiten, die auf das darin wachsende Leben warten mochten, obwohl er wusste, dass es nie dazu kommen würde. Er beugte sich vor, um hineinzuschauen.
»Sie wissen, was hier vorgeht, Horus«, sagte Sejanus. »Sie sind nicht gern hier.«
»Nein«, sagte Horus. »Es gab ein Unglück. Wir wurden ins All versprengt, bis der Imperator uns wiedergefunden hat.«
»Nein«, sagte Sejanus. »Es hat kein Unglück gegeben.«
Horus wandte sich verwirrt von dem Glas ab. »Wie meinst du das? Natürlich gab es eins. Wir wurden von Terra weggeschleudert wie Blätter im Sturm. Ich kam nach Cthonia, Russ nach Fenris, Sanguinius nach Baal und die anderen zu den Welten, auf denen sie aufgewachsen sind.«
»Nein, Sie missverstehen mich. Ich meinte, es war kein Unglück. Sehen Sie sich um. Sie wissen, wie tief unter der Erde wir sind, und Sie haben die Schutzvorrichtungen an den Türen gesehen, die herführen. Welches Unglück könnte sich Ihrer Ansicht nach in dieser Anlage ereignen, das sie über die ganze Galaxis verstreuen würde? Und wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie alle auf alten Heimatwelten der Menschheit landen würden?«
Horus wusste keine Antworten und stützte sich schwer atmend auf das Geländer, während Sejanus näher kam. »Was willst du damit andeuten?«
»Ich will gar nichts andeuten. Ich erzähle Ihnen nur, was passiert ist.«
»Du erzählst mir gar nichts!«, brüllte Horus. »Du fütterst mich mit Spekulationen und Andeutungen, aber du erzählst mir nichts Konkretes. Vielleicht bin ich ja auch zu dumm, ich weiß es nicht, also erkläre mir mit schlichten Worten, was du meinst.«
»Nun gut«, nickte Sejanus. »Ich erzähle Ihnen von Ihrer Erschaffung.«
Gewitterwolken grollten über dem Delphos, und Euphrati Keeler machte ein paar rasche Bilder von dem immensen Gebäude vor dem Hintergrund der violetten Blitze. Sie wusste, die Bilder waren nichts Besonderes. Die Komposition war banal und prosaisch, aber sie machte sie dennoch, denn jeder Augenblick dieser historischen Zeit musste für zukünftige Generationen aufgezeichnet werden.
»Bist du fertig?«, fragte Titus Cassar, hinter ihr.
»Die Zusammenkunft zum Gebet ist in ein paar Minuten, und du willst doch nicht zu spät kommen.«
»Ich weiß, Titus, mach nicht so einen Aufstand.«
Sie hatte Titus Cassar am Tag nach ihrer Ankunft im Tal des Delphos kennengelernt, nachdem sie den geheimen Symbolen aus der Lectitio Divinitatus zu einer heimlichen Gebetszusammenkunft gefolgt war, die er im Schatten des riesigen Gebäudes organisiert hatte. Es hatte sie überrascht, wie viele Leute zu seiner Gemeinde gehörten, beinahe sechzig Seelen, die alle den Kopf geneigt hatten und Gebete an den Göttlichen Imperator der Menschheit richteten.
Cassar hatte sie in seiner Herde willkommen geheißen, aber die Leute waren rasch zu ihren täglichen Gebeten und Predigten übergegangen, die sie seinen vorzogen. Cassar war trotz seines festen Glaubens kein Redner, und sein unbeholfener, stockender Vortrag ließ eine Menge zu wünschen übrig. Er glaubte, aber er war kein Interator, so viel war gewiss.
Sie hatte sich Sorgen gemacht, er könne es ihr verübeln, dass sie seine Gruppe usurpiert hatte, aber er hatte es begrüßt. Er wusste, dass er ein Mitläufer war, kein Anführer.
Tatsächlich auch sie keine Anführerin. Wie Cassar hatte auch sie einen festen Glauben, empfand aber vor einer größeren Menge Unbehagen. Die Gläubigen schienen das nicht zu bemerken, sondern starrten sie in verzückter Bewunderung an, wenn sie das Wort des Imperators vortrug.
»Ich mache keinen Aufstand, Euphrati.«
»Doch, das machst du.«
»Na, vielleicht hast du recht, aber ich muss zum Dies Irea zurück, bevor ich vermisst werde. Princeps Turnet reißt mir den Kopf ab, wenn er herausfindet, was ich hier tue.«
Die gewaltigen Kriegsmaschinen der Legio Mortis wachten über den Kriegsmeister in der Einmündung des Tals, da sie zu massig waren, um weiter vorzudringen. Der Krater sah mehr aus wie ein militärischer Sammelplatz denn wie eine Zusammenkunft von Pilgern und Bittstellern: Panzer, Lastwagen, Tieflader und mobile Kommandostände hatten in den letzten sieben Tagen mehrere zehntausend Leute hergebracht.
Gemeinsam mit den bizarr aussehenden Einheimischen füllte ein großer Teil der Expeditionsflotte den Krater mit provisorischen Lagern rings um das Delphos aus. Leute hatten sich in einem wundersamen spontanen Gefühlsausbruch dorthin begeben, wo der Kriegsmeister lag, und das Ausmaß des Ganzen raubte Euphrati immer noch den Atem. Auf den Stufen zum Tempel häuften sich die Opfergaben für Horus, und sie wusste, dass viele Leute hier ihre gesamten Habseligkeiten gegeben hatten, in der Hoffnung, es möge in irgendeiner Weise seiner Genesung nützen.
Keeler hatte eine neue Passion im Leben, aber tief im Herzen war sie immer noch Imagologin, und einige der Bilder, die sie hier gemacht hatte, gehörten zu ihren besten.
»Ja, du hast recht, wir sollten gehen«, sagte sie, indem sie ihre Bildeinheit zusammenklappte und sich um den Hals hängte. Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar und hielt inne. Sie hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, wie kurz es jetzt war, aber eigentlich gefiel es ihr.
»Hast du dir schon überlegt, was du heute Abend sagen willst?«, fragte Cassar, als sie durch die Menge zur Gebetszusammenkunft gingen.
»Nein, eigentlich nicht«, antwortete sie. »Ich plane nie so weit voraus. Ich lasse mich nur vom Licht des Imperators erfüllen und spreche dann aus dem Herzen.«
Cassar hing förmlich an ihren Lippen. Sie lächelte.
»Weißt du, noch vor sechs Monaten hätte ich gelacht, wenn jemand in meiner Umgebung solche Dinge gesagt hätte.«
»Was für Dinge?«, fragte Cassar.
»Über den Imperator.« Sie befingerte den silbernen Adler an einer Kette, den sie unter ihrer MemoratorTracht trug. »Aber in sechs Monaten kann einer Person wohl sehr viel widerfahren.«
»Das nehme ich an«, stimmte Cassar zu, während er einem Trupp Armeesoldaten Platz machte. »Das Licht des Imperators ist eine gewaltige Kraft, Euphrati.«
Als Keeler und Cassar auf einer Höhe mit den Soldaten waren, rammte ein stiernackiger Bulle mit glatt rasiertem Schädel Cassar und stieß ihn zu Boden.
»He, pass doch auf, wo du hinlatscht«, fauchte der Soldat, indem er sich vor Cassar aufbaute.
Keeler starrte auf den gefallenen Cassar und rief: »Verpiss dich, du Kretin, du hast ihn geschlagen!«
Der Soldat fuhr herum und verpasste Euphrati einen Rückhandschlag ans Kinn, und sie ging zu Boden, nicht verletzt, aber vollkommen erschrocken. Sie wollte sich aufrappeln, während ihr das Blut in den Mund schoss, aber zwei Hände packten sie bei den Schultern und hielten sie unten. Zwei Soldaten drückten sie herunter, während die anderen anfingen, den am Boden liegenden Cassar zu treten.
»Lasst mich los!«, brüllte sie.
»Halt die Schnauze, du Schlampe!«, sagte der erste Soldat. »Glaubst du, wir wissen nicht, was ihr macht? Gebete und Wasnichtalles an den Imperator? Horus ist der, dem ihr auf Knien danken solltet.«
Cassar wälzte sich auf die Knie und wehrte die Tritte ab, so gut es ging, aber er hatte es mit drei durchtrainierten Soldaten zu tun und konnte nicht alle abwehren. Er verpasste einem einen Schlag zwischen die Beine und konnte einem dicksohligen Stiefel ausweichen, der auf seinen Kopf gezielt war, um hochzukommen und einen Moment später von einer Handkante seitlich am Hals getroffen zu werden.
Keeler wehrte sich gegen ihre Häscher, aber sie waren zu stark. Ein Mann riss ihr die Bildeinheit vom Hals, und sie biss ihm in die Hand.
Er schrie auf und riss die Bildeinheit ab, während der andere ihr den Kopf an den Haaren in den Nacken zog.
»Wagt es nicht!«, schrie sie und wehrte sich noch stärker, als der Soldat die Bildeinheit am Riemen schwang und dann auf dem Boden in Stücke schlug.
Cassar war auf einem Knie, das Gesicht blutig und zornrot. Er riss seine Pistole aus dem Halfter, aber ein Knie traf sein Gesicht und schlug ihn bewusstlos. Die Pistole klirrte neben ihm auf den Boden.
»Titus!«, rief Keeler, während sie wie eine Wildkatze kämpfte.
Schließlich gelang es ihr, einen Arm loszureißen, und sie griff nach hinten und fuhr dem Mann, der sie festhielt, mit den Nägeln durchs Gesicht. Er schrie auf und ließ sie los, und sie kroch auf den Knien zu der am Boden liegenden Pistole.
»Schnappt sie euch!«, rief jemand. »Imperator liebende Hexe!«
Sie packte die Pistole, hörte das Knallen wuchtiger Schläge und wälzte sich auf den Rücken. Sie hielt die Pistole vor sich, bereit, den nächsten Bastard zu töten, der ihr zu nah kam.
Dann sah sie, dass sie niemanden würde töten müssen.
Drei der Soldaten lagen am Boden, einer lief um sein Leben durch das Lager, und der letzte zappelte im eisernen Griff eines Astartes. Die Füße des Soldaten strampelten einen Meter über dem Boden, während der Astartes ihn mit einer Hand am Hals hielt.
»Fünf gegen einen ist nicht sonderlich sportlich, oder?«, fragte der Krieger, und Keeler sah, dass es Hauptmann Torgaddon war, einer aus dem Mournival. Sie erinnerte sich, ein paar gute Bilder von Torgaddon auf der Rächender Geist gemacht zu haben. Er war der attraktivste von allen.
Torgaddon riss dem zappelnden Soldaten das Namens- und Einheiten-Abzeichen von der Uniform, bevor er ihn losließ und sagte: »Sie hören von den Disziplinierungsmeistern. Und jetzt gehen Sie mir aus den Augen, bevor ich Sie umbringe.«
Keeler ließ die Pistole fallen, krabbelte zu ihrer Bildeinheit und fluchte laut, als sie sah, dass sie offenbar ruiniert waren. Sie durchwühlte die Reste und nahm die Speicherkarte an sich. Wenn sie die schnell genug in das Editiergerät in ihrem Quartier einlegen konnte, ließen sich vielleicht noch ein paar der Bilder retten.
Cassar ächzte vor Schmerzen, und sie verspürte einen schuldbewussten Stich, weil sie zuerst zu ihrer Bildeinheit geeilt war. Er verflog allerdings rasch.
»Sind Sie Keeler?«, fragte Torgaddon, als sie die Speicherkarte einsteckte.
Überrascht blickte sie auf. »Ja.«
»Gut«, sagte er, indem er ihr die Hand hinhielt, um ihr auf die Beine zu helfen. »Wollen Sie mir sagen, worum es dabei ging?«
Sie zögerte, da sie dem Astartes nicht den wahren Grund für den Angriff nennen wollte. »Ich glaube, ihnen haben die Bilder nicht gefallen, die ich gemacht habe«, sagte sie.
»Alle fühlen sich zum Kritiker berufen, was?«, gluckste Torgaddon, aber sie sah ihm an, dass er ihr nicht glaubte.
»Ja, aber ich muss ins Schiff zurück, um sie zu retten.«
»Das nenne ich mal einen glücklichen Zufall«, sagte Torgaddon.
»Wie meinen Sie das?«
»Man hat mich gebeten, Sie in die Rächender Geist zurückzubringen.«
»Hat man? Warum?«
»Spielt das eine Rolle?«, fragte Torgaddon. »Begleiten Sie mich einfach.«
»Sie können mir wenigstens sagen, wer Sie gebeten hat, oder?«
»Nein, das ist streng geheim.«
»Wirklich?«
»Nein, eigentlich nicht. Kyril Sindermann.«
Die Vorstellung, dass Sindermann einen Astartes als Botenjungen benutzte, kam Keeler lächerlich vor, und es konnte nur einen Grund geben, warum der ehrwürdige Iterator mit ihr reden wollte. Ignace oder Mersadie mussten ihm von ihrem neuen Glauben erzählt haben, und sie spürte, wie ihr Zorn über deren mangelnde Bereitschaft wuchs, ihre neu entdeckten Wahrheiten zu begreifen.
»Dann springen die Astartes jetzt neuerdings, wenn ein Iterator mit den Fingern schnippt?«, fragte sie schnippisch.
»Kaum«, sagte Torgaddon. »Ich tue lediglich einem Freund einen Gefallen, und ich glaube, es könnte in Ihrem eigenen Interesse liegen, zurückzukehren.«
»Warum?«
»Sie stellen eine Menge Fragen, Fräulein Keeler«, sagte Torgaddon, »und das mag zwar eine Eigenschaft sein, die Ihnen als Memoratorin gut zu Gesicht steht, aber für Sie könnte es das Beste sein, wenn Sie zur Abwechslung einmal still wären und zuhörten.«
»Bin ich in Schwierigkeiten?«
Torgaddon stocherte mit der Stiefelspitze in den Überresten ihrer Bildeinheit herum und sagte: »Sagen wir einfach, jemand will Ihnen etwas über Piktografie beibringen.«
»Der Imperator wusste, er würde die besten Krieger als Anführer für seine Armee brauchen«, begann Sejanus. »Um solche Krieger wie die Astartes anzuführen, waren gottgleiche Kommandanten nötig. Kommandanten, die buchstäblich unzerstörbar waren und im Nu übermenschliche Krieger befehligen konnten. Sie mussten als Führer konzipiert sein, als mächtige Kriegsfürsten, deren militärische Tüchtigkeit nur die des Imperators gleichkam, jeder mit seinen ganz eigenen Fähigkeiten.«
»Die Primarchen.«
»In der Tat. Nur Wesen dieser Kategorie konnten überhaupt daran denken, eine Galaxis zu erobern. Können Sie Hybris und Willenskraft ermessen, die erforderlich waren, um so ein Unternehmen überhaupt in Erwägung zu ziehen? Was für eine Art Mensch wäre dazu überhaupt in der Lage? Wer, wenn nicht ein Primarch konnte mit so einer Aufgabe betraut werden? Kein Mensch, nicht einmal der Imperator, konnte so ein gottgleiches Vorhaben allein ausführen. Also wurden Sie erschaffen.«
»Um die Galaxis für die Menschheit zu erobern«, sagte Horus.
»Nein, nicht für die Menschheit, für den Imperator«, sagte Sejanus. »Im Herzen wissen Sie bereits, was Sie erwartet, wenn der Große Kreuzzug vorbei ist. Sie werden Aufseher, der Polizist für das Regime des Imperators, während er sich zur Göttlichkeit erhebt und Sie alle im Stich lässt. Was ist das für eine Belohnung für jemanden, der die Galaxis erobert hat?«
»Überhaupt keine«, knurrte Horus, indem er mit der Hand auf die Seite des silbernen Tanks vor sich schlug.
Das Metall wölbte sich, und ein Haarriss spaltete das gehärtete Glas. Er konnte ein verzweifeltes Trommeln von innen hören, und das Zischen entweichenden Gases drang aus dem Tank.
»Sehen Sie sich um, Horus«, sagte Sejanus.
»Glauben Sie, die Wissenschaft eines Menschen hätte ein Wesen wie einen Primarchen erschaffen können? Wenn solche Technologie existierte, warum dann nicht hundert Horusse erschaffen oder tausend? Nein, ein Handel wurde geschlossen, aus dem Sie hervorgegangen sind. Ich weiß es, denn die Herren des Warp sind ebenso Ihr Vater wie der Imperator.«
»Nein!«, schrie Horus. »Ich glaube dir nicht. Die Primarchen sind meine Brüder, die Söhne des Imperators, erschaffen aus seinem eigenen Fleisch und Blut und jeder ein Teil von ihm.«
»Jeder ein Teil von ihm, ja, aber woher kommen diese Kräfte? Er hat einen Handel mit den Göttern des Warp geschlossen, für ein Quantum ihrer Macht. Das hat er in Sie einfließen lassen, nicht seine bescheidene Kraft als Mensch.«
»Die Götter des Warp? Wovon redest du, Sejanus?«
»Von den Wesenheiten, deren Gefilde vom Imperator zerstört wird«, sagte Sejanus. »Intelligenzen, Xenos-Kreaturen, Götter? Spielt es eine Rolle, welche Bezeichnung wir ihnen geben? Sie haben so unglaubliche Macht, dass sie Ihrer Einschätzung nach durchaus Götter sein könnten. Sie kennen die Geheimnisse von Leben und Tod und allem, was dazwischen liegt. Erfahrung, Wandel, Krieg und Verfall, all das ist Teil des endlosen Kreislaufs der Existenz, und die Götter des Warp herrschen über all das. Ihre Macht fließt durch Ihre Adern und gewährt Ihnen unglaubliche Fähigkeiten. Der Imperator weiß schon lange von ihnen, und vor vielen Jahrhunderten ist er zu ihnen gekommen und hat ihnen Freundschaft und Hingabe angeboten.«
»So etwas würde er nie tun!«, widersprach Horus.
»Sie unterschätzen seine Machtgelüste, mein Freund«, sagte Sejanus, während sie zur Treppe zurückkehrten, die auf den Boden des Labors führte. »Die Götter des Warp sind mächtig, aber sie verstehen dieses materielle Universum nicht, und dem Imperator ist es gelungen, sie zu betrügen und ihnen etwas von ihrer Macht zu stehlen. Bei Ihrer Erschaffung hat er ein winziges Quantum seiner Macht in Sie einfließen lassen.«
Horus spürte, dass sein Atem in kurzen, schmerzhaften Stößen kam. Er wollte Sejanus' Worte bestreiten, aber ein Teil von ihm wusste, dass es keine Lügen waren. Wie die Zukunft jedes Menschen war auch seine ungewiss, aber seine Vergangenheit hatte immer ihm gehört. Seine Triumphe und sein Leben hatte er mit seinen eigenen Händen geformt, doch selbst das wurde ihm jetzt durch die Falschheit des Imperators entrissen.
»Also sind wir verdorben«, flüsterte Horus. »Wir alle.«
»Nicht verdorben«, sagte Sejanus kopfschüttelnd. »Die Macht des Warp ist ganz einfach. Klug benutzt von einem Mann der Macht kann sie eine unvergleichliche Waffe sein. Jemandem, der gewillt ist, sie zu benutzen, und der in der Lage ist, sie zu meistern, kann sie ein unglaubliches Hilfsmittel sein.«
»Warum hat der Imperator sie dann nicht gut genutzt?«
»Weil er schwach war«, sagte Sejanus, indem er sich näher zu Horus beugte. »Anders als Ihnen fehlte ihm der Willen, sie zu meistern, und die Götter des Warp begegnen jenen, die sie betrügen, nicht mit Freundschaft. Der Imperator hatte ihnen etwas von ihrer Kraft geraubt, aber sie schlugen zurück.«
»Wie?«
»Das werden Sie sehen. Mit dieser geraubten Kraft war er zu mächtig geworden, um direkt angegriffen zu werden. Aber sie hatten seine Pläne zu einem Gutteil vorhergesehen, also richteten sie ihre Aufmerksamkeit auf das, was er am dringendsten brauchte, um diese Pläne zu realisieren.«
»Die Primarchen?«
»Die Primarchen«, stimmte Sejanus zu, während sie über den Laufsteg zurückkehrten.
Horus hörte weit entfernt Sirenen jaulen und spürte, wie die Luft in der Kammer agiler wurde, als peitsche eine kalte elektrische Strömung von Molekül zu Molekül.
»Was geht da vor?«, fragte er, als das Sirenengeheul lauter wurde.
»Gerechtigkeit«, sagte Sejanus.
Aktinisches blaues Licht erschien über ihnen, und die spiegelnden Oberflächen der Tanks leuchteten auf. Als Horus aufblickte, sah er einen Klecks aus schmutzigem Licht unter der Decke auftauchen. Wie eine Miniaturgalaxis hing er über den silbernen Inkubationstanks und wurde mit jedem Augenblick größer. Ein starker Wind zerrte an Horus, und er hielt sich am Geländer fest, während kreischendes Heulen aus dem wachsenden Strudel über ihm drang.
»Was ist das?«, rief er, während er sich am Geländer entlang zur Treppe hangelte.
»Sie wissen es«, sagte Sejanus.
»Wir müssen hier weg.«
»Dafür ist es zu spät«, sagte Sejanus, wobei er seinen Arm in einen eisernen Griff nahm.
»Nimm die Hand weg, Sejanus«, warnte Horus, »oder wie du auch heißen magst. Ich weiß, dass du nicht Sejanus bist, also kannst du ruhig mit dem Theater aufhören.«
Er hatte noch nicht ausgeredet, als er eine Gruppe bewaffneter Krieger durch die Türen der Kammer auf sie zueilen sah. Es waren insgesamt sechs, jeder mit der Statur eines Astartes, doch ohne Rüstung und daher weniger massig und riesig. Sie trugen fabelhaft verzierte Brustharnische, die mit Adlern und Blitzen geschmückt waren, und jeder hatte einen hohen Bronzehelm mit einem Busch aus rotem Pferdehaar auf dem Kopf.
Rote Umhänge wehten ihnen in dem Wirbelsturm hinterher, der durch die Kammer fegte. Lange Speere mit Boltgewehren unter langen, knisternden Klingen waren auf ihn gerichtet, und er erkannte die Krieger sofort — es waren Custodes, die Prätorianer des Imperators.
»Halt, Unholde, stellt euch dem Gericht!«, rief der führende Krieger und zielte mit seinem Speer auf Horus' Herz. Der Krieger trug zwar einen Helm, aber Horus hätte diese Augen, diese Stimme überall wiedererkannt.
»Valdor!«, rief Horus. »Constantin Valdor. Ich bin's. Horus.«
»Sei still!«, rief Valdor. »Beende sofort diese schändliche Beschwörung!«
Horus schaute zur Decke und spürte, wie die in dem wirbelnden Mahlstrom eingesperrte Kraft an ihm zog wie der Ruf eines lange verschollenen Freundes. Er vertrieb den Sirengesang aus seinem Kopf, sprang auf den Boden der Kammer und trat einen Schritt vor.
Lichtblitze zuckten aus den Speeren der Custodes, und Horus wurde von den hämmernden Einschlägen der Geschosse in die Knie gezwungen. Der heulende Orkan verschluckte den Schusslärm, und er schrie auf, nicht vor Schmerz, sondern weil ihm klarwurde, dass Kameraden, Krieger des Imperiums, auf ihn geschossen hatten.
Weitere Einschläge rissen Brocken aus seiner Rüstung, doch keiner war in der Lage, sie zu durchdringen. Die Custodes rückten in geordneten Reihen vor, deckten ihn mit ihrem Beschuss ein und nagelten ihn fest.
Sejanus duckte sich hinter die Treppe, deren Metall Funken schlug, als die Explosivgeschosse Fetzen herausrissen.
Horus brüllte vor Wut und kam hoch, alle Gedanken an Zurückhaltung vergessen, da er sich im Zentrum des ohrenbetäubenden Orkans wiederfand. Ein Geschoss streifte seinen Kragen und riss ihn beinahe herum, reichte aber nicht, um ihn aufzuhalten. Er riss dem nächsten Custodes den Speer aus der Hand und zerschmetterte ihm mit einem einzigen Faustschlag den Schädel.
Er kehrte den Griff am Speer um und schlitzte den nächsten Custodes vom Schlüsselbein bis zum Schritt auf. Die beiden Körperhälften wurden vom heulenden Wind mitgerissen und verschwanden in dem knisternden Strudel. Noch ein Custodes starb, als Horus ihm den Speer in die Brust stieß und ihn spaltete.
Eine Klinge stach nach seinem Kopf, doch er zerschmetterte sie mit einem Wischer seiner Faust und riss dem Angreifer mit beiläufiger Leichtigkeit den Arm aus. Der nächste Custodes starb, als Horus ihm den Kopf abriss. Blut spritzte wie aus einem Geysir aus dem Hals, während er den abgetrennten Kopf beiseitewarf.
Nur Valdo war noch übrig, und Horus knurrte, als er sich dem Hauptmann der Custodes zuwendete. Ein Lichtstrahl zuckte aus dem Lauf von Valdors Speer. Horus grunzte bei den Einschlägen und hob die Faust, um Valdor niederzuschlagen, während er Metall quietschen und bersten hörte, als der Orkan aus dem Strudel unter der Decke schließlich sein Ziel erreichte.
Horus hielt inne, da er plötzlich um die Insassen der Tanks fürchtete.
Als er sich umdrehte, sah er Gase aus einem der Tanks dringen, während er aus dem Boden gerissen wurde und dabei anderen folgte, die bereits nach oben schwebten.
Dann blieb die Zeit stehen, und ein blendendes Licht erfüllte die Kammer.
Horus spürte, wie warmer Honig ihn durchfloss, und er wandte sich der Lichtquelle zu: einem schimmernden goldenen Riesen von unvorstellbarer Erhabenheit und Schönheit.
Bei seinem Anblick sank Horus verzückt auf die Knie. Wer sehnte sich nicht danach, ein so perfektes Wesen anzubeten? Macht und Sicherheit strömten aus der Gestalt. Das geheime Mysterium der Schöpfung lag vor ihm, die Antwort auf jede Frage, die gestellt werden konnte, und auch die Weisheit der Erkenntnis.
Er trug eine Rüstung, die in einem perfekten Goldton erstrahlte, seine Züge waren unmöglich zu erkennen, und seine Herrlichkeit und Kraft wurde von keinem Wesen der Schöpfung erreicht.
Der goldene Krieger bewegte sich wie in Zeitlupe, hob die Hand und brachte den Wahnsinn des Strudels mit einer Geste zum Erliegen. Der Mahlstrom verstummte, und die Inkubationstanks blieben in der Luft hängen.
Die goldene Gestalt richtete einen fragenden Blick auf Horus.
»Kenne ich dich?«, fragte er, und Horus weinte vor Glück, eine so perfekte Sinfonie aus Klängen zu hören. »Ja«, brachte er flüsternd heraus.
Der Riese legte den Kopf auf die Seite und sagte: »Du willst meine großen Werke zerstören, aber das wird dir nicht gelingen. Ich bitte dich, lass ab von diesem Weg, sonst ist alles verloren.«
Horus streckte die Hände nach dem goldenen Krieger aus, als dieser den traurigen Blick auf die Inkubationstanks richtete, die reglos vor ihm in der Luft hingen. Es schien, als bewerte er die Konsequenzen zukünftiger Ereignisse.
Horus konnte die Entscheidung in den wundersamen Augen der Gestalt sehen und rief: »Nein!«
Sie wandte sich ab, und die Zeit nahm wieder ihren normalen Fortgang.
Das ohrenbetäubende Geheul des Warpwinds kehrte mit der Gewalt eines Wirbelsturms zurück, und Horus hörte die Schreie seiner Brüder durch das metallische Geklirr der Inkubationstanks dringen.
»Vater, nein!«, brüllte er. »Du kannst das nicht zulassen!«
Der goldene Riese entfernte sich bereits und ließ das Gemetzel hinter sich zurück, ohne sich um das Leben zu kümmern, dem er Gestalt gegeben hatte. Horus spürte jähen Hass in seiner Brust anschwellen.
Die Kraft des Windes erfasste ihn, und er ließ sich von ihm packen und in die Luft wirbeln. Er öffnete die Arme, als er wieder mit seinen Brüdern vereint wurde.
Der Abgrund des Warpstrudels gähnte über ihm wie ein großes Auge des Schreckens und des Wahnsinns.
Er ergab sich seiner Macht und ließ sich in seine Umarmung gleiten.
Sechzehn
Die Wahrheit ist alles, was wir haben
Erzprophet
Heim
ZUR ABWECHSLUNG NEIGTE LOKEN DAZU, Iacton Qruze zuzustimmen, als dieser sagte: »Nichts ist, wie es war, mein Junge. Nichts ist mehr, wie es war.«
Sie standen auf dem Strategiumsdeck und betrachteten den geisterhaften Schein Davins, der wie ein verblasstes Juwel vor ihnen im Raum hing.
»Ich kann mich noch an unseren ersten Besuch erinnern. Es kommt mir vor, als sei es erst gestern gewesen.«
»Eher eine Ewigkeit«, sagte Loken.
»Unsinn, junger Mann«, sagte Qruze. »Wenn man so lange dabei ist wie ich, lernt man das eine oder andere. Werden Sie so alt wie ich, dann werden wir sehen, wie Sie das Verstreichen der Jahre empfinden.«
Loken seufzte, da er nicht in der Stimmung war, sich wieder einmal eine von Qruzes belehrenden Geschichten aus den »guten alten Zeiten« anzuhören.
»Ja, Iacton, das werden wir sehen.«
»Sie nehmen mich nicht ernst, mein Junge«, sagte Qruze. »Ich mag alt sein, aber ich bin nicht dumm.«
»Es lag niemals in meiner Absicht, so etwas auch nur anzudeuten.«
»Dann hör mir jetzt zu, Garviel«, sagte Qruze und kam näher.
»Ihr glaubt alle, ich wüsste es nicht, aber ich weiß es.«
»Was denn?«
»Das mit dem >Halbgehörten«<, zischte Qruze leise, sodass ihn kein Besatzungsmitglied verstehen konnte. »Ich weiß sehr wohl, warum mich alle so nennen, und dass es nicht ist, weil ich leise spreche, sondern weil niemand auch nur im Geringsten darauf achtet, was ich sage.«
Loken schaute in Qruzes langes, gebräuntes Gesicht. Die Haut wies tiefe Runzeln und Falten auf, seine normalerweise halb geschlossenen Augen blickten intensiv und durchdringend.
»Iacton ...«, begann Loken, doch Qruze fiel ihm ins Wort.
»Entschuldige dich nicht, das steht dir nicht.«
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, sagte Loken.
»Ach ... dann sag gar nichts. Was habe ich auch schon zu sagen, das sich jemand anhören würde?«, seufzte Qruze. »Ich weiß, was ich bin, mein Junge: ein Relikt aus einer Zeit, die lange hinter unserer geliebten Legion liegt. Du weißt, dass ich mich noch daran erinnern kann, wie es war, als wir ohne den Kriegsmeister gekämpft haben? Kann man sich das überhaupt vorstellen?«
»Das müssen wir bald vielleicht nicht mehr, Iacton. Das Delphos wird sich bald wieder öffnen, und bisher haben wir nichts gehört. Apothekarius Vaddon ist der Beantwortung der Frage, was dem Kriegsmeister zugestoßen ist, keinen Schritt näher gekommen, auch nicht mit dem Anathame.«
»Dem was?«
»Das ist die Waffe, die den Kriegsmeister verwundet hat«, sagte Loken, wobei er sich wünschte, sie nicht erwähnt zu haben.
»Oh, dann muss es eine mächtige Waffe sein«, sagte Qruze weise.
»Ich wollte mit Torgaddon wieder nach Davin zurück«, wechselte Loken das Thema, »aber ich hatte ein wenig Angst vor dem, was ich tun könnte, wenn ich Klein-Horus und Ezekyle sehe.«
»Das sind deine Brüder, mein Junge«, sagte Qruze. »Was auch geschieht, vergiss das nie. Solche Bindungen lösen wir auf eigene Gefahr. Wenn wir uns von einem Bruder abwenden, wenden wir uns von allen ab.«
»Auch wenn sie einen schrecklichen Fehler gemacht haben?«
»Auch dann. Wir machen alle Fehler, mein Junge. Wir müssen sie nur richtig bewerten — als Lektionen, die man nur auf die harte Tour lernen kann. Es sei denn natürlich, es ist ein fataler Fehler, aber wenigstens kann dann jemand anders daraus lernen.«
»Ich weiß nicht, was ich machen soll«, sagte Loken, wobei er sich auf das Strategiumgeländer stützte. »Ich weiß nicht, was mit dem Kriegsmeister geschieht, und ich kann nichts dagegen tun.«
»Aye, das ist eine ziemlich Zwickmühle, mein Junge«, gab Qruze ihm recht. »Aber wie wir zu meiner Zeit zu sagen pflegten: >Wenn man nichts dagegen machen kann, mach dir auch keine Sorgen.<«
»In deiner Zeit muss vieles einfacher gewesen sein, Iacton«, sagte Loken.
»Das war es auch, mein Junge, das ist mal sicher«, erwiderte er. Lokens Sarkasmus war ihm entgangen. »Es gab diesen Unsinn mit dem stillen Orden nicht, und glaubst du, wir hätten damals diesen Emporkömmling Varvarus geduldet, der Blut sehen will? Oder diese Memoratoren auf unserem eigenen verdammten Schiff, die hochverräterische Gedichte über uns schreiben und behaupten, sie wären die reine Wahrheit? Ich frage dich, wo ist die verdammte Hochachtung geblieben, der sich die Astartes einmal rühmen konnten? Andere Zeiten, junger Mann, andere Zeiten.«
Lokens Augen verengten sich. »Wovon redest du?« »Ich sagte, es sind andere Zeiten seit ...«
»Nein«, sagte Loken. »Über Varvaras und die Memoratoren.«
»Hast du das nicht mitbekommen? Nein, sieht nicht so aus. Tja, Varvarus war wohl nicht so erfreut über die Art, in der das Mournival mit dem Kriegsmeister auf die Rächender Geist zurückgekehrt ist. Der Schwachkopf meint, für die dabei zu Tode Gekommenen müssten Köpfe rollen. Er ruft Maloghurst jeden Tag über Kom und verlangt, dass wir der Flotte sagen, was passiert ist, den Familien der Toten Entschädigungen zahlen und euch dann alle bestrafen.«
»Uns bestrafen?«
»Das sagt er«, nickte Qruze. »Behauptet, er hätte Ing Mae Sing bereits Botschaften zum Senat von Terra schicken lassen über die Schweinerei, die ihr hinterlassen habt. Verdammt ärgerlich, wenn du mich fragst. Das mussten wir uns nicht antun, als wir mit dem Kreuzzug angefangen haben. Du hast gefochten und geblutet, und wenn Leute im Weg standen, hatten sie eben Pech gehabt.«
Loken war bestürzt über Qruzes Worte und empfand wieder Scham über seine Aktionen auf dem Hangardeck. Die unschuldigen Tode, die er mitverursacht hatte, würden ihn bis zu seinem Todestag begleiten, aber was geschehen war, war geschehen, und er würde keine Zeit mit Reue vergeuden. Dass Normalsterbliche Astartes zum Tode verurteilten, war undenkbar, wie bedauerlich die Ereignisse auch sein mochten.
So lästig ein Problem wie Varvarus auch war, es oblag Maloghurst, sich darum zu kümmern, aber etwas in Qruzes Worten schlug eine vertraute Saite an.
»Du sagtest etwas über Memoratoren?«
»Ja, als hätten wir nicht schon genug Sorgen.« »Iacton, zieh es nicht in die Länge. Sag mir, was los ist.«
»Von mir aus, obwohl ich nicht weiß, warum du es so eilig hast. Anscheinend läuft ein anonymer Memorator im Schiff herum und verteilt Anti-Astartes-Propagandagedichte oder so einen Schwachsinn. Besatzungsmitglieder haben im ganzen Schiff Pamphlete gefunden. Sie sind überschrieben mit >Wahrheit ist alles, was wir haben< oder etwas ähnlich Hochtrabendem.«
»Die Wahrheit ist alles, was wir haben«, wiederholte Loken.
»Ja, ich glaube.«
Loken machte auf dem Absatz kehrt und verließ das Strategium ohne ein weiteres Wort.
»Nichts ist mehr wie zu meiner Zeit«, seufzte Qruze Lokens Rücken hinterher.
Es war spät, und er war müde, aber Ignace Karkasy war mit seiner Arbeit der vergangenen Woche zufrieden. Jedes Mal, nachdem er eine heimliche Runde durch das Schiff gedreht hatte, waren alle Blätter verschwunden gewesen, wenn er Stunden später eine zweite machte.
Zwar hatte die Schiffsbesatzung zweifellos einige konfisziert, aber er wusste, dass viele den Weg in die Hände jener gefunden hatten, die hören sollten, was er zu sagen hatte.
Im Niedergang war es still, aber das war es dieser Tage immer.
Die meisten von denen, die Mahnwachen für den gefallenen Kriegsmeister hielten, taten es entweder auf Davin oder in den größeren Räumen des Schiffs. Die Rächender Geist wirkte irgendwie vernachlässigt, als hätten sogar die Wartungsservitoren, die es säuberten, in ihren Pflichten innegehalten, um den Ausgang der Ereignisse abzuwarten.
Auf dem Weg zu seinem Quartier sah Karkasy immer wieder die Symbole der Lectitio Divinitatus, die in Wände und Schleusen geritzt waren, und er hatte den Eindruck, wenn er ihnen folgte, würden sie ihn zu einer Gruppe der Gläubigen führen.
Die Gläubigen: Es war immer noch seltsam, in diesen erleuchteten Zeiten in solchen Begriffen zu denken. Er erinnerte sich, auf Dreiundsechzig-Neunzehn in der Kirche gestanden und sich gefragt zu haben, ob der Glaube an das Göttliche ein unveränderlicher Makel im Charakter der Menschheit sei.
Musste der Mensch an etwas glauben, um eine schreckliche Leere in sich zu füllen?
Ein weiser Mann auf der Alten Erde hatte einmal behauptet, die Wissenschaft werde die Menschheit zerstören, nicht durch ihre Massenvernichtungswaffen, sondern durch den letztendlichen Beweis, dass es keinen Gott gab. Derartiges Wissen, hatte er behauptet, würde den Geist der Menschheit versengen, ihn wahnsinnig und mit der Erkenntnis zurücklassen, vollkommen allein in einem gleichgültigen Universum zu sein.
Karkasy lächelte und fragte sich, was der alte Mann wohl sagen würde, wenn er die Wahrheit sehen könnte: wie das Imperium sein säkulares Licht in die entferntesten Winkel der Galaxis trug.
Andererseits war der Kult der Lectitio Divinitatus aber vielleicht auch eine Bestätigung seiner Worte: ein Beweis dafür, dass die Menschheit im Angesicht der Leere neue Götter erfand, um die alten zu ersetzen, die in Vergessenheit geraten waren.
Karkasy war nicht bewusst, dass der Imperator von Mensch zu Gott transzendiert war, aber die Literatur des Kults, die mit derselben Regelmäßigkeit wie seine eigene erschien, behauptete, er habe sich bereits über sterbliche Belange erhoben.
Er schüttelte den Kopf über solchen Unsinn und überlegte, wie er dieses hochtrabende Geschwafel in seine neuen Gedichte einarbeiten sollte. Sein Quartier lag vor ihm, und in dem Augenblick, als er die Hand zur Tür ausstreckte, wusste er, dass etwas nicht stimmte.
Die Tür war nur angelehnt, und Gestank nach Ammoniak erfüllte den Gang, doch trotz des starken Geruchs nahm Karkasy ein vertrautes, durchdringendes Aroma wahr, das nur eines bedeuten konnte. Der unverschämte Knittelvers über den Gestank der Astartes, den er für Euphrati Keeler komponiert hatte, kam ihm wieder in den Sinn, und er wusste, wen er hinter der Tür finden würde.
Er erwog kurz, einfach wieder zu gehen, erkannte dann aber, dass es keinen Sinn hätte.
Er holte tief Luft und stieß die Tür auf.
Seine Kabine war ein einziges Chaos — allerdings hatte er es selbst angerichtet. Mit dem Rücken zu ihm stand wie erwartet Hauptmann Loken und schien die Kabine mit seiner Körpermasse vollständig auszufüllen.
»Hallo, Ignace«, sagte Loken, indem er eines der Bondsman Nummer 7 weglegte.
Karkasy hatte zwei von ihnen mit Zufallskritzeleien und Gedanken gefüllt, und er wusste, dass Loken nicht sonderlich erfreut sein würde über das, was er gelesen haben musste. Man musste kein Literaturstudent sein, um das Gift in den Worten zu verstehen.
»Hauptmann Loken«, erwiderte Karkasy. »Ich würde ja fragen, welchem Umstand ich das Vergnügen Ihres Besuchs verdanke, aber wir wissen beide, warum Sie hier sind, nicht wahr?«
Loken nickte, und Karkasy, dem das Herz bis in den Hals schlug, sah, dass der Astartes seine Wut nur mühsam im Zaum hielt. Dies war nicht der tobende Zorn Abaddons, sondern eine kalte, stählerne Wut, die ihn ohne einen Augenblick des Zögerns oder der Reue zerstören mochte.
Plötzlich ging Karkasy auf, wie gefährlich seine kürzlich wiedergefundene Muse war. Wie albern von ihm zu glauben, er könne lange Zeit unentdeckt bleiben. Nun, da er demaskiert war, spürte er jedoch seltsamerweise, wie sein Trotz das Feuer der Angst erstickte, und er wusste, dass er richtig gehandelt hatte.
»Warum?«, zischte Loken. »Ich habe für Sie gebürgt, wissen Sie noch? Ich habe für Sie meinen guten Namen aufs Spiel gesetzt. Und so vergelten Sie es mir?«
»Ja, Hauptmann«, sagte Karkasy. »Sie haben für mich gebürgt. Sie haben mich schwören lassen, die Wahrheit zu sagen, und genau das habe ich getan.«
»Die Wahrheit?«, brüllte Loken, und Karkasy duckte sich, als ihm einfiel, wie mühelos Lokens Fäuste Leute zu Tode geknüppelt hatten.
»Das ist nicht die Wahrheit, das ist verleumderischer Müll! Ihre Lügen greifen bereits auf den Rest der Flotte über. Eigentlich sollte ich Sie dafür töten, Ignace.«
»Mich töten? Wie Sie all die unschuldigen Leute auf dem Hangardeck getötet haben?«, schrie Karkasy.
»Ist das jetzt die neue Bedeutung von Astartes-Gerechtigkeit? Jemand ist Ihnen im Weg oder sagt etwas, das Ihnen nicht passt, und Sie töten ihn? Wenn es mit unserem glorreichen Imperium so weit gekommen ist, will ich nichts damit zu tun haben.«
Er sah, wie Lokens Wut verrauchte, und einen Moment lang empfand er so etwas wie Bedauern, das er jedoch sofort verdrängte, als ihm das Blut und die Schreie der Sterbenden wieder einfielen. Er hob eine Gedichtsammlung hoch und hielt sie Loken hin. »Jedenfalls wollen Sie sicher die hier.«
»Glauben Sie?«, sagte Loken, indem er die Pamphlete durch das Quartier schleuderte und sich vor ihm aufbaute.
»Sind Sie wahnsinnig?«
»Ganz und gar nicht, mein werter Hauptmann«, sagte Karkasy, wobei er eine Ruhe vortäuschte, die er nicht empfand.
»Ich muss Ihnen dafür danken.«
»Mir? Wovon reden Sie?«, fragte Loken, nun offensichtlich verwirrt.
Karkasy sah eine Spur von Zweifel in Lokens Rüstung der Empörung.
Er bot ihm die Weinflasche an, doch der riesige Krieger schüttelte den Kopf.
»Sie haben mir aufgetragen, die Wahrheit zu sagen, so hässlich und ungenießbar sie auch sein möge«, sagte Karkasy, indem er sich Wein in eine gesprungene, schmutzige Blechtasse goss.
»Die Wahrheit ist alles, was wir haben, wissen Sie noch?«
»Ich weiß es noch«, seufzte Loken und setzte sich auf Karkasys ächzendes Feldbett.
Karkasy stieß einen Seufzer aus, als ihm klarwurde, dass die unmittelbare Gefahr vorbei war, und trank gierig. Es war ein schlechter Jahrgang, und er stand schon zu lange offen, aber er half ihm, seine flatternden Nerven zu beruhigen. Er zog einen hochlehnigen Stuhl von seinem Schreibtisch heran und setzte sich vor Loken, der die Hand nach der Flasche ausstreckte.
»Sie haben recht, Ignace, ich habe Ihnen das aufgetragen. Aber ich hätte mir nie träumen lassen, dass es uns hierher führen würde«, sagte Loken und trank einen Schluck aus der Flasche.
»Ich auch nicht, aber das hat es nun mal«, erwiderte Karkasy. »Die Frage ist jetzt, was Sie deswegen unternehmen wollen.«
»Das weiß ich eigentlich nicht, Ignace«, gestand Loken. »Ich glaube, dass sie dem Mournival gegenüber ungerecht sind, wenn man die Umstände bedenkt. Wir wollten ...«
»Nein«, unterbrach Karkasy. »Das bin ich nicht. Die Astartes stehen in jeder Beziehung über uns Sterblichen, und Sie verlangen unsere Hochachtung, aber diese Hochachtung muss auch verdient sein. Sie erfordert, dass Ihre Ethik makellos ist. Sie müssen nicht nur über der Trennlinie zwischen richtig und falsch bleiben, sondern sich auch von den Grauzonen dazwischen fernhalten.«
Loken lachte humorlos. »Ich dachte, es sei Sindermanns Aufgabe, Ethik zu lehren.«
»Tja, der gute Kyril hat sich in letzter Zeit nicht oft blicken lassen, nicht? Ich gebe zu, dass ich ein Spätankömmling in den Reihen der Rechtschaffenen bin, aber ich weiß, dass ich das Richtige tue. Mehr noch: Ich weiß, dass es nötig ist.«
»So stark sind Ihre Empfindungen?«
»Ja, Hauptmann. So stark wie noch nie etwas in meinem Leben.«
»Und Sie werden das weiter verbreiten?«, fragte Loken, indem er einen Stapel hingekritzelter Notizen anhob.
»Gibt es eine richtige Antwort auf diese Frage, Hauptmann?«, fragte Karkasy.
»Ja, also antworten Sie aufrichtig.«
»Wenn ich es kann«, sagte Karkasy, »werde ich es tun. «
»Sie bringen uns beide in Schwierigkeiten, Ignace Karkasy«, sagte Loken, »aber wenn wir keine Wahrheit haben, sind wir nichts, und wenn ich Sie daran hindere, sie auszusprechen, bin ich nicht besser als ein Tyrann.«
»Also werden Sie mich nicht am Schreiben hindern oder nach Terra zurückschicken?«
»Das sollte ich, aber ich tue es nicht. Sie sollten wissen, dass Sie sich mit diesen Gedichten mächtige Feinde gemacht haben, Ignace, Feinde, die Ihre Verbannung oder Schlimmeres fordern werden. Doch im Moment stehen Sie unter meinem Schutz.«
»Glauben Sie, dass ich Schutz brauchen werde?«, fragte Karkasy.
»Definitiv«, sagte Loken.
»Man hat mir gesagt, Sie wollten mich sprechen«, sagte Euphrati Keeler. »Hätten Sie die Güte, mir zu sagen, warum?«
»Ah, meine liebe Euphrati«, sagte Kyril Sindermann, der von seinem Essen aufblickte. »Kommen Sie doch herein.«
Sie hatte ihn in der unteren Messe gefunden, nachdem sie ihn zunächst eine Stunde lang in den staubigen Gängen von Archivkammer Drei gesucht hatte. Den auf dem Schiff verbliebenen Iteratoren zufolge hatte der alte Mann fast seine gesamte Zeit dort verbracht, seine Vorlesungen ausfallen lassen — nicht, dass es im Moment Studenten gegeben hätte — und alle Einladungen seiner Kollegen zu einem gemeinsamen Essen oder Schluck ignoriert.
Torgaddon hatte es ihr selbst überlassen, Sindermann zu finden, nachdem seine Pflicht lediglich darin bestanden hatte, sie zur Rächender Geist zurückzubringen. Dann hatte er sich auf die Suche nach Hauptmann Loken gemacht, um mit ihm nach Davin zurückzukehren. Keeler bezweifelte nicht, dass er Loken von seinen Beobachtungen auf Davin erzählen würde, aber es kümmerte sie nicht mehr, wer von ihrem Glauben wusste.
Sindermann sah furchtbar aus, die Augen eingesunken und grau, die Züge hager und blass.
»Sie sehen nicht gut aus«, sagte sie.
»Dasselbe könnte ich über Sie sagen, Euphrati«, sagte er. »Sie haben Gewicht verloren. Das steht Ihnen nicht.«
»Die meisten Frauen wären dankbar dafür, aber Sie haben mich nicht von einem Astartes herbringen lassen, um sich über meine Essgewohnheiten auszulassen, oder?«
Sindermann lachte, schob das Buch weg und sagte: »Nein, Sie haben recht, das habe ich nicht.«
»Warum dann?«, fragte sie, indem sie ihm gegenüber Platz nahm.
»Wenn es wegen etwas ist, das Ignace Ihnen erzählt hat, dann sparen Sie sich den Atem.«
»Ignace? Nein, ich habe schon länger nicht mehr mit ihm gesprochen«, erwiderte Sindermann.
»Mersadie Oliton ist zu mir gekommen. Sie hat mir erzählt, dass Sie jetzt für den Kult der Lectitio Divinitatus Agigation betreiben.«
»Sie ist kein Kult.«
»Nicht? Wie würden Sie sie dann nennen?«
Sie dachte kurz nach und antwortete dann: »Sie ist ein neuer Glaube.«
»Eine schlaue Antwort«, sagte Sindermann.
»Wenn Sie so nett wären — ich wüsste gern mehr darüber.«
»Ach? Ich dachte, Sie würden versuchen, mir meinen Irrtum aufzuzeigen, und ihre Kniffe als Iterator benutzen, um mir meine Überzeugungen auszureden.«
»Ganz und gar nicht, meine Liebe«, sagte Sindermann. »Sie mögen denken, dass Sie Ihren Tribut insgeheim in den Tiefen ihres Herzens leisten, aber es wird nach außen dringen. Wir sind eine sonderbare Spezies, wenn es um Anbetung geht. Die Dinge, die unsere Fantasie beherrschen, bestimmen unser Leben und unseren Charakter. Daher empfiehlt sich eine gewisse Vorsicht bei dem, was wir anbeten, denn allmählich werden wir selbst dazu.«
»Und was glauben Sie, was wir anbeten?«
Sindermann schaute sich verstohlen um und zückte ein Blatt Papier, in dem sie sofort ein Pamphlet der Lectitio Divinitatus erkannte. »Ich möchte, dass Sie mir dabei helfen. Ich habe das hier mehrmals gelesen, und ich muss zugeben, dass mich die darin postulierten Dinge faszinieren. Wissen Sie, seit den ... Ereignissen unter den Flüsterspitzen ... schlafe ich nicht besonders gut und hatte vor, mich in meinen Büchern zu vergraben. Ich dachte, wenn ich verstehen kann, was uns widerfahren ist, könnte ich es auch vernunftmäßig erklären.«
»Und, konnten Sie?«
Er lächelte, aber sie konnte die Müdigkeit und Verzweiflung dahinter erkennen. »Ehrlich? Nein, eigentlich nicht. Je mehr ich gelesen habe, desto mehr habe ich gesehen, wie weit wir es seit den Tagen der Einschüchterung durch eine autokratische Priesterschaft gebracht haben. Aber gleichzeitig ist mir auch aufgegangen, dass allem ein Muster zugrunde liegt.«
»Ein Muster? Welches Muster?«
»Hören Sie«, sagte Sindermann, indem er sich erhob, um den Tisch kam, sich neben sie setzte und das Pamphlet vor ihr ausbreitete.
»Ihre Lectitio Divinitatus spricht davon, dass der Imperator seit Tausenden Jahren unter uns wandelt, ja?«
»ja.«
»Nun, in den alten Texten, größtenteils Unsinn — alte Historien und grelle Geschichten über Barbarei und Blutvergießen -, habe ich einige wiederkehrende Themen gefunden. Ein Wesen aus goldenem Licht taucht in mehreren auf, und so ungern ich es auch zugebe, es klingt ganz nach dem, was in diesem Papier beschrieben wird. Ich weiß nicht, welche Wahrheit in dieser Richtung liegen mag, aber ich wüsste gern mehr darüber, Euphrati.«
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Hören Sie«, sagte er, indem er das Buch umdrehte und ihr hinschob.
»Dieses Buch ist in einer Abwandlung einer alten menschlichen Sprache geschrieben, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Ich kann den Sinn gewisser Passagen erfassen, glaube ich, aber die Struktur ist sehr kompliziert, und ohne einige Schlüsselwörter, um die richtigen grammatischen Verbindungen herzustellen, erweist sich die Sprache als sehr schwierig zu übersetzen.«
»Was ist das für ein Buch?«
»Ich glaube, das ist das Buch Lorgar, obwohl ich noch nicht mit dem Ersten Ordenspriester Erebus sprechen konnte, um meine Vermutung zu verifizieren. Wenn es das ist, könnte es ein Exemplar sein, das Lorgar persönlich dem Kriegsmeister gegeben hat.«
»Warum macht es das so wichtig?«
»Erinnern Sie sich nicht mehr an die Gerüchte über Lorgar?«, fragte Sindermann mit drängendem Unterton. »Dass auch er den Imperator als Gott verehre? Es heißt, seine Legion habe eine Welt nach der anderen verwüstet, weil sie dem Imperator nicht die gebührende Achtung erwiesen, um dann große Denkmäler für ihn zu errichten.«
»Ich erinnere mich an die Geschichten, ja, aber da steckt doch nichts dahinter, oder?«
»Wahrscheinlich nicht, aber was ist, wenn doch?«, fragte Sindermann. Angesichts der Möglichkeit, eine solche Tatsache aufzudecken, leuchteten seine Augen. »Was, wenn ein Primarch, ein Sohn des Imperators, in etwas eingeweiht war, wofür wir Normalsterblichen noch nicht bereit sind? Wenn meine Arbeit bis jetzt korrekt ist, redet dieses Buch davon, die Essenz Gottes hervorzubringen. Ich muss wissen, was das bedeutet!«
Euphrati spürte, wie sich ihr Puls beschleunigte. Ein unbestreitbarer Beweis der Göttlichkeit des Imperators, wenn er von Kyril Sindermann kam, würde die Lectitio Divinitatus weit über ihren gegenwärtigen bescheidenen Status in die Sphären eines Phänomens erheben, das sich von einer Seite der Galaxis zur anderen ausbreiten konnte.
Sindermann sah die Erkenntnis in ihrem Gesicht und sagte: »Fräulein Keeler, ich habe mein gesamtes Erwachsenenleben lang die Wahrheit des Imperiums verkündet, und ich bin stolz auf die Arbeit, die ich geleistet habe, aber was ist, wenn wir die falsche Botschaft lehren? Wenn Sie recht haben und der Imperator ein Gott ist, dann stellt das, was wir unter den Bergen von Dreiundsechzig-Neunzehn gesehen haben, eine weitaus schrecklichere Gefahr dar, als wir uns vorstellen können. Wenn das wahrhaftig ein Geist des Bösen war, brauchen wir ein göttliches Wesen wie den Imperator mehr denn je. Ich weiß, dass Worte keine Berge versetzen können, aber sie können die Menschheit bewegen — das haben wir immer und immer wieder bewiesen. Menschen sind eher bereit, für ein Wort zu kämpfen und zu sterben, als für alles andere. Wörter formen Gedanken, erzeugen Gefühle und erzwingen Taten. Sie töten und beleben, verderben und heilen. Wenn mich mein Dasein als Iterator etwas gelehrt hat, dann, dass Männer des Worts — Priester, Propheten und Intellektuelle — in der Geschichte eine entscheidendere Rolle gespielt haben als alle militärischen Führer und Staatsmänner. Wenn wir die Existenz Gottes beweisen können, verspreche ich Ihnen, dass die Iteratoren diese Wahrheit von den höchsten Dächern des Landes verkünden werden.«
Euphrati hörte mit offenem Mund zu, während Kyril Sindermann ihre Welt umkrempelte. Dieser Erzprophet der säkularen Wahrheit redete von Göttern und Glauben? Ein Blick in seine Augen zeigte ihr die verheerenden Selbstzweifel und die Identitätskrise, unter denen er seit ihrer letzten Begegnung gelitten hatte, und sie begriff, wie viel er in den letzten Tagen verloren und gewonnen hatte.
»Lassen Sie mich mal sehen«, sagte sie, und Sindermann schob ihr das Buch hin.
Es handelte sich um eine eckige Keilschrift, die senkrecht anstatt waagerecht verlief, und ihr war sofort klar, dass sie ihm bei der Übersetzung nicht helfen konnte, obgleich ihr einzelne Elemente der Schrift durchaus vertraut vorkamen.
»Ich kann die Schrift nicht lesen«, sagte sie. »Was steht darin?«
»Tja, das ist das Problem. Ich weiß es nicht genau«, sagte Sindermann. »Ich kann das eine oder andere Wort entschlüsseln, aber ohne grammatischen Ansatz ist es schwierig.«
»Ich habe diese Schrift schon mal gesehen«, sagte sie, als ihr plötzlich einfiel, warum sie ihr bekannt vorkam.
»Das glaube ich kaum, Euphrati«, sagte Sindermann.
»Dieses Buch war Jahrzehnte in dieser Archivkammer. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es jemand gelesen hat, seit es hier ist.«
»Belehren Sie mich nicht, Sindermann. Ich habe diese Schrift schon mal gesehen«, beharrte sie.
»Wo?«
Keeler griff in die Tasche und nahm die Speicherkarte aus ihrer zerstörten Bildeinheit. Sie stand auf und sagte: »Holen Sie Ihre Notizen, wir treffen uns in dreißig Minuten in der Archivkammer.«
»Wohin gehen Sie?«, fragte er, während er das Buch zuklappte.
»Etwas holen, das Sie mit Sicherheit sehen wollen.«
Horus schlug die Augen auf und sah einen Himmel voller verschmutzter Wolken. Die Luft roch chemisch und schal.
Sie roch vertraut. Nach Heimat.
Er lag auf einem unebenen Plateau aus schwarzem Pulver vor dem Schacht eines lange ausgebeuteten Bergwerks und empfand den hohlen Schmerz des Heimwehs, als ihm aufging, dass es Cthonia war.
Der Smog der entfernten Hochöfen und das unablässige Hämmern der Kernbohrungen in den Tiefschächten erfüllte den Himmel mit Feinstaub, und er verspürte einen Stich der Einsamkeit, als er sich nach den leichteren Zeiten sehnte, die er hier verbracht hatte.
Horus schaute sich nach Sejanus um, doch worum es sich bei dem wirbelnden Strudel unter Terras Oberfläche auch gehandelt haben mochte — augenscheinlich hatte er seinen alten Kameraden nicht mitgenommen.
Die Reise war nicht so still und prompt verlaufen wie seine bisherigen Reisen durch dieses absonderliche, unbekannte Gefilde. Die im Warp wohnenden Mächte hatten ihm einen Blick in die Zukunft gewährt, und sie war in der Tat trostlos. Üble Xenos beherrschten weite Teile der Galaxis, und ein Mantel der Hoffnungslosigkeit hüllte die Söhne der Menschheit ein.
Die Macht der glorreichen Armeen der Menschheit war gebrochen, die Legionen waren zerschmettert und zu Bruchstücken dessen reduziert, was sie einmal gewesen waren: Bürokraten, Schreiber und Amtsschimmel herrschten in einem höllischen Regime, wo Menschen ein unrühmliches Leben ohne Bedeutung und Ambitionen führten.
In dieser düsteren Zukunft hatte die Menschheit nicht mehr die Kraft, die Unterdrücker anzugreifen und gegen den Schrecken anzukämpfen, dem der Imperator sie überlassen hatte. Sein Vater war ein Leichengott geworden, der weder das Leid seiner Untertanen fühlte noch Anteil an ihrem Schicksal nahm.
In Wahrheit war ihm die Einsamkeit Cthonias willkommen. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken in einem aberwitzigen Wirbel aus Verärgerung und Groll. Der Imperator pfuschte mit Kräften herum, die seine Fähigkeiten bei weitem überstiegen — und die er schon einmal nicht hatte beherrschen können. Er hatte seine Söhne für die Verheißung von Macht verschachert und kehrte nun nach Terra zurück, um es noch einmal zu versuchen.
»Das werde ich nicht zulassen«, sagte Horus leise.
Da hörte er das klagende Heulen eines Wolfs und stand auf. So etwas wie Wölfe gab es auf Cthonia nicht, und Horus war deren ständige Verfolgung durch den Warp leid.
»Zeigt euch!«, rief er, indem er die Faust in den Himmel reckte und einen Kriegsruf folgen ließ.
Sein Ruf wurde von einem erneuten Heulen beantwortet, das rasch näher kam, und Horus spürte Kampfeslust in sich aufsteigen.
Nach dem Gemetzel an den Custodes hatte er Blut geschmeckt und begrüßte die Gelegenheit, noch mehr zu vergießen.
Schatten bewegten sich um ihn, und er rief: »Lupercal! Lupercal!«
Formen bildeten sich aus den Schatten, und er sah ein rotpelziges Wolfsrudel in der Dunkelheit Gestalt annehmen. Sie umringten ihn, und Horus erkannte im Rudelführer das Tier, das ihn auch bei seinem ersten Erwachen im Warp angesprochen hatte.
»Was bist du?«, fragte Horus. »Und keine Lügen.«
»Ein Freund«, sagte der Wolf, dessen Gestalt flimmerte und über die sich goldene Linien kräuselten. Er bäumte sich auf, und seine Gestalt verlängerte und verbreiterte sich und wurde humanoid. Seine Proportionen veränderten sich, bis er schließlich so groß war wie Horus.
Kupferfarbene Haut ersetzte das Fell, und die Augen verliefen wie eine Flüssigkeit und bildeten einen goldenen Augapfel. Dichtes rotes Haar wuchs auf dem Kopf, und bronzefarbene Rüstung bildete sich über Brust und Armen. Er trug einen wallenden Umhang aus Federn, und Horus erkannte ihn, wie er sein eigenes Spiegelbild erkannt hätte.
»Magnus«, sagte Horus, »bist du es wirklich?«
»Ja, mein Bruder, ich bin es«, sagte Magnus, und die beiden Krieger umarmten einander unter Rüstungsgeklirr.
»Wie ist das möglich?«, fragte Horus. »Stirbst du auch?«
»Nein«, sagte Magnus. »Du musst mir zuhören, Bruder. Ich habe lange genug gebraucht, um dich zu erreichen, und ich habe hier nicht viel Zeit. Die Zauber und Schutzvorrichtungen, mit denen du umgeben bist, sind stark, und jede Sekunde, die ich hier bin, stirbt ein Dutzend meiner Leibeigenen, um sie geöffnet zu halten.«
»Hören Sie nicht auf ihn, Kriegsmeister«, sagte eine andere Stimme, und als sich Horus umdrehte, sah er Hastur Sejanus aus der Dunkelheit des Bergwerksschachts kommen.
»Ihm wollten wir ausweichen. Das ist eine gestaltwandlerische Kreatur des Warp, die sich von menschlichen Seelen nährt. Sie will Ihre verschlingen, damit Sie nicht mehr in Ihren Körper zurückkehren können. Dann würde Horus nicht mehr existieren.«
»Er lügt«, fauchte Magnus. »Du kennst mich, Horus, ich bin dein Bruder, aber wer ist er? Hastur? Hastur ist tot.«
»Ich weiß, aber hier ist der Tod nicht das Ende.«
»Darin liegt Wahrheit«, gab Magnus ihm recht, »aber würdest du eher den Toten trauen als deinem eigenen Bruder? Wir trauern um Hastur, aber er ist von uns gegangen. Dieser Hochstapler zeigt nicht einmal sein wahres Gesicht!«
Magnus stieß die Faust vorwärts und schloss die Finger um Luft, als packe er etwas Unsichtbares. Dann zerrte er die Hand zurück.
Hastur schrie auf, und ein silbernes Licht blitzte wie eine Magnesiumfackel aus seinen Augen.
Horus blinzelte durch das blendende Licht. Er sah immer noch einen Astartes, doch nun einen in der Rüstung der Word Bearers.
»Erebus?«, fragte Horus.
»Ja, Kriegsmeister«, bestätigte der Erste Ordenspriester Erebus. Die lange rote Narbe an seiner Kehle heilte bereits. »Ich bin als Sejanus verkleidet gekommen, um Ihnen das Verständnis dessen zu erleichtern, was getan werden muss, aber ich habe nur die Wahrheit gesagt, seit wir in diesem Gefilde sind.«
»Hör nicht auf ihn, Horus«, warnte Magnus. »Die Zukunft der Galaxis liegt in deinen Händen.«
»Das tut sie in der Tat«, sagte Erebus, »denn der Imperator wird die Galaxis in seinem Streben nach Vergöttlichung im Stich lassen. Horus muss das Imperium retten, denn es ist offenkundig, dass der Imperator es nicht tun wird.«