»Das mit Verulam tut mir leid. Er war ein tapferer Mann.«

Marr nickte kurz, und Loken konnte sich den Kummer, den er durchleben musste, nur vorstellen.

Loken hatte schon oft um gefallene Krieger getrauert, aber Moy und Marr waren unzertrennlich gewesen und hatten sich einer symbiotischen Beziehung, ähnlich der zwischen eineiigen Zwillingen, erfreut. Als Freunde und Brüder hatten sie als Paar am besten gekämpft, doch in diesem Fall hatte wieder einmal Moy das Glück gehabt, einen Platz in der Speerspitze zu bekommen, und Marr nicht.

Diesmal hatte Moy für dieses Glück mit dem Leben bezahlt.

»Ich danke Ihnen, Hauptmann Loken. Ich weiß Ihr Beileid zu schätzen«, erwiderte Marr.

»Wollten Sie etwas Bestimmtes, Tybalt?«

»Kehren Sie auf den Mond zurück?«, fragte Marr, und jetzt wusste Loken genau, warum Marr vor ihm stand. Er nickte.

»Das tun wir. Vielleicht gibt es dort etwas, das dem Kriegsmeister helfen kann. Wenn ja, werden wir es finden.«

»Ist es dort, wo Verulam gestorben ist?«

»Ja«, sagte Loken. »Ich glaube schon.«

»Können Sie noch einen Schwertarm gebrauchen? Ich will sehen, wo ... wo es passiert ist.«

Loken sah den brennenden Kummer in Marrs Augen.

»Natürlich können wir.«

Marr nickte dankbar, und sie marschierten gemeinsam die Sturmrampe empor, während die Triebwerke des Thunderhawk mit dem Heulen einer Banshee warm liefen.

 

 

Aximand sah zu, wie Abaddon die Schulter des Übungsservitors traf und ihm den Schwertarm abriss, bevor er sich hineindrehte und eine Serie rascher Hammerschläge auf den Rumpf regnen ließ. Haut platzte unter dem Angriff, Knochen und Stahl brachen und das Gebilde sackte in einem Durcheinander aus Metallsplittern und Fleischfetzen zusammen.

Das war der dritte Servitor, den Abaddon in den letzten dreißig Minuten zerstört hatte. Ezekyle hatte schon immer versucht, sich mit den Fäusten durch seine Ängste zu arbeiten, und dieses Mal war es nicht anders.

Aximand hatte seinerseits sein Boltgewehr sechs Mal auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt, langsam und methodisch, wobei er jedes Einzelteil auf ein Öltuch gelegt und sorgfältigst gereinigt hatte. Wo Abaddon seinem Schmerz durch Gewalt Ausdruck verlieh, zog Aximand es vor, seinen Geist durch vertraute Routinen abzulenken. Ohne die Möglichkeit, etwas Konstruktives zu unternehmen, um dem Kommandanten zu helfen, hatten sie sich beide auf die Dinge zurückgezogen, mit denen sie sich am besten auskannten.

»Der Rüstmeister wird deinen Kopf fordern, weil du ihm seine Servitoren zerstörst«, sagte Aximand, während Abaddon weiter auf die Überreste des Servitors einprügelte.

Schwitzend und schwer atmend trat Abaddon aus dem Übungskäfig. Sein Körper war mit einer glänzenden Schweißschicht bedeckt, der silbern umwickelte Haarknoten durchnässt. Sogar für einen Astartes war er massig, muskulös und so solide wie Granit.

Torgaddon zog Abaddon oft auf, indem er scherzte, er überlasse die Führung der Justaerin nur deshalb Falkus Kibre, weil er zu groß sei, um in eine Terminator-Rüstung zu passen.

»Dafür sind sie da«, schnauzte Abaddon.

»Ich weiß nicht, ob du wirklich so hart mit ihnen umspringen solltest.«

Abaddon zuckte die Achseln, nahm sich ein Handtuch und legte es sich um die Schultern. »Wie kannst du nur so ruhig sein?«

»Glaub mir, ich bin nicht ruhig, Ezekyle.«

»Du siehst ruhig aus.«

»Dass ich nicht mit den Fäusten auf Sachen einschlage, heißt nicht, dass ich nicht cholerisch bin.«

Abaddon hob ein Rüstungsteil auf und fing an, es zu polieren, bevor er es mit einem wütenden Knurren in eine Ecke warf.

»Reiß dich zusammen, Ezekyle«, riet Aximand. »Es ist nicht gut, zu viel Gleichgewicht zu verlieren, du könntest es nicht wiederfinden.«

»Ich weiß«, seufzte Abaddon. »Aber ich bin alles gleichzeitig: aufbrausend, melancholisch, trübsinnig, alles auf einmal. Ich kann keinen Moment still sitzen. Was, wenn er es nicht schafft, Klein-Horus? Was, wenn er stirbt?«

Er stand auf und tigerte im Übungsraum herum, während er sich beständig die Hände rieb, und Aximand sah, wie ihm das Blut in die Wangen stieg, als Wut und Frustration wieder zunahmen.

»Das ist nicht gerecht«, knurrte Abaddon. »So sollte es nicht sein. Der Imperator würde das nicht zulassen. Er sollte es nicht zulassen.«

»Der Imperator ist schon lange nicht mehr hier gewesen, Ezekyle.«

»Weiß er überhaupt, was passiert? Kümmert es ihn noch?«

»Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll, mein Freund«, sagte Aximand, der wieder zu seinem Boltgewehr griff und auf den Magazinauswurf drückte, da er sah, dass Abaddon eine neue Zielscheibe für seine ohnmächtige Wut gefunden hatte.

»Seit er uns nach Ullanor verlassen hat, ist alles anders«, tobte Abaddon. »Er hat es uns überlassen aufzuräumen, was ihm zu viel war, und wofür? Für irgendein verdammtes Projekt auf Terra, das wichtiger ist als wir?«

»Vorsichtig, Ezekyle«, warnte Aximand. »Du bewegst dich auf gefährlichem Gebiet.«

»Aber es stimmt doch, oder nicht? Sag mir nicht, du empfindest nicht dasselbe, ich weiß, dass du es tust.«

»Es ist ... anders jetzt, ja«, räumte Aximand ein.

»Wir sind hier draußen und kämpfen und sterben, um für ihn die Galaxis zu erobern, und er steht uns nicht einmal draußen an der Grenze zur Seite. Wo ist seine Ehre? Wo ist sein Stolz?«

»Ezekyle!«, sagte Aximand, indem er sein Boltgewehr auf den Boden warf und aufsprang. »Es reicht! Jeden anderen würde ich für diese Worte niederschlagen. Der Imperator ist unser Herr und Meister. Wir sind durch Eid verpflichtet, ihm zu gehorchen.«

»Wir sind dem Kommandanten verpflichtet. Erinnerst du dich nicht mehr an deinen Mournival-Eid?«

»Gut genug, Ezekyle«, konterte Aximand, »und anscheinend besser als du, denn wir haben uns auch dem Imperator über allen Primarchen verpflichtet.«

Abaddon wandte sich ab und krallte sich mit hängendem Kopf in das Drahtgeflecht des Übungskäfigs. Seine Muskeln spannten sich, und mit einem Aufschrei animalischer Wut riss er das Paneel mit dem Drahtgeflecht aus dem Käfig und schleuderte es durch die Übungshalle, wo es vor den gerüsteten Füßen von Erebus landete, der in der Tür stand.

»Erebus«, sagte Aximand überrascht. »Wie lange stehen Sie schon da?«

»Lange genug, Klein-Horus, lange genug.«

Aximand verspürte einen Stich des Unbehagens und sagte: »Ezekyle war nur wütend und erregt. Seine Gemütsverfassung ist aus dem Gleichgewicht. Ziehen Sie keine ...«

Erebus winkte ab, und das matte Licht wurde von den Platten aus gebürstetem Stahl seiner Rüstung reflektiert. »Keine Angst, mein Freund, du weißt, wie es zwischen uns ist. Ich sehe hier nur Mitglieder der Loge. Falls mich jemand fragen sollte, was ich hier und heute gehört habe, dann weißt du, was ich ihnen sagen würde, oder?«

»Das kann ich nicht sagen.«

»Genau«, lächelte Erebus, doch statt beruhigt, fühlte sich Aximand dem Ersten Ordenspriester der Word Bearers plötzlich verpflichtet, als sei sein Schweigen eine Art Faustpfand.

»Bist du aus einem besonderen Grund hier, Erebus?«, wollte Abaddon wissen, immer noch in Rage.

»Das bin ich«, nickte Erebus, indem er die Hand ausstreckte und sein silbernes Logen-Medaillon zeigte. »Der Zustand des Kriegsmeisters verschlechtert sich, und Targost hat eine Versammlung einberufen.«

»Jetzt?«, fragte Aximand. »Warum?«

Erebus zuckte die Achseln. »Das kann ich nicht sagen.«

 

Sie versammelten sich wieder einmal in dem achteren Laderaum des Flaggschiffs und stiegen durch die einsamen Wartungstreppenhäuser in die Niederungen der Rächender Geist herab. Wieder erleuchteten Wachskerzen den Weg, und Aximand stellte fest, dass er sich nur wünschte, es schnell hinter sich zu bringen. Der Kriegsmeister starb, und sie hielten eine Versammlung ab?

»Wer naht?«, fragte eine Gestalt in einem Kapuzenumhang aus der Dunkelheit.

»Drei Seelen«, erwiderte Erebus.

»Wie lauten eure Namen?«, fragte die Gestalt.

»Müssen wir uns jetzt damit abgeben?«, schnauzte

Aximand. »Du weißt, dass wir es sind, Sedirae.«

»Wie lauten eure Namen?«, wiederholte die Gestalt. »Das kann ich nicht sagen«, sagte Erebus.

»Passiert, Freunde.«

Sie betraten den achteren Laderaum, wobei Aximand dem Kapuze tragenden Luc Sedirae einen giftigen Blick zuwarf. Der andere Hauptmann zuckte nur die Achseln und folgte ihnen. Kerzen erleuchteten wie üblich den von Kränen eingerahmten Bereich, aber anstatt in lebhafte Unterhaltungen zwischen Kriegern war der Raum in eine gedrückte, ernste Atmosphäre gehüllt, als läge ein Leichentuch über allem.

Die üblichen Verdächtigen waren da: Serghar Targost, Luc Sedirae, Kalus Ekkadon, Falkus Kibre und viele andere Offiziere und gemeine Soldaten, die er kannte oder wiedererkannte ... und Maloghurst der Verdrehte.

Erebus ging voran und stellte sich in die Mitte der Gruppe, während Aximand dem Schildträger des Kriegsmeisters zunickte.

»Es ist lange her, seit ich dich bei einer Versammlung gesehen habe«, sagte Aximand.

»In der Tat«, stimmte Maloghurst zu. »Ich habe meine Pflichten als Logenmitglied vernachlässigt, aber vor uns liegen Dinge, die meine Anwesenheit erforderlich machen.«

»Brüder«, eröffnete Targost die Versammlung. »Wir leben in schlimmen Zeiten.«

»Komm zur Sache, Serghar«, knurrte Abaddon. »Wir haben keine Zeit für das hier.«

Der Logenmeister funkelte Abaddon an, sah aber die lauernde Wut in ihm und nickte, statt ihm Paroli zu bieten. Stattdessen zeigte er auf Erebus und sprach zur gesamten Loge. »Unser Bruder von der XVII. Legion würde gern zu uns sprechen. Wollen wir ihn anhören?«

»Wir wollen«, antworteten die Sons of Horus im Chor.

Erebus verbeugte sich und sagte: »Bruder Ezekyle hat recht, wir haben keine Zeit, auf das Zeremoniell zu bestehen, also mache ich es kurz. Der Kriegsmeister stirbt, und das Schicksal des Kreuzzugs steht auf des Messers Schneide. Wir allein haben die Macht, ihn zu retten.«

»Wie meinst du das, Erebus?«, fragte Aximand.

Erebus marschierte am Rand des Kreises entlang, während er redete.

»Die Apothekarii können nichts für den Kriegsmeister tun. Trotz all ihrer Hingabe können sie ihn nicht von seiner Krankheit heilen. Sie können ihn nur am Leben erhalten, und auch das nicht mehr lange. Wenn wir jetzt nicht handeln, wird es bald zu spät sein.«

»Was schlägst du vor, Erebus?«, fragte Targost. »Die Stämme auf Davin«, sagte Erebus.

»Was ist damit?«, fragte der Logenmeister.

»Es sind Wilde, die von Kriegerkasten beherrscht werden, aber das wissen wir alle. Unser eigener stiller Orden ist in Struktur und Praktiken ihren Kriegerlogen nachempfunden. Jede ihrer Logen verehrt eines der einheimischen Raubtiere, und darin unterscheiden sie sich von unserer. In meiner Zeit auf Davin während der Eingliederung habe ich die Logen und ihre Methoden auf der Suche nach Verdorbenheit und religiöser Profanität studiert. Ich habe nichts dergleichen entdeckt, aber in einer Loge habe ich dafür etwas gefunden, von dem ich glaube, es könnte unsere einzige Hoffnung sein, den Kriegsmeister zu retten.«

Gegen seinen Willen ließ sich Aximand von Erebus' Worten fesseln.

Seine Redegabe mit der präzisen Modulation von Tonfall und Timbre war eines Iterators würdig, und er konnte eine Zuhörerschaft in seinen Bann schlagen.

»Sag es!«, rief Luc Sedirae.

Die Loge nahm den Ruf auf, bis Serghar Targost gezwungen war, sie mit einem lauten Kommando zur Ordnung zu rufen.

»Wir müssen den Kriegsmeister zum Tempel der Schlangenloge auf Davin bringen«, verkündete Erebus. »Die dortigen Priester sind bewandert in den mystischen Künsten des Heilens und meiner Ansicht nach die beste Hoffnung, ihn zu retten.«

»Mystische Künste?«, fragte Aximand. »Was soll das sein? Es klingt nach Zauberei.«

»Ich glaube nicht, dass es das ist«, sagte Erebus zu ihm, »aber was, wenn es so wäre, Bruder Horus? Würdest du ihre Hilfe ausschlagen? Würdest du den Kriegsmeister sterben lassen, damit wir uns rein fühlen können? Ist sein Leben nicht ein kleines Risiko wert?«

»Ein Risiko, ja. Aber so etwas kommt mir falsch vor.«

»Falsch wäre, nicht alles in unserer Macht Stehende zu tun, um den Kommandanten zu retten«, sagte Targost.

»Auch wenn es bedeutet, dass wir uns mit unreiner Magie abgeben müssen?«

»Spiel dich nicht so auf, Aximand«, sagte Targost. »Wir tun es für die Legion. Wir haben keine andere Wahl.«

»Dann ist es bereits entschieden?«, wollte Aximand wissen, indem er sich an Erebus vorbei in die Mitte drängte. »Warum dann noch diese Scharade einer Debatte? Warum uns überhaupt hier zusammeru-ufen?«

Maloghurst hinkte von Targosts Seite zu ihm und schüttelte den Kopf. »Wir müssen uns in dieser Sache alle einig sein, Bruder Horus. Du weißt, wie die Loge agiert. Wenn du nicht einverstanden bist, gehen wir nicht weiter, und der Kriegsmeister bleibt hier. Aber er wird sterben, wenn wir nichts unternehmen. Du weißt, dass es so ist.«

»Das kannst du nicht von mir verlangen«, flehte Aximand.

»Ich muss, mein Bruder«, sagte Maloghurst. »Es gibt keinen anderen Weg.«

Aximand spürte die Last der Verantwortung und wie sie ihn zu Boden drückte, als sich alle Augen auf ihn richteten. Sein Blick begegnete Abaddons, und er sah, dass Ezekyle eindeutig dafür war, alles zu tun, um den Kriegsmeister zu retten.

»Was ist mit Torgaddon und Loken?«, fragte Aximand, um sich ein wenig mehr Zeit zum Nachdenken zu erkaufen. »Sie sind nicht hier, um zu sprechen.«

»Loken ist keiner von uns!«, rief Kalus Ekaddon, Hauptmann der Räuber-Trupps. »Er hatte die Gelegenheit, sich uns anzuschließen, aber er hat unserem Orden den Rücken gekehrt. Was Tarik angeht, so wird er in dieser Sache unserem Beispiel folgen. Es bleibt keine Zeit, auf ihn zu warten.«

Aximand blickte in die Gesichter der Männer rings um sich, und ihm ging auf, dass er keine Wahl hatte. Er hatte nie eine gehabt.

Egal, wie — der Kriegsmeister musste leben. So einfach war es.

Er wusste, es würde Konsequenzen geben. Die gab es immer bei einem Pakt mit dem Teufel, aber den Kommandanten zu retten, war jeden Preis wert.

Er wollte verdammt sein, wenn man seiner als den Krieger gedenken würde, der untätig herumgestanden und Horus hatte sterben lassen.

»Also gut«, sagte er schließlich. »Lassen wir die Schlangenloge tun, was sie kann.«

 

Loken fand es unglaublich, welche Veränderung auf Davins Mond seit ihrem Abflug vor ein paar Stunden stattgefunden hatte. Die erstickenden Nebel waren verschwunden, und der Himmel hellte sich von einem schmutzigen Gelb zu einem bleichen Weiß auf. Der Gestank war noch da, aber auch der hatte abgenommen und war jetzt eher unangenehm, nicht mehr überwältigend. Hatte Tembas Tod irgendeinen Bann gebrochen, der den Mond in einem beständigen Kreislauf des Verfalls gehalten hatte?

Beim Anflug des Thunderhawk über die Sümpfe hatte Loken gesehen, dass die kranken Wälder verschwunden waren: Ihre Stämme waren ohne die Verderbnis, die sie zusammengehalten hatte, eingesunken. Ohne die verhüllenden Nebel war es leicht, die Glorie von Terra zu finden, obwohl diesmal zum Glück keine tödliche Botschaft über Korn kam.

Sie setzten auf, und Loken führte Trupp Locasta, Torgaddon, Vipus und Marr mit den selbstsicheren Schritten eines geborenen Anführers aus dem Thunderhawk. Torgaddon und Marr hielten ihren Hauptmannsrang zwar schon länger als Loken, aber bei diesem Unternehmen ordneten sie sich ihm instinktiv unter.

»Was erwartest du hier zu finden, Garvi?«, fragte Torgaddon mit einem Blick auf das kollabierte Schiff. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich einen neuen Helm zu suchen, und rümpfte die Nase ob des Gestanks.

»Ich bin nicht sicher«, antwortete Loken.

»Vielleicht ein paar Antworten, irgendwas, um dem Kriegsmeister zu helfen.«

Torgaddon nickte. »Hört sich gut an. Was ist mit Ihnen, Marr? Was suchen Sie?«

Tybalt Marr antwortete nicht, sondern lud sein Boltgewehr durch und marschierte dem abgestürzten Wrack entgegen. Loken holte ihn ein und hielt ihn am Schulterschutz fest.

»Tybalt, werde ich hier ein Problem mit Ihnen haben?«

»Nein, ich will nur sehen, wo Verulam gestorben ist«, sagte Marr.

»Es ist erst Wirklichkeit, wenn ich die Stelle gesehen habe. Ich weiß, dass ich ihn in der Leichenhalle gesehen habe, aber das war kein Toter. Es war nur ein Blick in den Spiegel. Verstehen Sie?«

Loken verstand nicht, nickte aber trotzdem. »Nun gut. Reihen Sie sich in die Kolonne ein.«

Sie marschierten zu dem toten Schiff und erklommen die Schuttrampen zu den in der Seite klaffenden Löchern.

»Verdammt, es kommt einem vor, als sei unser Kampf hier schon eine Ewigkeit her«, sagte Torgaddon.

»Er liegt erst drei oder vier Stunden zurück, Tarik«, stellte Loken fest. »Ich weiß. Trotzdem ...«

Schließlich erreichten sie das Ende der Rampe und betraten die Dunkelheit des Schiffs. Lokens Erinnerung an das letzte Mal und an das, was sie am Ende des Wegs vorgefunden hatten, war noch frisch.

»Bleibt auf der Hut. Wir wissen nicht, was hier sonst noch am Leben ist.«

»Wir hätten das Wrack aus dem Orbit bombardieren sollen«, murmelte Torgaddon.

»Ruhe!«, zischte Loken. »Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe?«

Tarik hob entschuldigend die Hände, und sie eilten durch das ächzende Wrack, durch dunkle Korridore, flackernde Niedergänge und stinkende, geschwärzte Gänge. Vipus und Loken gingen voran, und Torgaddon und Marr bildeten die Nachhut. Das düstere Wrack wirkte immer noch bestürzend, obwohl die widerlichen organischen Gewächse, die jede Oberfläche mit glänzender Feuchtigkeit überzogen, jetzt abzusterben schienen — sie vertrockneten und zerfielen zu Staub.

»Was geht hier vor?«, fragte Torgaddon. »Vor ein paar Stunden war hier alles noch wie eine große Hydrokultur, und jetzt ...«

»Stirbt alles«, vollendete Vipus. »Wie die Bäume, die wir beim Anflug gesehen haben.«

»Ist wohl eher schon alles tot«, sagte Marr, indem er die ausgedörrten Reste eines der Gewächse von der Wand löste.

»Nichts anfassen!«, warnte Loken. »Irgendwas in diesem Schiff hatte die Macht, dem Kommandanten zu schaden, und solange wir nicht wissen, was das war, fassen wir nichts an.«

Marr ließ die Überreste fallen und wischte sich die Hand am Bein ab. Lokens Erinnerung an den Weg, den sie zuvor genommen hatten, war makellos, und sie erreichten bald den Zentralkorridor und den Weg zur Brücke.

Lichtstrahlen fielen durch Löcher im Rumpf, und Staubkörner schwebten in der Luft wie eine flimmernde Wand. Loken ging voran und quetschte sich an vorstehenden Schotts und funkensprühenden Kabeln vorbei, bis sie schließlich ihr Ziel erreichten.

Loken roch Eugan Temba lange, bevor sie ihn sahen. Der Gestank nach Tod und Verwesung war auch schon vor der Brücke durchdringend. Sie gingen vorsichtig weiter, und Loken teilte seine Krieger mit knappen Gesten zur Sicherung der Brücke ein.

»Was sollen wir mit den Männern da oben machen?«, fragte Vipus, indem er auf die toten Soldaten zeigte, die in die herabhängenden Banner eingenäht waren. »Wir können sie nicht einfach so hängen lassen.«

»Ich weiß, aber im Moment können wir nichts für sie tun«, sagte Loken.

»Wenn wir dieses Wrack zerstören, kommen sie auch zur Ruhe.«

»Ist er das?«, fragte Marr, während er auf den aufgequollenen Leichnam zeigte.

Loken nickte, hob sein Boltgewehr und trat bedächtig näher. Unter der Haut des Kadavers gab es wellenförmige Bewegungen, und Tembas voluminöser Bauch schwabbelte hin und her. Die pergamentartige Haut war so straff über seiner Leibesfülle gespannt, dass die Umrisse fetter Maden und Larven darunter zu sehen waren.

»Thron, das ist widerwärtig«, sagte Marr. »Und dieses ... Ding hat Verulam getötet?«

»Das nehme ich an«, erwiderte Loken. »Der Kriegsmeister hat es zwar nicht ausdrücklich gesagt, aber sonst gibt es hier nichts.«

Loken überließ Marr seinem Kummer, wandte sich an seine Krieger und sagte: »Schwärmt aus und haltet Ausschau nach allem, was uns etwas über die Ereignisse hier verraten könnte.«

»Du weißt nicht, was wir suchen?«, fragte Vipus. »Nein, eigentlich nicht«, gestand Loken. »Eine Waffe vielleicht.«

»Du weißt, dass wir dieses fette Schwein untersuchen müssen, nicht wahr?«, stellte Torgaddon fest.

»Wer ist der Glückliche, der diese Aufgabe übernimmt?« »Ich dachte, das würde dir gut gefallen, Tarik.« »O nein. Ich rühre dieses Ding nicht an.«

»Ich mache es«, sagte Marr. Er sank auf die Knie und schälte die durchnässten Reste von Eugan Tembas Kleidung und Haut.

»Siehst du?«, sagte Torgaddon zurückweichend. »Tybalt will es machen. Ich sage, lass ihn doch.«

»Also gut. Seien Sie vorsichtig, Tybalt«, sagte Loken, bevor er sich von dem ekelhaften Anblick abwendete, wie Marr Tembas Leichnam auseinandernahm.

Seine Männer suchten die Brücke ab, und Loken erklomm die Stufen zum Kapitänsthron und starrte auf die Mannschaftsgruben, die jetzt mit einem widerlichen Gemisch aus Exkrementen und Unrat gefüllt waren. Loken konnte kaum glauben, dass ein ehemals so herrliches Schiff und ein Mann von angeblich so feinem Charakter ein so schmähliches Ende nehmen konnten.

Er umkreiste den Thron und hielt inne, als sein Fuß gegen etwas Festes stieß.

Er bückte sich und sah einen Kasten aus poliertem Holz. Die Oberflächen waren glatt und sauber, und der Gegenstand war hier in diesem stinkenden Grab eindeutig fehl am Platz. Vielleicht so lang und dick wie ein Arm, war das Holz von dunkelbrauner Farbe und über die gesamte Länge mit seltsamen Schnitzereien bedeckt. Der Deckel öffnete sich an goldenen Angeln, und Loken löste den zierlichen Riegel, der ihn geschlossen hielt.

Der Kasten oder Koffer war leer und von innen mit rotem Samt ausgeschlagen, und als Loken in die Leere starrte, ging ihm auf, wie gedankenlos es gewesen war, ihn zu öffnen. Er fuhr mit dem Finger an den Kanten des Koffers entlang, folgte den Umrissen der geschnitzten Symbole und entdeckte etwas Vertrautes in ihren elegant fließenden Formen.

»Hierher!«, rief ein Krieger von Trupp Locasta, und Loken nahm rasch den Koffer und folgte dem Ruf. Während Tybalt Marr weiterhin den verwesten Kadaver des Verräters auseinandernahm, versammelten sich Astartes-Krieger um etwas, das funkelnd auf dem Deckboden lag.

Loken sah, dass es sich um Eugan Tembas abgetrennten Arm handelte, dessen Finger sich immer noch um das Heft eines eigenartigen, funkelnden Schwerts mit einer Klinge wie aus grauem Feuerstein klammerten.

»Das ist wohl Tembas Arm«, sagte Vipus. Er bückte sich und griff nach dem Schwert.

»Nicht anfassen«, sagte Loken. »Wenn es den Kriegsmeister so schwer verletzt hat, will ich nicht wissen, was es uns antun könnte.«

Vipus zuckte vor dem Schwert zurück wie vor einer Giftschlange.

»Was ist das?«, fragte Torgaddon, indem er auf den Koffer deutete.

Loken ging in die Hocke, legte den Koffer neben das Schwert und war nicht überrascht, als er feststellte, dass das Schwert genau hineinpassen würde. »Ich glaube, es ist der Koffer für dieses Schwert.«

»Sieht ziemlich neu aus«, sagte Vipus. »Und was ist das an der Seite? Schrift?«

Loken antwortete nicht, sondern machte sich daran, Tembas tote Finger von dem Schwertheft zu lösen. Er wusste zwar, dass es absurd war, aber er schnitt bei jedem Finger, den er löste, eine Grimasse, als erwarte er, die Hand könne zum Leben erwachen und ihn angreifen.

Schließlich lag das Schwert frei, und Loken hob es auf.

»Vorsichtig«, sagte Torgaddon.

»Danke für die Warnung, Tarik. Ich wollte gerade ein paar Übungsschwünge damit machen.« »Entschuldige.«

Loken legte das Schwert vorsichtig in den Koffer. Das Heft kribbelte, und er hatte beim Aussprechen von Tariks Namen ein eigenartiges Gefühl gehabt, einen Eindruck von dem ungeheuren Schaden, den diese Waffe anrichten konnte. Er schlug den Deckel zu und ließ den angehaltenen Atem entweichen.

»Wie im Namen Terras ist jemand wie Temba an so eine Waffe gekommen?«, fragte Torgaddon. »Sie sieht nicht einmal aus, als wäre sie menschlichen Ursprungs.«

»Das ist sie auch nicht«, sagte Loken, als er plötzlich wusste, woher er die Symbole auf dem Koffer kannte. »Es ist eine Waffe der Kinebrach.«

»Der Kinebrach?«, fragte Torgaddon. »Aber waren das nicht die ...«

»Ja«, sagte Loken und hob den Koffer vorsichtig auf. »Das ist das Anathame, das aus der Halle der Gerätschaften auf Xenobia gestohlen wurde.«

 

Die Nachricht verbreitete sich mit Gedankenschnelle
durch die Rächender Geist, und weinende Männer und Frauen säumten ihren Weg. Hunderte standen in jedem Gang, als die Astartes den Kriegsmeister auf einer Trage aus rautenförmigen Schilden durch das Schiff trugen. In seine winterweiße Prunkrüstung mit den polierten Goldsäumen und dem starren roten Auge gehüllt, lagen seine Hände um das Heft seines goldenen Schwerts, und um seine edle Stirn lag ein silberner Lorbeerkranz.

Abaddon, Aximand, Luc Sedirae, Serghar Targost, Falkus Kibre und Kalus Ekaddon trugen ihn, und dahinter folgten Hektor Varvarus und Maloghurst. Alle trugen glänzende Rüstung, und ihre Kompanieumhänge wehten ihnen hinterher.

Herolde und Ausrufer verkündeten die Route der Prozession, und die blutige Szene vom Hangardeck wiederholte sich nicht. Es war ein langsamer Marsch der Astartes mit ihrem geliebten Anführer, der seit dem Beginn des Kreuzzugs neben ihnen kämpfte. Sie weinten, und allen war schmerzhaft bewusst, dass dies die letzte Reise des Kriegsmeisters sein mochte.

Anstelle von Blumen streuten die Leute tränengetränkte Papierschnipsel, jeder mit Worten der Hoffnung und Liebe beschrieben. Als sie sahen, dass Horus noch lebte, stellten seine Leute überall entlang der Route Brenner auf und verbrannten darin Kräuter, die angeblich heilende Wirkung hatten. Irgendwo spielte eine Kapelle den Legionsmarsch.

Kerzen verbrannten mit süßlichem Duft, und Männer und Frauen, Soldaten und Zivilisten rauften sich vor Kummer die Haare und zerrissen ihre Kleidung. Armeebanner säumten den Weg, aus Respekt vor dem Kriegsmeister zum Gruß gedippt, und flehentliche Chöre folgten der Prozession, bis sie schließlich das Hangardeck erreichte.

Die riesige Schleuse war mit Pergament verkleidet, jeder Zentimeter mit Botschaften für Horus und seine Söhne bedeckt.

Aximand war unendlich gerührt über diese Demonstration von Sorge und Liebe. Das Ausmaß des Kummers über Horus' Verwundung überstieg alles, was er je erlebt hatte. Für ihn war der Kriegsmeister eine großartige Gestalt, aber zuvorderst ein Krieger — ein Führer von Menschen und einer der Auserwählten des Imperators.

Doch für diese Sterblichen war er so viel mehr. Für sie war der Kriegsmeister ein Symbol für etwas Edles und Heroisches, das alles überstieg, was sie selbst je erreichen konnten, ein Symbol für die neue Galaxis, die sie aus der Asche des Zeitalters des Haders errichteten.

Horus' bloße Existenz versprach ein Ende des Leidens und Sterbens, das die Menschheit seit Jahrhunderten plagte.

Die Alte Nacht näherte sich dem Ende, und dank Helden wie ihm erstrahlte das erste Licht des dämmernden Tages am Horizont.

All das war jetzt bedroht, und Aximand wusste, dass es richtig gewesen war, den anderen zu gestatten, Horus nach Davin zu bringen. Die Schlangenloge würde den Kriegsmeister heilen, und wenn das Kräfte involvierte, die er einst verdammt hätte, dann sollte es eben so sein.

Die Würfel waren gefallen, und er konnte sich nur noch an seinen festen Glauben klammern, dass Horus heil und gesund zu ihnen zurückkehren würde. Er lächelte, als ihm etwas einfiel, das der Kriegsmeister einmal zum Thema Glauben gesagt hatte.

Typischerweise hatte Horus seine weisen Worte zu einem völlig unangemessenen Zeitpunkt ausgesprochen — direkt bevor sie aus dem Bauch eines heulenden Stormbird in die Stadt der Grünhäute auf Ullanor gesprungen waren.

»Wenn man am Ende von allem angelangt ist, was man kennt, und kurz davor steht, in die Finsternis des Unbekannten zu springen, dann heißt Glaube zu wissen, dass eines von zwei Dingen passieren wird«, hatte Horus zu ihm gesagt.

»Und die wären?«, hatte er gefragt.

»Dass es etwas Festes geben wird, auf dem man stehen kann, oder einem das Fliegen beigebracht wird«, hatte er gelacht. Dann war er gesprungen.

Die Erinnerung ließ die Tränen nur umso stärker fließen, während sich die große eiserne Schleuse des Hangardecks krachend hinter ihm schloss und die Astartes zum wartenden Stormbird marschierten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zwölf

Agitprop

Brüder in Argwohn

Schlange und Mond

 

 

DIE SPITZE VON IGNACE KARKASYS STIFT glitt wie eine Schlange über das Blatt, als habe sie einen eigenen Willen. Trotz aller bewussten Überlegung, die er in die Worte einfließen ließ, mochte dies durchaus der Fall sein. Die Muse war wirklich und wahrhaftig bei ihm, und sein Bewusstsein ergoss sich in einen Fluss aus Blut, während er die diabolischen Ereignisse auf dem Hangardeck nacherzählte. Das Versmaß spielte wie eine Sinfonie in seinem Kopf, und jede Strophe jeder Gesangsstimme glitt an ihren Ort, als sei keine andere Versanordnung möglich.

Nicht einmal in seiner Hochzeit bei Ozeangedichte und Reflexionen und Oden hatte er sich so inspiriert gefühlt. Wenn er jetzt auf sie zurückblickte, hasste er sie eigentlich sogar für ihren Firlefanz, ihre unverschämte Nabelschau und ihre Bedeutungslosigkeit. Diese Worte, diese Gedanken, die jetzt aus ihm flossen — sie allein zählten, und er verfluchte, dass er so lange gebraucht hatte, das herauszufinden.

Die Wahrheit zählte. Hauptmann Loken hatte es ihm gesagt, aber er hatte ihm nicht zugehört, nicht richtig. Die Verse, die er schrieb, seit Loken ihn unter seine Fittiche genommen hatte, waren armselig und des Mannes unwürdig, der den Ethiopischen Dichtpreis gewonnen hatte, aber das änderte sich gerade.

Nach dem Blutbad auf dem Hangardeck war er in sein Quartier zurückgekehrt, hatte sich eine Flasche terranischen Wein genommen und war zum Observationsdeck gegangen. Nachdem er gesehen hatte, dass es dort von jammernden Irren wimmelte, war er in die Zuflucht gegangen, denn er wusste, dass sie leer sein würde.

Die Worte waren in einer Flut rechtschaffener Empörung aus ihm geströmt, in kühnen Metaphern und ohne Scheu vor der furchtbaren Brutalität, deren Zeuge er geworden war. Er hatte bereits drei Seiten des Bondsman beschrieben, und seine Finger waren mit Tinte verschmiert, während seine Dichterseele in Flammen stand.

»Alles, was ich bisher gemacht habe, war nur ein Prolog«, flüsterte er.

Karkasy hielt inne und dachte über sein Dilemma nach: Die Wahrheit war witzlos, wenn niemand sie hören konnte. Die für die Memoratoren reservierten Einrichtungen beinhalteten auch eine Druckerpresse, wo sie ihre Werke vervielfältigen lassen konnten. Es war allgemein bekannt, dass ein Großteil von allem, was aus der Presse kam, geprüft und zensiert wurde, sodass nur wenige sie benutzten.

Karkasy konnte es angesichts des Inhalts seiner jüngsten Poesie gewiss nicht.

Langsam breitete sich ein Lächeln auf seinen feisten Zügen aus, und er griff in eine Tasche seines Gewandes und holte ein zerknittertes Blatt Papier heraus — eines von Euphrati Keelers Pamphleten der Lectitio Divinitatus —, das er vor sich auf den Tisch legte und mit dem Handrücken glättete.

Die Druckerschwärze war verschmiert, und das Papier stank nach Ammoniak, eindeutig das Werk einer billigen mechanischen Presse.

Wenn Euphrati eine benutzen konnte, dann konnte er es auch.

 

Loken erlaubte Tybalt Marr, Eugan Tembas Leichnam zu
verbrennen, bevor sie die Brücke verließen.

Der mit verkrustetem Blut und Unrat besudelte andere Hauptmann ließ den Strahl eines Flammenwerfers über den monströsen Leichnam wandern, bis nur noch aschfarbene Knochen übrig waren. Es war nur eine geringe Befriedigung zum Ausgleich für den Tod eines Bruders, nicht annähernd genug, doch es würde reichen müssen. Sie ließen die schwelenden Überreste hinter sich und verließen das Schiff auf demselben Weg, den sie gekommen waren.

Die Nacht brach über Davins Mond herein, als sie draußen ankamen.

Der Planet, eine blassgelbe Scheibe, hing tief am düsteren Himmel. Loken trug das Anathame in seinem glänzenden Holzkoffer, seine Krieger folgten ihm schweigend aus dem Wrack.

Eine große grollende Vibration erfasste den Mond, als sich ein Trio hoch aufragender Säulen aus Licht und Rauch aus der imperialen Landezone, wo das ganze Unglück seinen Anfang genommen hatte, in den Himmel erhob. Loken beobachtete das unglaubliche Spektakel, wie die Kriegsmaschinen der Legio Mortis zu ihren gepanzerten Liegeplätzen im Orbit zurückkehrten, und dankte ihren Besatzungen stumm für ihre Hilfe im Kampf gegen die toten Wesen.

Bald war von den Transportern der Titanen nur noch ein diffuser Schein am Horizont zu sehen, und die Stille wurde einzig vom Schwappen von Wasser und leisen Grollen der Triebwerke des wartenden Thunderhawk gestört. Die trostlosen Sümpfe waren in jeder Richtung kilometerweit wie leergefegt, und als Loken den Geröllhang hinuntermarschierte, kam er sich wie der einsamste Mensch der Galaxis vor.

Einige Kilometer entfernt konnte er Flecken aus blauem Licht sehen, die den Transportern der Titanen folgten: Armee-Transporter, welche die letzten überlebenden Soldaten zurück zu ihren Mutterschiffen brachten.

»Wir sind hier bald fertig, was?«, sagte Torgaddon.

»Das nehme ich an«, gab Loken ihm recht. »Je eher, desto besser.«

»Was glaubst du, wie das Ding hergekommen ist?«

Loken brauchte nicht erst zu fragen, wie sein Bruder die Frage meinte, und er schüttelte den Kopf, da er noch nicht bereit war, seinen Verdacht mit Torgaddon zu besprechen. So sehr er ihn auch liebte — Tarik hatte einen großen Mund, und Loken wollte sein Jagdwild nicht verschrecken.

»Ich weiß es nicht, Tarik«, sagte er auf dem Weg zur ausgefahrenen Sturmrampe des Thunderhawk. »Ich glaube nicht, dass wir es je erfahren werden.«

»Hör auf, Garvi, ich bin's!«, lachte Torgaddon. »Du bist durch und durch korrekt, und das macht dich zu einem ganz schlechten Lügner. Ich weiß, dass du eine Idee hast, was passiert ist. Also los, spuck sie aus.«

»Ich kann nicht, Tarik, tut mir leid«, sagte Loken. »Jedenfalls noch nicht. Vertrau mir. Ich weiß, was ich tue.«

»Wirklich?«

»Ganz sicher bin ich nicht«, räumte er ein. »Ich glaube schon. Thron, ich wünschte, der Kriegsmeister wäre hier, und ich könnte ihn fragen.«

»Ist er aber nicht«, stellte Torgaddon fest, »also musst du mit mir vorliebnehmen.«

Loken betrat die Rampe, dankbar, der sumpfigen Oberfläche des Mondes zu entkommen, und wandte sich Torgaddon zu.

»Du hast recht. Ich sollte es dir sagen, und das werde ich auch. Bald. Ich muss nur zuerst noch ein paar Dinge herausfinden.«

»Hör mal, Garvi, ich bin nicht dämlich«, sagte Torgaddon, indem er sich so nah zu ihm beugte, dass keiner der anderen mithören konnte. »Mir ist klar, dass das Ding nur von einem Mitglied der Expedition hierhergebracht worden sein kann. Es muss schon vor unserem Eintreffen hier gewesen sein. Das bedeutet, es gibt nur eine Person, die mit uns auf Xenobia war und vor uns hier gewesen sein kann. Du weißt, wen ich meine.«

»Ich weiß, wen du meinst«, bestätigte Loken und zog Torgaddon auf die Seite, während die anderen Krieger in das Thunderhawk stiegen.

»Aber ich komme einfach nicht hinter den Grund. Warum die ganze Mühe, das Ding zu stehlen und dann herzubringen?«

»Ich breche diesen Hurensohn in Stücke, wenn er irgendwas damit zu tun hat, was dem Kriegsmeister zugestoßen ist«, fauchte Torgaddon. »Die Legion wird ihm das Fell abziehen.«

»Nein«, zischte Loken, »noch nicht. Zuerst müssen wir herausfinden, was das alles soll und ob sonst noch jemand darin verwickelt ist. Ich kann einfach nicht glauben, dass jemand es wagen würde, gegen Horus vorzugehen.«

»Glaubst du, dass es darum geht? Um einen Coup? Du glaubst, einer der anderen Primarchen will das Amt des Kriegsmeisters usurpieren?«

»Ich weiß es nicht, es klingt zu weit hergeholt. Es klingt wie etwas aus einem von Sindermanns Büchern.«

Beide schwiegen. Die Vorstellung, dass einer aus der ewigen Bruderschaft der Primarchen versuchen mochte, Horus' Amt zu usurpieren, war unglaublich, empörend und undenkbar, oder nicht?

»He«, rief Vipus ihnen aus dem Thunderhawk zu. »Was plant ihr zwei Verschwörer da?«

»Nichts«, sagte Loken schuldbewusst. »Wir unterhalten uns nur.«

»Dann kommt zum Ende. Wir müssen sofort abfliegen!« »Warum, was ist denn?«, fragte Loken, indem er einstieg.

»Der Kriegsmeister«, sagte Vipus. »Sie bringen ihn nach Davin. «

Augenblicke später hob das Thunderhawk in einer Gischt aus sumpfigem Wasser und einem Auflodern blau-glühenden Triebwerksfeuers ab. Das Schiff umkreiste das gewaltige Wrack, während es an Höhe und Geschwindigkeit gewann und die Nase zum Himmel hob.

Dann gab der Pilot Vollschub, und das Schiff raste in die Dunkelheit empor.

 

Die große rote Scheibe der Sonne sank unter den Horizont, und in der Ebene kam heißer, trockener Wind auf, der das Eintauchen in Davins Atmosphäre noch holpriger gestaltete. Die Kontinentalmasse schwoll durch das Glas der Kanzel an, staubbraun und ausgedörrt. Loken saß vorne bei den Piloten und schaute auf die Ortungsanzeige, auf der das rot blinkende Signal, das den Standort des Stormbird des Kriegsmeisters kennzeichnete, immer näher kam.

Tief unter ihnen konnte er die funkelnden Lichter der imperialen Landezone sehen, ein ausgedehnter Kreis aus Bogenlampen, improvisierten Landeplattformen und Befestigungen. Der Pilot brachte sie in steilem Winkel herunter, da Loken mehr Wert auf Schnelligkeit als sicheren Flug legte, und auf ihrem Weg zur Oberfläche überholten sie zahlreiche andere Landungsboote.

»Warum so viele?«, wunderte sich Loken, während sie an dem weiten Lichtbogen vorbeiflogen und er Soldaten und Servitoren sah, die schwer schuften mussten, um so viele Landungsboote abzufertigen.

»Keine Ahnung«, sagte der Pilot, »aber von der Flotte sind Hunderte unterwegs. Sieht so aus, als wollten sich eine Menge Leute Davin ansehen.«

Loken antwortete nicht, aber der Anblick so vieler Landungsboote auf dem Weg nach Davin war ein weiteres Steinchen in einem Mosaik, dessen Gesamtmotiv er nicht begriff. Die Kom-Netze wimmelten von irrem Geplapper, weinenden Stimmen und Behauptungen, das Ende sei nah, während andere dem göttlichen Imperator dafür dankten, dass sich sein auserwählter Stellvertreter bald von seinem Totenbett erheben werde.

Nichts davon ergab einen Sinn. Er hatte versucht, mit dem Mournival Kontakt aufzunehmen, doch niemand antwortete, und eine schreckliche Vorahnung überkam ihn, als er auf der Rächender Geist nicht einmal Maloghurst erreichen konnte.

Ihr Schiff trug sie an der imperialen Stellung vorbei, und Loken sah ein Lichtband, das sich von der Landezone erstreckte. Ein Wald aus winzigen Lichtpunkten durchdrang die Dunkelheit, und er befahl dem Piloten, tiefer zu gehen und die Geschwindigkeit zu verringern.

Eine lange Fahrzeugkolonne: Panzer, Nachschubtransporter, Tieflader und sogar ein paar zivile Fahrzeuge fuhren den staubigen Weg entlang, und jedes Fahrzeug war mit Leuten vollgestopft, die alle zu den Bergen unterwegs waren. Das Thunderhawk raste weiter durch das verblassende Licht des Tages, und Loken verlor die Kolonne, die dasselbe Ziel hatte wie er, rasch aus den Augen.

»Wie lange noch, bis wir die Position des Kriegsmeisters erreichen?«, fragte er.

»Bei dieser Geschwindigkeit sind es noch ungefähr zehn Minuten«, antwortete der Pilot.

Loken versuchte seine Gedanken zu sammeln, aber sie waren inmitten dieses Wahnsinns längst zerfranst. Seit ihrer Flucht vor dem Interex war sein Verstand wie ein Strudel, der jeden Gedanken aufsog und mit Dornen des Argwohns gespickt wieder ausspie. Konnte es sein, dass er immer noch unter den Nachwirkungen dessen litt, was Jubal zugestoßen war? Konnte ihn die unter den Flüsterspitzen angezapfte Macht korrumpiert haben, sodass er Gespenster sah, wo es keine gab?

Er hätte es sogar geglaubt — wären nicht das Anathame und seine Gewissheit gewesen, dass der Erste Ordenspriester Erebus ihn auf dem Flug nach Davin belogen hatte.

Karkasy hatte gesagt, Erebus wolle, dass Horus auf Davins Mond lande, und seine unzweifelhafte Komplizenschaft beim Diebstahl des Anathame konnte nur zu einer Schlussfolgerung führen: Erebus hatte gewollt, dass Horus hier den Tod fand.

Das ergab aber ebenfalls keinen Sinn. Warum sich solchen Mühen unterziehen, nur um den Kriegsmeister zu töten. Dahinter musste noch mehr stecken ...

Die Fakten wurden langsam zahlreicher, aber sie passten nicht zusammen, und er hatte immer noch keine Ahnung, was eigentlich vorging, nur dass etwas vorging, und zwar etwas, das menschlichen Ursprungs war. Was es auch sein mochte, er würde die Verschwörung aufdecken und alle Beteiligten mit dem Leben bezahlen lassen.

»Wir nähern uns dem Stormbird des Kriegsmeisters«, rief der Pilot.

Loken riss sich aus seinen giftigen Grübeleien. Ihm war nicht bewusst gewesen, wie die Zeit vergangen war. Jetzt richtete er seine Aufmerksamkeit auf das, was hinter dem Panzerglas der Kanzel lag.

Hohe Berggipfel umringten sie, zerklüftete Klippen aus rotem Stein, die mit funkelnden Adern aus Gold und Quarz durchwirkt waren. Sie folgten dem Verlauf eines alten Wegs durch das Tal, dessen Steinplatten geborsten und vom Verstreichen der Jahrhunderte rissig waren. Statuen längst toter Könige säumten den Weg, umgestürzte Säulen lagen wie gefallene Wächter darauf und daneben. Schatten loteten die Tiefen des Tals aus, durch das sie flogen, und in einer Lücke vor ihnen konnte er einen reflektierten Schein am messingfarbenen Himmel sehen.

Der Pilot wurde langsamer, und das Schiff flog durch die Lücke in einen kolossalen Krater, der wie ein enormes Becken mit flachem Boden aus der Landschaft gestanzt war. Die steilen Hänge des Kraters, der viele tausend Meter durchmaß, schossen in schwindelerregende Höhen.

Ein gewaltiges Steingebäude erhob sich in seiner Mitte, aus dem Stein der Berge gehauen und in das Licht tausend brennender Fackeln getaucht. Der Thunderhawk umkreiste das Bauwerk, und Loken sah, dass es sich um ein gigantisches Achteck handelte, bei dem jede Ecke wie die Bastion einer Festung geformt war. Acht Türme umgaben eine weite Kuppel in der Mitte, und auf ihren Spitzen brannten Flammen.

Loken konnte den Stormbird des Kriegsmeisters unter ihnen sehen.

Fackelträger umgaben ihn, Hunderte, vielleicht sogar Tausende von Menschen. Ein freier Weg erstreckte sich vom Stormbird zu dem riesigen Torbogen, der in das Bauwerk führte, und Loken sah die unverwechselbare Gestalt des Kriegsmeisters, die von den Sons of Horus dorthin getragen wurde.

»Landen Sie. Sofort!«, rief Loken. Er stand auf, ging zurück in die Passagierkabine und nahm sein Boltgewehr.

»Was liegt an?«, fragte Vipus. »Ärger?«

»Könnte sein«, sagte Loken, wobei er sich allen Kriegern zuwandte.

»Orientiert euch nach dem Aussteigen an mir.«

Seine Männer hatten sich praktisch auf eine Kampflandung vorbereitet, und Loken spürte, wie sich die Bewegung des Thunderhawk veränderte, als es langsamer wurde und zur Landung ansetzte. Das Kabinenlicht wechselte von rot auf grün, und das Schiff setzte hart auf. Die Sturmrampe fiel herunter, und Loken marschierte selbstsicher voran nach draußen und dem Bauwerk entgegen.

Dunkelheit war hereingebrochen, aber die Luft war noch warm, und die sauren Düfte bitterer Blüten erfüllten sie mit einem betörenden, aromatischen Geruch. Er führte seine Männer in raschem Marschtempo weiter. Viele der Fackelträger drehten sich fragend zu ihnen um, und Loken sah, dass es sich bei ihnen um eingeborene Bewohner Davins handelte.

Die Daviniter waren drahtiger als die meisten Sterblichen, hochgewachsen und behaart, mit dünnen Gliedern und komplizierten Haarknoten ähnlich wie Abaddons. Sie trugen lange Umhänge aus schimmernden, gemusterten Schuppen und dazu Rüstungen aus denselben lackierten Schuppen. Die meisten waren mit Dolchen und primitiv aussehenden Schwarzpulverpistolen bewaffnet. Sie wichen den vorrückenden Astartes aus, den Kopf ehrerbietig gesenkt, und die Erkenntnis, wie abartig unmenschlich diese Kreaturen zu sein schienen, traf Loken wie ein Schlag.

Er hatte den Davinitern bei ihrer ersten Landung auf dem Planeten wenig Beachtung geschenkt. Damals hatte er nur einen Trupp kommandiert und war mehr damit beschäftigt gewesen, Befehlen zu gehorchen und die ihm zugewiesenen Aufgaben zu erfüllen, statt auf die Einheimischen zu achten.

Auch diesmal war seine Aufmerksamkeit woanders, und das beinahe bestialische Aussehen der Daviniter war ihm mehr oder weniger entgangen.

Von mehreren hundert Bewohnern des Planeten umgeben, war die Abweichung vom menschlichen Genom nun unverkennbar. Loken fragte sich, wie sie sechs Jahrzehnte zuvor der Auslöschung entgangen waren, zumal der erste Kontakt mit Davin von den Word Bearers hergestellt worden war — einer Legion, die nicht für ihre Toleranz gegenüber Abweichungen von der Norm bekannt war.

Loken erinnerte sich an Abaddons heftigen Streit mit dem Kriegsmeister über die Frage des Interex und wie der Erste Hauptmann verlangt hatte, ihm wegen seiner Toleranz gegenüber einer Xenos-Rasse den Krieg zu erklären. Davin war weit eher ein Musterbeispiel für einen Kriegsfall, aber aus irgendeinem Grund war das nicht geschehen.

Die Daviniter waren eindeutig menschlicher Abstammung, aber dieser Zweig der Menschheit hatte sich beinahe zu einer eigenen Spezies entwickelt. Die großflächige Gestaltung ihrer Züge, die dunklen Augen ohne Pupillen und die extreme, beinahe affenartige Haarmenge auf Gesicht und Armen erinnerte Loken mehr an die herangezüchteten Mutanten, die einige Regimenter der Imperialen Armee einsetzten. Das waren primitive Kreaturen mit genug Intelligenz, ein Schwert zu schwingen oder ein klobiges Gewehr abzufeuern. Viel mehr vermochten sie allerdings nicht.

Loken hieß diese Praktiken nicht gut, und obwohl die Bewohner Davins eindeutig ein größeres Maß Intelligenz besaßen als diese Bestien, trug ihr Aussehen nicht gerade zu seiner Beruhigung bei.

Er schob alle Gedanken an die Daviniter beiseite, als er sich den massiven Stufen näherte, die in den Stein gehauen waren und von Statuen zusammengerollter Schlangen und flammenden Brennern gesäumt wurden. Drei schmale Kanäle mit rauschendem Wasser teilten die Treppe, je einer an den Seiten und in der Mitte.

Der Kriegsmeister und seine Träger waren auf der nächsten Ebene und außer Sicht, und Loken führte seine Krieger rasch die Treppe empor, als er plötzlich ein gewaltiges Knirschen von Stein hörte. Das Bild riesiger, monolithischer Tore erschien ungebeten in seinem Geist. »Wir müssen uns beeilen«, sagte er.

Er näherte sich dem Ende der Treppe. Die flackernden Kohlenbrenner warfen einen rötlichen Schein auf die Statuen, die wegen der Schlangenschuppen und der Augen aus Quarzsplittern funkelten und glitzerten. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne fielen auf die gewundenen Schlangen, die aus den Säulen gemeißelt waren, was sie lebendig aussehen ließ, als schlängelten sie sich langsam die Treppe hinunter. Die Wirkung war beunruhigend, und Loken schaltete sein Helmkom ein und sagte: »Abaddon, Aximand? Kann mich einer von euch hören? Meldet euch.«

In seinem Ohrhörer zischte es statisch, aber er bekam keine Antwort und ging schneller.

Schließlich erreichte er das Ende der Treppe und betrat eine mondbeschienene Promenade mit noch mehr Schlangenstatuen auf Säulen. Sie säumten einen schmaler werdenden Weg, der zu einem riesigen Torbogen in der Wand des gewaltigen Bauwerks führte.

Breite Tore aus gehämmerter Bronze mit einer glänzenden, spiraligen Oberfläche grollten, als sie sich schlossen, und beim Anblick des furchtbaren Portals, dessen gähnende Dunkelheit uralte Macht verhieß, bekam Loken Gänsehaut.

Er sah eine Gruppe Astartes davor stehen, die zusahen, wie sich das monströse Tor schloss. Keine Spur vom Kriegsmeister.

»Laufschritt«, befahl er und ging zum Marschtritt über, den die Astartes anschlugen, wenn es keine Fahrzeugunterstützung gab. Dieses Tempo konnten sie über weite Entfernungen und lange Zeiträume halten, und es gestattete einem Krieger trotzdem noch, am Ziel zu kämpfen. Loken betete, dass es heute nicht dazu kommen würde.

Als er sich den Toren näherte, sah er, dass keineswegs bedeutungslose Spiralen hineingeätzt waren, sondern allerlei Bilder und Szenen.

Schlangen wanden sich von einem Blatt zum anderen, andere bissen sich in den eigenen Schwanz und noch mehr waren wie zur Paarung ineinander verschlungen.

Erst, als sich das Tor mit donnerndem, metallischem Krachen schloss, sah er das ganze Bild. Anders als der Kommandant war Loken kein Sachverständiger in Kunstfragen, dennoch war er mehr als beeindruckt von der Wirkung. Mittelpunkt des Bildes war ein riesiger Baum mit breitgefächertem Astwerk, der mit Früchten aller Art behangen war.

Seine drei Wurzeln reichten über die Tür hinaus in einen großen runden Teich, der die Kanäle fütterte, welche sich über die Länge der Promenade zogen, bevor sie die große Treppe hinunterstürzten.

Um den Baum waren zwei Schlangen gewickelt, deren Köpfe in den Zweigen darüber ineinander verschlungen waren, und Loken erkannte plötzlich die Ähnlichkeit des Symbols zu dem auf dem Schulterschutz der Apothekarii der Legion.

Sieben Krieger standen am Rande des Teichs vor dem gewaltigen Tor. Sie trugen die grüne Rüstung der Sons of Horus, und Loken kannte sie alle: Abaddon, Aximand, Targost, Sedirae, Ekaddon, Kibre und Maloghurst.

Keiner trug einen Helm, und als sie sich umdrehten, konnte er bei allen dieselbe Aura hilfloser Verzweiflung erkennen. Er war mit diesen Kriegern immer und immer wieder in die Hölle marschiert. Seine Brüder mit solchen Mienen zu sehen, erstickte seine Wut. Plötzlich fühlte er sich wie ausgehöhlt und untröstlich.

Er wurde langsamer und blieb schließlich vor Aximand stehen.

»Was habt ihr getan? Brüder, was habt ihr getan?« »Was getan werden musste«, sagte Abaddon, als Aximand nicht antwortete.

Loken ignorierte den Ersten Hauptmann und sagte: »Klein-Horus? Sag mir, was ihr getan habt.«

»Es ist so, wie Ezekyle gesagt hat. Wir haben getan, was getan werden musste«, sagte Aximand. »Der Kriegsmeister lag im Sterben, und Vaddon konnte ihn nicht retten. Also haben wir ihn hierher zum Delphos gebracht.«

»Zum Delphos?«, fragte Loken.

»So heißt das hier«, sagte Aximand. »Der Tempel der Schlangenloge.«

»Tempel?«, fragte Torgaddon. »Horus, du hast den Kriegsmeister in eine Kirche gebracht? Bist du wahnsinnig? Der Kommandant hätte niemals sein Einverständnis dazu gegeben.«

»Vielleicht nicht«, erwiderte Serghar Targost, indem er vortrat, sodass er neben Abaddon stand, »aber am Ende konnte er nicht einmal sprechen. Er hat stundenlang und ohne Pause mit dieser verdammten Memoratorin geredet, bevor er das Bewusstsein verlor. Wir mussten ihn in ein Stasenfeld hüllen, um ihn überhaupt noch am Leben erhalten und hierherbringen zu können.«

»Hat Tarik recht?«, fragte Loken. »Ist das hier eine Kirche?«

»Kirche, Tempel, Delphos, Haus des Heilens, nenn es, wie du willst«, sagte Targost achselzuckend. »Nachdem der Kriegsmeister an der Schwelle des Todes steht, scheint weder die Religion noch ihre Verleugnung irgendwie bedeutsam zu sein. Es ist die einzige Hoffnung, die uns noch bleibt, und was haben wir schon zu verlieren? Wenn wir nichts tun, stirbt er. Wenigstens gibt es so noch Hoffnung.«

»Und mit welchem Preis wird er sein Leben erkaufen?«, wollte Loken wissen. »Indem ihr ihn in ein Haus falscher Götter bringt? Der Imperator lehrt uns, dass die Zivilisation nur zur Perfektion gelangen kann, wenn der letzte Stein der letzten Kirche den letzten Priester erschlägt, und genau dorthin bringt ihr den Kriegsmeister. Das läuft allem zuwider, wofür wir in den letzten zwei Jahrhunderten gekämpft haben. Seht ihr das denn nicht?«

»Wenn der Imperator hier wäre, würde er dasselbe tun«, sagte Targost, und Loken spürte, wie ihm angesichts derartiger Hybris die Galle überlief. Drohend trat er auf Targost zu.

»Glaubst du, den Willen des Imperators zu kennen, Serghar? Gibt dir dein Amt als Logenmeister eines Geheimordens auch die Macht über dieses Wissen?«

»Natürlich nicht«, erwiderte Targost höhnisch, »aber ich weiß, er würde wollen, dass sein Sohn lebt.« »Indem wir sein Leben diesen ... Wilden anvertrauen?«

»Von eben diesen Wilden ist unser eigener stiller Orden entlehnt«, wandte Targost ein.

»Dann ist das noch ein Grund mehr für mich, ihm zu misstrauen«, schnauzte Loken, indem er sich abwandte und Vipus und Torgaddon ansprach. »Kommt. Wir holen den Kriegsmeister da raus.«

»Das könnt ihr nicht«, sagte Maloghurst, der neben Abaddon hinkte, und Loken hatte entschieden den Eindruck, dass seine Brüder eine Barriere zwischen ihm und dem Tor bildeten.

»Was soll das heißen?«

»Es heißt, wenn das Delphos-Tor einmal geschlossen ist, gibt es keine Möglichkeit, es sicher von außen zu öffnen jemand, der Heilung braucht, wird hineingetragen und dem überlassen, was die ewigen Geister der verstorbenen Dinge für ihn bestimmen. Wenn es seine Bestimmung ist zu leben, kann er das Tor selbst öffnen, wenn nicht, öffnet es sich in neun Tagen, und seine Überreste werden verbrannt, bevor sie in den Teich geworfen werden.«

»Also habt ihr den Kriegsmeister da drinnen einfach sich selbst überlassen? Da hättet ihr ihn auch gleich auf der Rächender Geist lassen können, und >ewige Geister der verstorbenen Dinge< — was soll das überhaupt sein? Das ist doch Wahnsinn. Seht ihr das denn nicht?«

»Daneben zu stehen und zuzusehen, wie er stirbt, das wäre Wahnsinn gewesen«, sagte Maloghurst. »Du richtest uns, weil wir aus Liebe gehandelt haben. Siehst du das denn nicht?«

»Nein, Mal«, erwiderte Loken traurig. »Wie seid ihr überhaupt darauf gekommen, ihn herzubringen? Durch irgendein Geheimwissen, in das eure verdammte Loge eingeweiht ist?«

Keiner seiner Brüder antwortete, und als Loken in ihren Gesichtern nach Antworten suchte, wurde ihm die Wahrheit plötzlich und schrecklich klar.

»Erebus hat euch von diesem Ort erzählt, nicht wahr?«

»Ja«, gab Targost zu. »Er kennt diese Logen schon lange und hat die Macht ihrer heilenden Häuser erlebt. Wenn der Kriegsmeister überlebt, wirst du dankbar sein, dass er davon gesprochen hat.«

»Wo ist er?«, wollte Loken.

»Er wird sich dafür vor mir verantworten.«

»Er ist nicht hier, Garvi«, sagte Aximand. »Das hier mussten die Sons of Horus tun.«

»Wo ist er dann, noch auf der Rächender Geist?« Aximand zuckte die Achseln. »Das nehme ich an. Warum ist das wichtig für dich?«

»Ich glaube, ihr seid alle getäuscht worden, meine Brüder«, sagte Loken. »Nur der Imperator hat die Macht, den Kriegsmeister jetzt zu heilen. Alles andere ist Falschheit und gehört ins Reich der unreinen Leichenflüsterer.«

»Der Imperator ist nicht hier«, sagte Targost unverblümt. »Wir nehmen die Hilfe, die wir kriegen können.«

»Was ist mit dir, Tarik?«, warf Abaddon ein. »Wirst du dich ebenso von deinen Mournival-Brüdern abwenden wie Garviel? Steh zu uns.«

»Garvi mag ein überkorrektes Arschloch sein, Ezekyle, aber er hat recht, und in dieser Sache kann ich nicht zu euch stehen. Es tut mir leid«, sagte Torgaddon, und er und Loken wendeten sich vom Tor ab.

»Ihr vergesst euren Mournival-Eid!«, rief Abaddon, als sie gingen.

»Ihr habt geschworen, dem Mournival bis zum Ende eures Lebens treu zu bleiben. Ihr werdet Eidbrecher sein!«

Die Worte trafen Loken mit der Wucht eines Boltgeschosses, und er blieb wie angewurzelt stehen. Eidbrecher ... Die bloße Vorstellung war grässlich.

Aximand folgte ihm, nahm seinen Arm und zeigte auf den Teich.

Wellen kräuselten das schwarze Wasser, Loken sah die gelbe Sichel von Davins Mond auf der Oberfläche wabern.

»Siehst du?«, sagte Aximand. »Der Mond scheint auf das Wasser. Die Sichel des Neumonds ... Sie wurde auf deinen Helm gebrannt, als wir unseren Mournival-Eid geschworen haben. Das ist ein gutes Omen, mein Bruder.«

»Omen?«, fauchte Loken und schüttelte seinen Arm ab. »Seit wann vertrauen wir auf Omen, Horus? Der Mournival-Eid war eine Pantomime, aber das hier ist ein Ritual. Das hier ist Zauberei. Ich habe euch damals gesagt, dass ich mich niemals vor einer Kirche verbeugen oder irgendeinen Geist anerkennen würde. Ich habe euch gesagt, dass ich nur zur empirischen Klarheit der Imperialen Wahrheit stehen würde, und dabei bleibe ich.«

»Bitte, Garvi«, flehte Aximand. »Wir tun das Richtige.«

Loken schüttelte den Kopf. »Ich glaube, wir alle werden den Tag bereuen, an dem ihr den Kriegsmeister hierhergebracht habt.«

TEIL DREI

Das Haus der falschen Götter

 

 

 

Dreizehn

Wer bist du?

Ritual

Alter Freund

 

 

HORUS SCHLUG DIE AUGEN AUF und lächelte, als er blauen Himmel über sich sah. Rosa und orange schimmernde Wolken trieben langsam durch sein Gesichtsfeld, friedlich und entspannend. Er beobachtete sie ein paar Augenblicke und richtete sich dann auf, wobei er nassen Tau unter den Handflächen spürte, als er sich hoch-stemmte. Er sah, dass er nackt war, und während er seine Umgebung begutachtete, hob er die Hand vor das Gesicht und roch den süßen Duft des Grases und die kristallklare Frische der Luft.

Eine Aussicht von unübertroffener Schönheit bot sich ihm, hohe, schneebedeckte Berge, in einen Schal aus Pinien und Fichten gehüllt, herrliche breite Streifen voller smaragdgrüner Wälder, so weit das Auge reichte, dazu ein breiter Fluss mit schäumendem Schmelzwasser.

Hunderte Pflanzenfresser mit zotteligem Fell grasten in der Ebene, und Vögel mit breiten Schwingen kreisten lärmend über ihm. Horus saß auf dem tiefen Hang eines Ausläufers am Fuß des Gebirges, die Sonne wärmte sein Gesicht, und das Gras war wunderbar weich.

»Das war es also«, sagte er ruhig. »Ich bin tot.«

Niemand antwortete, aber damit hatte er auch nicht gerechnet.

Geschah das, wenn jemand starb? Er konnte sich dunkel erinnern, dass ihm jemand vom alten Aberglauben »Himmel« und »Hölle« erzählt hatte, bedeutungslose Worte, die Belohnungen für Gehorsam und Strafen für Schlechtigkeit versprachen.

Er holte tief Luft und roch gute Erde: die Ausdünstung einer ungezähmten, unbeherrschten Welt und der Lebewesen, die sie bevölkerten. Er konnte die Luft schmecken und war verblüfft über ihre Reinheit. Ihre Frische erfüllte seine Lunge wie süßer Wein, aber wie war er hierhergekommen ... und wo war hier?

Er war irgendwo gewesen ... wo eigentlich? Er konnte sich nicht erinnern. Er wusste, dass er Horus hieß, aber darüber hinaus gab es in seinem Kopf nur Bruchstücke und vage Erinnerungen, die sogar schwächer und unstofflicher wurden, je mehr er sie zu greifen versuchte.

Er entschied zu versuchen, mehr über seine Umgebung in Erfahrung zu bringen, erhob sich, zuckte zusammen, als sich seine Schulter spannte, und sah einen Blutfleck durch das weiße Wollgewand sickern, das er trug. War er nicht vor einem Moment noch nackt gewesen?

Horus schüttelte den Kopf und lachte. »Vielleicht gibt es keine Hölle, aber das hier kommt mir wie der Himmel vor.«

Seine Kehle war trocken, und er machte sich auf den Weg zum Fluss, wobei er die Weichheit des Grases durch die Sandalen spürte, die er nun an den Füßen trug. Er war weiter entfernt, als er dachte, und so brauchte Horus länger als erwartet für den Weg, aber das machte ihm nichts aus. Die Schönheit der Landschaft war es wert, genossen zu werden, und wenngleich etwas beharrlich in seinem Hinterkopf nagte, ignorierte er es und ging weiter.

Die Berge schienen bis zu den Sternen zu reichen, ihre Gipfel verloren sich in den Wolken und spien giftige Dämpfe in die Luft, während er sie anstarrte. Horus blinzelte. Das Nachbild von dunklen, in Rauch gehüllten Gipfeln aus Eisen und Beton brannte sich in seine Netzhaut, als sei ein gespleißter Schleier aus harschen Interferenzen über ein Fenster gelegt worden. Er schob es auf die Neuheit seiner Umgebung und ging weiter durch das schwankend hohe Gras, wobei die Knochen und der Abfall ungezählter Jahrhunderte der Industrie unter seinen Füßen knirschten.

Horus spürte Asche in seiner Kehle und brauchte jetzt mehr denn je etwas zu trinken, da der chemische Gestank mit jedem Schritt zunahm. Er schmeckte Benzole, Chloride, Kohlenwasserstoffsäuren und gewaltige Mengen Kohlenmonoxid — tödliche Gifte, wenn auch nicht für ihn — und fragte sich kurz, woher er diese Dinge kannte. Der Fluss lag vor ihm, und er watete hinein und genoss die schneidende Kälte, während er nach unten griff und eine Handvoll Wasser schöpfte.

Das Eiswasser verbrannte seine Haut, geschmolzene Schlacke tropfte in ätzenden Fäden durch seine Finger, und er ließ es zurück in den Fluss platschen und wischte sich die Hände an seinem Gewand ab, das jetzt rußfleckig und zerrissen war. Er blickte auf und sah, dass aus den glitzernden Quarzbergen riesige Türme aus Messing und Eisen geworden waren, die den Himmel mit Toren wie gewaltige Mäuler überzogen, die ganze Armeen verschlucken und ausspeien konnten. Ströme aus Unrat flossen aus den Türmen und vergifteten den Fluss, und die Landschaft ringsumher welkte und starb innerhalb einer Sekunde.

Verwirrt stolperte Horus vom Fluss weg, versuchte, sich an die blühende Wildnis zu klammern, die ihn umgeben hatte, und die Vision dieser trostlosen Landschaft aus dunklen Ruinen und Verzweiflung zurückzudrängen. Er wendete sich von dem dunklen Berg ab: eine Klippe aus dunkelstem Rot und geschwärztem Eisen, dessen Spitze in den höchsten Wolken verborgen war, das Fundament eingefasst von Felsen und Schädeln.

Er fiel auf die Knie, erwartete weiches Gras, landete aber schwer auf einer rissigen, hartgebackenen Kruste aus Asche und Eisen, von der sich Staubwirbel in großen Stürmen erhoben.

»Was passiert hier?« Horus wälzte sich auf den Rücken und schrie die Worte in einen verschmutzten Himmel voller hässlicher Bänder aus ockerfarbenen und violetten Streifen. Er raffte sich auf und rannte — rannte, als hinge sein Leben davon ab. Er rannte durch eine Landschaft, die im Zeitraum eines Herzschlags zwischen schmerzhafter Schönheit und alptraumhafter Hässlichkeit wechselte. Seine Sinne schienen ihn von einer Sekunde auf die andere zu trügen.

Horus rannte in den Wald. Die schwarzen Stämme der Bäume brachen vor seinem wilden Ansturm, und Bilder von peitschenden Ästen, hohen Türmen aus Stahl und Glas, großen Ruinen mächtiger Kathedralen und verrotteter Paläste, die unter der Last der Äonen zerbröckelten, tanzten vor seinen Augen.

Bestialisches Heulen hallte durch die Landschaft, und Horus unterbrach seinen wahnsinnigen Sturmlauf, als das Geräusch den Nebel in seinem Kopf durchdrang und von dem beharrlichen Nagen in seinem Hinterkopf als bedeutsam eingestuft wurde.

Das klagende Geheul hallte über das Land, ein Stimmenchor, der an seine Ohren drang, und Horus erkannte es als Wolfsgeheul. Er lächelte, sank auf die Knie und hielt sich die Schulter, als ihm feurige Schmerzen durch Arm und Brust schossen. Mit den Schmerzen kam Klarheit, und er klammerte sich daran fest und zwang die Erinnerungen durch schiere Willenskraft herbei.

Wieder ertönten heulende Wolfsstimmen, und er schrie in den Himmel.

»Was geschieht mit mir?«

Die Bäume rings um ihn explodierten in Bewegung, und ein hundert Tiere starkes Wolfsrudel sprang aus dem Unterholz und umzingelte ihn mit gefletschten Zähnen und weit aufgerissenen Augen. Schaum sammelte sich um entblößte Fänge, und jeder Wolf trug ein seltsames Brandzeichen auf dem Fell: einen schwarzen, doppelköpfigen Adler.

Horus umklammerte seine Schulter. Der Arm war taub und tot, als gehöre er nicht mehr zu ihm.

»Wer bist du?«, fragte einer der Wölfe.

Horus blinzelte ein paarmal. Das Bild des Wolfes flimmerte wie heiße Luft, er erkannte die Rundungen einer Rüstung und ein einzelnes starrendes Zyklopenauge.

»Ich bin Horus.«

»Wer bist du?«, wiederholte der Wolf.

»Ich bin Horus!«, schrie er. »Was wollt ihr sonst noch von mir?«

»Ich habe nicht viel Zeit, mein Bruder«, sagte der Wolf, während das Rudel ihn zu umkreisen begann. »Du musst dich erinnern, bevor er dich holt. Wer bist du?«

»Ich bin Horus, und wenn ich tot bin, lasst mich in Ruhe!«, brüllte er, sprang auf und lief den Tiefen des Waldes entgegen.

Die Wölfe folgten ihm und setzten sich neben ihn, nahmen sein Tempo an, während er orientierungslos durch das Dämmerlicht stolperte. Wieder und wieder heulten die Wölfe dieselbe Frage, bis Horus jedes Gefühl für Richtung und Zeit verlor.

Er rannte blindlings weiter, bis die Bäume zurückwichen und er über einem breiten Krater mit hohen Klippen herauskam, der in die Landschaft gestanzt und mit dunklem, stillem Wasser gefüllt war.

Der Himmel darüber war schwarz und sternenlos, aber ein Mond aus reinstem Weiß schien wie ein Diamant am Firmament. Er blinzelte und hob eine Hand, um seine Augen gegen die Helligkeit abzuschirmen, während er über das schwarze Wasser des Kraters schaute. Er war sicher, dass irgendein unaussprechliches Grauen in den eisigen Tiefen lauerte.

Horus schaute hinter sich, sah, dass die Wölfe ihm aus dem Wald gefolgt waren, und lief weiter, während ihm ihr Geheul zum Kraterrand folgte.

Tief unter ihm lag das Wasser still und ruhig wie ein schwarzer Spiegel, das Bild des Mondes füllte sein Gesichtsfeld aus.

Die Wölfe heulten wieder, und Horus spürte, wie ihn die gähnenden Tiefen des Wassers mit unausweichlicher Verlockung riefen. Er sah den Mond und hörte, wie die Wölfe noch eine letzte Frage heulten, bevor er ins Leere sprang.

Er fiel, und sein Blickfeld überschlug sich ebenso wie sein Gedächtnis.

Der Mond, die Wölfe, Lupercal.

Luna ... Wölfe ...

Alles fiel an seinen Platz, und er schrie auf: »Ich bin Horus von den Luna Wolves, Kriegsmeister und Regent des Imperators, und ich bin am Leben!«

Horus traf auf das Wasser, und es explodierte wie Scherben aus schwarzem Glas.

 

Flackerndes Licht erfüllte die Kammer mit einem goldenen Schein.

Die rissigen Steinwände waren mit Spinnweben aus Reif bedeckt, und der Atem der Kultisten bildete weiße Nebelwolken in der Luft.

Akshub hatte mit Kreide einen Kreis mit acht spitzen Zacken auf die Steinplatten des Bodens gemalt. Der verstümmelte Leichnam einer Akoluthin der davinitischen Priesterin lag mit gespreizten Gliedern in der Mitte.

Erebus beobachtete eingehend, wie sich die Logen-Leibeigenen der Priesterin um den Kreis verteilten und dafür sorgten, dass jedes Stadium des Rituals mit akribischer Sorgfalt ausgeführt wurde. Jetzt noch zu scheitern, nachdem er so viel investiert hatte, um den Kriegsmeister an diesen Punkt zu bringen, wäre eine Katastrophe, obwohl Erebus wusste, dass seine Rolle beim Sturz des Kriegsmeisters nur eins von einer Million Ereignisse war, die vor Jahrtausenden in Bewegung gesetzt worden waren.

Dieser Dreh- und Angelpunkt in der Zeit war die Kulmination von Milliarden scheinbar unzusammenhängender Ereignisketten, die zu dieser abgelegenen Welt führten, von der noch niemand je gehört hatte.

Erebus wusste, dass sich dies sehr bald ändern würde. In Zukunft würde Davin ein Ort der Legende sein.

Die Geheimkammer im Herzen des Delphos war vor neugierigen Augen geschützt, und zwar durch starke Magie und hoch entwickelte Technologie. Er hatte sie von unzufriedenen Adepten des Mechanicums bekommen, die das Wissen begrüßten, dass die Word Bearers ihnen geben konnten — Wissen, das ihnen der Imperator verboten hatte.

Akshub kniete nieder, schnitt der toten Akoluthin die Brust auf und entnahm dem Brustkorb mit kundigen Handgriffen das noch warme Herz.

Sie nahm einen Bissen, bevor sie es Tsepha gab, ihrer überlebenden Akoluthin.

Sie reichten das Herz innerhalb des Zirkels herum, und jeder der Kultisten biss von dem saftigen roten Fleisch ab. Erebus nahm die grausigen Überreste des Herzens, als es ihm gereicht wurde. Er schlang es hinunter und spürte, wie ihm das Blut über das Kinn lief, während er die letzten Erinnerungen der verratenen Akoluthin schmeckte, bevor die heimtückische Klinge ihr Leben beendet hatte. Dieser Verrat war ein Opfer für den Architekten des Schicksals, das blutige Mahl eines für den Blutgott. Die lieblose Paarung der unglücklichen Akoluthin mit einem erkrankten Schwein hatte die Macht des Dunklen Prinzen und des Herrn des Verfalls beschworen.

Blut sammelte sich unter dem Leichnam und rann in die Furchen im Boden, bevor es in einem Abfluss in der Mitte des Zirkels verschwand.

Erebus wusste, dass es immer Blut gab — es war voller Leben, in ihm wogte die Kraft der Götter. Wie sollte man diese Kraft besser anzapfen als eben durch diese Substanz, die ihren Segen trug?

»Ist es vollendet?«, fragte er.

Akshub nickte und hob das lange Messer auf, mit dem sie dem Leichnam das Herz herausgeschnitten hatte. »Ja. Die Kraft Derjenigen Die Jenseits Wohnen ist bei uns, obwohl wir uns beeilen müssen.«

»Warum müssen wir uns beeilen, Akshub?«, fragte er, indem er seine Hand auf sein Schwert legte. »Es muss richtig gemacht werden, sonst ist unser aller Leben verwirkt.«

»Das weiß ich«, sagte die Priesterin. »Es ist noch eine andere Präsenz in der Nähe, ein einäugiger Geist, der zwischen den Welten wandert und danach trachtet, den Sohn seinem Vater zurückzugeben.«

»Magnus, du alte Schlange«, gluckste Erebus, indem er nach oben zum Dach der Kammer schaute. »Du wirst uns nicht aufhalten. Du bist zu weit weg, und Horus ist schon zu tief gefallen. Dafür habe ich gesorgt.«

»Mit wem sprichst du?«, fragte Akshub.

»Mit dem einäugigen Geist. Du sagtest, es sei eine andere Präsenz in der Nähe.«

»In der Nähe, ja«, sagte Akshub, »aber nicht hier.« Der kryptischen Antworten der alten Priesterin überdrüssig, schnauzte Erebus: »Wo ist er dann?«

Akshub tippte sich mit der Flachseite ihrer Klinge an den Kopf. »Er spricht zum Sohn, obwohl er ihn noch nicht richtig erreichen kann. Ich spüre, wie der Geist um den Tempel streicht und versucht, die Magie zu durchbrechen, die seine volle Kraft draußen hält.«

»Was?«, rief Erebus.

»Es wird ihm nicht gelingen«, sagte Akshub, die mit ausgestrecktem Messer auf ihn zuging. »Wir wandeln seit vielen tausend Jahren in den jenseitigen Gefilden, und sein Wissen ist bescheiden neben unserem.«

»Um deinetwillen sollte es besser so sein, Akshub.«

Sie lächelte und zeigte mit dem Messer auf ihn. »Deine Drohungen bedeuten hier nichts, Krieger. Ich könnte mit einem Wort das Blut in deinen Adern zum Kochen bringen, mit einem Gedanken deinen Leib von innen nach außen kehren. Du brauchst mich, damit ich deine Seele in die jenseitige Welt schicke, aber wie willst du zurückkehren, wenn ich tot bin? Deine Seele würde für immer in der Leere treiben, und du bist nicht so von Wut erfüllt, dass du keine Furcht vor einem solchen Schicksal hättest.«

Erebus gefiel die jähe Autorität in ihrer Stimme nicht, aber er wusste, dass sie recht hatte, und beschloss, sie zu töten, sobald sie ihren Zweck erfüllt hatte.

Er schluckte seinen Ärger herunter. »Dann lass uns anfangen.«

»Nun gut«, nickte die Priesterin, während Tsepha vortrat und Erebus' Gesicht mit Antimonkristallen salbte.

»Ist das für den Schleier?«

»Ja«, sagte Akshub. »Es wird seine Sinne verwirren, und er wird dich nicht erkennen. Er wird ein Gesicht sehen, das er kennt und liebt.«

Erebus lächelte über die köstliche Ironie und schloss die Augen, da Tsepha seine Augenlider und Wangen mit dem brennenden silbrig-weißen Pulver bestäubte.

»Für den Zauber, der deinen Übergang in die Leere ermöglicht, ist noch eine letzte Sache erforderlich«, sagte Akshub.

»Was für eine letzte Sache?«, fragte er, plötzlich argwöhnisch.

»Dein Tod«, sagte Akshub und zog ihm das Messer über die Kehle.

 

Horus schlug die Augen auf und lächelte, als er blauen Himmel über sich sah. Rosa und orange schimmernde Wolken trieben langsam durch sein Gesichtsfeld, friedlich und entspannend. Er beobachtete sie ein paar Augenblicke und richtete sich dann auf, wobei er nassen Tau unter den Handflächen spürte, als er sich hochstemmte. Er sah, dass er seine reifweiße Rüstung trug, und während er seine Umgebung begutachtete, hob er die Hand vor das Gesicht und roch den süßen Duft des Grases und die kristallklare Frische der Luft.

Eine Aussicht von unübertroffener Schönheit bot sich ihm, hohe, schneebedeckte Berge, in einen Schal aus Pinien und Fichten gehüllt, herrliche breite Streifen voller smaragdgrüner Wälder, so weit das Auge reichte, dazu ein breiter Fluss mit schäumendem Schmelzwasser.

Hunderte Pflanzenfresser mit zotteligem Fell grasten in der Ebene, und Vögel mit breiten Schwingen kreisten lärmend über ihm. Horus saß auf dem tiefen Hang eines Ausläufers am Fuß des Gebirges, die Sonne wärmte sein Gesicht, und das Gras war wunderbar weich.

»Zur Hölle damit«, sagte er, während er sich erhob. »Ich weiß, dass ich nicht tot bin, also was geht hier vor?«

Wiederum antwortete ihm niemand, obwohl er diesmal tatsächlich mit einer Antwort gerechnet hatte. Die Welt roch immer noch frisch und lieblich, aber mit der Erinnerung an seine Identität kam auch das Wissen um ihre Falschheit. Nichts davon war echt, weder die Berge noch der Fluss oder die Wälder, obwohl alles etwas Vertrautes an sich hatte.

Er erinnerte sich an den dunklen, eisernen Hintergrund, der dieser Illusion zugrunde lag, und stellte fest, dass er Andeutungen dieser alptraumhaften Vision hinter der Schönheit der vor ihm liegenden Welt wahrnehmen konnte, wenn er wirklich wollte.

Horus konnte sich erinnern, gedacht zu haben — vor einer Ewigkeit, so kam es ihm vorbei —, dass dieser Ort vielleicht eine Art Unterwelt zwischen Himmel und Hölle war, doch nun lachte er über diese Vorstellung. Er hatte schon vor langer Zeit akzeptiert, dass das Universum nur Materie und alles Nichtmaterielle nichts war.

Das Universum war alles, und daher konnte darüber hinaus nichts existieren.

Horus hatte Verstand genug, um zu begreifen, warum die alten Theologen behauptet hatten, der Warp sei tatsächlich die Hölle. Er verstand die Begründung, aber er wusste, dass das Immaterium keine metaphysikalische Dimension war, sondern lediglich ein Echo der materiellen Welt, wo zufällige Strudel aus Energie und seltsame Ausgeburten böswilliger Xenos-Kreaturen beheimatet waren.

So erfreulich dieses Axiom auch war, es beantwortete nicht die Frage, wo er sich befand.

Wie war er hierhergekommen? Er konnte sich erinnern, zuletzt mit Petronella Vivar im Apothekarium gesprochen und ihr von seinem Leben erzählt zu haben, von seinen Hoffnungen, seinen Enttäuschungen und seinen Ängsten um die Galaxis — in dem Bewusstsein, dass er ihr diese aufwieglerischen Dinge zum Abschied erzählte.

Das konnte er nicht ändern, aber er würde verdammt noch mal dem auf dem Grund gehen, was jetzt mit ihm geschah. War es ein Fiebertraum, hervorgerufen durch das, was ihn verwundet hatte? War Tembas Schwert vergiftet gewesen?

Er verwarf diesen Gedanken sofort wieder. Kein Gift konnte ihn ausschalten.

Er betrachtete seine Umgebung und sah keine Spur von den Wölfen, die ihn durch die dunklen Wälder gejagt hatten, aber plötzlich erinnerte er sich an ein vertrautes Gesicht, dessen geisterhaftes Bild er hinter dem Rudelführer gesehen hatte. Einen kurzen Moment hatte es wie Magnus ausgesehen, aber der war doch gewiss auf Prospero und leckte sich nach dem Konzil von Nikaea die Wunden?

Auf Davins Mond war Horus irgendetwas zugestoßen, aber er hatte keine Ahnung, was. Seine Schulter schmerzte.

Er ließ sie in seiner Rüstung kreisen, um den Muskel zu lockern, aber die Bewegung reizte sie nur noch mehr. Horus machte sich auf den Weg zum Fluss, immer noch durstig, obwohl er wusste, dass er durch ein illusionäres Gefilde marschierte.

Auf der Kuppe der Erhebung, die sanft zum Fluss abfiel, blieb er wie angewurzelt stehen, als er etwas Verblüffendes sah: einen gerüsteten Astartes, der bäuchlings im Wasser trieb. Im seichten Wasser am Ufer eingeklemmt, hob und senkte er sich mit der Dünung des Wassers, und Horus eilte zu ihm.

Er watete ins Wasser, packte die Gestalt bei den Schulterschützern und drehte sie mit lautem Platschen um. Horus ächzte. Der Krieger lebte noch, und er kannte ihn.

Loken hatte ihn als wunderschönen Mann beschrieben, der von allen bewundert worden war, die ihn kannten. Der nobelste Held des Großen Kreuzzugs, jedenfalls hatte man ihn so genannt.

Hastur Sejanus.

 

Loken entfernte sich von dem Tempel, zornig über das, was seine Brüder getan hatten, und wütend auf sich selbst. Er hätte wissen müssen, dass Erebus Pläne hatte, die über die Ermordung des Kriegsmeisters hinausgingen.

In seinen Adern tobte das Bedürfnis nach Rache, doch Erebus war nicht hier, und niemand konnte Loken sagen, wo er steckte.

Torgaddon und Vipus marschierten neben ihm, und trotz seiner Wut spürte Loken das Erstaunen seiner Freunde über die Vorgänge am großen Tor des Delphos.

»Thron, was geschieht hier?«, fragte Vipus, als sie an der großen Treppe angekommen waren. »Garvi, was? Sind der Erste Hauptmann und Klein-Horus jetzt unsere Feinde?«

Loken schüttelte den Kopf. »Nein, Nero, sie sind unsere Brüder, sie werden lediglich benutzt. Ich glaube, das werden wir alle.«

»Von Erebus?«, fragte Torgaddon.

»Erebus?«, sagte Vipus. »Was hat er damit zu tun?«

»Garviel glaubt, dass Erebus hinter allem steckt, was dem Kriegsmeister widerfahren ist«, sagte Torgaddon.

Loken warf ihm einen wütenden Blick zu.

»Du machst Witze.«

»Diesmal nicht, Nero«, sagte Torgaddon.

»Tarik«, schnauzte Loken. »Rede leise, sonst hören es alle.«

»Und wenn, Garvi?«, zischte Torgaddon. »Wenn Erebus hinter all dem hier steckt, dann müssen es alle erfahren. Wir sollten ihn bloßstellen.«

»Und das werden wir«, versprach Loken, während er Lichtpunkte von Fahrzeugscheinwerfern in der Einmündung des Tals auftauchen sah, durch das sie gerade erst geflogen waren.

»Was sollen wir also tun?«, fragte Vipus.

Das war die Frage, ging Loken auf. Sie brauchten mehr Informationen, bevor sie handeln konnten, und sie brauchten sie rasch.

Loken wollte Antworten, aber zuerst musste er die Fragen kennen, die es zu stellen galt, und es gab einen Mann, der immer in der Lage gewesen war, durch seine Verwirrung zu dringen und ihn in die richtige Richtung zu lenken.

Loken ging die Stufen hinunter und zurück zum Thunderhawk.

Torgaddon, Vipus und die Krieger Locastas folgten ihm. Unten angekommen, wandte er sich an sie: »Ich will, dass ihr zwei hierbleibt. Behaltet den Tempel im Auge und sorgt dafür, dass nichts Schlimmes passiert.«

»Definiere >Schlimmes«, sagte Vipus.

»Ich weiß nicht genau«, sagte Loken. »Eben ... Schlimmes, weißt du? Und melde dich, wenn du auch nur eine Andeutung von Erebus siehst.«

»Wohin gehst du?«, fragte Torgaddon.

»Zurück zur Rächender Geist.«

»Wozu?«

»Um ein paar Antworten zu bekommen«, sagte Loken.

»Hastur!«, rief Horus, als er seinen gefallenen Freund aus dem Wasser zog.

Sejanus lag schlaff in seinen Armen, obwohl der Puls an seinem Hals und die Farbe der Wangen verrieten, dass er noch lebte. Horus fragte sich, ob Sejanus' Anwesenheit auch nur eine Illusion dieses seltsamen Gefildes war oder sein alter Freund tatsächlich sogar eine Bedrohung für ihn sein mochte.

Sejanus' Brust hob und senkte sich krampfhaft, als er Wasser hochwürgte, und Horus wälzte ihn auf die Seite. Die genverstärkte Physis eines Astartes machte ein Ertrinken praktisch unmöglich.

»Hastur, bist du es wirklich?«, fragte er, obwohl ihm klar war, dass solch eine Frage an diesem Ort wahrscheinlich bedeutungslos war, doch überwältigt von der Freude, seinen geliebten Sejanus wiederzusehen. Er erinnerte sich an den Schmerz, den er empfunden hatte, als sein Lieblingssohn auf dem Onyxboden des Palasts des falschen Imperators auf Dreiundsechzig-Neunzehn niedergemetzelt worden war, und an die chtonische Kampfeslust, die Blutrache eingefordert hatte.

Sejanus würgte noch einen letzten Wasserschwall aus und stützte sich dann auf die Ellbogen, um in gierigen Zügen nach Luft zu schnappen.

Mit der Hand griff er sich an die Kehle, als suche er etwas, und er schien erleichtert zu sein, es nicht vorzufinden.

»Mein Sohn«, sagte Horus, als sich Sejanus ihm zuwendete. Er war genauso, wie er ihn in Erinnerung hatte, perfekt in jedem Detail: das noble Gesicht mit den weit auseinanderstehenden Augen und der entschlossenen, geraden Nase, das ein Spiegelbild des Kriegsmeisters hätte sein können.

Jeder Gedanke, Sejanus könne eine Bedrohung für ihn sein, wurde weggewischt, als er den silbrigen Glanz in seinen Augen sah und wusste, dass es tatsächlich Hastur Sejanus war. Wie das möglich war, überstieg sein Begriffsvermögen, aber er stellte das Wunder nicht infrage, aus Furcht, er könne ihm wieder genommen werden.

»Kommandant«, sagte Sejanus, indem er sich erhob, um Horus zu umarmen.

»Verdammt, aber es tut gut, dich zu sehen, mein Junge«, sagte Horus. »Ein Teil von mir ist gestorben, als ich dich verloren hatte.«

»Ich weiß, Milord«, erwiderte Sejanus, als sie sich aus der innigen Umarmung gelöst hatten. »Ich habe Ihren Kummer gespürt.«

»Du bist eine Augenweide, mein Junge«, sagte Horus, indem er einen Schritt zurückwich, um seinen perfektesten Krieger zu bewundern.

»Es erfreut mein Herz, dich zu sehen, aber wie kann das sein? Ich habe dich sterben gesehen.«

»Ja«, nickte Sejanus. »Das haben Sie, aber in Wahrheit war mein Tod ein Segen.«

»Ein Segen? Inwiefern?«

»Er hat mir die Augen für die Wahrheit des Universums geöffnet und mich von den Fesseln lebendigen Wissens befreit. Der Tod ist nicht länger unerforschtes Land, Milord, sondern eines, aus dem dieser Wanderer zurückgekehrt ist.«

»Wie ist das möglich?«

»Sie haben mich zurückgeschickt«, sagte Sejanus. »Meine Seele hatte sich in der Leere verirrt, allein und dem Tode nah, aber ich bin zurückgekehrt, um Ihnen zu helfen.«

Widerstreitende Gefühle überkamen Horus. Sejanus über Seelen und Leeren reden zu hören, ließ eine innere Warnglocke anschlagen, aber ihn wieder lebendig vor sich zu sehen, auch wenn es nicht echt war, erfüllte ihn mit Freude. »Du sagst, du bist hier, um mir zu helfen? Dann hilf mir, das hier zu verstehen. Wo sind wir?«

»Wir haben nicht viel Zeit«, sagte Sejanus, indem er die Böschung zu der Kuppe mit Blick auf die Prärie und die Wälder erklomm und sich gründlich umsah. »Er wird bald hier sein.«

»Das höre ich hier nicht zum ersten Mal«, sagte Horus.

»Von wem haben Sie es noch gehört?«, wollte Sejanus wissen, indem er sich mit ernster Miene zu ihm umdrehte. Die Vehemenz der Frage überraschte Horus.

»Von einem Wolf. Ich weiß, ich weiß, es klingt lächerlich, aber ich schwöre, dass er wirklich zu mir gesprochen hat.«

»Ich glaube Ihnen, Milord«, sagte Sejanus.

»Deswegen müssen wir weiter.«

Horus spürte ein Ausweichen, etwas, das er zuvor an Sejanus nicht gekannt hatte, und sagte: »Du weichst meiner Frage aus, Hastur. Jetzt sag mir, wo wir sind.«

»Wir haben keine Zeit, Milord.«

»Sejanus«, sagte er, jetzt ganz Kriegsmeister.

»Sag mir, was ich wissen will.«

»Nun gut, aber rasch, denn Sie liegen innerhalb der Mauern des Delphos auf Davin im Sterben.«

»Des Delphos? Davon habe ich noch nie gehört, und das hier sieht nicht aus wie Davin.«

»Das Delphos ist ein heiliger Ort der Schlangenloge. Ein Ort der Heilung. In den alten Sprachen der Erde bedeutet der Name >der Schoß der Welt<. Dort wird man geheilt und erneuert. Ihr Körper liegt in der Kammer Axis Mundi, aber Ihre Seele ist nicht mehr an den Körper gebunden.«

»Also sind wir nicht wirklich hier?«, fragte Horus. »Diese Welt ist nicht echt?«

»Nein.«

»Dann ist dies der Warp«, sagte Horus, der endlich akzeptierte, was er schon länger argwöhnte.

»Ja. Nichts hier ist echt«, sagte Sejanus mit einer Geste, die die ganze Szenerie einschloss. »All das sind nur Fragmente Ihres Willens und Ihrer Erinnerung, die den formlosen Energien des Warp Gestalt verliehen haben.«

Horus wusste plötzlich, woher er diese Landschaft kannte, als er sich an die wunderbare geophysikalische Reliefkarte von Terra erinnerte, die sie vor beinahe einer Dekade zehn Kilometer unter einer toten Welt gefunden hatten. Es war nicht das Terra ihrer Zeit gewesen, sondern ein lange vergangenes mit grünen Feldern, klaren Ozeanen und sauberer Luft.

Er schaute zum Himmel empor und rechnete halb damit, kuriose Gesichter zu sehen, die auf ihn herabschauten wie Stundenten bei der Beobachtung einer Ameisenkolonie, doch der Himmel blieb leer, obwohl er sich unnatürlich schnell verdunkelte. Die Welt veränderte sich vor seinen Augen, wurde von der Erde, die es früher einmal gegeben hatte, zur trostlosen Einöde des heutigen Terras.

Sejanus folgte seinem Blick. »Es beginnt.«

»Was denn?«

»Ihr Geist und Ihr Körper sterben, und diese Welt versinkt im Chaos. Deswegen haben sie mich zurückgeschickt — um Sie zu der Wahrheit zu geleiten, die es Ihnen ermöglichen wird, wieder in Ihren Körper zurückzukehren.«

Sejanus hatte noch nicht ausgeredet, als der Himmel zu wabern begann und er Andeutungen des wogenden Meeres des Immateriums durch die Wolken brodeln sah.

»Du sagst immer >sie<«, sagte Horus. »Wer sind >sie<, und warum sind sie an mir interessiert?«

»Große Intelligenzen wohnen im Warp«, erklärte Sejanus mit einem wachsamen Blick zum Himmel. »Sie kommunizieren nicht wie wir und konnten Sie nur auf diese Art erreichen.«

»Was ich höre, gefällt mir nicht, Hastur«, warnte Horus.

»Hier gibt es keinen bösen Willen. Macht und Potenzial, ja, aber keinen bösen Willen, sondern nur das Verlangen nach Existenz. Ereignisse in unserer Galaxis zerstören dieses Gefilde, und diese Mächte haben Sie auserwählt, ihr Unterhändler bei ihren Geschäften mit der materiellen Welt zu sein.«

»Und wenn ich dieser Unterhändler nicht sein will?« »Werden Sie sterben«, sagte Sejanus. »Nur sie haben die Macht, Ihr Leben jetzt noch zu retten.«

»Wenn sie so mächtig sind, wofür brauchen sie mich dann?«

»Sie sind mächtig, aber sie können im materiellen Universum nicht existieren und müssen durch Unterhändler wirken«, erwiderte Sejanus.

»Sie sind ein Mann voller Stärke und Ambition, und sie wissen, dass kein anderes Lebewesen in der Galaxis mächtig und würdig genug ist zu tun, was getan werden muss.«

Trotz seiner Befriedigung über diese Beschreibung seiner selbst gefiel Horus nicht, was er hörte. Er spürte keine Täuschung in Sejanus, obwohl ihn eine warnende Stimme in seinem Kopf daran erinnerte, dass der vor ihm stehende silberäugige Krieger eigentlich nicht Sejanus sein konnte.

»Sie haben kein Interesse am materiellen Universum, es ist ihnen ein Gräuel. Sie wollen lediglich ihr eigenes Gefilde vor der Zerstörung bewahren«, fuhr Sejanus fort, während der chemische Gestank hinter der Illusion zurückkehrte und ein übelriechender Wind aufkam. »Als Gegenleistung für Ihre Hilfe können sie Ihnen etwas von ihren Kräften und auch die Mittel geben, Ihre Ambitionen zu erfüllen.«

Horus sah die lauernde Welt aus Eisen stofflicher werden, während sich der Warp und der Einschuss der Realität unter seinen Füßen wölbten. Risse aus dunklem Licht schimmerten durch die berstende Erde, und Horus konnte Wolfsgeheul hören, das näher kam.

»Wir müssen uns beeilen!«, rief Sejanus, als das Wolfsrudel aus einem sich auflösenden Wäldchen gesprungen kam.

Für Horus klang es, als heulten sie verzweifelt seinen Namen.

Sejanus lief zum Fluss zurück, und eine schimmernde rechteckige Fläche aus Licht erhob sich aus den brodelnden Fluten. Horus hörte Geflüster und seltsames Gemurmel daraus hervordringen. Eine dunkle Vorahnung ergriff ihn, während sein Blick zwischen dem seltsamen Licht und den Wölfen hin und her wanderte.

»Ich bin nicht sicher«, sagte Horus, während der Himmel seine Schleusen öffnete und dicke Tropfen sauren Regens fielen.

»Kommen Sie, das Tor ist unser einziger Weg nach draußen!«, rief Sejanus, der dem Licht entgegeneilte. »Wie ein großer Mann einmal gesagt hat: >Überragendes Genie verschmäht die ausgetretenen Pfade; es sucht sich bis dato unerforschte Regionen.<«

»Du zitierst mich?«, sagte Horus, während der Wind immer stärker wurde.

»Warum nicht? Ihre Worte werden in den nächsten Jahrhunderten noch oft genug zitiert.«

Horus lächelte, da ihm die Vorstellung gefiel, zitierfähig zu sein, und folgte Sejanus.

»Wohin führt dieses Tor?«, überschrie er Sturm und Wolfsgeheul.

»Zur Wahrheit«, erwiderte Sejanus.

 

Der Krater füllte sich langsam, während die Sonne un-
terging. Hunderte Fahrzeuge aller Art hatten den Weg von
der imperialen Landezone zu diesem Pilgerort schließlich beendet. Die Daviniter beobachteten die Ankunft der Kolonnen mit einer Mischung aus Überraschung, Verwirrung und Ungläubigkeit, als sie sahen, dass die Fahrzeuge zurückgelassen wurden und ihre Passagiere sich zu Fuß auf den Weg zum Delphos machten.

Binnen einer Stunde hatten sich viele tausend Leute versammelt, und mit jeder Minute trafen mehr ein. Die meisten Neuankömmlinge wogten in ziellosen Massen umher, bis sich die Daviniter unter sie mischten und ihnen halfen, Stellen zu finden, wo Habseligkeiten abgestellt und Schutzdächer errichtet werden konnten.

Scheinwerferlichter erleuchteten den gesamten vergessenen Damm und das Tal zur Prärie unter ihnen. Als die Nacht über Davin hereinbrach, erklangen Loblieder auf den Kriegsmeister, und der Schein vieler tausend Kerzen verstärkte das Licht der Fackeln rings um das goldwandige Delphos.