»Sie übertreiben.«
»Tue ich das?« Sindermann beugte sich vor. »Stellen Sie sich eine soeben eingegliederte Welt vor, die eine Knappheit bei einem lebenswichtigen Rohstoff erlebt, wie zum Beispiel Brennstoff, Wasser oder Nahrung. Wie lange würde es dauern, bis das zivilisierte Verhalten verschwände und das barbarische an seine Stelle träte? Würde der menschliche Egoismus dazu führen, dass einige um jeden Preis versuchen würden, an diesen Rohstoff zu kommen, auch wenn sie anderen Schaden zufügen und sich mit dem Bösen einlassen müssten? Würden sie anderen diesen Rohstoff rauben oder sie sogar töten, um ihn für sich zu behalten? Anstand und zivilisiertes Verhalten sind nur ein dünner Firnis über dem Tier im Kern der Menschheit, das ausbricht, wann immer es Gelegenheit erhält.«
»Das klingt so, als gäbe es keine Hoffnung für uns.«
»Weit gefehlt, Garviel«, sagte Sindermann kopfschüttelnd. »Die Menschheit ist beständig verblüfft über ihre eigene Schöpfung, aber dank der großen Werke des Imperators glaube ich fest daran, dass einmal die Zeit kommen wird, in der wir uns zur Meisterschaft über allem vor uns aufschwingen. Die seit dem Anbeginn der Zivilisation verstrichene Zeit ist nur ein Bruchteil der Dauer unserer Existenz und nur ein Bruchteil der noch bevorstehenden Äonen. Die Herrschaft des Imperators, Brüderlichkeit in der Gesellschaft, Gleichheit in den Rechten und Privilegien und allgemeine Schulbildung lassen die höhere gesellschaftliche Ebene erahnen, zu der unsere Erfahrung und Intelligenz und unser Wissen stetig tendieren. Es wird ein Wiederaufleben in einer höheren Form der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der alten Stämme der Menschheit vor dem Aufstieg von Kriegsfürsten wie Kalagann und Narthan Dume geben.«
Loken lächelte. »Und ich habe gedacht, Sie seien verzweifelt.«
Sindermann erwiderte Lokens Lächeln und sagte: »Nein, Garviel, keineswegs. Ich muss zugeben, nach den Flüsterspitzen war ich ziemlich erschüttert, aber je mehr ich lese, desto mehr sehe ich, wie weit wir gekommen sind und wie nah wir davor stehen, alles zu erreichen, was wir uns je erträumt haben. Jeden Tag bin ich dankbar, dass wir das Licht des Imperators haben, um uns in diese goldene Zukunft zu führen. Ich mag mir nicht vorstellen, was aus uns werden könnte, sollte er uns genommen werden.«
»Keine Sorge«, sagte Loken. »Dazu wird es niemals kommen.«
Aximand schaute durch ein Loch im Stoff und sagte: »Erebus ist da.«
Horus nickte und wandte sich an die vier Mitglieder des Mournival. »Ihr wisst alle, was zu tun ist?«
»Nein«, sagte Torgaddon. »Wir haben alles vergessen. Erinnern Sie uns noch mal.«
Horus' Blick verfinsterte sich angesichts Tariks Leichtfertigkeit, und er sagte: »Schluss damit, Tarik. Es gibt eine Zeit für Späße, und dies ist keine, also halt den Mund.«
Der Ausbruch des Kriegsmeisters schien Torgaddon zu schockieren, und er warf seinen Kameraden einen verletzten Blick zu. Loken war weniger schockiert, nachdem er in den Wochen seit ihrer Flucht aus dem Gebiet des Interex schon oft erlebt hatte, wie der Kommandant Untergebene anschnauzte. Horus hatte keinen friedlichen Moment erlebt seit dem furchtbaren Blutvergießen in der Halle der Gerätschaften auf Xenobia, und die Tode und verpasste Gelegenheit der Vereinigung mit dem Interex machten ihm immer noch zu schaffen.
Seit dem Debakel mit dem Interex hatte sich der Kriegsmeister in mürrische Melancholie zurückgezogen und hielt sich immer öfter in seinen Privatgemächern auf, ausschließlich in Gesellschaft von Erebus. Das Mournival hatte den Kommandanten seit ihrer Rückkehr in den imperialen Raum kaum zu Gesicht bekommen, und sie spürten den Ausschluss sehr deutlich.
Hatte sich der Kriegsmeister zuvor ihre Ansichten angehört, flüsterte ihm jetzt nur noch Erebus ins Ohr.
So nahm das Mournival mit einiger Erleichterung die Nachricht zur Kenntnis, dass Erebus die Expedition verlassen und mit seiner eigenen Legion nach Davin vorausfliegen würde.
Nicht einmal auf dem Weg zum Davin-System hatte der Kriegsmeister einen Moment Ruhe gefunden. Wiederholte Ersuchen um Hilfe und taktische Unterstützung erreichten ihn aus der gesamten Galaxis, von anderen Primarchen, Armee-Kommandanten und, was das Unangenehmste war, von der Armee ziviler Administratoren, die den Eingliederungen auf dem Fuß folgten.
Die Eaxectoren von Terra, die von einer hohen Administratorin namens Aenid Rathbone angeführt wurden, belästigten Horus täglich mit Bitten um Unterstützung bei ihrer Ausbreitung auf die eingegliederten Gebiete, um mit dem Einziehen der Steuern des Imperators zu beginnen. Jeder mit einem Minimum an gesundem Menschenverstand wusste, dass diese Maßnahme verfrüht war, und Horus hatte alles in seiner Macht Stehende getan, um Rathbone und ihre Eaxectoren hinzuhalten, aber er konnte sie nicht ewig in Schach halten.
»Wenn ich die Wahl hätte«, hatte Horus Loken eines Abends verraten, als sie über neue Möglichkeiten, die Besteuerung der eingegliederten Welten zu verzögern, diskutiert hatten, »würde ich jeden Eaxector im Imperium töten lassen, aber ich bin sicher, dann würden wir noch vor dem Frühstück Steuerforderungen aus der Hölle bekommen.«
Loken hatte gelacht, aber das Lachen war ihm im Hals stecken geblieben, als ihm aufgegangen war, dass Horus es ernst meinte.
Sie hatten Davin erreicht, und sie mussten sich um wichtigere Dinge kümmern.
»Vergesst nicht«, sagte Horus. »Alles spielt sich genauso ab, wie ich es euch gesagt habe.«
Ehrerbietige Stille senkte sich über die versammelten Personen, und alle sanken auf die Knie, als der vom Imperator auserwählte Stellvertreter erschien. Karkasy fühlte sich beim Anblick des lebendigen Gottes in seiner wunderbaren Plattenrüstung schwach. Sie hatte die Farbe eines entfernten Meeres, und sein Umhang strahlte in einem dunklen Purpur. Das Auge Terras leuchtete auf seiner Brust. Karkasy war überwältigt von der gebieterischen Schönheit des Kriegsmeisters.
Schon so lange bei der 63. Expeditionsflotte zu sein und Horus erst jetzt zu sehen, kam ihm wie eine extreme Zeitverschwendung vor, und Karkasy beschloss, die von ihm in dieser Woche beschriebenen Seiten aus seinem Bondsman Nummer 7 herauszureißen und einen epischen Monolog über den Kommandanten zu komponieren.
Das Mournival folgte ihm, begleitet von einer hochgewachsenen, statuenhaften Frau in einem roten Samtkleid mit hohem Kragen und Puffärmeln, deren langes Haar zu einer komplizierten Frisur angeordnet war. Er spürte seine Empörung wachsen, als ihm aufging, dass dies Vivar sein musste, die Memoratorin von Terra, von der sie gehört hatten.
Horus hob die Arme und sagte: »Freunde, ich sage Ihnen ständig, dass niemand in meiner Anwesenheit niederknien soll. Nur der Imperator verdient diese Ehre.«
Langsam, als widerstrebe es ihr, die Ehrenbezeugung für diesen lebendigen Gott zu beenden, erhob sich die Menge, während sich Horus in die vordere Reihe begab, Hände schüttelte und alle mit seinem mühelosen Charme und Witz bezauberte. Karkasy beobachtete die Gesichter derjenigen, mit denen der Kriegsmeister sprach. Eifersucht nistete sich in seinem Herzen ein, denn er wurde nicht begünstigt.
Ohne nachzudenken, drängte er vorwärts durch die Menge und handelte sich dafür feindselige Blicke und hier und da einen Ellbogenstoß ein. Er spürte ein Zerren am Kragen seines Gewandes und verrenkte den Hals, um die Person zurechtzuweisen, die seine teure Kleidung so grob behandelte. Er sah Euphrati Keeler hinter sich und glaubte zuerst, sie versuche ihn zurückzuhalten, doch dann sah er ihr Gesicht und lächelte, als ihm aufging, dass sie ihm folgte und seine Körperfülle wie einen Pflug nutzte.
Als er noch etwa sechs oder sieben Leute vor sich hatte, fiel ihm wieder ein, warum er überhaupt an dieser erhabenen Veranstaltung teilnahm. Er riss den Blick vom Kriegsmeister los, um Erebus von den Word Bearers zu beobachten.
Karkasy wusste kaum etwas über die XVII. Legion, nur dass ihr Primarch Lorgar ein enger und vertrauter Bruder von Horus war. Beide Legionen hatten oft gemeinsam zum Wohle des Imperiums gekämpft und ihr Blut vergossen. Die Mitglieder des Mournival traten vor und umarmten Erebus wie einen lange verschollenen Bruder. Sie lachten und schlugen einander in gegenseitigem Willkommen auf die Rüstung, obwohl Karkasy eine gewisse Zurückhaltung bei der Umarmung zwischen Loken und Erebus bemerkte.
»Konzentrier dich, Ignace, konzentrier dich ...«, flüsterte er sich selbst zu, als er sich dabei ertappte, wie sein Blick wieder zur Pracht des Kriegsmeisters abirrte. Er riss den Blick von Horus los und sah gerade noch, wie sich Abaddon und Erebus ein letztes Mal die Hand schüttelten und dabei etwas Silbernes von einer Handfläche zur anderen wanderte. Er war nicht sicher, weil alles so schnell gegangen war, aber es hatte ausgesehen wie eine Münze oder ein Medaillon.
Das Mournival und Vivar bezogen in respektvoller Entfernung Stellung hinter dem Kriegsmeister, während Maloghurst seinen Platz an der Seite seines Herrn einnahm.
Horus hob die Arme und sagte: »Sie müssen mich wieder einmal ertragen, meine Freunde. Wir versammeln uns, um zu besprechen, wie wir Wahrheit und Licht zu Stätten der Dunkelheit bringen.«
Höfliches Gelächter und Beifall breitete sich zu den Rändern der Jurte aus, während Horus fortfuhr: »Wir kehren nach Davin zurück, zum Schauplatz eines großen Triumphs und zur achten Welt, die von dieser Expedition eingegliedert wurde. Dies ist wahrhaftig ...«
»Kriegsmeister«, ertönte eine Stimme aus der Mitte der Jurte.
Das Wort war leise ausgesprochen worden, dennoch stießen alle einen kollektiven Seufzer aus. Es war ein ungeheuerlicher Bruch der Etikette.
Karkasy sah, wie sich die Miene des Kriegsmeisters verfinsterte, da er es ganz offensichtlich nicht gewohnt war, unterbrochen zu werden.
Die Menge um Erebus zog sich zurück, als befürchte sie, durch die bloße Nähe zu ihm könne seine Verwegenheit auf sie abfärben.
»Erebus«, sagte Maloghurst. »Sie haben etwas zu sagen.«
»Nur eine Korrektur, Schildträger«, erklärte Erebus.
Karkasy sah, wie Maloghurst Horus einen wachsamen Seitenblick zuwarf. »Eine Korrektur, sagen Sie. Was wollen Sie denn korrigieren?«
»Der Kriegsmeister sagte, diese Welt sei eingegliedert worden«, sagte Erebus.
»Davin ist eingegliedert«, knurrte Horus.
Erebus schüttelte traurig den Kopf, und für einen Moment spürte Karkasy eine Spur finsterer Belustigung in Erebus.
»Nein«, sagte er. »Davin ist nicht eingegliedert.«
Loken spürte, wie ihm bei diesem Affront gegen ihre Ehre die Galle hochkam, und die steifen Rücken der anderen Mitglieder des Mournival verrieten, dass es ihnen ebenso ging. Überraschenderweise ging Aximand sogar so weit, nach seinem Schwert zu greifen, doch Torgaddon schüttelte den Kopf, und Klein-Horus nahm widerstrebend die Hand vorn Heft seiner Waffe.
Loken kannte Erebus noch nicht lange, hatte aber gesehen, welchen Respekts, welcher Wertschätzung sich der eher leise Ordenspriester der Word Bearers erfreute. Sein Rat war weise, seine Art freundlich und sein Vertrauen auf Horus unerschütterlich. Aber Erebus' subtiles Vordringen hatte Loken auf eine Weise aus dem Gleichgewicht gebracht, die weit über bloße Eifersucht hinausging. Seit er den Rat des Ersten Ordenspriesters annahm, war der Kommandant mürrisch, unnötig streitlustig und zurückgezogen. Maloghurst selbst hatte gegenüber dem Mournival seiner Besorgnis über den wachsenden Einfluss des Word Bearers auf Horus Ausdruck verliehen.
Nach einem Gespräch mit Erebus auf dem vorderen Observationsdeck der Rächender Geist hatte Loken gewusst, dass mehr hinter dem Ordenspriester steckte, als offensichtlich war. An jenem Tag war der Samen des Argwohns in seinem Herzen aufgegangen, und Erebus' Worte fielen nun darauf wie frischer Frühlingsregen.
Seit Xenobia hatte sich Erebus so viel Einfluss auf den Kriegsmeister erarbeitet, dass Loken kaum glauben konnte, wie flegelhaft er sich gerade benahm.
»Könnten Sie das ein wenig näher ausführen?«, fragte Maloghurst, der sichtlich Mühe hatte, sein Temperament zu zügeln. Nie hatte Loken den Schildträger mehr bewundert.
»Das könnte ich«, sagte Erebus, »aber vielleicht sollte man diese Dinge besser in privaterem Kreis besprechen.«
»Sagen Sie, was Sie zu sagen haben, Erebus. Dies ist der Kriegsrat, hier gibt es keine Geheimnisse«, befand Horus.
Loken wusste, welche Rolle er ihnen auch zugedacht haben mochte — jetzt war sie bedeutungslos. Auch die anderen Mitglieder des Mournival erkannten es.
»Milord«, begann Erebus, »ich bitte um Entschuldigung, wenn ...«
»Sparen Sie sich Ihre Entschuldigung, Erebus«, sagte Horus. »Sie haben Nerven, so vor mich zu treten. Ich habe Sie aufgenommen und Ihnen einen Platz in meinem Kriegsrat gegeben, und so vergelten Sie es mir — mit Schmähung? Mit Unverschämtheit? Das lasse ich mir nicht bieten, das sage ich Ihnen in aller Deutlichkeit. Haben Sie mich verstanden?«
»Jawohl, Milord, und ich habe keine Schmähung beabsichtigt. Wenn Sie mir gestatten fortzufahren, werden Sie sehen, dass ich Sie nicht beleidigen wollte.«
Knisternde Spannung erfüllte die Jurte. Loken versuchte, Horus gedanklich zu zwingen, dieser Farce ein Ende zu bereiten und sich an einen privateren Ort zurückzuziehen, aber er sah, dass sein Blut in Wallung war und es nun kein Zurück mehr gab.
»Fahren Sie fort«, knirschte Horus.
»Wie Sie wissen, sind wir hier vor sechs Dekaden abgezogen, Milord. Davin war eingegliedert und schien auf dem besten Wege zu sein, ein erleuchteter Teil des Imperiums zu werden. Leider hat sich herausgestellt, dass dem nicht so ist.«
»Kommen Sie zur Sache, Erebus«, sagte Horus, die Hände zu Fäusten geballt.
»Gewiss. Auf dem Weg nach Sardis und zu unserem Zusammentreffen mit der Zwohundertdritten Flotte bat mich der verehrte Lord Kor Phaeron, einen Umweg über Davin zu machen, um mich zu vergewissern, dass sich Kommandant Temba und die ihm überlassenen Einheiten an das Wort des Imperators, von allen geliebt, hielten.«
»Wo ist Temba überhaupt?«, wollte Horus wissen. »Ich habe ihm genug Männer dagelassen, um etwaige Überreste von Widerstand zu befrieden. Wenn diese Welt nicht eingegliedert wäre, hätte ich doch gewiss davon gehört.«
»Eugan Temba ist ein Verräter, Milord«, sagte Erebus. »Er ist auf Davins Mond und erkennt den Imperator nicht mehr als seinen Herrn und Meister an.«
»Ein Verräter?«, rief Horus. »Unmöglich. Eugan Temba war ein Mann von edlem Charakter und bewundernswertem militärischen Geist. Ich habe ihn persönlich für diese Ehre ausgewählt. Er würde niemals zum Verräter werden!«
»Ich wollte, das wäre wahr, Milord«, sagte Erebus, der tatsächlich ehrlich bedauernd klang.
»Was, im Namen des Imperators, sucht er auf dem Mond?«, fragte Horus.
»Die Stämme auf Davin selbst waren ehrenhaft und haben die Eingliederung bereitwillig akzeptiert, aber diejenigen auf dem Mond haben es nicht getan«, erklärte Erebus. »Temba hat seine Männer in einer glorreichen, aber letzten Endes tollkühnen Expedition auf den Mond geführt, um die dortigen Stämme zur Räson zu bringen.«
»Warum tollkühn? Das ist die Pflicht eines imperialen Kommandanten.«
»Es war tollkühn, Milord, weil die Stämme auf dem Mond ein anderes Verständnis von Respekt haben als wir, und es scheint, als habe sich Temba auf ein ehrenhaftes Palaver mit ihnen eingelassen, das sie ausgenutzt haben, um ... Mittel einzusetzen. Mittel, die die Auffassung unserer Männer verändert und gegen Sie gewandt haben.«
»Mittel? Reden Sie Klartext, Mann!«
»Ich zögere, sie beim Namen zu nennen, Milord, aber sie entsprechen dem, was in den alten Texten als, nun ja, Zauberei beschrieben wird.«
Loken spürte, wie er bei der Erwähnung von Zauberei beinahe die Fassung verlor. Eine Welle der Ungläubigkeit durchlief die Menge in der Jurte.
»Temba dient jetzt dem Herrn über Davins Mond und hat auf seine dem Imperator geleisteten Treueeide gespien. Er bezeichnet Sie als Lakai eines gefallenen Gottes.«
Loken war Eugan Temba nie begegnet, aber er spürte, wie sein Hass auf ihn angesichts dieser furchtbaren Beleidigung der Ehre des Kriegsmeisters anschwoll.
Es
war wie ein Gefühl der Übelkeit im
Bauch. Erstauntes
Gemurmel wanderte durch die Jurte, da
die versammelten
Krieger diese Beleidigung ebenso schneidend
spürten wie er
selbst.
»Das wird er büßen!«, brüllte Horus. »Ich werde ihm den Kopf abreißen und seinen Leichnam an die Krähen verfüttern. Das schwöre ich bei meiner Ehre!«
»Milord«, sagte Erebus, »es tut mir leid, der Überbringer so schlechter Neuigkeiten zu sein, aber dies ist doch gewiss eine Angelegenheit, die besser Ihren Untergebenen überlassen bleibt.«
»Ich soll andere schicken, um diesen Fleck auf meiner Ehre zu tilgen, Erebus?«, donnerte Horus. »Für was für eine Art Krieger halten Sie mich? Ich habe hier das Dekret der Eingliederung unterzeichnet, und ich will verdammt sein, wenn die einzige Welt, die nach der Eingliederung wieder aus dem Imperium ausschert, eine ist, die ich erobert habe!« Er wandte sich an das Mournival. »Macht eine Speerspitze bereit — sofort!«
»Zu Befehl, Milord«, sagte Abaddon. »Wer soll sie anführen?«
»Ich«, sagte Horus.
Der Kriegsrat wurde aufgelöst. Alle anderen Angelegenheiten schrumpften im Angesicht dieser furchtbaren Entwicklung zur Bedeutungslosigkeit. Hektischer Eifer erfasste die 63. Expedition, als die Kommandanten zu ihren Einheiten zurückkehrten und sich die Nachricht von Eugan Tembas Verrat verbreitete.
Inmitten der dringenden Vorbereitungen zum Abmarsch fand Loken Ignace Karkasy in der Jurte, die gerade erst von dem erzürnten Kriegsrat verlassen worden war. Er saß mit einem offenen Buch vor sich da und schrieb mit großer Leidenschaft, wobei er lediglich innehielt, um seine Feder mit einem kleinen Taschenmesser zu schärfen.
»Ignace«, sagte Loken.
Karkasy schaute von seinem Werk auf, und Loken war überrascht über die Belustigung, die er im Gesicht des Memorators sah.
»Das war eine Besprechung, was? Verlaufen sie alle so dramatisch?«
Loken schüttelte den Kopf. »Nein, normalerweise nicht. Was schreiben Sie da?«
»Das hier, ach, das ist nur ein schnelles Gedicht über den schändlichen Temba«, sagte Karkasy. »Nichts Besonderes, nur ein paar Gedanken. Angesichts der Stimmung in der Expedition hielt ich das für angemessen.«
»Ich weiß. Ich kann einfach nicht glauben, dass jemand so etwas gesagt hat.«
»Ich auch nicht, und ich glaube, darin liegt das Problem. «
»Wie meinen Sie das?«
»Ich erkläre es«, sagte Karkasy, indem er sich von seinem Platz erhob, zu den unangetasteten Schalen mit Fleischstücken ging und sich einen Teller zurechtmachte. »Ich erinnere mich an einen Rat, den ich einmal in Bezug auf den Kriegsmeister gehört habe. Wenn man ihm begegne, sei es nützlich, auf seine Füße zu schauen, denn wenn man ihm in die Augen blicke, vergesse man, was man sagen wollte.«
»Den habe ich auch gehört. Aximand hat mir dasselbe erzählt.«
»Tja, es ist offensichtlich ein guter Rat, weil ich ziemlich hingerissen war, als ich ihn zum ersten Mal aus der Nähe gesehen habe: Er ist so wundervoll. Ich hätte beinahe vergessen, warum ich überhaupt da war.«
»Ich weiß nicht, ob ich verstehe, was Sie mir sagen wollen«, sagte Loken kopfschüttelnd, während Karkasy ihm Fleisch anbot.
»Drücken wir es mal so aus: Können Sie sich vorstellen, dass jemand, der Horus tatsächlich persönlich kennengelernt hat — ich darf ihn doch Horus nennen? Wie ich gehört habe, sehen Sie es nicht so gern, wenn wir Sterbliche ihn so nennen. Also, können Sie sich vorstellen, dass dieser Jemand etwas in der Art sagt, wie dieser Temba gesagt haben soll?«
Loken hatte Mühe, Karkasy zu folgen, und ihm ging auf, dass seine Wut ihn für die Pracht des Kriegsmeisters blind gemacht hatte. »Sie haben recht, Ignace. Niemand, der den Kriegsmeister persönlich kennengelernt hat, könnte so etwas sagen.«
»Also stellt sich die Frage, warum Erebus behaupten sollte, dass Temba es gesagt hat.«
»Ich weiß nicht. Warum sollte er?«
Karkasy schluckte ein paar Bissen und spülte sie mit einem Schluck weißen Schnaps herunter. »Ja, warum?«, fragte er, während er sich langsam für seine Geschichte erwärmte. »Sagen Sie, hatten Sie bereits das >Vergnügen<, Aeliuta Hergig kennenzulernen? Sie ist Memoratorin — eine der Dramatikerinnen — und schreibt fürchterlich überladene Stücke. Ermüdende Geschichten, wenn Sie mich fragen, aber ich kann nicht abstreiten, dass sie auf der Bühne einiges Talent hat. Ich weiß noch, wie ich sie einmal als Lady Ophelia in Die Tragödie von Amleti gesehen habe, und da war sie ziemlich gut, obwohl ...«
»Ignace«, warnte Loken. »Kommen Sie zur Sache.«
»O ja, natürlich. Die Sache ist die: So talentiert die gute Frau Hergig als Schauspielerin auch sein mag — verglichen mit der Vorstellung, die Erebus heute abgeliefert hat, ist sie nur ein kleines Licht.«
»Vorstellung?«
»Ja, in der Tat. Alles, was er vom Augenblick seines Eintretens in die Jurte getan hat, war eine Vorstellung. Haben Sie das nicht bemerkt?«
»Nein, ich war zu wütend«, gab Loken zu. »Aus diesem Grund wollte ich Sie dabeihaben. Erklären Sie es mir einfach und ohne Umschweife, Ignace.«
Karkasy strahlte stolz, bevor er fortfuhr: »Also gut. Als er zuerst von Davins Nichteingliederung sprach, hat er vorgeschlagen, an einem privateren Ort darüber zu reden, aber er hat dieses höchst provokante Thema überhaupt erst in einem Raum voller Leute angeschnitten. Und ist Ihnen das nicht aufgefallen? Erebus hat gesagt, Temba hätte sich gegen ihn, gegen Horus gewandt, nicht gegen den Imperator. Gegen Horus. Er hat es zu einer persönlichen Angelegenheit gemacht.«
»Aber warum sollte er danach trachten, den Kriegsmeister derart zu provozieren?«
»Vielleicht, um seine Gemütsruhe zu stören, um ihn wütend zu machen. Schließlich hat er gewusst, wie seine Reaktion ausfallen würde. Ich glaube, Erebus wollte den Kriegsmeister in eine Lage bringen, in der er nicht mehr klar denken konnte.«
»Seien Sie vorsichtig, Ignace. Wollen Sie damit andeuten, dass der Kriegsmeister nicht klar denkt?«
»Nein, nein«, sagte Karkasy. »Nur, dass Erebus seine Gemütsruhe gestört hat, um ihn manipulieren zu können.«
»Zu welchem Zweck manipulieren?«
Karkasy zuckte die Achseln. »Das weiß ich nicht, aber ich weiß, dass Erebus will, dass Horus Davins Mond besucht.«
»Aber er hat ihm doch davon abgeraten, dorthin zu gehen. Er hatte sogar den Nerv vorzuschlagen, andere anstelle des Kriegsmeisters zu schicken.«
Karkasy winkte geringschätzig ab. »Nur um es so aussehen zu lassen, als habe er versucht, ihn davon abzubringen, obwohl er ganz genau wusste, dass der Kriegsmeister nach dieser Beleidigung seiner Ehre keinen Rückzieher machen konnte.«
»Und den sollte er auch nicht machen, Memorator«, sagte eine tiefe Stimme im Eingang der Jurte.
Karkasy fuhr zusammen, und Loken drehte sich beim Klang der Stimme um und sah den Ersten Hauptmann der Sons of Horus in der vollen Pracht seiner Plattenrüstung.
»Ezekyle«, sagte Loken. »Was machst du denn hier?«
»Ich suche dich«, sagte Abaddon. »Du solltest bei deiner Kompanie sein. Der Kriegsmeister wird die Speerspitze persönlich anführen, und du verschwendest deine Zeit mit Schreiberlingen, die das Wort eines ehrenhaften Astartes in Zweifel ziehen.«
»Erster Hauptmann Abaddon«, hauchte Karkasy, indem er den Kopf neigte. »Ich wollte nicht respektlos sein. Ich habe Hauptmann Loken nur meine Eindrücke über das Gehörte geschildert.«
»Sei still, du Wurm«, schnauzte Abaddon. »Ich sollte dich auf der Stelle töten für die Ehrlosigkeit, die du Erebus erweist.«
»Ignace hat nur getan, worum ich ihn gebeten habe«, stellte Loken fest.
»Du hast ihn dazu angestiftet, Garviel?«, fragte Abaddon. »Ich bin enttäuscht von dir.«
»An dieser Sache stimmt etwas nicht, Ezekyle«, sagte Loken. »Erebus sagt uns nicht alles.«
Abaddon schüttelte den Kopf. »Du würdest das Wort dieses Dummkopfes höher einschätzen als das eines anderen Astartes? Deine Tändeleien mit kümmerlichen Wortklaubern haben dir den Kopf verdreht. Der Kommandant wird davon erfahren.«
»Das hoffe ich sehr«, sagte Loken, dessen Zorn wuchs. »Ich werde neben dir stehen, wenn du ihm davon berichtest.«
Der Erste Hauptmann drehte sich um und machte Anstalten, die Jurte zu verlassen.
»Erster Hauptmann Abaddon«, sagte Karkasy. »Dürfte ich Ihnen eine Frage stellen?«
»Nein, das dürfen Sie nicht«, fauchte Abaddon, aber Karkasy fragte trotzdem.
»Was war das für eine Silbermünze, die Sie Erebus bei Ihrer Begrüßung gegeben haben?«
Vier
Geheimnisse und Verborgenes Chaos
Bekanntmachung
Audienz
ABADDON ERSTARRTE.
Loken erkannte die Gefahr und stellte sich rasch zwischen den Ersten Hauptmann und den Memorator. »Ignace, verschwinden Sie von hier«, rief er, als Abaddon herumfuhr und sich auf Karkasy stürzte.
Abaddon brüllte vor Wut, und Loken packte seine Arme und hielt ihn in Schach, während Karkasy einen Entsetzensschrei ausstieß und aus der Jurte rannte.
Abaddon stieß Loken zurück; der Erste Hauptmann war stärker. Loken stolperte zurück und fiel, aber er hatte sein Ziel erreicht und Abaddons Wut in eine andere Richtung gelenkt.
»Du würdest die Waffen gegen einen Bruder erheben, Loken?«, brüllte Abaddon.
»Ich habe dich nur vor einem schweren Fehler bewahrt, Ezekyle«, erwiderte Loken, während er wieder auf die Beine kam. Er sah, dass Abaddons Blut in Wallung war, und wusste, dass er vorsichtig sein musste.
Aximand hatte ihm von Abaddons Berserkeranfällen während der verzweifelten Evakuierung des Kommandanten aus dem Extranus erzählt, und seine Launen wurden zunehmend unberechenbarer.
»Vor einem Fehler? Wovon redest du?«
»Ignace zu töten«, sagte Loken. »Denk nur, welche Folgen es gehabt hätte. Der Kriegsmeister hätte dafür deinen Kopf gefordert. Stell dir die Auswirkungen vor, wenn ein Astartes einen Memorator kaltblütig ermorden würde.«
Abaddon marschierte aufgebracht in der Jurte hin und her wie ein Raubtier im Käfig, aber Loken sah, dass seine Worte den roten Nebel der Wut durchdrungen hatten.
»Verdammt, Loken ... Verdammt«, zischte Abaddon.
»Was hat Ignace gemeint, Ezekyle? War es ein Logen-Medaillon, das zwischen dir und Erebus den Besitzer gewechselt hat?«
Er sah Loken direkt an und sagte: »Das kann ich nicht sagen.«
»Dann war es eins.«
»Das. Kann. Ich. Nicht. Sagen.«
»Verdammt, Ezekyle. Geheimnisse und Verborgenes, mein Bruder, kann ich nicht ausstehen. Genau deswegen kann ich nicht in die Kriegerloge zurückkehren. Aximand und Torgaddon haben mich beide darum gebeten, aber ich werde es nicht tun, jetzt nicht mehr. Sag mir, gehört Erebus jetzt auch der Loge an? Hat er schon immer dazugehört oder habt ihr ihn auf der Fahrt hierher eingeführt?«
»Du hast gehört, was Serghar bei der Versammlung gesagt hat. Du weißt, dass ich nicht über das reden kann, was innerhalb der Kreise der Loge vorgeht.«
Loken trat dicht vor Abaddon, bis sie Brustharnisch an Brustharnisch standen. »Du wirst es mir jetzt sagen, Ezekyle. Ich rieche hier etwas Faules, und ich schwöre dir, wenn du mich belügst, werde ich es merken.«
»Glaubst du, du könntest mich einschüchtern, Kleiner?«, lachte Abaddon, aber Loken sah die Lüge durch seine Prahlerei schimmern.
»Ja, das glaube ich. Jetzt sag es mir.«
Abaddons Blick huschte zum Eingang der Jurte. »Na schön«, sagte er.
»Ich sage es dir, aber es bleibt unter uns.«
Loken nickte, und Abaddon sagte: »Wir haben Erebus nicht in die Loge eingeführt.«
»Nicht?«, fragte Loken ungläubig.
»Nein«, versetzte Abaddon. »Erebus hat uns eingeführt.«
Erebus, Bruder Astartes, Erster Ordenspriester der Word Bearers
Vertrauter Ratgeber des Kriegsmeisters ...
Lügner.
Wie sehr er sich auch bemühte, das Wort bei seiner vorbereitenden Meditation auf die Schlacht zu verdrängen, es kehrte immer wieder zurück, suchte ihn heim. Als Reaktion darauf gingen ihm Euphrati Keelers Worte immer und immer wieder durch den Kopf.
Sie hatte ihn angestarrt und gefragt: »Wenn Sie Fäulnis sähen, einen Anflug von Verderbnis, würden Sie aus Ihrem reglementierten Leben ausbrechen und sich dagegenstemmen?«
Keeler hatte etwas Unmögliches angedeutet, und er hatte bestritten, dass ihre Andeutung jemals Wirklichkeit werden könnte. Und doch erwog er gerade die Möglichkeit, dass ein Bruder Astartes — jemand, den der Kriegsmeister schätzte und dem er vertraute — sie aus unbekannten Gründen belog.
Loken hatte versucht, Kyril Sindermann zu finden und das Thema mit ihm zu besprechen, aber der Iterator war nicht aufzufinden, und so war Loken mutlos in die Übungshalle zurückgekehrt. Der lächelnde Schlächter Luc Sedirae reinigte die Einzelteile seines auseinandergenommenen Boltgewehrs. Die »Zwillinge«, Moy und Marr, beschäftigten sich mit einer Schwertübung, und Lokens ältester Freund, Nero Vipus, saß auf einer Bank und polierte seinen Brustharnisch, um die Narben zu beseitigen, die er sich auf Mord eingehandelt hatte.
Sedirae und Vipus nickten grüßend, als er eintrat.
»Garvi«, sagte Vipus. »Ist irgendwas?«
»Nein, warum?«
»Du siehst etwas angefressen aus, das ist alles.« »Es geht mir bestens«, schnauzte Loken.
»Schön, schön«, murmelte Vipus. »Was habe ich verbrochen?«
»Es tut mir leid, Nero«, sagte Loken. »Ich bin nur ...«
»Ich weiß, Garvi. Der ganzen Kompanie geht es genauso. Sie können es kaum erwarten, endlich zu landen und die Ersten zu sein, die sich dieses Schwein Temba vorknöpfen. Luc hat schon mit mir gewettet, dass er derjenige sein wird, der sich seinen Kopf holt.«
Loken nickte zerstreut und fragte: »Hat jemand den Ersten Hauptmann Abaddon gesehen?«
»Nein, nicht seit unserer Rückkehr«, erwiderte Sedirae, ohne von seiner Arbeit aufzublicken. »Aber diese Memoratorin, die Dunkelhäutige, hat nach dir gesucht.«
»Oliton?«
»Aye, so heißt sie. Sie hat gesagt, sie kommt in einer Stunde oder so noch mal vorbei.«
»Danke, Luc«, sagte Loken und wandte sich wieder an Vipus. »Und noch mal: Tut mir leid, dass ich dich angeschnauzt habe, Nero.«
»Keine Sorge«, lachte Vipus. »Ich bin schon ein großer Junge, und mein Fell ist dick genug, um deiner schlechten Laune zu widerstehen.«
Loken lächelte seinen Freund an, öffnete seinen Waffenkäfig, legte die Rüstung ab und schälte sich vorsichtig aus dem hautengen Trikotanzug aus mimetischer Kunstfaser, bis er nur noch Unterwäsche trug. Er nahm sein Schwert, ging zu einem Übungskäfig und aktivierte die Waffe, während sich die eisengrauen Halbkugeln auseinanderschoben und der röhrenförmige Kampfservitor von der Mitte der Kuppel herabsenkte.
»Kampfdrill Epsilon neun«, sagte er. »Maximale Tödlichkeit.«
Die Kampfmaschine erwachte summend zum Leben und entfaltete lange Klingenglieder aus den Seiten auf eine Weise, die ihn an die geflügelte Variante der Megarachniden auf Mord erinnerten. Stacheln und surrende Schneiden sprossen aus dem Leib der Maschine, und Loken ließ zur Lockerung Hals und Arme kreisen.
Er brauchte einen klaren Kopf, wenn er die Ereignisse überdenken wollte, und es gab keinen besseren Weg, Reinheit der Gedanken zu erlangen, als den Kampf. Die Maschine begann einen leisen Countdown, und Loken nahm Kampfhaltung an, während seine Gedanken wieder zum Ersten Ordenspriester der Word Bearers zurückkehrten.
Lügner ...
Am fünfzehnten Tag nach Verlassen des Interex-Territoriums und eine Woche vor der Ankunft im Davin-System hatte Loken endlich Gelegenheit gehabt, allein mit Erebus zu sprechen. Er hatte den Ersten Ordenspriester der Word Bearers auf dem vorderen Observationsdeck der Rächender Geist erwartet und dabei die Schlieren aus schwarzem Licht und strahlender Dunkelheit beobachtet, die an der großen Sichtscheibe aus Panzerglas vorbeizogen.
»Hauptmann Loken?«
Loken drehte sich um und sah Erebus' offenes, ernstes Gesicht. Sein rasierter, tätowierter Schädel glänzte in den wirbelnden Strudeln aus vielfarbigem Licht, das durch das Glas der Observationsbucht fiel und seine Rüstung mit Patina überzog wie die Palette eines Malers.
»Erster Ordenspriester«, erwiderte Loken mit einer tiefen Verbeugung.
»Bitte, mein Name ist Erebus. Es wäre mir eine Ehre, wenn Sie mich bei ihm nennen würden. Wir brauchen keine derartigen Förmlichkeiten.«
Loken nickte, während sich Erebus zu ihm und der großen, bunten Pracht gesellte, die sich vor ihnen ausbreitete. »Wunderschön, nicht wahr?«, fragte Erebus.
»Das habe ich auch einmal gedacht«, nickte Loken. »Aber in Wahrheit kann ich es jetzt nicht betrachten, ohne Beklemmung zu empfinden.«
»Beklemmung? Warum das?«, fragte Erebus, indem er Loken eine Hand auf die Schulter legte. »Der Warp ist nur das Medium, das unsere Schiffe durchfahren. Hat nicht der Imperator, von allen geliebt, die Mittel und Wege enthüllt, wie wir ihn nutzen können?«
»Ja, das hat er«, gab Loken ihm recht, während er einen Blick auf die in Erebus' Schädel eintätowierte Schrift warf, doch er konnte die Worte nicht lesen.
»Das sind die Verkündigungen des Imperators, wie im Buch Lorgar interpretiert, und in der Sprache von Colchis geschrieben«, beantwortete Erebus seine unausgesprochene Frage. »Sie sind für mich ebenso Waffe wie Boltgewehr und Schwert.«
Als er Lokens Verständnislosigkeit sah, sagte er: »Auf dem Schlachtfeld muss ich eine Gestalt der Ehrfurcht und Erhabenheit sein, und indem ich das Wort des Imperators direkt auf der Haut trage, schüchtere ich den Xeno und den Ungläubigen vor mir ein.«
»Den Ungläubigen?«
»Eine schlechte Wortwahl«, zuckte Erebus die Achseln, »vielleicht wäre Misanthrop eine bessere Bezeichnung, aber ich habe den Verdacht, dass Sie mich nicht zu diesem Treffen bestellt haben, um die Aussicht oder meine Tätowierung zu bewundern.«
Loken lächelte und sagte: »Sie haben natürlich recht. Ich habe Sie um diese Unterredung gebeten, weil ich weiß, dass die Word Bearers eine Legion sind, die viele Gelehrte in ihren Reihen haben. Sie haben so viele Welten besucht, die Sitze der Gelehrsamkeit und des Wissens sein sollen, und sie eingegliedert.«
»Das stimmt«, sagte Erebus zögerlich. »Obwohl wir viel von diesem Wissen als profan erachtet und in den Feuern des Krieges verbrannt haben.«
»Aber Sie sind gebildet in esoterischen Dingen, und ich könnte Ihren Rat in ... in einer Angelegenheit brauchen, die ich lieber unter vier Augen besprechen wollte.«
»Jetzt bin ich neugierig«, sagte Erebus.
»Was haben Sie auf dem Herzen?«
Loken zeigte auf das pulsierende, unwirkliche Licht des Warp auf der anderen Seite der Panzerglasscheibe der Observationsbucht.
Wolken aus vielen Farben und Spiralen aus Dunkelheit wirbelten und drehten sich wie Tintenkleckse in Wasser und bildeten einen unablässigen Mahlstrom aus Licht und Schatten. Keine kohärenten Formen existierten in der mysteriösen Anderswelt außerhalb des Schiffs, die ohne den Schutz des Geller-Felds das Schiff des Kriegsmeisters im Zeitraum eines Augenblicks zerstören würde.
»Der Warp ermöglicht uns, von einer Seite der Galaxis zur anderen zu fahren, aber wir verstehen ihn eigentlich nicht, oder?«, fragte Loken.
»Was wissen wir wirklich über die Dinge, die in seinen Tiefen lauern? Was wissen wir über das Chaos?«
»Das Chaos?«, wiederholte Erebus, und Loken spürte einen Moment des Zögerns, bevor der Word Bearer antwortete. »Was meinen Sie mit diesem Ausdruck?«
»Ich weiß es selbst nicht genau«, gestand Loken. »Auf Xenobia hat Mithras Tull so etwas zu mir gesagt.«
»Mithras Tull? Dieser Name ist mir unbekannt.«
»Er war einer von Jephta Nauds Unterführern«, erklärte Loken.
»Ich habe mich gerade mit ihm unterhalten, als die Hölle losbrach.«
»Was hat er gesagt, Hauptmann Loken? Was
genau?«
Lokens Augen verengten
sich. »Tull hat so gesprochen,
als sei das
Chaos eine ganz bestimmte Kraft, ein
ureige-
ner Bestandteil des Warp. Er sagte, es sei
die Quelle der böswilligsten nur
vorstellbaren Verderbnis und würde uns alle überleben und auf
unserer Asche tanzen.«
»Er hat sich jedenfalls sehr farbig ausgedrückt.«
»Das hat er, aber ich glaube, er meinte es ernst«, sagte Loken, während er in die Tiefen des Warp schaute.
»Glauben Sie mir, Loken: Der Warp ist nicht mehr als geistlose, blindwütige Energie, die sich in beständigem Aufruhr befindet. Mehr nicht. Oder gibt es sonst noch etwas, das Sie seinen Worten Glauben schenken lässt?«
Loken dachte an die geifernde Kreatur, die den Körper Xavyer Jubals in der Wasserkirche unter den Bergen von Dreiundsechzig-Neunzehn übernommen hatte. Das war keine geistlose Warpenergie gewesen, der Form gegeben worden war. Er hatte eine monströse, dürstende Intelligenz in der grässlichen Missgestalt lauern gesehen, zu der Jubal geworden war.
Erebus starrte ihn erwartungsvoll an, und so freundlich der Word Bearer auch in den Reihen der Sons of Horus empfangen worden war, Loken war noch nicht bereit, einem Außenstehenden von dem Grauen zu erzählen, das sich unter den Flüsterspitzen zugetragen hatte.
Schnell sagte er: »Ich habe von Schlachten zwischen den Stämmen der Menschen auf Altterra gelesen, bevor der Imperator gekommen ist, und angeblich haben sie Kräfte benutzt, die ...«
»Meinen Sie Die Chroniken von Ursh?«
»Ja. Woher wissen Sie das?«
»Ich habe sie auch gelesen und kenne die Passagen, auf die Sie sich beziehen.«
»Dann wissen Sie auch, dass darin von finsteren, urtümlichen Göttern und ihren Anrufungen die Rede ist.«
Erebus lächelte nachsichtig. »Ja, und sie sind das Werk von hanebüchenen Märchenerzählern und unverbesserlichen Demagogen, um ihren Mischmasch so aufregend Wie möglich zu gestalten, oder etwa nicht? Die Chroniken von Ursh sind nicht der einzige Text dieser Art. Viele derartige Bücher wurden vor der Vereinigung geschrieben, und jeder Schreiber hat Seite um Seite mit den himmelschreiendsten, blutigsten Gräueln gefüllt, um seine Zeitgenossen zu übertreffen, was zu einigen Werken von ... zweifelhaftem Wert geführt hat.«
»Dann glauben Sie nicht, dass da etwas dran ist?« »Ganz und gar nicht.«
»Tull sagte, das Immaterium, wie er es nannte, sei die Quelle aller Zauberei und Magie.«
»Zauberei und Magie?«, lachte Erebus, wobei er Loken in die Augen schaute. »Er hat Sie belogen, mein Freund. Er hat mit Xenos-Brut fraternisiert und war ein Gräuel im Angesicht des Imperators. Sie wissen, dass man den Worten eines Feindes nicht trauen kann. Hat das Interex uns nicht fälschlich beschuldigt, eine der Klingen der Kinebrach aus der Halle der Gerätschaften gestohlen zu haben? Sogar noch, nachdem sich der Kriegsmeister persönlich dafür verbürgt hatte, dass wir nichts damit zu tun hatten?«
Loken schwieg. Bande der Bruderschaft rangen mit den Indizien, die seine Sinne lieferten. Alles, was Erebus sagte, bestätigte seine langgehegte Überzeugung: an Zauberei, Geister und Dämonen zu glauben, war absolut falsch.
Doch er konnte nicht ignorieren, was seine Instinkte ihm zubrüllten: dass Erebus ihn anlog und die Bedrohung durch das Chaos schrecklich real war.
Mithras Tull war ein Feind geworden, Erebus war ein Bruder Astartes, und zu seiner Überraschung stellte Loken fest, dass er bereit war, eher dem Krieger des Interex zu glauben.
»So wie Sie es mir beschrieben haben, gibt es so etwas wie das Chaos nicht«, versprach Erebus.
Loken nickte zustimmend, verzweifelte aber fast, als ihm aufging, dass niemand, nicht einmal das Interex, hatte verlauten lassen, welche Waffe eigentlich genau aus der Halle der Gerätschaften gestohlen worden war.
»Hast du gehört?«, fragte Ignace Karkasy, während er sich noch ein Glas Wein einschenkte. »Sie hat vollen Zugang ... zum Kriegsmeister! Das ist eine Schande. Wir reißen uns den Arsch auf, um Kunst zu erschaffen, die diesen Namen auch verdient, in der Hoffnung, dass sie jemand Bedeutendem ins Auge fällt. Und sie rauscht an, ohne auch nur mit Verlaub zu sagen, und bekommt eine Audienz beim Kriegsmeister!«
»Ich habe gehört, sie hat Verbindungen«, nickte Wenduin, eine kleine Frau mit roten Haaren und einer Figur wie ein Stundenglas. Die Gerüchteküche auf dem Schiff besagte, sie sei eine Granate im Bett. Karkasy hatte sich ihr zugewandt, als ihm aufgegangen war, dass sie an seinen verbitterten Lippen hing. Er hatte vergessen, was genau sie eigentlich tat, obwohl er sich vage an etwas über »Kompositionen von harmonischem Licht und Schatten« erinnerte — was immer das auch bedeutete.
Ehrlich, dachte er, dieser Tage lassen sie jeden als Memorator zu.
Die Zuflucht war wie üblich gerammelt voll von Memoratoren: Dichter, Dramatiker, Maler und Komponisten, die für eine unkonventionelle Atmosphäre sorgten, während dienstfreie Offiziere, Matrosen und Besatzungsmitglieder ebenfalls dort waren, um sich von den Zivilisten durch Geschichten über veröffentliche Bücher, Premiere-Ovationen und skurrile hedonistische Exzesse hinter der Bühne beeindrucken zu lassen.
Ohne sein Publikum entlarvte sich die Zuflucht als eine ungemütliche, verräucherte Bar voller Leute, die nichts Besseres zu tun hatten. Die Spieler hatten die Goldauflage von den Säulen abgekratzt, um daraus Chips zu machen (von denen Karkasy mittlerweile einen beträchtlichen Stapel in seiner Kabine hatte), und die Maler hatten ganze Abschnitte der Wände weiß übertüncht, um Platz für ihre eigenen Kreationen zu schaffen — die meisten entweder unzüchtig oder possenhaft. Männer und Frauen besetzten alle verfügbaren Tische und spielten Merci Merci, während einige der eifrigeren Memoratoren ihre nächsten Kompositionen planten. Karkasy und Wenduin saßen in einer der gepolsterten Nischen an der Wand, und die Zuflucht war vom allgemeinen Gemurmel erfüllt.
»Verbindungen«, wiederholte Wenduin weise.
»Genau das ist es«, sagte Karkasy und leerte sein Glas. »Ich habe gehört, der Senat zu Terra — sogar der Sigillit.«
»Thron! Wie ist sie da rangekommen?«, fragte Wenduin. »An die Verbindungen, meine ich?«
Karkasy schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«
»Du bist auch nicht ganz ohne Verbindungen. Du könntest es herausfinden«, stellte Wenduin fest, während sie sein Glas wieder füllte. »Ich weiß ohnehin nicht, worüber du dir eigentlich Sorgen machst. Einer der Astartes passt auf dich auf. Du musst gerade reden!«
»Kaum«, schnaubte Karkasy und unterstrich seine Worte, indem er mit der flachen Hand auf den Tisch schlug. »Ich muss ihm alles zeigen, was ich schreibe. Das ist Zensur, nichts anderes.«
Wenduin zuckte die Achseln. »Vielleicht ist es Zensur, vielleicht auch nicht, aber du warst beim Kriegsrat, oder nicht? Das ist schon eine kleine Zensur wert, würde ich meinen.«
»Vielleicht«, sagte Karkasy, der nicht gewillt war, sich über die Ereignisse auf Davin und sein Entsetzen beim Anblick eines erzürnten Ersten Hauptmanns Abaddon zu äußern, der auf ihn losgegangen war, um ihm den Kopf abzureißen.
Jedenfalls hatte Hauptmann Loken ihn später gefunden, zitternd und voller Furcht, im Kommissariatszelt, wo er Überfälle auf eine Flasche Distilac unternahm. Tatsächlich war es ein wenig lächerlich gewesen.
Loken hatte ein Blatt aus seinem Bondsman Nummer 7 gerissen und in großen klobigen Buchstaben etwas darauf geschrieben, bevor er es ihm gab.
»Das ist ein Augenblicksschwur, Ignace«, hatte Loken gesagt. »Wissen Sie, was das ist?«
»Ich glaube schon«, hatte er erwidert, während er las, was Loken geschrieben hatte.
»Es ist ein Eid, der sich auf eine einzelne Aktion bezieht. Er ist sehr speziell und sehr präzise«, hatte Loken erläutert. »Bei den Astartes ist es allgemein üblich, einen solchen Eid vor einer Schlacht abzulegen, indem man zum Beispiel schwört, ein bestimmtes Ziel zu erreichen oder ein bestimmtes Ideal hochzuhalten. In Ihrem Fall, Ignace, geht es darum, für sich zu behalten, was sich heute zwischen uns abgespielt hat.«
»Das werde ich, Hauptmann.«
»Sie müssen es schwören, Ignace. Legen Sie die Hand auf das Buch und den Eid und sprechen Sie.«
Das hatte er getan, eine zitternde Hand auf das Blatt gelegt und die schwere Struktur unter der schwitzenden Handfläche gespürt. »Ich schwöre, keiner anderen lebenden Seele zu erzählen, was sich zwischen uns abgespielt hat.«
Loken hatte ernst genickt. »Nehmen Sie das nicht auf die leichte Schulter, Ignace. Sie haben soeben einem Astartes einen Eid geschworen, und Sie dürfen ihn niemals brechen. Ein solcher Bruch wäre ein schwerer Fehler.«
Er hatte genickt und war zur ersten Fähre gegangen, die Davin verließ.
Karkasy befreite sich mit einem Kopfschütteln von der Erinnerung, und alle Wärme und Trost, die der Wein Ihm gespendet hatten, waren jäh und schmerzlich verflogen.
»Hörst du mir eigentlich zu?«, sagte Wenduin. »Du siehst aus, als wärst du eine Million Lichtjahre entfernt.«
»Ja, entschuldige. Was hast du gerade gesagt?«
»Ich habe gefragt, ob du wohl bei Hauptmann Loken ein gutes Wort für mich einlegen könntest. Vielleicht kannst du ihm von meinen Kompositionen erzählen. Du weißt schon, wie gut sie sind und so.«
Kompositionen?
Was sollte das heißen? Er schaute ihr in die Augen und sah eine furchtbare Habgier hinter der Fassade aus Interesse lauern, erkannte, wie egoistisch sie war. Plötzlich wollte er nur noch weg.
»Was ist denn nun? Könntest du?«
Die Ankunft einer berobten Gestalt in ihrer Nische bewahrte ihn davor, sich eine Antwort ausdenken zu müssen.
Karkasy blickte auf. »Ja? Kann ich helfen ...« Dann unterbrach er sich, als er Euphrati Keeler erkannte. Die Veränderung seit ihrer letzten Begegnung war bemerkenswert. Anstatt ihrer üblichen Garderobe aus Stiefeln und Drillich trug sie jetzt die beige Robe einer weiblichen Memoratorin, und das lange Haar war einem bescheidenen Kurzhaarschnitt gewichen.
Wenngleich offenkundig femininer, stellte Karkasy enttäuscht fest, dass ihm die Veränderung nicht gefiel und er ihre aggressivere Erscheinung dem seltsam geschlechtslosen Eindruck vorzog, den diese Gewandung erzeugte.
»Euphrati? Bist du das?«
Sie nickte nur und sagte: »Ich suche Hauptmann Loken. Hast du ihn heute schon gesehen?«
»Loken? Nein. Oder doch, ja, aber auf Davin. Willst du dich zu uns setzen?«, fragte er, ohne den giftigen Blick zu beachten, den Wenduin ihm zuwarf.
Seine Hoffnung auf Rettung zerschlug sich, als Euphrati den Kopf schüttelte. »Nein danke. Das hier ist eigentlich nichts für mich.«
»Für mich auch nicht, aber jetzt bin ich nun mal hier«, lächelte Karkasy, »Bist du sicher, dass ich dich nicht mit einem Glas Wein oder einem Spielchen in Versuchung führen kann?«
»Ich bin sicher, aber trotzdem danke. Wir sehen uns, Ignace, und ich wünsche eine gute Nacht«, sagte Keeler mit einem wissenden Lächeln.
Karkasy antwortete mit einem schiefen Grinsen und sah ihr nach, wie sie von Nische zu Nische ging, bevor sie die Zuflucht schließlich verließ.
»Wer war das?«, fragte Wenduin, und Karkasy war amüsiert über die professionelle Eifersucht in ihrer Stimme.
»Das war eine sehr gute Freundin von mir«, sagte Karkasy und genoss den Klang der Worte.
Wenduin nickte brüsk. »Hör mal, willst du jetzt mit mir ins Bett oder nicht?«, fragte sie, indem sie jegliche Vorspiegelung echten Interesses an ihm aufgab.
Karkasy lachte. »Ich bin ein Mann. Natürlich will ich.«
»Und du wirst Hauptmann Loken von mir erzählen?«
Wenn du so eine Granate bist, wie behauptet wird, kannst du dich darauf verlassen, dachte er. »Ja, meine Teuerste, natürlich.« Da fiel ihm ein gefaltetes Blatt Papier vor der Nische auf. Lag es schon länger dort? Er konnte sich nicht erinnern. Während Wenduin aufstand und aus der Nische glitt, hob er das Blatt auf und faltete es auseinander. Ganz oben war ein Symbol, ein langes großes »I« und einer Sonne mit Halo in der Mitte. Er hatte keine Ahnung, was es bedeutete, und las in dem Glauben, es könne sich um das weggeworfene Gekritzel eines anderen Memorators handeln.
Diesen Glauben verlor er jedoch schon nach wenigen Worten.
»Der Imperator der Menschheit ist das Licht und der Weg, und alle seine Handlungen sind zum Wohle der Menschheit, die sein Volk ist. Der Imperator ist Gott und Gott ist der Imperator, so wird es hier gelehrt, in ...«
»Was ist das?«, fragte Wenduin.
Karkasy ignorierte sie, schob das Blatt in die Tasche und verließ die Nische. Er sah sich in der Zuflucht um und entdeckte mehrere identische Pamphlete auf verschiedenen Tischen in dem Saal. Jetzt war er überzeugt, dass das Blatt vor Euphratis Besuch noch nicht da gewesen war, und er ging durch die Bar und sammelte dabei so viele der eselsohrigen Blätter ein, wie er finden konnte.
»Was machst du denn?«, wollte Wenduin wissen, die mit ungeduldig vor der Brust verschränkten Armen beobachtete.
»Verpiss dich!«, fauchte Karkasy sie auf dem Weg zum Ausgang an. »Such dir einen anderen Trottel, den du verführen kannst. Ich habe keine Zeit.«
Wäre er nicht so beschäftigt gewesen, hätte er den Ausdruck ihrer Überraschung vielleicht sogar genossen.
Ein paar Minuten später stand Karkasy vor Euphrati Keelers Quartier, tief im Labyrinth der Niedergänge und tropfenden Korridore des Wohndecks. Ihm fiel auf, dass das Symbol von dem Pamphlet in das Schott neben ihrem Quartier geritzt war, und er hämmerte mit der Faust auf ihre Jalousie, bis sie sich endlich öffnete. Der Geruch nach Duftkerzen drang in den Korridor.
Sie lächelte, und er wusste, dass sie ihn erwartet hatte.
»Lectitio Divinitatus?«, fragte er, indem er den Stapel Pamphlete in die Höhe hielt, den er in der Zuflucht gesammelt hatte. »Wir müssen reden.«
»Ja, Ignace, das müssen wir«, sagte sie, indem sie sich umdrehte und ihn an der Schwelle stehen ließ. Er folgte ihr hinein.
Horus' private Gemächer waren überraschend bescheiden, dachte Petronella, schlicht und funktionell und mit nur wenigen Gegenständen eingerichtet, die man als persönlich betrachten mochte. Sie hatte keine üppige Pracht erwartet, aber doch mehr als im Quartier eines x-beliebigen Armeesoldaten. Ein Stapel vergilbter Eidpapiere füllte einen Spind an einer Wand, und einige zerlesene Bücher standen auf Regalen neben dem Feldbett, dessen Länge und Breite ihr gewaltig vorkam, wahrscheinlich aber kaum ausreichend war für ein Wesen mit den unmenschlichen Maßen des Primarchen.
Bei der Vorstellung, dass Horus schlief, lächelte sie und fragte sich, welche gewaltigen Visionen von Herrlichkeit und Erhabenheit einer der Söhne des Imperators im Traum erblicken mochte. Die Vorstellung von einem schlafenden Primarchen hatte etwas Vermenschlichendes, obwohl sie nie auf die Idee gekommen war, sich zu fragen, ob jemand wie Horus schlafen musste. Petronella hatte angenommen, dass sie ebenso wenig ermüdeten wie sie alterten und entschied, dass das Bett eine Marotte war, eine Erinnerung an seine Menschlichkeit.
Als Zugeständnis an ihre erste Begegnung mit Horus trug Petronella ein schlichtes smaragdgrünes Kleid, dessen Röcke mit einem Geflecht aus Silber und Topas behangen waren, und ein scharlachrotes Mieder mit einem skandalösen Dekolleté. Sie trug ihre Datentafel und den Mnemo-Federhalter in einem bescheidenen Netz aus Goldkordeln über der Schulter, und es juckte sie in den Fingern, mit der Arbeit anzufangen. Maggard hatte sie vor den Gemächern gelassen, obwohl sie wusste, dass es ihn ärgerte. Sie verwehrte ihm die Gelegenheit, sich in Gegenwart eines so überragenden Kriegers aufzuhalten. Sich in solcher Nähe zu den Astartes aufzuhalten, war ein starker Ansporn für ihren Leibwächter, der sie beinahe als Götter verehrte. Sie fand seine Freude durchaus liebenswert, wollte Horus heute aber ganz für sich allein haben.
Mit den Fingerspitzen fuhr sie über die hölzerne Oberfläche von Horus' Schreibtisch, konnte es kaum erwarten, mit der ersten Sitzung zu beginnen, ihn endlich zu dokumentieren. Die Proportionen des Schreibtisches waren ebenso vergrößert wie die des Bettes, und sie lächelte, als sie sich die vielen großen Feldzüge vorstellte, die er hier geplant hatte, all die Kriegsbefehle, die auf dieser fleckigen und verblichenen Oberfläche unterzeichnet worden waren.
Hatte er hier auch die Anweisung geschrieben, ihr die erste Audienz zu gewähren?
Sie erinnerte sich noch sehr genau, wie sie sie erhalten hatte, erinnerte sich an ihr Entsetzen und an die Hochstimmung, während Babeth nach einem halben Dutzend rascher Garderobenwechsel nicht mehr wusste, wo ihr der Kopf stand. Am Ende hatte sie sich für etwas Elegantes, aber Sittsames entschieden — ein cremefarbenes Kleid mit elfenbeinfarbenem Mieder, das ihren Busen ein wenig anhob, dazu eine netzförmige Halskette aus Rotgold, die sich ihren Hals emporwand, bevor sie in einer tropfenden Kaskade aus Perlen und Saphiren über die Stirn fiel. Anstatt sich nach terranischer Sitte das Gesicht zu pudern, hatte sie sich stattdessen für eine raffinierte Mischung aus Goldschwefelpulver zur Verdunklung der Augenränder und einen polychromatischen Lippenstift entschieden.
Bei Horus hatte diese Zurückhaltung offenbar Anklang gefunden, denn er lächelte breit, als sie zu ihm geführt wurde. Hätte ihr die Enge des Mieders nicht bereits den Atem geraubt, hätte es die Herrlichkeit der Perfektion des Kriegsmeisters und sein greifbares Charisma geschafft. Seine Haare waren kurz, das Gesicht offen und ansehnlich, und die strahlenden Augen fixierten sie mit einem Blick, der ihr verriet, dass sie im Moment das Wichtigste für ihn war. Ihr war ein wenig schwindlig, als sei sie Debütantin bei ihrem ersten Ball.
Er trug eine glänzende Schlachtrüstung von der Farbe eines Winterhimmels, die Ränder bestanden aus gehämmertem Gold, und in den Schulterschützern waren reliefartig Texte eingearbeitet. Auf dem Brustharnisch prangte ein offenes rotes Auge wie ein Blutstropfen auf jungfräulichem Schnee, und sie fühlte sich wie durchbohrt von dessen starrem Blick.
Maggard stand prächtig und strahlend in seiner goldenen und silbernen Rüstung hinter ihr. Natürlich trug er keine Waffen und hatte seine Schwerter und Pistolen bereits Horus' Leibgarde übergeben.
»Milord«, begann sie, indem sie den Kopf neigte und einen komplizierten Knicks beschrieb, die Hand mit dem Rücken voraus in Erwartung eines Kusses ausgestreckt.
»Sie stammen also aus dem Haus Carpinus?«, fragte Horus.
Sie fasste sich rasch und übersah den Bruch der Etikette — er hatte ihre Hand ignoriert und ihr eine Frage gestellt, bevor sie einander offiziell vorgestellt waren. »Das bin ich in der Tat, Milord.«
»Nennen Sie mich nicht so«, sagte er.
»Oh ... gewiss ... wie soll ich Euch anreden?«
»Horus und Sie wäre ein guter Anfang«, sagte er, und als sie zu ihm aufblickte, sah sie, dass er strahlend lächelte. Die Krieger hinter ihm versuchten ohne Erfolg, ihre Belustigung zu verhehlen, und Petronella begriff, dass Horus mit ihr spielte. Sie zwang sich, sein Lächeln zu erwidern, während sie die Verärgerung über seine Zwanglosigkeit verbarg. »Ich danke Ihnen. Das werde ich.«
»Sie wollen mich also dokumentieren?«, fragte Horus. »Wenn Sie mir gestatten, diese Rolle auszufüllen, ja.« »Warum?«
Sie hatte mit vielen Fragen gerechnet, aber nicht mit einer so schlichten, so unverblümt gestellt.
»Ich glaube, dass es meine Berufung ist, Milord ...«, begann sie. »Als Spross des Hauses Carpinus ist es meine Bestimmung, große Dinge und gewaltige Taten aufzuzeichnen und die Herrlichkeit dieses Krieges einzufangen — das Heldentum, die Gefahr, die Gewalt und die volle Wut einer Schlacht. Ich möchte ...«
»Haben Sie jemals eine Schlacht erlebt, Mädchen?«, fragte Horus.
»Nun, nein. Eigentlich nicht«, sagte sie, während sich ihre Wangen vor Zorn über die Bezeichnung »Mädchen« röteten.
»Das dachte ich mir«, sagte Horus. »Nur jene, die noch nie einen Schuss abgefeuert und auch nicht die Schreie und das Stöhnen der Sterbenden gehört haben, rufen laut nach Blut, Vergeltung und Verwüstung. Wollen Sie das? Ist das Ihre >Berufung<?«
»Wenn das der Krieg ist, ja«, sagte sie, nicht gewillt, sich von seinem flegelhaften Benehmen einschüchtern zu lassen.
»Ich will alles sehen. Alles sehen und Horus' Ruhm für zukünftige Generationen aufzeichnen.«
»Horus' Ruhm«, wiederholte er; die Wendung schien ihm zu gefallen. Er spießte sie mit seinem Blick auf und sagte: »In meiner Flotte gibt es viele Memoratoren, Fräulein Vivar. Sagen Sie mir, warum ich Ihnen diese Ehre überlassen sollte.«
Wiederum durch seine Direktheit aus der Fassung gebracht, suchte sie nach Worten, und der Kriegsmeister gluckste über ihre Verlegenheit. Ihre Verärgerung drängte wieder an die Oberfläche, und bevor sie sich daran hindern konnte, sagte sie: »Weil keiner aus dem zusammengewürfelten Haufen Memoratoren, den Sie hier versammelt haben, seine Arbeit so gut machen wird wie ich. Ich werde Sie unsterblich machen, aber wenn Sie glauben, Sie können mich mit Ihren schlechten Manieren und Ihrer hochtrabenden Art herumschubsen, können Sie zur Hölle fahren ... Milord.«
Donnernde Stille breitete sich aus.
Dann lachte Horus, ein hartes Geräusch, und sie wusste, dass sie in einem einzigen Aufflackern von Wut alle ihre Hoffnungen zunichtegemacht hatte.
»Sie gefallen mir, Petronella Vivar aus dem Hause Carpinus«, sagte er. »Sie sind geeignet.«
Ihr fiel die Kinnlade herunter, und das Herz schlug ihr bis in den Hals. »Wirklich?«, fragte sie, voller Furcht, er könne wieder mit ihr spielen.
»Wirklich«, bestätigte Horus.
»Aber ich dachte ...«
»Hören Sie, Mädchen, normalerweise habe ich mir nach zehn Sekunden ein Urteil über eine Person gebildet, und das ändere ich nur sehr selten. Im Augenblick ihres Eintretens habe ich die Kämpfernatur in Ihnen gesehen. In ihnen steckt etwas von einem Wolf, und das gefällt mir. Nur noch eine Sache ...«
»Ja?«
»Nicht so förmlich nächstes Mal«, grinste er. »Wir sind hier auf einem Kriegsschiff und nicht in den Salons von Merica. Und jetzt muss ich mich entschuldigen, fürchte ich, ich muss nach Davin, um einen Kriegsrat abzuhalten.«
Und damit war sie ernannt.
Es erstaunte sie immer noch, dass es so leicht gewesen War. Obwohl es bedeutete, dass die meisten formellen Kleider, die sie mitgebracht hatte, jetzt völlig unangemessen waren, was sie zwang, sich in unerträglich prosaische Kleidung zu zwängen, die mehr zu den Armenhäusern der Gyptus-Türme passten. Die Damen der Gesellschaft hätten sie jedenfalls nicht mehr erkannt.
Sie lächelte über die Erinnerung, während ihre tastenden Finger das Ende des Schreibtischs erreichten und auf einem alten Wälzer mit rissigem Ledereinband und verblichenen Goldbuchstaben verharrten. Sie schlug das Buch auf und blätterte müßig darin, um dann auf einer Seite mit einem komplizierten astrologischen Diagramm der Umlaufbahnen von Planeten und Konjunktionen zu verweilen, unter der das Bild einer mythologischen Kreatur prangte, teils Mensch, teils Pferd.
»Das hat mir mein Vater geschenkt«, sagte eine kraftvolle Stimme hinter ihr.
Sie fuhr herum und riss schuldbewusst die Hand von dem Buch weg.
Horus stand in einer Schlachtrüstung hinter ihr. Wie immer war er fast überwältigend einschüchternd, so präsent und maskulin, und der Gedanke, mit einem so starken Exemplar der Gattung Mann in Abwesenheit einer Anstandsdame denselben Raum zu teilen, verlieh ihrem Schuldgefühl einen köstlichen Anstrich.
»Verzeihung«, sagte sie. »Das war unhöflich von mir.«
Er winkte ab. »Keine Sorge«, sagte er. »Wenn es etwas gäbe, das ich Sie nicht sehen lassen wollte, hätte ich es nicht offen liegen gelassen.«
Trotzdem nahm er das Buch und schob es in das Regal über seinem Bett.
Sie spürte eine gewaltige Anspannung in ihm, und obwohl er äußerlich gelassen wirkte, fing ihr Herz an zu rasen, als sie seine heftige Wut spürte. Sie brodelte unter seiner Haut wie das Feuer eines ehemals schlafenden Vulkans kurz vor dem Ausbruch.
Bevor sie etwas antworten konnte, sagte er: »Ich fürchte, ich kann mich heute nicht mit Ihnen unterhalten, Fräulein Vivar. Auf Davins Mond hat sich etwas ergeben, das meiner umgehenden Aufmerksamkeit bedarf.«
Sie versuchte ihre Enttäuschung zu verbergen. »Egal, wir können ein neues Treffen anberaumen, wenn Sie mehr Zeit haben.«
Er lachte, ein raues Geräusch und, wie sie fand, ein wenig zu traurig, um überzeugend zu sein.
»Das könnte eine Weile dauern«, warnte er.
»Ich gebe nicht so leicht auf«, versprach sie. »Ich kann warten.«
Horus dachte einen Moment über ihre Worte nach, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, das wird nicht nötig sein«, befand er mit einem Lächeln. »Sie sagten, Sie wollten den Krieg sehen?«
Sie nickte enthusiastisch, und er sagte: »Dann begleiten sie mich zum Hangardeck, und ich zeige Ihnen, wie sich die Astartes auf den Krieg vorbereiten.«
Fünf
Unser Volk
Ein Anführer
Speerspitze
AUF DER BRÜCKE der Rächender Geist herrschte hektische Aktivität, da die Rückverschiffung von Truppen und Kriegsmaschinen von der Oberfläche Davins beendet war und nun Pläne für die Auslöschung der rebellischen Truppen Eugan Tembas geschmiedet wurden.
Auslöschung. Das war das Wort, das benutzt wurde, nicht Unterwerfung, nicht Befriedung. Auslöschung.
Und die Legion war mehr als bereit, das Urteil zu vollstrecken.
Schnittige und tödliche Kriegsschiffe lichteten den Anker vor Davin unter dem wachsamen Blick des Flottenadmirals Boas Comnenus. Eine so große Flotte auch nur über kurze Entfernung in Formation fliegen zu lassen, war kein geringes Unterfangen, aber die Schiffskapitäne waren Könner, und der Rückzug von Davin erfolgte mit der Präzision eines chirurgischen Schnitts.
Nicht die gesamte Expeditionsflotte verließ den Orbit um Davin, aber der Rächender Geist folgten genug Schiffe, um zu gewährleisten, dass der Speerspitze der Astartes nichts standhalten konnte.
Die Fahrt war gnädigerweise nur kurz. Davins Mond war ein schmutziger gelbbrauner Fleck aus reflektiertem Licht vor der entfernten roten Sonne.
Für Boas Comnenus sah ihr Ziel wie eine fürchterlich angeschwollene Pustel am Himmel aus.
Auf dem Hangardeck ging es hektisch zu, da Wartungspersonal und Mechanicum-Adepten letzte Funktionsprüfungen an den tosenden Stormbirds vornahmen. Flammende Triebwerke und flackernde Lichtbögen tauchten das enorme, hallende Deck in einen fahlen, ausgewaschenen industriellen Schein. Luken wurden zugeschlagen, Sprengköpfe scharf gemacht und Treibstoffschläuche aus grollenden Maschinen entfernt. Sechs der monströsen Flugmaschinen kauerten am Ende ihrer Startrampen, während Kräne die letzte Munition an Bord hievten und Geschützservitoren die Kanonen unter der Kanzel kalibrierten.
Die Hauptmänner und Krieger, die ausgewählt worden waren, die Speerspitze des Kriegsmeisters zu bilden, folgten dem Wartungspersonal und prüften ihre Maschinen eigenhändig. In Kürze würde ihr Leben von diesen Flugmaschinen abhängen, und niemand wollte durch etwas so Triviales wie mechanisches Versagen sterben. Das Mournival würde zusammen mit Luc Sedirae, Nero Vipus, Verulam Moy und einigen Spezialtrupps nach Davins Mond fliegen, um wieder einmal im Namen des Imperiums zu kämpfen.
Loken war bereit. Ihm gingen viele neue und bestürzende Gedanken durch den Kopf, aber im Angesicht der bevorstehenden Schlacht schob er sie beiseite. Zweifel und Unsicherheit umwölkten den Geist, und das konnte sich ein Astartes nicht leisten.
»Thron, ich bin bereit dafür«, sagte Torgaddon, der die Aussicht auf eine Schlacht sichtlich genoss.
Loken nickte. Irgendwas kam ihm immer noch schrecklich falsch vor, aber er sehnte sich ebenfalls nach der Reinheit eines echten Kampfes, nach der Gelegenheit, seine Fähigkeiten als Krieger gegen lebende Gegner zu beweisen. Obwohl sie es, falls ihre Aufklärung korrekt war, nur mit vielleicht zehntausend rebellischen Armeesoldaten zu tun haben würden, die nicht einmal einem Viertel der aufgebotenen Astartes gewachsen gewesen wären.
Doch der Kriegsmeister hatte die völlige Vernichtung von Tembas Streitkräften verlangt. Fünf Kompanien Astartes, eine Abteilung von Varvarus' Byzantiner janitscharen sowie eine Kampfgruppe Titanen der Legio Mortis würden seinen feurigen Zorn entfachen. Princeps Esau Turnet hatte sogar den Dies Irae eingebracht.
»So ein Aufgebot habe ich seit Ullanor nicht mehr erlebt«, sagte Torgaddon. »Diese Rebellen auf dem Mond sind bereits so gut wie tot.«
Rebellen ...
Wer hätte je geglaubt, so ein Wort zu hören?
Feinde, ja, aber Rebellen ... niemals.
Der Gedanke verdarb ihm die Vorfreude auf die Schlacht, während sie zu Aximand und Abaddon gingen, die das Waffeninventar ihres Stormbird prüften und darüber stritten, welche Munition sich am besten eignete.
»Ich sage dir, dass die Unterschallpatronen besser wären«, sagte Aximand.
»Und wenn sie so eine Panzerung haben wie diese Bastarde des Interex?«, wollte Abaddon wissen.
»Dann benutzen wir die massereaktiven. Sag es ihm, Loken!«
Abaddon drehte sich zu Loken und Torgaddon um und nickte knapp.
»Aximand hat recht«, sagte Loken. »Überschallpatronen durchschlagen einen Mann, bevor sie plattgedrückt werden und dadurch eine tödliche Austrittswunde hinterlassen. Damit kann es dir passieren, dass du ein Ziel drei Mal triffst und es immer noch nicht tot ist.«
»Ezekyle will sie haben, weil wir die letzten Gefechte alle gegen schwer gerüstete Krieger ausgetragen haben«, sagte Aximand, »aber ich versuche ihm klarzumachen, dass diese Schlacht gegen Männer geführt wird, die nicht besser gerüstet sind als unsere eigenen Armeesoldaten.«
»Und machen wir uns nichts vor«, gackerte Torgaddon. »Ezekyle braucht alle Hilfe, die er kriegen kann, um einen Feind niederzustrecken.«
»Gleich strecke ich dich nieder, Tarik«, sagte Abaddon, dessen grimmige Miene sich schließlich in einem Lächeln auflöste. Die Haare des Ersten Hauptmanns waren zu einer langen Skalplocke zurückgebunden, damit er den Helm aufsetzen konnte, und Loken sah, dass er das kommende Blutvergießen ebenfalls kaum erwarten konnte.
»Stört das hier eigentlich keinen von euch?«, fragte er, weil er einfach nicht mehr an sich halten konnte.
»Was denn?«, fragte Aximand.
»Das«, sagte Loken mit einer weiten Geste, die das ganze Deck einschloss. »Ist euch nicht klar, was wir im Begriff stehen zu tun?«
»Natürlich ist uns das klar, Garvi«, blaffte Abaddon. »Wir werden irgendeinen verdammten Schwachkopf töten, der den Kriegsmeister beleidigt hat!«
»Nein«, sagte Loken. »Es ist mehr als das, seht ihr das denn nicht? Diese Leute, die wir töten werden, gehören keinem Xenos-Imperium an und auch keinem verschollenen Ableger der Menschheit, der sich nicht eingliedern lassen will. Das sind unsere Leute. Wir werden unsere Leute töten.«
»Es sind Verräter«, sagte Abaddon und betonte das letzte Wort. »Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Siehst du das nicht? Sie haben dem Kriegsmeister und dem Imperium den Rücken gekehrt, und aus diesem Grund ist ihr Leben verwirkt.«
»Hör schon auf, Garvi«, sagte Torgaddon. »Du sorgst dich um nichts.«
»Tue ich das? Was machen wir, wenn es wieder passiert?«
Die anderen Mitglieder des Mournival sahen einander verwirrt an.
»Wenn was wieder passiert?«, fragte Aximand schließlich.
»Wenn noch eine Welt hinter uns rebelliert, dann noch eine und noch eine? Das hier ist die Armee, aber was passiert, wenn Astartes rebellieren? Würden wir dann auch gegen sie kämpfen?«
Die anderen drei lachten darüber, dann sagte Torgaddon: »Du hast einen ausgeprägten Sinn für Humor, Bruder. Du weißt, dass das unmöglich ist. Es ist undenkbar.«
»Und unziemlich«, sagte Aximand mit ernster Miene.
»Was du da andeutest, könnte man als Hochverrat betrachten.«
»Was?«
»Für diese Volksverhetzung könnte ich dich beim Kriegsmeister melden.«
»Aximand, du weißt, ich würde niemals ...«
Torgaddon gab sich als Erster eine Blöße. »Ach, Garvi, du bist zu leichte Beute!«, sagte er, und alle lachten. »Jetzt fällst du schon auf Aximand herein. Thron, du bist so durch und durch korrekt.«
Loken zwang sich zu einem Lächeln. »Ihr habt recht, das bin ich.«
»Sei nicht korrekt«, sagte Abaddon. »Sei lieber kampfbereit.«
Der Erste Hauptmann streckte seine Hand in die Mitte der Gruppe und sagte: »Tötet für die Lebenden.«
»Tötet für die Toten«, sagte Aximand und legte seine Hand auf Abaddons.
»Zur Hölle mit den Lebenden und den Toten«, sagte Torgaddon und folgte Aximands Beispiel. »Tötet für den Kriegsmeister.«
Loken verspürte eine große Liebe zu seinen Brüdern, nickte und legte seine Hand obenauf. Die Bruderschaft des Mournival erfüllte ihn mit Stolz und Zuversicht.
»Ich werde für den Kriegsmeister töten«, versprach er.
Das Ausmaß von alledem raubte ihr den Atem. Ihr eigenes Schiff konnte mit drei Hangardecks aufwarten, aber das waren armselige Dinger verglichen mit dem hier, höchstens für die Abfertigung von Kuttern, Fähren und Jollen geeignet. Der Anblick von so viel militärischer Macht machte einen bescheiden und demütig.
Hunderte Astartes umgaben sie, standen vor den ihnen zugewiesenen Stormbirds — monströsen, fettbäuchigen Flugmaschinen mit Raketen unter den Tragflächen und großkalibrigen, schwenkbaren Kanonen im Bug. Triebwerke heulten, während in letzter Minute Einstellungen verändert wurden, und die massig und kraftvoll aussehenden Astartes begannen mit den allerletzten Prüfungen der Waffen.
»Ich hätte mir nie träumen lassen, dass es so sein würde«, sagte Petronella, während sie zusah, wie die gigantische Schleuse am anderen Ende der Startrampen ohrenbetäubend zur Vorbereitung des Starts aufrumpelte. Durch das schimmernde Nullfeld konnte sie den leprösen Schein von Davins Mond vor einem Gesprenkel aus Sternen sehen, während sich schwarz versengte Schubdeflektoren auf zischenden pneumatischen Kolben aus dem Boden hoben.
»Das hier?«, sagte Horus. »Das ist gar nichts. Bei Ullanor waren sechshundert Schiffe im Orbit des GrünhautPlaneten vor Anker. An jenem Tag ist meine gesamte Legion in den Krieg gezogen, Mädchen. Wir haben das Land mit Soldaten überzogen: über zwei Millionen Ar- meesoldaten, hundert Titanen des Mechanicums und alle Sklaven, die wir aus den Arbeitslagern der Grünhäute befreit hatten.«
»Und alle wurden vom Imperator geführt«, sagte Petronella.
»Ja«, sagte Horus. »Alle wurden vom Imperator geführt ...«
»Haben auf Ullanor noch andere Legionen gekämpft?«
»Guillaume und der Khan haben mit ihren Legionen geholfen, das äußere System zu säubern, aber den Sieg haben meine Krieger errungen, die Besten der Besten, die durch Blut und Dreck gewatet sind. Ich selbst habe die Speerspitze Justaerin zum Endsieg geführt.«
»Das muss unglaublich gewesen sein.«
»Das war es«, bestätigte Horus. »Nur Abaddon und ich haben den Kampf gegen den Anführer der Grünhäute überlebt. Er war ein zäher Brocken, aber ich habe ihn erleuchtet und dann seinen Leichnam vom höchsten Turm geworfen.«
»Das war noch bevor der Imperator Ihnen den Titel Kriegsmeister verliehen hat?«, fragte Petronella, deren Mnemo-Federhalter sich hektisch mühte, Horus' rascher Diktion zu folgen.
»Ja.«
»Und Sie haben diese ... Speerspitze, richtig? ... geführt?«
»Ja, eine Speerspitze. Ein Präzisionsangriff, um dem Gegner die Kehle durchzuschneiden und ihn dadurch kopflos und blind zu machen.«
»Und hier werden Sie die wieder führen?«
»Das werde ich.«
»Ist das nicht etwas ungewöhnlich?«
»Was?«
»Dass sich jemand von so hohem Rang aufs Schlachtfeld begibt?«
»Ich habe dieselbe Deb... Diskussion mit dem Mournival geführt«, sagte Horus, ohne ihre Verwirrung bei diesem Ausdruck zu beachten.
»Ich bin der Kriegsmeister, und diesen Titel habe ich mir nicht verdient, indem ich mich aus Schlachten herausgehalten habe. Wenn Männer mir folgen und Befehle fraglos ausführen sollen, wie es die Astartes tun, müssen sie sehen, dass ich bei ihnen bin und mich ebenfalls der Gefahr stelle. Wie kann sich ein Krieger von mir ins Gefecht schicken lassen, wenn er das Gefühl hat, dass ich nur Befehle unterzeichne, ohne die Gefahren einschätzen zu können, denen er ausgesetzt ist?«
»Sicher kommt einmal die Zeit, in der Rangerwägungen Sie vom Schlachtfeld fernhalten müssen? Sollten Sie fallen ...«
»Das werde ich nicht.«
»Aber wenn doch.«
»Das werde ich nicht«, wiederholte Horus, und sie spürte die Kraft seiner Überzeugung in jeder Silbe.
Der Blick seiner wie immer strahlenden und kraftvollen Augen begegnete ihrem, und sie spürte, wie das Licht ihres Glaubens an ihn heller strahlte, bis es ihren ganzen Körper erleuchtete.
»Ich glaube an Sie«, sagte sie.
»Sagen Sie, würden Sie gern das Mournival kennenlernen?«
»Das was?«
Horus lächelte. »Ich zeige es Ihnen.«
»Schon wieder ein verdammter Memorator«, höhnte Abaddon kopfschüttelnd, als er Horus und eine Frau in einem grünroten Kleid das Hangardeck betreten sah. »Schlimm genug, dass eine ganze Schar davon an deinem Rockzipfel hängt, Loken, aber am Kriegsmeister? Das ist eine Schande.«
»Warum sagst du ihm das nicht selbst?«, fragte Loken.
»Das werde ich noch, keine Sorge.«
Aximand und Torgaddon schwiegen, denn sie wussten, Wann sie den Ersten Hauptmann seinem Zorn überlassen und nachgeben mussten. Für Loken war der regelmäßige Kontakt mit Abaddon jedoch neu, und sein Zorn darüber, dass er Erebus in Schutz genommen hatte, noch frisch.
»Du hast nicht das Gefühl, dass das Memorator-Programm auch nur das Geringste für sich hat?«
»Pah, wir verschwenden nur unsere Zeit damit, auf sie aufzupassen. Hat Leman Russ nicht etwas davon gesagt, dass man ihnen allen ein Gewehr geben sollte? Das klingt in meinen Ohren jedenfalls sehr viel vernünftiger, als sie alberne Gedichte schreiben und Bilder malen zu lassen.«
»Es geht nicht um Gedichte und Bilder, Ezekyle, es geht darum, den Geist unseres Zeitalters einzufangen. Es geht um die Geschichte, die wir schreiben.«
»Wir sind nicht hier, um Geschichte zu schreiben«, antwortete Abaddon. »Wir sind hier, um sie zu machen.«
»Genau. Und sie werden sie erzählen.«
»Und was nützt uns das?«
»Vielleicht tun sie es nicht für uns«, sagte Loken.
»Hast du dir das mal überlegt?«
»Für wen dann?«
»Für die Generationen, die uns nachfolgen«, sagte Loken. »Für das zukünftige Imperium. Du kannst dir nicht vorstellen, was für eine Fülle von Informationen die Memoratoren sammeln. Bibliotheken voll mit aufgezeichneten Leistungen, Galerien voller Kunst und unzählige Städte, die zum Ruhm des Imperiums erbaut wurden. In ein paar tausend Jahren werden Leute auf diese Zeit zurückschauen, und sie werden uns kennen und das Edle in dem verstehen, was wir uns vorgenommen haben. Unser Zeitalter wird eines der Erleuchtung sein, und die Menschen werden darüber weinen, dass sie nicht dazugehört haben. Alles, was wir erreicht haben, wird man feiern, und die Menschen werden sich an die Sons of Horus als die Begründer eines neuen Zeitalters der Erleuchtung und des Fortschritts erinnern. Überleg dir das, Ezekyle, bevor du die Memoratoren das nächste Mal so rasch abwertest.«
Er suchte Blickkontakt zu Abaddon und forderte ihn mit den Augen heraus, ihm zu widersprechen.
Der Erste Hauptmann begegnete seinem Blick und lachte dann.
»Vielleicht sollte ich mir auch einen zulegen. Schließlich will ich ja nicht, dass mein Name in Zukunft in Vergessenheit gerät, oder?«
Torgaddon schlug ihnen beiden auf die Schulter und sagte: »Nein, wer würde irgendwas über dich wissen wollen, Ezekyle? An mich werden sie sich erinnern, an den Helden von Spinnenland, der die Emperors Children vor dem sicheren Tod durch die Hände der Megarachniden bewahrt hat. Das ist eine Geschichte, die es wert ist, zwei Mal erzählt zu werden, was, Garvi?«
Loken lächelte, froh über Tariks Eingreifen.
»Es ist schon eine großartige Geschichte, Tarik.«
»Ich wünschte nur, wir hätten sie nur zwei Mal hören müssen«, warf Aximand ein. »Ich weiß schon gar nicht mehr, wie oft du sie schon erzählt hast. Damit ist es schon genauso schlimm wie mit dem Witz über den Bär, den du ständig erzählst.«
»Nicht«, warnte Loken, als er sah, dass Torgaddon das Stichwort nur allzu begeistert aufgriff.
»Da war dieser Bär, der größte Bär, den man sich vorstellen kann«, begann Torgaddon. »Und ein Jäger ...«
Die anderen gaben ihm keine Gelegenheit, den Witz weiterzuerzählen, sondern überhäuften ihn mit Gelächter und Gejohle.
»Das ist das Mournival«, sagte eine kraftvolle Stimme, und ihre Neckerei hörte sofort auf.
Loken entließ Torgaddon aus einem Schwitzkasten und nahm Haltung an. Die anderen folgten seinem Beispiel und standen schuldbewusst vor ihrem Kommandanten stramm. Die dunkelhäutige Frau mit dem schwarzen Haar und dem schicken Kleid stand neben ihm, und obwohl sie für eine Sterbliche groß war, reichte sie ihm gerade bis zum unteren Rand seines Brustharnischs. Sie starrte sie verwirrt an und fragte sich zweifellos, was sie hier gerade erlebt hatte.
»Sind Ihre Kompanien bereit zum Gefecht?«, wollte Horus wissen.
»Jawohl, Kommandant«, kam es im Chor.
Horus wandte sich an die Frau und sagte: »Das ist Petronella Vivar aus dem Hause Carpinus. Sie wird meine Chronistin sein, und ich habe — wie es jetzt scheint, unklugerweise — beschlossen, dass sie das Mournival kennenlernen sollte.«
Die Frau machte einen Schritt auf sie zu und begrüßte sie mit einem komplizierten und unbequem aussehenden Knicks. Horus wartete ein wenig hinter ihr.
Loken bemerkte das amüsierte Funkeln, das sich hinter seiner Schroffheit verbarg, und sagte: »Und, wollen Sie uns nicht vorstellen, Milord? Sie kann Ihre Chronik schlecht ohne uns schreiben, oder?«
»Nein, Garviel«, lächelte Horus. »Ich würde euch alle auch nicht aus den Horus-Chroniken ausschließen wollen, nicht wahr? Also gut, dieser unverschämte Bengel ist Garviel Loken, kürzlich in die luftige Höhe des Mournival berufen. Neben ihm steht Tarik Torgaddon, ein Mann, der alles ins Lächerliche zu ziehen versucht, doch meistens scheitert. Aximand ist der Nächste. Wir nennen ihn >Klein-Horus<, weil er das Glück hat, einige meiner ansehnlicheren Züge abbekommen zu haben. Und schließlich kommen wir zu Ezekyle Abaddon, Hauptmann meiner Ersten Kompanie.«
»Derselbe Abaddon vom Turm auf Ullanor?«, fragte Petronella, und Abaddon strahlte.
»Ja, derselbe«, antwortete Horus, »obwohl man es nicht glauben würde, wenn man ihn jetzt betrachtet.«
»Und das ist das Mournival?«
»Diese vier sind es, und trotz ihres Unfugs sind sie für mich von unschätzbarem Wert. Sie sind eine Stimme der Vernunft in meinem Ohr, wenn rings um mich nur Konfusion herrscht. Sie sind mir ebenso teuer wie meine Brüder Primarchen, und ich schätze ihren Rat mehr als den aller anderen. Sie vereinen Zorn, Phlegma, Melancholie und Optimismus im genau richtigen Verhältnis, um mich auf der Seite der Engel zu halten.«
»Also sind sie Berater?«
»Diese Bezeichnung ist zu nichtssagend für den Stellenwert, den sie in meinem Herzen haben. Merken Sie sich dies, Petronella Vivar, dann war Ihre Zeit in meiner Gesellschaft nicht vergebens: Ohne das Mournival wäre das Amt des Kriegsmeisters tatsächlich ein armseliges Los.« Horus trat vor und zog etwas aus seinem Gürtel, etwas, woran ein langer Pergamentstreifen baumelte. »Meine Söhne«, sagte er, indem er auf ein Knie sank und dem Mournival den Gegenstand hinhielt. »Wollt ihr meinen Augenblicksschwur hören?«
Von der Großmut dieses Angebots wie erschlagen, wagte keiner, sich zu rühren. Die anderen Astartes auf dem Hangardeck sahen, was vorging.
Stille breitete sich aus. Angesichts des unglaublichen Anblicks des Kriegsmeisters, wie er vor seinen Auserwählten niederkniete, schien sogar der Hintergrundlärm nachzulassen.
Schließlich streckte Loken eine zitternde Hand aus und nahm dem Kriegsmeister das Siegel ab. Er warf einen Blick auf Torgaddon und Aximand rechts und links neben sich, von der Demut des Kriegsmeisters wie erschlagen.
Aximand nickte und sagte: »Wir werden Ihren Schwur hören, Kriegsmeister.«
»Und wir werden ihn bezeugen«, fügte Abaddon hinzu, indem er sein Schwert aus der Scheide zog und es Horus hinstreckte.
Loken hob das Schwurpapier und las die Worte vor, die der Kommandant aufgeschrieben hatte. »Nimmst du, Horus, deine Rolle hierbei an? Willst du Vergeltung an denen üben, die sich dir widersetzen und sich von der Glorie abwenden, die zu erschaffen du mitgeholfen hast? Schwörst du, keinen am Leben zu lassen, der sich gegen die Zukunft der Menschheit stellt, und gelobst du, der XVI. Legion Ehre zu bereiten?«
Horus blickte Loken in die Augen, zog seinen Panzerhandschuh aus und umschloss die von Abaddon gehaltene Klinge mit der bloßen Hand. »Auf diese Waffe schwöre ich«, sagte er, indem er die Hand über die Klinge zog und die Haut in seiner Handfläche aufschnitt, bis Blut floss.
Loken nickte und reichte dem Kriegsmeister das Wachssiegel, als dieser sich wieder erhob.
Blut quoll aus dem Schnitt, und Horus tauchte das Schwurpapier in die bereits gerinnende rote Flüssigkeit, bevor er es an seinem Brustharnisch befestigte und sie alle breit angrinste.
»Dank an euch alle, meine Söhne«, sagte er, indem er vortrat, um sie einen nach dem anderen zu umarmen.
Die Bewunderung für Horus erfüllte Lokens Herz und machte die Kränkung vergessen — dass er sie auf der Fahrt hierher von seinen Überlegungen ausgeschlossen hatte, zählte nun nicht mehr. Horus umarmte sie der Reihe nach.
Wie konnten sie je an ihm gezweifelt haben?
»Und jetzt haben wir einen Krieg zu führen, meine Söhne«, rief Horus.
»Was sagt ihr dazu?«
»Lupercal!«, rief Loken und reckte die Faust in die Luft.
Die anderen taten es ihm gleich, und der Sprechchor weitete sich aus, bis das gesamte Hangardeck vom ohrenbetäubenden Gebrüll der Sons of Horus widerhallte.
»Lupercal! Lupercal! Lupercal! Lupercal!«
Die Stormbirds starteten nacheinander, und die
Ma-
schine des Kriegsmeisters wurde von ihrem
Katapult
davongeschleudert wie ein Raubvogel. In
Intervallen von sieben Sekunden
folgten die anderen, bis alle sechs unterwegs waren. Die Piloten
hielten sie nah bei der Rächender Geist, um zu warten, bis die
restlichen Schiffe ihre Hangardecks verlassen
hatten. Bisher hatten sie noch nichts von
der Glorie von
Terra gesehen, dem Flaggschiff Eugan Tembas, oder
sonst eines der zurückgelassenen Schiffe, doch
niemand ließ es darauf ankommen, sich von Wolfsrudeln aus
Jägerstaffeln oder Kreuzern, die in der Nähe lauern
mochten, überraschen zu lassen.
Schließlich bezogen weitere zwölf Stormbirds der Sons of Horus Stellung beim Geschwader des Kriegsmeisters, und dazu zwei weitere, die den Word Bearers gehörten. Als die Formation vollständig war, änderten die Schiffe der Astartes abrupt den Kurs in Richtung Mondoberfläche. Die gewaltigen klippenartigen Flanken von Horus' Flaggschiff wichen zurück. Wie Schwärme leuchtender Insekten lösten sich Hunderte Landungsboote der Armee von ihren Transportschiffen — jedes mit hundert Soldaten an Bord.
Doch die größten von allen waren die Landefähren des Mechanicums.
Es handelte sich um riesige monolithische Gebilde wie Häuserblöcke, die stummelnasigen Rohren ähnelten und mit einer Vielzahl hitzeabsorbierender Technologie sowie Bremsdüsen ausgestattet waren.
Trägheitsdämpfende Felder sicherten ihre Fracht, und Sprengbolzen an Halterungen waren darauf geeicht, beim Landeanprall zu zünden.
Nach dem militärischen Arm des Unternehmens folgte der logistische: die Transporter mit Munition, Proviant und Wasser an Bord, Tanker sowie eine Unzahl anderer Schiffe mit unterstützender Funktion, die für die Aufrechterhaltung offensiver Unternehmungen unerlässlich waren.
So zahlreich waren die Schiffe, dass niemand alle im Auge behalten konnte, nicht einmal die Brückenbesatzung unter Boas Comnenus, und daher blieb die goldhäutige Jolle unbemerkt, die den zivilen Hangar der Rächender Geist verließ.
Die Invasionsflotte sammelte sich im tiefen Orbit, wo atmosphärische Höhenwinde unter ihr träge Gasausläufer verwirbelten.
Wie immer waren es die Astartes, die die Invasion anführten.
Der Weg hinunter war rau. Atmosphärische Turbulenzen und Stürme suchten den Himmel heim, und die Stormbirds der Astartes wurden umhergewirbelt wie Blätter in einem Wirbelsturm. Loken spürte das Schiff um sich heftig vibrieren und war dankbar für das Sicherheitsgeschirr, das ihn auf seinem Käfigsitz festhielt. Sein Boltgewehr war über ihm verstaut, und es gab nichts zu tun, außer abzuwarten, bis der Stormbird aufsetzte und der Angriff begann. Er verlangsamte seine Atmung und befreite seinen Geist von allen Ablenkungen. Heiße Energie durchströmte seine Glieder, als die Rüstung seinen Stoffwechsel auf die unmittelbar bevorstehende Schlacht vorbereitete.
Die Krieger von Nero Vipus' Trupps Locasta und Brakespur umringten ihn, reglos, aber als Repräsentanten des Gipfels militärischer Tüchtigkeit.
Er liebte sie alle von Herzen und wusste, dass sie ihn nicht im Stich lassen würden. Ihr Verhalten auf Mord und Xenobia war beispielhaft gewesen, und viele der frisch beförderten Novizen hatten auf diesen heftigen Schlachtfeldern ihre Feuertaufe erlebt.
Seine Kompanie war kampferprobt und sicher. »Garviel«, sagte Vipus über Interkom. »Du solltest dir etwas anhören.«
»Was denn?«, fragte Loken, der einen warnenden Unterton in der Stimme seines Freundes wahrnahm. »Schalte auf Kanal 7«, sagte Vipus.
»Ich habe ihn für die Männer gesperrt, aber ich finde, du solltest dir das anhören.«
Loken wechselte den Kanal, hörte aber lediglich ein beständiges statisches Knistern. Ab und zu gab es Knacken und Klicken, aber sonst war da nichts. »Ich höre nichts.«
»Warte. Das kommt noch«, versprach Vipus.
Loken konzentrierte sich und horchte in das Knistern hinein.
Und dann hörte er es.
Schwach, als komme sie aus endlos weiter Ferne, war eine Stimme zu vernehmen, gurgelnd und feucht.
»... die Wege der Menschheit. Aberwitz ... sucht ... vor allem das Verhängnis. Im Tod und in der Wiedergeburt soll die Menschheit ewig leben ...«
Zwar war er nicht dazu geschaffen, Furcht zu empfinden, aber Loken fühlte sich jäh und entsetzlich an ihren Anmarsch zu den Flüsterspitzen erinnert, als sie das höhnische Zischen eines Wesens namens Samus gehört hatten.
»O nein ...«, flüsterte Loken, als die wässrige, raspelnde Stimme wieder ertönte. »Daher schwöre ich den Wegen des Imperators und seines Lakaien, des Kriegsmeisters, aus eigenem freien Willen ab. Wenn er sich hierher wagt, wird er sterben. Und im Tod wird er ewig leben. Gesegnet sei Nurgh-leths Hand. Gesegnet sei. Gesegnet sei ...«
Loken schlug mit der Faust auf den Öffnungsmechanismus für seinen Käfig und erhob sich leicht schwankend, da er eigenartige Übelkeit empfand, die ihm den Magen zusammenkrampfte. Sein genveränderter Körper ermöglichte ihm, die wilden Bewegungen des Stormbird auszugleichen, und er ging rasch über das geriffelte Deck zur Pilotenkanzel, wissend, dass sie blind in dasselbe Grauen flogen, das sie auf Dreiundsechzig-Neunzehn erlebt hatten.
Er öffnete die Luke zur Kanzel, wo die Offiziere der Besatzung und die Piloten-Servitoren darum kämpften, den Vogel durch die wirbelnden gelben Gewitterwolken zu bringen. Er konnte dieselben, sich wiederholenden Phrasen über die internen Lautsprecher hören.
»Woher kommt das?«, wollte er wissen.
Der nächste Offizier wandte sich ihm zu und sagte: »Es ist ein Kom, schlicht und einfach, aber ...«
»Aber?«
»Es kommt aus einem Schiffskom«, sagte der Mann, indem er auf eine wabernde grüne Wellenform auf der Anzeige vor sich zeigte. »Dem Muster nach ist es eines von unseren. Und es ist ein starkes Kom, ein Transmitter für die Schiffs-Kommunikation zwischen Flotten.«
»Es ist tatsächlich eine Kom-Sendung?«, fragte Loken, unendlich erleichtert, dass es keine Geisterstimme war wie das hasserfüllte Geschwafel von Samus.
»Anscheinend, aber ein Schiffskom dieser Größe sollte sich nicht nahe der Oberfläche eines Planeten befinden. Derart große Schiffe dringen nicht so weit in die Atmosphäre ein. Jedenfalls nicht, wenn sie später noch mal fliegen wollen.«
»Können Sie es stören?«
»Wir können es versuchen, aber wie ich schon sagte: Es ist ein sehr starkes Signal, es könnte unsere Störsignale rasch durchdringen.«
»Können Sie ermitteln, woher es kommt?«
Der Offizier nickte. »Ja, das ist kein Problem. Ein derart starkes Signal hätten wir aus dem Orbit lokalisieren können.«
»Warum haben Sie es dann nicht getan?«
»Da war es noch nicht da«, protestierte der Offizier. »Wir haben es erst hereinbekommen, als wir in der Ionosphäre waren.«
Loken nickte. »Stören Sie es, so gut Sie können. Und suchen Sie den Ursprung.«
Er ging wieder in das Mannschaftsabteil, beunruhigt über die unheimlichen Parallelen zu ihrem Anflug auf die Flüsterspitzen.
Zu viele Ähnlichkeiten, um Zufall zu sein.
Er öffnete einen Kanal zu den anderen Mitgliedern des Mournival und erhielt die Bestätigung, dass das Signal von der gesamten Speerspitze empfangen wurde.
»Es ist nichts, Loken«, ertönte die Stimme des Kriegsmeisters im führenden Stormbird der Speerspitze. »Propaganda.«