Genoveva nicht übermütig in Vergnügungen schwelgten.

Der Tyras floß inzwischen ganz von Westen her auf uns

zu und wurde zusehends schmäler. Wir näherten uns also langsam seinem Quellgebiet. Ich fragte den Wirt der letzten Krchma auf dieser Strecke nach dem Weg. Er empfahl uns, den Tyras zu überqueren, der hier schon so schmal und

flach war, daß man mühelos hindurchwaten konnte.

Anschließend sollten wir in nördliche Richtung weiterreiten.

Nach ungefähr vierzig römischen Meilen würden wir dann auf den Oberlauf eines weiteren Flußes stoßen, den die Slowenen den Buk nannten. Noch nie zuvor in meinen

Leben hatte ich gesehen oder gehört, daß ein Fluß von

Süden nach Norden floß. Der Wirt sagte uns jedoch, wir sollten diesem Buk stromabwärts bis zur Bernsteinküste folgen.

Nachdem wir ungefähr die Hälfte dieser vierzig römischen Meilen auf einer überraschend guten und von vielen Wagen befahrenen Straße zurückgelegt hatten, erreichten wir ein größeres Dorf, das von seinen Bewohnern Lviv genannt

wurde. Da es zwischen dem Tyras und dem Buk lag, hatte es sich offensichtlich zu einem Umschlagplatz für die

Händler dieser Region entwickelt und verfügte daher sogar über eine gut ausgestattete Herberge. Dieses Lviv schien mir für meine historischen Nachforschungen sehr geeignet, außerdem würde es sicherlich eine Weile dauern, bis wir wieder an einen so angenehmen Ort kommen würden; daher teilte ich meinen beiden Reisegefährten mit, daß wir nicht nur eine Nacht, sondern gleich ein paar Tage in Lviv

verbringen würden.

Genoveva und ich quartierten uns also in der Herberge

ein, und als wir alles Gepäck auf unser Zimmer getragen hatten, sagte sie zu mir: »Sieh mal, Thorn, du kannst und wirst deine erhabene Rolle als männlicher Marschall und Herzog natürlich nicht aufgeben; ich dagegen kann und

werde meine Identität wechseln, wann immer es mir beliebt.

Ich werde manchmal als Thor und manchmal als Genoveva

durch die verschiedenen Läden und Schmieden des Ortes

streifen und mir die Waren zeigen lassen, die hier für Männer und für Frauen angeboten werden; vielleicht werde ich bei dieser Gelegenheit das eine oder andere für Thor oder Genoveva kaufen. Wie du weißt, bin ich ein vornehm erzogenes, verwöhntes und zartes Wesen. Ich konnte jetzt eine so lange Zeit lang nur flüchtig und nur in Flußwasser baden, daß ich auch von den hiesigen Thermen ausgiebig Gebrauch machen möchte, und da es hier getrennte

Badehäuser für Frauen und Männer gibt, werde ich beide besuchen. Auf den Straßen von Lviv und in dieser Herberge halten sich so viele Menschen auf, daß die Ähnlichkeit zwischen Thor und Genoveva niemandem auffallen wird.

Und selbst wenn jemand Verdacht schöpfen sollte, das

Gerede dieser unbedeutenden Bauern, die hier am Ende der Welt leben, könnte dich weder ernsthaft treffen noch dich in Verlegenheit bringen.«

Ich hätte über den ultimativen Charakter dieser Erklärung vielleicht zu Recht empört sein können, aber es belustigte mich eher, daß eine so unzüchtige Person, die imstande war, Pferde zu stehlen und sogar einen harmlosen, alten Bauern umzubringen, sich selbst als vornehm und zart

bezeichnen konnte; daher sagte ich nur nachsichtig: »Wie du möchtest.«

Allerdings begab ich mich trotzdem zu Made in den

Pferdestall und teilte ihm mit, daß Fraujin Genoveva »aus Staatsgründen« nun gelegentlich wieder den jungen Mann namens Thor spielen müsse. »In welcher Verkleidung sie auch immer erscheint, ich möchte, daß du dich stets

unbemerkt in ihrer Nähe aufhältst. Und wenn ich dich

danach frage, wirst du mir berichten, wo sie war und was sie dort getan hat.«

Ich verließ mich darauf, daß Made sie in meiner

Abwesenheit beobachten würde, und da er nie irgend etwas Verdächtiges erzählte, ging ich davon aus, daß meine

beiden Reisegefährten sich tugendhaft verhielten. Ich

versuchte in der Zwischenzeit, mit jedem älteren

Einheimischen ins Gespräch zu kommen, der sich in unserer Herberge oder in irgendeinem der Gasthäuser am

Marktplatz herumtrieb. Bei einem Wein oder einem Bier

fragte ich sie über die Geschichte ihrer Vorfahren aus dieser Region aus.

Aber nur wenige der ortsansässigen älteren Männer waren germanischer Herkunft. Die meisten, die ich traf, waren plattnasige Slowenen. Sie kannten nicht einmal den

Ursprung und die Geschichte ihres eigenen Volkes und

wußten nur in ihrer mürrischen und melancholischen Art zu berichten, daß die Slowenen ursprünglich einmal in

Gebieten gelebt hatten, die viel weiter im Norden oder Osten lagen. Erst viel später seien sie immer weiter nach Süden und nach Westen vorgedrungen.

In einer Taverne am Marktplatz fragte ich einen älteren Mann: »Waren es die Hunnen, die Eure Vorfahren aus ihren Heimatgebieten vertrieben haben?«

»Wer weiß?« sagte er gleichmütig. «Vielleicht waren es auch die Pozorzheni.«

»Was?« fragte ich, denn es war schon eine ganze Weile

her, daß ich dieses Wort zum letzten Mal gehört hatte.

Umständlich versuchte er, das Wort zu umschreiben, bis ich schließlich begriff, daß er diese Frauen meinte, »vor denen man sich in Acht nehmen muß«.

»Jesus«, murmelte ich. »Ich habe in kleinen, abgelegenen Siedlungen tief im Wald abergläubische Bauern von ihnen reden hören, hätte jedoch nicht erwartet, daß die zivilisierten Bewohner von Lviv sich ebenfalls vor einem Stamm wilder Frauen fürchten und an so eine lächerliche Legende

glauben.«

»Wir glauben daran«, räumte er unumwunden ein. »Und

wir hüten uns davor, sie zu verärgern, wenn sie

hierherkommen.«

»Was? Sie kommen hierher?«

»Jeden Frühling«, antwortete er. »Nur ein paar von ihnen.

Sie kommen nach Lviv geritten, um hier ein paar

lebensnotwendige Dinge zu erstehen, die es in ihrer Wildnis im Osten nicht gibt. Sie sind sehr leicht von den anderen Frauen zu unterscheiden, die den Markt besuchen kommen, denn wie die Männer der barbarischen Stämme sind sie

schwer bewaffnet und nur mit ein paar Lederhäuten

bekleidet, die um ihre Hüften geschlungen sind. Schamlos und unverfroren stolzieren sie hier dann auf und ab und stellen ihre bloßen Brüste zur Schau.«

»Womit handeln sie?«

»Ihre Packpferde sind jedesmal mit ihrer winterlichen

Beute an Otterpelzen beladen, außerdem bringen sie noch selbstgesammelte Süßwasserperlen mit. Natürlich sind die Otterfelle nicht so wertvoll wie andere Pelze, und auch ihre Flußperlen sind nicht sehr viel wert. Da wir aber, wie gesagt, diese schrecklichen Frauen nicht verärgern wollen, verhalten wir uns außerordentlich großzügig, wenn wir mit ihnen

verhandeln; daher kam es noch nie vor, daß sie dieses Dorf angegriffen oder die Bauernhöfe in der Umgebung

geplündert haben.«

»Ihr wißt also gar nicht, ob ihr prahlerisches

Herumstolzieren nicht nur eine reine Drohgebärde ist«, sagte ich skeptisch. »Was immer sie früher auch gewesen sein mögen, vielleicht sind sie inzwischen so schwach und zahm wie kleine Kätzchen.«

»Das bezweifle ich«, wandte er ein. »Als ich jünger war, brachte ich einmal mit ein paar anderen Männern zusammen auf der Straße da drüben ein Pferd zum Stehen, das mit seinem Reiter durchgegangen war. Es kam direkt aus dem Osten ins Dorf galoppiert, und sein Reiter starb, kurz nachdem wir ihm vom Pferd geholfen hatten. Er erzählte uns nicht, was ihm bei den Pozorzheni widerfahren war und wie er ihnen schließlich entkam - er konnte es nicht mehr

erzählen, denn ihm war die Zunge herausgerissen worden; er hielt sie in der Hand. Sein verzweifelter Ritt hierher muß furchtbar schmerzhaft gewesen sein, denn sein Körper

bestand nur noch aus rohem Fleisch. Man hatte ihm die

ganze Haut vom Körper gezogen. Daß es sich um einen Mann handelte, erkannten wir nur noch an seinen

Geschlechtsteilen, die er in der anderen Hand hielt.«

Als ich schließlich wieder in unserer Herberge eintraf, um mir dort eine Mahlzeit zu bestellen, war das Haus gerade völlig überfüllt. Die Herberge verfügte über keinen

geräumigen Speisesaal mit vielen einzelnen, weit genug auseinander stehenden Liegen. In dem nicht allzu großen Raum, in dem das Essen serviert wurde, standen nur

mehrere lange Brettertische und Holzbänke, die man nun eng aneinandergeschoben hatte. Ich zwängte mich

zwischen zwei andere Gäste auf eine Bank und stellte

sogleich fest, daß Thor mir direkt gegenüber saß. Als sich unsere Blicke trafen, riß er seine Augen vor Überraschung weit auf. Er schreckte hoch, als wolle er sofort vom Tisch aufspringen, konnte sich jedoch in dem allgemeinen

Gedränge nicht von der Stelle rühren.

Ich wußte sofort, warum mein unerwartetes Erscheinen ihn so erschreckt hatte. In dem Raum roch es zwar nach vielen Menschen, nach Linsensuppe, nach heißem Brot und nach

starkem Bier, dennoch nahm ich ganz deutlich diesen

unverkennbaren Geruch wahr, der von Thor ausging: es war der lattichähnliche Duft der intimsten Absonderung einer Frau. Es war erst vor kurzem abgesondert worden, denn die Säfte einer Frau beginnen an der Luft nach einer gewissen Zeit nach Fisch zu riechen. Und dieser Duft stammte weder von Veleda noch von Genoveva. Thor sah möglicherweise

meine Nasenflügel beben, denn auf seinem Gesicht lag jetzt wieder dieser Ausdruck echter Angst, und seine Augen

schweiften so hektisch durch den Raum, als suche er einen Fluchtweg. Die vielen Menschen im Raum schienen ihm

jedoch seine Sicherheit zurückzugeben, denn er setzte

sogleich wieder sein einschmeichelndes Lächeln auf. Die Worte, die er mir dann über den Tisch hinweg zuwarf,

konnte ich trotz des allgemeinen Lärms gerade noch

verstehen: »Diesmal hast du mich erwischt, bevor ich mich in den Thermen reinwaschen konnte. Aber würdest du mich hier töten, Thorn? Wo so viele Menschen sind? Der Aufruhr hier wäre so groß, daß er deinem König und all deinen

sonstigen Freunden bestimmt zu Ohren käme.«

Er hatte recht. In diesem Augenblick konnte ich ihm

wirklich nichts tun. Mir war inzwischen erneut der Appetit vergangen, also zwängte ich mich zwischen meinen beiden Tischnachbarn hervor, die mich wegen meiner Grobheit

verfluchten, und bahnte mir mit meinen Ellbogen den Weg durch die Menge, von der ich noch weitere Flüche erntete.

Als ich draußen war, stürmte ich zum Stall, denn ich konnte es kaum erwarten, Made in die Finger zu bekommen.

»Du erbärmlicher Wicht!« schrie ich, während ich ihn voller Wut packte und wie eine Satteldecke hin und her schüttelte.

»Bist du nur faul? Oder völlig unfähig? Oder hast du mich auf verbrecherische Weise hintergangen?«

»Fr-Fräuja«, flehte er stammelnd. »W-Was habe ich denn getan?«

»Du hast etwas sehr Wichtiges nicht getan!« brüllte ich und schleuderte ihn gegen die Wand des Stalls. »Thor... ich meine die als Thor verkleidete Genoveva hat mich heute hier in Lviv mit irgend jemandem betrogen. Wie konnte sie dir entwischen? Als Mann hättest du Thor an jeden Ort folgen können. Warst du zu faul?«

»Nein, Herr«, winselte er und sank zu Boden. »Ich bin ihr überallhin gefolgt.«

»Also wohin ging Thor... wohin ging die verkleidete

Genoveva? Warst du zu dumm zu bemerken, daß sie sich

mit jemandem traf, daß sie irgendeine Verabredung hatte?«

»Nein, Herr«, wimmerte Made. Er kauerte sich zusammen

und hielt sich schützend die Arme über den Kopf, »aber ich wußte, daß das Haus ein Bordell ist.«

»Was?« fragte ich bestürzt. »Ein gewöhnliches

Hurenhaus? Du hast gesehen, wie Thor... wie die

verkleidete Genoveva... du hast eine ehrbare Frau ohne zu zögern geradewegs in ein Bordell marschieren sehen? Und du bist nicht sofort zu mir gerannt, um mir von diesem mehr als ungewöhnlichen Vorfall zu berichten?«

»Nein, Herr«, stöhnte er. Dann jedoch bewies Made mehr Mut, als ich von ihm erwartet hatte. Er nahm die Arme vom Kopf, erhob sein tief bekümmertes Gesicht und sagte

entschlossen: »Ihr habt mich zu Recht beschuldigt, Herr. Ich habe Euch tatsächlich auf verbrecherische Weise

hintergangen.«

Ich zog die Faust zurück, die ich gerade auf ihn

niedersausen lassen wollte, und sagte zähneknirschend:

»Erklär mir alles!«

»Es gibt da sehr viel, was ich Euch nicht erzählt habe.«

»Dann hol' das auf der Stelle nach!«

Was er mir dann erzählte, klang wie eine Klage, die nur von gelegentlichen Schluchzern unterbrochen wurde: »Ich weiß nicht, was für eine Art von Frau Eure Fräujin Genoveva ist. Welche Frau würde schon in ein Bordell gehen? In

Noviodunum hielt ich sie noch für einen Mann namens Thor.

Als zum ersten Mal von dieser Reise die Rede war,

befürchtete ich sogar, daß es zwischen Euch und Thor

vielleicht unterwegs zu einem Streit um das schöne Fräulein Swanilda kommen könnte, und ich machte mir bereits

Sorgen, was in diesem Fall wohl aus mir werden würde.

Sobald Swanilda jedoch tot war, entpuppte sich Thor

ebenfalls als Frau. Eifersüchteleien oder Rivalitäten von irgendeiner Seite konnte ich nicht feststellen; Ihr schient mir jedenfalls glücklich zu sein, daher...«

»Das ist kein Bericht! Das ist dummes Geschwätz!«

Unbeirrt fuhr er fort: »Also beschloß ich, auf dieser Reise nichts zu sagen oder zu tun, was zu irgendwelchen

Eifersüchteleien oder Schwierigkeiten führen könnte, und auch nicht mehr zu sehen, als ich sehen sollte.«

»Idiot! Hatte ich dich denn nicht gebeten, wachsam zu

sein?! Ich hatte dir sogar ausdrücklich befohlen, Genoveva nicht aus den Augen zu lassen!«

»Aber genau an diesem Tag, an dem Ihr mir das befohlen habt, hatte sie Euch doch schon zum ersten Mal betrogen, Fräuja!«

Obwohl es mir sehr unangenehm war, über diesen Vorfall zu sprechen, sagte ich: »Ja, das weiß ich. Sie bat dich, schon einmal vorauszureiten, damit sie sich in der

Zwischenzeit mit diesem Köhler einlassen konnte. Genau deswegen befahl ich dir ja, sie von da an nicht mehr aus den Augen zu lassen.«

Made starrte mich verständnislos an. »Welcher Köhler?«

»Dieser rußbeschmierte alte Mann, der uns an jenem Tag noch vor meinem Ausritt auf dem Weg begegnete. Du hast diesen alten slowenischen Bauern doch sicherlich gesehen.

Ein Niemand.« Ich lachte bitter. »Er war der gemeine

Liebhaber, dem sie sich hingab.«

»Ach, ne, es war ein noch gemeinerer Liebhaber als

dieser Slowene, Fräuja Thorn!« schrie Made. Er senkte den Kopf und schlug ihn mit seinen eigenen Fäusten. »Ihr irrt Euch oder Ihr wurdet belogen. Es war nicht der Köhler. Der einzige Niemand, der Frau Genoveva an diesem Tag in den Armen hielt, war ein noch niedrigerer Armenier!«

»Du?... Du also!... Wie konntest du es wagen!« stammelte ich verwirrt.

»Sie wagte es! Sie hat es trotz meiner Proteste von mir verlangt, und danach machte sie sich dann über mein

kleines Glied lustig. Kurz darauf seid Ihr von der Jagd zurückgekehrt, Fräuja Thorn, und zum zweiten Mal schwieg ich, obwohl ich hätte reden müssen. Es gab dann noch ein drittes, ein viertes und ein fünftes Mal, denn Frau Genoveva hat sich seit unserer Ankunft in Lviv mindestens zweimal täglich mit einem Mann nach dem ändern, oder als Thor

verkleidet mit einer Frau nach der ändern, vergnügt.

Unmittelbar danach rannte sie jedesmal in die Thermen, um sich zu reinigen, bevor sie dann das Bett mit Euch teilte. Ich machte mir die ganze Zeit über Sorgen, daß sie sich bei diesen schmutzigen Slowenen vielleicht irgendeine üble Krankheit holen und Euch damit anstecken könnte. Aber

wie, Fräuja Thorn, hätte ich Euch das alles enthüllen

können, ohne dabei mich selbst zu bezichtigen? Oh, vai, natürlich wußte ich, daß ich nicht ewig schweigen konnte, daß früher oder später alles herauskommen würde. Und ich bin bereit, meine Strafe auf mich zu nehmen. Bevor ich sterbe, möchte ich Euch jedoch noch sagen, daß es Thor war, der Fräujin Swanilda erhängt hat. Ich glaube, er merkte sogar, daß ich ihn dabei beobachtete, und da ihn das nicht zu kümmern schien, nahm ich an, daß Ihr und er... ich

meine, daß Ihr und Genoveva...«

»Genug«, sagte ich heiser. »Sei still.«

Er klappte seinen Mund zu, und ich stand eine Zeitlang nur da und grübelte. Als ich schließlich wieder zu reden begann, war es mir gleichgültig, was Made von meinen Worten halten würde.

»Du hattest recht. Es stimmt, daß ich mich stillschweigend an jedem einzelnen Verbrechen beteiligte, das von diesem hinterhältigen Flittchen, von diesem Hurensohn begangen wurde. Thor und ich sind nichts weiter als die zwei Seiten ein und derselben Münze, und diese Münze besteht aus einem so unedlen Metall, daß sie zuerst eingeschmolzen, dann veredelt und schließlich ganz neu geprägt werden muß.

Dazu muß ich zuerst Buße tun. Ich werde gleich damit

beginnen und dich deshalb am Leben lassen, Made;

außerdem werde ich dich von nun an mit dem

angemessenen Respekt behandeln und sogar Maghib zu dir sagen. Mach dich reisefertig. Wir werden diesen Ort

verlassen. Und zwar nur zu zweit. Sattle also unsere beiden Pferde und belade das dritte mit unserem Gepäck.«

Mit gezogenem Schwert schritt ich über den Hof auf die Herberge zu. Ich warf einen kurzen Blick in den Speiseraum und sah, daß Thor nicht mehr dort war, also stürmte ich die Treppen zu unserem Zimmer hinauf. Die Zimmertür stand

weit offen. Thor war bereits da gewesen, und er hatte es offensichtlich sehr eilig gehabt, wieder zu verschwinden, denn unsere Habseligkeiten waren über das ganze Zimmer verstreut. Hastig stöberte ich die Sachen durch, die er zurückgelassen hatte, und stellte dabei fest, daß er sich wieder in Genoveva verwandelt hatte und auch nur

Genovevas Kleider und Utensilien mitgenommen hatte.

Lediglich Thors Schwert fehlte. Ich entdeckte auch, daß er mir den bronzenen Brustschutz entwendet hatte, der ihm schon immer sehr gefallen hatte.

Plötzlich stieß unten jemand einen lauten Schrei aus. Ich ging zum Fenster und sah den Wirt der Herberge sowie ein paar seiner Bediensteten und Stallburschen verstört auf dem Hof herumlaufen. Der Besitzer der Herberge rief, jemand solle einen »Lekar« holen; damit meinte er einen Arzt. Ich rannte aus der Herberge hinaus und zum Stall hinüber. Auf dem Stroh zwischen unseren beiden gesattelten Pferden

sah ich Maghib auf dem Boden liegen. Aus seiner Brust

ragte der Griff eines mir wohlbekannten Messers hervor.

Diesmal hatte Genoveva in ihrer Eile jedoch nicht sorgfältig genug gezielt. Maghib lebte noch und war bei Bewußtsein.

Obwohl die um ihn herumschwirrenden Bediensteten ihn

besorgt am Sprechen zu hindern versuchten, ließ seine

armenische Redseligkeit ihn zumindest noch ein paar Worte hervorwürgen, bei denen ihm das Blut aus dem Mund rann:

»Wollte sie aufhalten... Fräujin stach zu... nahm Pferd... ritt nach Osten... nach Osten!...«

Ich nickte, denn ich hatte sofort begriffen, warum er dieses letzte Wort so betont hatte.

»Ja«, sagte ich. »Sie hat all diese Geschichten über die bösartigen Amazonen gehört, und sie weiß, wieviel sie mit ihnen gemeinsam hat. Dahin will sie also.«

Ich konnte nicht glauben, daß eine so verwöhnte Kreatur wie Genoveva sich auf Dauer dem rauhen Leben eines in

den Wäldern lebenden Nomadenstammes verschreiben

würde. Wahrscheinlich wollte sie sich nur eine Zeitlang bei diesen Frauen verstecken, weil sie annahm, dort vor

Verfolgung sicher zu sein.

»Deine Wunde scheint nicht tödlich zu sein, Maghib«,

sagte ich. »Hier ist auch schon der Arzt. Laß ihn deine Wunde versorgen und dich gesundpflegen. Wenn du wieder kräftig genug bist, dann setze deine Reise zur

Bernsteinküste fort. Du mußt nur zum Bug reiten und diesem Fluß dann stromabwärts folgen. Ich werde zu dir stoßen, sobald ich meine Rechnung mit der Person beglichen habe, die uns verraten hat.«

Ich überließ Maghib der Obhut des Arztes und hinterlegte beim Wirt der Herberge genügend Geld für seine

Verpflegung und Betreuung. Dann belud ich Velox mit

meinem Gepäck und ritt ebenfalls nach Osten - in das Land der Sarmaten und zu den Frauen, vor denen man sich in

Acht nehmen mußte.

9

Sarmatien ist eine große Region ohne feste Grenzen, der westlichste Zipfel Asiens. In ihrem Osten erstreckt sich das riesige Asien, dessen Grenzen nicht einmal die

Kartographen kennen. Ich mußte jedoch nicht dieses ganze Gebiet durchforsten, um Genoveva zu finden, falls sie

tatsächlich bei den Amazonen Zuflucht suchen wollte, denn diese Amazonen oder Bagaqinons oder Viramne oder

Pozorzheni oder wie immer sie sich auch nannten, konnten ja nicht allzuweit von Lviv entfernt leben, da sie jedes Jahr ein paar Abgesandte mit Otterpelzen und Süßwasserperlen dorthin schickten. Im Gegensatz zu Genoveva wußte ich

also, womit sie handelten, und konnte mir daher

ausrechnen, daß sie irgendwo in der Nähe eines klaren, schnell fließenden Stromes leben mußten.

Als ich nach zwei Tagen die letzten Häuser Lvivs und die außerhalb der Stadt liegenden Bauernhöfe hinter mir

gelassen hatte und mich bereits mitten in einem tiefen Nadelwald befand, legte ich Thorns Rüstung ab und

verwandelte mich wieder in Veleda, denn die Gefahr, von den Amazonen sofort abgelehnt zu werden, war sicher

geringer, wenn ich ihnen als Frau gegenübertrat. Anders als Genoveva wußte ich ja auch, wie diese Amazonen sich

kleideten. Meine neue Kluft war also auf geradezu

schamlose Art weiblich: bis auf eine Busenbinde, die ich mir unter meine Brüste band, um sie höher und voller

erscheinen zu lassen, war mein Oberkörper frei, und ich war sehr froh, daß das warme Klima des gerade einsetzenden Herbstes dies noch zuließ.

Nach ungefähr sechs Tagen erreichte ich einen ziemlich breiten, herrlich klaren und munter vor sich hin fließenden Strom, der Ottern geradezu ideale Lebensbedingungen bot, daher beschloß ich, dem Fluß ein oder zwei Tage lang

stromabwärts zu folgen. Sollte ich auf dieser Strecke

keinerlei Spuren von Menschen finden, dann wollte ich den Fluß überqueren und auf der anderen Seite wieder

hinaufreiten. Velox lief beinahe so leise wie ein Wolf das mit Moos und weichem Gras bedeckte Ufer entlang, und ich

schaute mich immer wieder wachsam um, während ich unter Pinien hindurchritt, deren lange Äste über das Wasser

ragten. Schon bald stellte sich jedoch heraus, daß ich nicht wachsam genug gewesen war.

Lautlos huschte plötzlich etwas an meinem Gesicht vorbei und an meinem Oberkörper entlang; dann schnürte sich

dieses Etwas direkt unterhalb meiner Brüste schmerzhaft um mich herum, so daß meine Arme eng an den Körper gepreßt wurden. Noch bevor ich begriff, was geschah, wurde ich bereits mit einem heftigen Ruck aus dem Sattel gerissen. Ich fiel nicht zu Boden, sondern hing frei in der Luft, während Velox zunächst gemächlich ohne mich weiterlief, bald darauf jedoch anhielt, weil er mein Gewicht nicht mehr spürte, und überrascht zu mir zurückkehrte. Ich hörte das Rascheln von Laub und sah jemanden einen Baum hinunterklettern, an

dem er offensichtlich das andere Ende des Seils befestigt hatte, sobald mein Gewicht daran zog. Ich war kaum

überrascht, als ich erkannte, daß es eine Frau war, die sich da von einem Ast herunter auf ihre Füße plumpsen ließ und mich sogleich mit finsteren Blicken durchbohrte.

Ich weiß, daß Homer, Herodotus und viele Erzähler nach ihnen die Amazonen in ihren Legenden als schöne Frauen beschrieben haben, und war daher neugierig, ob sie die Wahrheit erzählt hatten. Nun, leider muß ich die Verfechter solcher Legenden enttäuschen, denn diese Amazonen

waren alles andere als schön. Frauen die ihr ganzes Leben in der Wildnis verbringen, die sommers wie winters im Freien hausen und die, um zu überleben, all die harten Arbeiten selbst verrichten müssen, die sonst Männer tun, gleichen offensichtlich eher wilden Tieren als schönen, anmutig jagenden Dianas. Die erste, die ich jetzt zu Gesicht bekam, ähnelte wahrhaftig einer wilden Bestie, und ihre Schwestern, denen ich bald begegnen sollte, sahen nicht weniger

tierähnlich aus.

Ihre zusammengekniffenen Augen, die ein ganzes Leben

lang in die Sonne, in den Wind und in die Ferne geblickt hatten, waren stark gerötet. Durch das viele Herumklettern auf den Bäumen hatten sich die langen Zehen ihrer nackten Füße krallenartig gespreizt; ihre Hände hatten völlig

verhornte Nägel und waren so breit und schwielig wie die eines Hufschmieds. Mit einer dieser Hände griff sie nun nach dem Gürtel, an dem mein Schwert und mein Messer hingen.

Ihre Kinnlade, die aussah, als könne sie Knochen

zermalmen, klappte plötzlich herunter und legte einen

Mundvoll gelber Zahnstümpfe frei. In unfreundlichem Ton stieß sie ein paar schwer verständliche Wörter hervor, und ich begriff, daß sie mich unfreundlich gefragt hatte, wer ich sei und was ich hier suche. Ich bemühte mich nach Kräften, ihr mit Grimassen und Handbewegungen klar zu machen,

daß das Seil meinen Brustkorb so stark zusammenschnürte, daß ich kaum Luft holen, geschweige denn antworten

konnte.

Außer den Waffen, die sie mir abgenommen hatte, besaß

sie auch noch ein eigenes Messer, das in ihrem Gürtel

steckte; außerdem hingen ein Bogen und ein Köcher über ihre Schultern. Sie musterte mich grübelnd, bis sie

offensichtlich zu dem Schluß gelangte, daß sie nicht nur besser bewaffnet, sondern auch stärker war als ich.

Während sie das Seil zusammenrollte und mich dabei nicht aus ihren kleinen, roten Augen ließ, erzählte ich ihr eine Geschichte, die ich mir schnell zurechtgelegt hatte.

In ernstem Ton berichtete ich ihr, daß ich die gequälte Ehefrau eines schlechten und gewalttätigen Mannes sei, die sich nach vielen Jahren entschlossen habe, seine Flüche und Mißhandlungen, besonders aber seine abscheuliche

Lüsternheit, nicht länger zu ertragen. Daher sei ich seiner Knechtschaft entflohen und hierhergeritten, um bei meinen im Wald lebenden Schwestern Beistand und Schutz zu

suchen.

Dann wartete ich gespannt darauf, ob sie jetzt vielleicht sagen würde, daß vor wenigen Tagen bereits ein anderer weiblicher Flüchtling hier eingetroffen sei. Sie warf jedoch nur einen kurzen Blick auf Velox und sagte mißtrauisch:

»Dein grausamer Ehemann hat dich mit einem sehr feinen Pferd ausgestattet, Svistar.«

»Ach, ne! Er? Ni allis. Ich habe es ihm gestohlen. Mein Mann ist kein armer Bauer, sondern ein Kaufmann aus Lviv mit einem Stall voller Pferde. Ich nahm mir seinen besten Kehailaner.«

»Das Pferd gehört jetzt nicht mehr dir, sondern uns«,

grunzte sie.

»Ihr könnt euch sogar noch so ein Pferd verschaffen«,

sagte ich mit einem verschlagenen Lächeln und deutete

dabei auf ihr Wurfseil, »wenn er mir nachgeritten kommt.«

»Das habe nicht ich zu entscheiden.«

»Dann laß mich mit eurer Königin sprechen, oder mit eurer Oberfrau oder mit eurer Haupt-Waliskari, oder welchen Titel eure Anführerin auch immer trägt.«

»Unsar Modar. Unsere Mutter.« Erneut verfiel sie in ein tiefes Grübeln und sagte dann plötzlich: »Sehr gut, komm.«

Obwohl sie bereits meine Waffen und ihr aufgewickeltes Wurfseil trug, ergriff sie nun auch noch die Zügel von Velox und stapfte stromabwärts das Ufer entlang. Ich lief neben ihr her und freute mich ungemein, daß ich tatsächlich vor

Genoveva hier eingetroffen war.

»Sicher ist eure Anführerin nicht die leibliche Mutter jeder einzelnen Waliskari. Ging das Amt durch ein Erbfolgerecht auf sie über? Oder habt ihr sie zu eurer Stammesmutter ernannt oder gewählt? Und wie soll ich sie anreden?«

Meine Häscherin überlegte erneut und sagte dann: »Sie

herrscht über uns, weil sie die Älteste ist. Sie ist deshalb die Älteste, weil sie am längsten überlebt hat; und sie hat deshalb alle überlebt, weil sie die wildeste, blutrünstigste und erbarmungsloseste von uns allen ist. Sie ist fähig, jede von uns oder sogar den ganzen Stamm zu töten. Du wirst sie wie wir alle voller Ehrfurcht und Bewunderung mit Modar Lubo anreden. Mutter Liebe.«

Beinahe hätte ich laut herausgelacht, weil zwischen

diesem Namen und der Beschreibung seiner Trägerin ein so großer Widerspruch bestand; aber stattdessen sagte ich nur:

»Und wie ist dein Name, Svistar?«

Selbst diesmal mußte sie überlegen bevor sie mir

schließlich antwortete, sie heiße Ghashang. Als ich zu ihr sagte, daß ich diesen Namen noch nie gehört hätte, erklärte sie mir, er bedeute: die Hübsche. Erneut konnte ich mir das Lachen kaum verkneifen.

Nach einer Weile erreichten wir die Lichtung, auf der ihr Stamm unter freiem Himmel lebte. Ghashang band mein

Pferd an, und einige ihrer Schwestern rannten neugierig neben uns her, als sie mich anschließend durch eine

schützende Baumreihe hindurch zu einer angrenzenden,

kleineren Lichtung führte, die Modar Lubo als ›Freiluftpalast‹

diente. Wie die andere Lichtung war auch diese mit

Essensresten und anderem Abfall übersät; Modar Lubos

Wohnstätte konnte jedoch immerhin zwei

Einrichtungsgegenstände aufweisen: über ihren Schlafplatz hatte man zwischen zwei Bäumen ein Dach aus struppigem Hirschfell gespannt; außerdem stand mitten auf dem Platz ein ›Thron‹, der aus einem riesigen, verwitterten und von den Jahren ausgehöhlten Baumstumpf grob zurechtgehackt worden war. Auf ihm thronte nun imposant die mächtige

Gestalt Modar Lubos, ja sie quoll geradezu über den Thron hinaus. Als ich diese älteste Amazone erblickte, zweifelte ich nicht mehr daran, daß sie tatsächlich auch die fürchterlichste von allen war.

War jede ihrer Töchter schon ungefähr so häßlich wie ein Auerochse, so erinnerte sie an jenes Fabelwesen, das sich abergläubische Heiden früher unter dem sagenhaften

Drachen vorgestellt haben. Die ledrige Haut von Mutter Liebe war nicht nur, wie die vieler alter Frauen, zerknittert und fleckig, sondern hing zudem noch in beutelartigen

Lappen herunter, die wie Saurierschuppen aussahen, und beulte sich an vielen Stellen zu Warzen und Geschwulsten aus. Ihre flachen, alten Brüste sahen so hart aus wie zwei Platten einer Rüstung; ihre Finger- und Fußnägel hatten die Länge von Krallen, und die paar Zähne, die sie noch

besaß, waren beinahe so lang und dick wie die Hauer eines Wildschweins. Vom Körperumfang her übertraf sie selbst die dickste ihrer Töchter noch bei weitem. Sie war auch viel stärker behaart als die anderen; außer der verkrusteten, grauen Matte, die auf ihrem Kopf wuchs, hingen ihr zu

beiden Seiten des Mundes Haarbüschel herunter, die an die Bartfäden von Fischen erinnerten. Ihr Atem war zwar nicht sichtbar wie das Feuer eines Drachen, roch dafür jedoch ranzig genug, um jeden Gegner auf acht Schritt Abstand zu halten.

Die anderen Frauen hatten mich nur schief von der Seite angesehen; sie jedoch starrte mir haßerfüllt direkt ins Gesicht, als ich ihr meinen Namen nannte und die

Geschichte wiederholte, die ich mir für Ghashang

ausgedacht hatte. Ich hatte erst wenige Worte gesprochen, als sie mir schon etwas entgegenknurrte, was sich wie eine Frage anhörte: »Zaban ghadim, baladid?« Als ich sie

daraufhin nur verständnislos anblickte, fragte sie auf Gotisch: »Du sprichst nicht die alte Sprache?«

Da ich wieder nicht verstand, was sie damit meinte, sagte ich nur etwas verwirrt: »Doch, ich spreche die alte Sprache, die Ihr soeben benutzt habt, Modar Lubo.«

Sie schürzte geringschätzig die Lippen, entblößte ihre Stoßzähne und höhnte: »Eine Stadtfrau!« Dann deutete sie mir mit einem gebieterischen Wink ihrer Pranke an, daß ich weitererzählen solle.

Ich fuhr mit meiner Geschichte fort, malte jedoch ihr

gegenüber die Niederträchtigkeiten meines erfundenen

Ehemannes noch viel drastischer aus. Ich betonte

insbesondere, wie sehr ich jedesmal, wenn er von seinen ehelichen Rechten Gebrauch machte, das Gefühl gehabt

hätte, mir werde Gewalt angetan. Und da ich vorgab, die Abscheu der Amazonen vor dem Geschlechtsverkehr zu

teilen, senkte ich vorsichtig meinen Kopf, damit Mutter Liebe die Venusfalte um meinen Hals nicht sehen konnte, denn es hätte ja sein können, daß sie wußte, was diese Falte über die wirklichen Neigungen einer Frau aussagte. Nachdem ich meinen angeblichen Ehemann als ein wahres Monstrum an

Gewalttätigkeit und Lüsternheit geschildert hatte, schloß ich mit dem folgenden Satz: »Ich bitte Euch und Eure Töchter, mir Zuflucht zu gewähren, Modar Lubo, und ich bitte Euch zudem um Schutz, weil dieser hassenswerte Mann das

Werkzeug, in das er so gerne seine lüsternen Säfte ergoß, nicht so ohne weiteres aufgeben wird. Er wird mir

wahrscheinlich voller Gier folgen.«

Sie verlagerte ihre Körperfülle ein wenig von einer

Thronseite auf die andere und murrte gereizt: »Kein Mann, der bei Verstand ist, würde jemals hierherkommen.«

»Ach, Ihr kennt meinen Mann nicht«, sagte ich.

»Möglicherweise erscheint er verkleidet. Er hat sich zu einem geschickten Transvestiten entwickelt, falls Ihr wißt, was das bedeutet, Mutter; auf Lateinisch heißt so jemand: transvestitus muliebris. Er gewöhnte sich an, meine Kleider zu tragen, und nach einer Weile sah er darin aus wie eine richtige Frau. Er ließ sich von unserem Arzt in Lviv sogar zwei Taschen in die Haut seiner Brust schneiden, in die er dann Wachspolster einführen konnte; und zwar... hier... und hier...«

Ich holte tief Luft, um meine Brüste stärker hervortreten zu lassen; und um zu beweisen, daß meine echt waren, stubste ich sie mit einem Finger an, bis sich ihre Haut leicht zu kräuseln begann. Der alte Drachen riß seine kleinen

Saurieraugen so weit auf, daß sie beinahe menschlich

wirkten, und die anderen Waliskarja, die sich inzwischen um uns versammelt hatten, schauten mich ebenfalls mit großen Augen an.

Seufzend fügte ich hinzu: »Manchmal ging er sogar in

seiner Verkleidung auf die Straße und wurde von Fremden tatsächlich für eine Frau gehalten.«

»Uns könnte er nicht täuschen! Oder, meine Töchter?«

Alle schüttelten energisch ihre bulligen Köpfe. »Auch wenn er das Aussehen und das Benehmen einer Frau hat, so

können wir ihn mit einem Feuerchen ganz leicht enttarnen, Wachs schmilzt und brennt.«

Ihre Töchter nickten heftig und blökten: »Bach! Bach!«

Das schien ein Ausdruck der Zustimmung zu sein, also rief auch ich: »Macte virtute! Was für eine hervorragende Idee, Mutter!«

»Und du?« fragte sie und starrte mich lange eindringlich und finster an. »Was hast du uns außer deinem feinen Pferd und deinen lateinischen Sprüchen sonst noch anzubieten?«

»Ich war nicht immer eine Stadtfrau«, sagte ich. »Ich kann sehr gut jagen, fischen und Fallen stellen...«

»Aber dir fehlt das gute, kräftige Fett auf dem Körper, das du brauchst, um in sehr kaltem Wasser nach Flußperlen zu tauchen. Schau zu, daß du etwas Fleisch auf deine dürren Rippen bekommst. Und nun erzähl mir mal, was du

überhaupt von uns Waliskarja weißt.«

»Nun... ich habe viele Geschichten über euch gehört, weiß allerdings nicht, welche davon wahr sind.«

»Du sollst erfahren, wer wir sind.« Sie zeigte auf eine der Frauen. »Das ist Morgh, sie ist, was man in deiner Sprache eine Ketabzadan nennt; sie trägt die alten Lieder vor. Heute abend wird sie für dich singen. Auf diese Weise lernst du auch schon unsere alte Sprache ein wenig kennen.«

»Heißt das, daß Ihr mich aufnehmt?«

»Vorerst einmal. Ob du bleiben wirst, wird sich noch

zeigen. Hast du in Lviv irgendwelche Kinder

zurückgelassen?«

Diese Frage überraschte mich, aber ich antwortete

wahrheitsgemäß mit: »Nein.«

»Bist du unfruchtbar?«

Ich hielt es für das beste, erneut meinen bereits

ausreichend belasteten Ehemann zu bezichtigen. »Nein,

wahrscheinlich ist er es. Angesichts seiner Perversionen und all seiner anderen...«

»Wir werden sehen.« Dann sagte sie zu der Frau, die mich gefangengenommen hatte: »Ghashang, du bist mir in

Zukunft für sie verantwortlich. Laß den Kutriguri ausrichten, daß wir eine Befruchtung wünschen. Wenn der von ihnen

auserwählte Mann hier eintrifft, dann steck ihn gleich mit der da zusammen.« Und zu mir sagte sie: »Wenn du empfängst, kannst du bleiben.«

Diese Aufnahmebedingung erschien mir doch recht hart.

Einer soeben vor den Zudringlichkeiten ihres eigenen

Ehemannes geflohenen Frau wurde nun zugemutet, sich

einem völlig fremden Mann hinzugeben; und dazu noch

einem vom Stamme der Kutriguri, die so gelbhäutig, verlaust und häßlich waren wie die Hunnen. Ich sagte jedoch nichts, sondern machte nur eine zustimmende Verbeugung.

»Gut. Dann bist du hiermit entlassen. Ihr anderen könnt ebenfalls gehen. Eure Mutter möchte sich jetzt ein wenig ausruhen.«

Sie erhob sich mit einen heftigen Ruck von ihrem Thron und stampfte zu ihrer Schlafstelle hinüber. Nun konnte ich sehen, daß der große Thronstuhl mit Haut überzogen war, die man wohl zum Schmuck mit vielen Farben beschmiert

hatte. Die recht abgenutzte und an den Ecken schon

durchgescheuerte und ausgefranste Haut war so dünn und geschmeidig, daß sie unmöglich von einem Tier stammen

konnte. Es handelte sich um die Haut eines Menschen.

Nach einer Legende sollen die Goten, als sie sich hier niederließen einige bösartige Frauen gewaltsam aus ihrer Mitte vertrieben haben, weil diese das Zusammenleben des Stammes gestört hatten. Die Ausgestoßenen sollen über

ihre Vertreibung so empört gewesen sein, daß sie sich

schworen, fortan ohne Männer zurechtzukommen. Falls

diese Legende stimmte und es sich bei diesen Amazonen

tatsächlich um die Nachfahren dieser Vertriebenen handelte, so erklärte das trotzdem nicht, warum diese Frauen, die den Männern und ihrer eigenen weiblichen Sexualität

abgeschworen hatten, über keinerlei weibliche Instinkte und Attribute mehr verfügten.

Nicht genug, daß es ihnen offensichtlich gefiel, so fett und häßlich zu sein; sie schienen sich zudem auch bewußt einen äußerst unangenehmen Tonfall angewöhnt zu haben. Ich

hatte schon viele Männer mit eisenharter Stimme sprechen hören; aber die Stimmen der meisten Frauen, die ich bisher kennengelernt hatte, hatten so lieblich geklungen wie Silber.

Die Laute, die die alten wie auch die jungen Waliskarja von sich gaben, waren jedoch so rauh und schroff, daß sie eher an Bronze erinnerten. Auch die Faulheit und Schlampigkeit dieser Frauen war äußerst unweiblich. Jede normale Frau wäre über den Schmutz, in dem sie lebten, entsetzt

gewesen. Obwohl der Stamm direkt neben einem klaren

Fluß lebte, starrten ihre Kinder vor Dreck und weil sie nie die weiblichen Künste des Spinnens, Webens und Nähens

erlernt hatten, waren alle nur mit Fellen bekleidet...

Als sie mich jetzt zum gemeinsamen Abendessen riefen,

stellte ich fest, daß sie nicht einmal kochen konnten. Man teilte mir eine Portion undefinierbarer tierischer Eingeweide zu, die nicht gargekocht, sondern lediglich leicht erwärmt worden waren. Dazu erhielt ich ein ebenso undefinierbares Gemisch aus grünen Blättern. Die Mahlzeit wurde auf ein Platanenblatt geschöpft, da die Frauen über keinerlei

Eßgeschirr verfügten. Sie wußten auch nicht, wie man Brot buk. Ich murmelte vor mich hin, daß ja selbst ich da noch besser kochen könne. Ghashang schnappte meine

Bemerkung auf und sagte, daß ich schon noch an die Reihe kommen würde, denn sie kochten abwechselnd, da keine

von ihnen diese Arbeit besonders gern verrichte.

Nach dem Essen frönten die Frauen dem einzigen Luxus,

über den sie verfügten. Das nun folgende Vergnügen war mir nicht neu. Sie streuten getrocknete Hanfblätter in die Glut der Kochfeuer und hängten dann Felle über die

primitiven Feuerstellen. Anschließend steckten sowohl die Frauen wie auch die Kinder abwechselnd ihre Köpfe unter diese Felldächer, um den Rauch tief einzuatmen. Einige der Frauen hielten sogar ihre Kleinkinder in den Rauch, um auch sie an diesem Genuß teilhaben zu lassen. Im Hanfrausch legten die Frauen dann recht unterschiedliche

Verhaltensweisen an den Tag, die jedoch alle jeglicher Würde entbehrten. Einige torkelten im Dunkeln herum, als sei ihnen schwindlig, andere tanzten schwerfällig umher, wieder andere gaben mit ihren eigentümlichen, rasselnden Stimmen in den höchsten Tönen völlig zusammenhangloses Geschwätz von sich. Ein paar der Frauen fielen einfach um und begannen sogleich zu schnarchen. Das Verhalten der berauschten Waliskarja bewog mich keineswegs dazu,

meine schlechte Meinung über sie zu ändern. Nur wenige von uns verzichteten aus verschiedenen Gründen auf den Hanfgenuß: ich, weil mir nichts daran lag, mich zu betäuben; vier oder fünf weitere Frauen, weil sie in dieser Nacht auf den Wipfeln in der Nähe stehender Bäume Wache halten

mußten, und Morgh, weil Mutter Liebe ihr befohlen hatte, später noch für mich zu singen.

Kurze Zeit später erfüllte Morgh diesen Auftrag. In

ohrenbetäubend falschen und schrillen Tönen trug sie mir die lange Geschichte ihres Stammes vor, die trotz der völlig unmusikalischen Darbietung recht aufschlußreich war. Sie erzählte, wie ein paar keusche gotische Frauen vor den Zudringlichkeiten ihrer männlichen Stammesgenossen in die Wildnis geflohen seien, um dort ein freies,

selbstgenügsames Leben ohne Männer zu führen.

Unterwegs seien sie durch eine prächtige skythische Stadt gekommen. Die Frauen dort hätten sie schwesterlich

aufgenommen, sie bewirtet, neu eingekleidet und verwöhnt.

Von den Skythen hätten sie unter anderem den Genuß des Hanfkrauts sowie zwei weibliche Gottheiten übernommen.

Ihre skythischen Schwestern hätten sie gar nicht wieder gehen lassen wollen, und einige von ihnen hätten sich dann der Gruppe angeschlossen, als diese schließlich reich

beschenkt weiterzog. In der Wildnis hätten sie dann

gemeinsam diesen Frauenstamm gegründet, der sich nur

zum Zwecke der Fortpflanzung gelegentlich eines Mannes bediene. Während Morgh weiterkreischte, machte ich mir meine eigenen Gedanken. Mir war jetzt klargeworden,

warum sich die gotische Muttersprache der Frauen mit dem Skythischen vermischt hatte. Und soviel ich wußte, war die skythische Sprache, die der Stamm jetzt als die alte Sprache bezeichnete, tatsächlich älter als die gotische. Die Frauen waren also gleichzeitig gotischer und skythischer Herkunft, und die Männer, derer sie sich zur Fortpflanzung ihres Stammes bedient hatten, hatten sicherlich den

unterschiedlichsten Völkern angehört. Ich war sehr

erleichtert, daß in den Adern dieser schrecklichen Frauen nicht ausschließlich gotisches Blut floß. Sie waren also keine reinrassigen ›Stammesschwestern‹ von mir.

Morghs Gesänge enthielten zwar keine direkten Aussagen darüber, warum diese Frauen nicht nur dem Geschlechtsakt völlig gleichgültig gegenüberstanden, sondern auch für Weiblichkeit und Schönheit völlig unempfänglich waren, ich wußte jedoch aus alten Geschichtsbüchern, daß die einst gutaussehenden, begabten und tatkräftigen Skythen sich mit der Zeit zu einem fetten, schwächlichen und apathischen Volk entwickelt hatten. Dieser allmähliche Verlust an

Lebenskraft war mit einer zunehmenden Unfruchtbarkeit

einhergegangen, die angeblich zum traurigen Niedergang der Skythen geführt haben soll.

Die Waliskarja hatten sich offensichtlich also nicht bewußt dafür entschieden, fett, häßlich, dumm und geschlechtslos zu sein, sondern sie hatten diese Eigenschaften von den Skythen geerbt, nachdem sie sich mit diesen vermischt

hatten. Mir fiel wieder ein, daß ich vor langer Zeit einmal das skythische Wort Enarios gehört hatte. Es bedeutete ›Mann-Frau‹, und ich hatte es mir damals gemerkt, weil ich

annahm, es sei der skythische Ausdruck für Mannamawi.

Nun schien es mir eher wahrscheinlich, daß mit diesem Wort lediglich unweibliche Frauen bezeichnet wurden. Es war offensichtlich die skythische Übersetzung für Waliskari.

Als ich Lviv verließ, um die verräterische Genoveva zu verfolgen, hatte ich geglaubt, dadurch meine historische Mission auf leichtfertige Weise zu vernachlässigen.

Stattdessen hatte sich dieser Umweg als sehr lohnend

erwiesen, denn ich hatte hier Dinge in Erfahrung gebracht, die mir sonst vielleicht völlig unbekannt geblieben wären.

Ach, ich machte mir nicht vor, hier die einzige Quelle für all die jahrhundertealten Legenden über Amazonenstämme

ausfindig gemacht zu haben, denn als die Griechen vor

mehreren hundert Jahren über Amazonen schrieben, gab es die Waliskarja ja noch nicht. Aber ich war doch sehr

zufrieden, nun zumindest beweisen zu können, daß auch die Goten ihren Beitrag zur Amazonenlegende geleistet haben.

10

Genoveva traf erst drei Tage später bei den Waliskarja ein. Ich tat inzwischen so, als bemühte ich mich nach

Kräften, eine möglichst schreckliche Waliskari zu werden, und lernte dabei die Gebräuche des Stammes noch besser kennen. Als ich gerade mit Modar Lubo und ein paar

anderen Frauen auf Jagd war, kam plötzlich Ghashang von Osten her auf uns zugeritten. Sie besprach sich kurz mit unserer Mutter, die ein gutes Stück vor mir ritt. Die beiden warteten, bis ich sie eingeholt hatte, dann sagte Modar Lubo zu mir: »Die Kutriguri wissen jetzt, daß wir wieder einen Mann für eine Befruchtung benötigen. Manchmal brauchen sie etwas länger, um zu entscheiden, wen sie schicken

werden, denn diese wilden Böcke reißen sich natürlich alle um eine solche Ehre. Der Auserwählte wird jedoch in ein oder zwei Tagen hier eintreffen.«

Alles andere als dankbar murmelte ich: »Mamnun.« Das

war das skythische Wort für »thags izvis«.

»Und ich befehle dir, dein möglichstes zu tun, um von ihm schwanger zu werden, Dohhtar Veleda!« fuhr sie fort. »Du sollst uns für unsere Gastfreundschaft entlohnen, indem du dich als fruchtbar erweist.«

Noch bevor ich sie ironisch fragen konnte, ob es denn

möglich sei, auf Befehl schwanger zu werden, war sie schon wieder nach vorne geritten. Ghashang blieb jedoch in meiner Nähe und sagte kurz darauf in ihrer nachdenklichen Art zu mir: »Merkwürdig. Modar Lubo irrt sich. Die Männer streiten sich zwar während der Wahl, aber nur deswegen, weil keiner hierhergeschickt werden will. Ich habe nie erfahren,

weshalb.«

Ich hätte ihr antworten können, daß die Kutriguri trotz ihrer Wildheit offensichtlich doch recht vernünftig waren, aber ich verkniff mir diese Bemerkung.

»Noch sonderbarer ist, daß sie diesmal ganz bereitwillig zustimmten, obwohl ich ihnen offen sagte, daß du eine

Fremde bist, die erst vor kurzem bei uns eintraf, und daß du kein bißchen fett, sondern zart, mager und blaß bist, also gar nicht wie eine richtige Frau aussiehst.«

Vielleicht hätte ich sagen sollen, daß diese Wilden

offensichtlich auch einen recht guten Geschmack hatten, aber ich schwieg, weil sich plötzlich vor uns ein lautes Geschrei erhob, das mich aufhorchen ließ. Die ersten von uns waren bereits mit unserer Jagdbeute auf der Lichtung eingetroffen und wurden von den zurückgebliebenen Frauen freudig begrüßt. Unter die Freudenschreie mischten sich jedoch auch laute, aufgeregte Rufe: Komm schnell, Madar Chobi!... Chakar Veleda, komm und schau dir an, wen wir hier haben!«

Sie waren so aufgeregt, weil Genoveva inzwischen

eingetroffen war.

»Ist das der Mann?« fragte Mutter Liebe grimmig. Ich

nickte.

»Er ritt direkt unter dem Baum vorbei, auf dem ich Wache hielt«, sagte die Frau, die uns nun stolz ihren Gefangenen zeigte. »Ich brauchte nur die Fangschlinge meines Wurfseils auf ihn hinunterfallen zu lassen. Und er war tatsächlich verkleidet. Über seinen Frauenkleidern trug er sogar noch das da.«

»Das gehört mir«, murmelte ich, denn sie schwang meinen bronzenen Brustschutz. Sie ließ ihn sich bereitwillig aus der Hand nehmen und fuhr mit ihrem Bericht fort: »Und er

behauptete natürlich, eine Frau zu sein. Pedar sukhte! Wie der auf mich eingeredet hat! Aber ich ließ mich von seinen Worten ebensowenig täuschen wie von seiner Verkleidung.«

Ich starrte auf Genoveva hinunter, die bewußtlos mitten auf der Lichtung lag. Sie war von oben bis unten in Seile verschnürt, und ihre Tunika hatte man vorne aufgerissen, um ihre Brust freizulegen. Genovevas Oberkörper war nur noch eine schauerliche, dunkelrote Masse aus zerfetztem, rohem Fleisch, die jedoch nicht blutete, sondern qualmte.

Genoveva würde nie wieder Genoveva sein.

»Und wie inständig er mich anflehte als ich ihn der Prüfung unterzog; aber ich ließ mich nicht überreden. Seine falschen Brüste ließen sich zwar nicht so leicht wegbrennen, wie ich dachte, aber ich ließ mich nicht beirren, und wie ihr seht, brannten sie schließlich doch. Wir haben jetzt auch noch ein weiteres gutes Pferd, Modar Chobi, das...«

Die Stammesmutter unterbrach sie ärgerlich: »Hast du das alles etwa ganz alleine gemacht?«

Die Frau, die eben noch so glücklich gestrahlt hatte,

schwieg betroffen, und all ihre Schwestern begannen sofort beleidigt zu krähen: »Ja, das hat sie, Modar Lubo!«

»Roshan, diese selbstsüchtige Sau, hat keine von uns

mitmachen lassen!«

»Sie hat uns erst gerufen, als der Mann schon schlapp

und bewußtlos war!«

»Sie ließ uns den Mann lediglich hierherschleppen!«

»Sie hat das ganze Vergnügen alleine ausgekostet!«

Mutter Liebe funkelte die Missetäterin wütend an und knurrte böse: »Solche seltenen Vergnügungen dürfen nur mit

meiner Erlaubnis und nur in meiner Gegenwart stattfinden, und alle müssen daran beteiligt werden.«

Voller Angst stammelte die Frau: »Ihr wart weg... und er war da. Ihr habt doch gesagt... es soll geprüft werden, ob...«

»Du bist gierig gewesen! Und treulos! Du hast nicht nur deine Schwestern betrogen, sondern sogar deine liebende Mutter.«

»Aber... aber... das Vergnügen ist doch noch nicht zu

Ende. Er ist ja noch nicht tot«, wimmerte Roshan. Sie schlug mit ihrer zitternden Hand gegen den gefesselten Körper.

»Seht doch! Er atmet noch. Er wird wieder aufwachen und von neuem zu jammern anfangen.«

Mutter Liebe blickte voller Haß auf den Gefangenen

hinunter und murmelte in meine Richtung: »Er sieht nicht gerade nach einem ganzen Mann aus.«

Ich deutete auf Genovevas Unterleib und sagte: »Ihr könnt Euch leicht davon überzeugen.«

Es war nicht nur unter Mutter Liebes Würde, sich zu

bücken, sie war auch viel zu fett dazu, daher gab sie der neben uns stehenden Shirin ein Handzeichen. Shirin kniete nieder und machte sich an Genovevas Reitrock zu schaffen.

Die Seile schnürten ihn jedoch fest an den leblosen Körper, daher zog sie ihr kurzes, noch blutiges Jagdmesser heraus, zerschnitt den Stoff und klappte die Fetzen auseinander. Sie zuckte kurz zurück, als das Geschlechtsorgan zum

Vorschein kam, das in diesem Augenblick zwar nicht vor aggressiver Potenz strotzte, aber trotzdem unverkennbar männlich war. Ich war froh, daß die Seile Genovevas Beine so eng zusammenschnürten, daß man nicht sah, daß sie

keine Hoden hatte.

»Bring mir das Ding«, grunzte Mutter Liebe.

Shirin lächelte und leckte sich die Lippen, dann setzte sie das Messer an. Der fest verschnürte, völlig bewußtlose Körper krümmte sich vor Schmerz krampfartig zusammen.

Thor würde nie wieder Thor sein.

»Mamnun, Modar Chobi. Nun bin ich Thor los«, sagte ich.

Sie runzelte die Stirn. »Thor?«

»So heißt er, und er war auf diesen Namen so stolz, daß er ihn sich vom Lekar in Lviv mit Nadeln auf seinen Rücken schreiben ließ.«

Auf ein weiteres Handzeichen der Stammesmutter hin half Ghashang Shirin, den leblosen Körper auf den Rücken zu rollen und die restlichen Fetzen der Tunika wegzuschneiden.

Die Augen aller Frauen weiteten sich, als sie Thors

hammerförmige Narbe sahen.

Mutter Liebe dröhnte begeistert: »Bach! Bach! Ich wollte immer schon eine neue Haut für meinen Thron haben. Diese hier wird ihn besonders elegant schmücken.«

»Warum laßt Ihr diese Kreatur nicht noch eine Weile für euch arbeiten, bevor ihr sie abhäutet?« fragte ich. »Nun, da er kein Mann mehr ist, könnt ihr ihn doch zum Sklaven eures Stammes machen. Wenn ihr ihn dann zu Tode geschunden

habt, könnt ihr ihm ja immer noch die Haut abziehen.«

»Mit einem Kaufmann können wir hier nichts anfangen«,

schnaubte sie verächtlich.

»Verzeiht, wenn ich Euch das sage, aber Ihr könntet

durchaus einen guten Koch gebrauchen.«

»Wie?«

»Ich erzählte Euch doch bereits, daß er vielen weiblichen Beschäftigungen nachging. Er brachte sich sogar das

Kochen bei. Ich kann Euch versichern, Mutter, daß Ihr so gut speisen werdet wie nie zuvor, wenn Ihr Thor für den Rest seines Lebens zu Eurem Koch macht; zu unserem Koch,

meine ich natürlich.«

Sie schaute angewidert auf ihn herab. »Ein Kaufmann, ein Ehemann, ein angeblicher Transvestit und dazu noch ein Koch!«

Sie versetzte dem Körper einen Tritt und sagte zu

Ghashang: »Brenne seine letzte Wunde so aus, daß sie sich fest verschließt, damit er nicht an ihr stirbt. Und dann entfernt diesen... diesen Enarios... aus meinen Augen.

Bewache ihn und ruf mich, wenn er aufwacht.« Dann wandte sie sich wieder an mich und sagte gereizt: »Wenn du mit dem, was du hier zu essen bekommst, so unzufrieden bist, Veleda, dann kannst du dich ja heute abend um das Essen kümmern.«

»Mit Vergnügen«, sagte ich ohne zu heucheln, denn

genau das hatte ich den Frauen sowieso vorschlagen

wollen. »Wünscht Ihr, daß ich das Mahl aus dem Fleisch des heute erlegten Elchs zubereite, Mutter? Es wäre allerdings besser, es noch ungefähr eine Woche lang hängen zu

lassen bevor - Mein Gott!«

Dieser Ausruf war mir vor Überraschung herausgerutscht, denn sie hatte sich plötzlich von mir abgewandt, ihr Messer aus dem Gürtel gezogen und es in den fetten, nackten

Bauch von Roshan gestoßen. Die Frau riß ihre Augen noch ein letztes Mal weit auf und kippte dann nach hinten. Der Körper schlug mit einer solchen Wucht auf, daß der Boden unter unseren Füßen bebte.

»Treulosigkeit muß bestraft werden«, sagte Mutter Liebe ohne jegliche Gefühlsregung, und auch ihren anderen

Töchtern kam kein Laut der Klage oder des Protestes über die Lippen. »Nun hör gut zu, Veleda!« Erneut durchbohrte sie mich mit ihrem finsteren Drachenblick. »Deine Ankunft, oder besser gesagt, deine Befreiung von diesem Thor, hat uns eine unserer Schwestern gekostet. Also schau zu, daß du geschwängert wirst und eine Tochter zur Welt bringst, die sie ersetzen kann.«

Ich nickte nur. Dies war nicht der Zeitpunkt, um die freche Frage zu stellen, ob es denn möglich sei, auf Befehl

schwanger zu werden.

Mutter Liebe war mit ihren herrischen Befehlen noch nicht am Ende. Sie zeigte auf Roshans immer noch zuckende

Überreste und sagte zu Shirin: »Schneide ihr den Kopf ab und leg ihn zusammen mit dem des Elchs ehrerbietig auf den Zypressenaltar.«

Shirin machte sich daraufhin entschlossen an die Arbeit, und die anderen Frauen schauten ihr schweigend und

ungerührt zu. Mein Gesichtsausdruck hingegen mußte

Mutter Liebe mißfallen haben, denn sie knurrte wütend:

»Hast du vielleicht sonst noch irgendwelche Beschwerden vorzubringen?«

»Ne, ne. Es ist nur... Ich hatte gedacht, daß wir den

Göttinnen lediglich Speisen opfern, also einen Teil von dem, was wir selber essen... der Kopf des Elchs war ja ein Teil unserer Jagdbeute.«

»Das ist richtig. Und heute abend wird Roshan unsere

Mahlzeit sein. Aus ihr wirst du uns heute ein Abendessen zubereiten.«

Ich weiß nicht, was für ein Gesicht ich daraufhin machte; auf jeden Fall hielt es der alte Drachen nun wohl doch für angebracht, ein paar Erklärungen abzugeben.

»Ja, wir essen unsere verstorbenen Schwestern. Eines

Tages werde auch ich verspeist werden, und du ebenso. Auf diese Weise verhelfen wir jeder Waliskari dazu, nach ihrem Tod sehr bald in die Welt der Göttinnen Tabiti und

Argimpasa zu gelangen um dort glücklich weiterzuleben.

Wenn wir Roshan verdauen, lösen sich ihre körperlichen Überreste sehr schnell auf, und sie kann ihre Reise in die Unsterblichkeit viel früher antreten, als wenn wir sie begraben würden. Unter der Erde würde es nicht nur

wesentlich länger dauern, bis ihr Körper zerfällt, sondern es würde zudem stets die Gefahr bestehen, daß irgendein

Mann ihre Leiche ausgräbt und schändet.«

Ich dachte bei mir, daß es nun wohl keine Abartigkeit mehr gab, mit der mich die Waliskarja noch überraschen oder gar erschüttern konnten. Dann fiel mir ein, daß die Waliskarja ihre kannibalischen Bräuche nicht allein erfunden hatten, denn der alte Wyrd hatte mir einmal erzählt, daß einige der Skythen auch schon Kannibalen gewesen waren. Von

diesen hatten die Vorfahren der Waliskarja diese

kannibalischen Bräuche zweifellos übernommen. Und jeder kennt ja die Geschichte von Achilles und Penthesilea, in der der Held des trojanischen Krieges die Königin der

Amazonen nicht nur besiegt und umbringt, sondern sie dann noch zusätzlich entehrt, indem er ihre Leiche schändet. Ich nahm allerdings stark an, daß Penthesilea selbst als Leiche immer noch wesentlich mehr Reize besaß, als diese Roshan zu ihren Lebzeiten je hatte aufweisen können.

»Ich schlage vor, daß du dich gleich an die Arbeit machst, Veleda«, sagte Mutter Liebe. »Ich weiß aus Erfahrung, daß die Zubereitung einer solchen Mahlzeit sehr lange dauern kann. Da schau, die Kinder blicken sie schon ganz hungrig an. Shirin, wenn du mit deiner Arbeit fertig bist, dann hilf Veleda beim Zerlegen und Ausnehmen.«

Ich habe nicht vor, die verschiedenen Prozeduren, die zur Zubereitung dieses Mahls erforderlich waren, bis ins

einzelne zu beschreiben. Wenigstens mußte ich nicht auch noch den Kopf zerlegen. Als ich jedoch die großen Brocken der gelben Fettschicht, die wir vom Bauch und vom Gesäß des Körpers heruntergeschnitten hatten, wegwerfen wollte, war meine Kochgehilfin Shirin entsetzt: »Väi, Veleda, das sind die schmackhaftesten Stücke von allen. Du wirst schon noch merken, wie zäh und sehnig das rote Fleisch ist;

außerdem liefert dieses Fett uns ein Polster für unsere eigenen Körper. Roshan würde sich freuen, daß ihr Fett auf diese Weise an ihren Schwestern weiterlebt.« Kurz darauf schalt mich Shirin: »Na, na! Willst du diese kleinen

Stückchen etwa auch wegwerfen? Gekocht ergeben sie

knusprige Leckerbissen.«

Ich möchte lieber darauf verzichten, zu erläutern, worum es sich bei diesen kleinen Stückchen handelte. Lediglich so eindeutig ungenießbare Teile wie die Fußnägel, die Haare unter den Achselhöhlen und die schmutzigeren Eingeweide durfte ich schließlich doch wegwerfen. Später zeigte mir Shirin dann die Grube, in der der Stamm ein wenig Gemüse und seine Vorräte an getrocknetem Hanf aufbewahrte. Um dem zerhackten und in Stücke geschnittenen Fleisch etwas Geschmack zu verleihen, gab ich noch wilde Zwiebeln,

Kresse sowie ein paar Lorbeerblätter hinzu. Natürlich hatte ich nicht die Absicht, selbst von dieser schauerlichen Mahlzeit zu kosten; nicht nur, weil sie aus Menschenfleisch bestand, sondern auch, weil ich dem Essen, das nun in

großen Kesseln über den Feuern garte, noch ein paar

spezielle Zutaten hinzugefügt hatte. Als Shirin nämlich eine Weile weg war und ich, wie sie befohlen hatte, das Essen umrührte, krümelte und streute ich dabei Pflanzen, die ich lange zuvor am Flußufer gesammelt und dann getrocknet

hatte, in das brodelnde Gebräu. Die betäubende Wirkung der Borretschpflanzen war mir seit langem bekannt;

außerdem hatte der alte Wyrd mir einmal erzählt, daß das Kreuzkraut ein Pferd völlig verrückt machen könne. Also machte ich von beiden Pflanzen recht großzügig Gebrauch.

Vielleicht hätte ich gezögert, diese bitteren Krauter einer Person mit einem empfindlicheren Gaumen zu verabreichen, aber bei diesen Allesfresserinnen hatte ich nicht die

Befürchtung, daß der etwas bittere Geschmack der Mahlzeit ihnen sonderbar oder verdächtig vorkommen könnte. Es

wurde langsam dunkel, und die Frauen saßen oder lagen

schon alle untätig auf der Lichtung herum und leckten sich vor Vorfreude die Lippen. Den jungen Mädchen und den

Kindern lief sogar schon der Speichel aus dem Mund. Alle schnupperten immer wieder in die Luft und sogen gierig den aus den Kesseln aufsteigenden Duft durch die Nase. Einige der Frauen warfen sich gegenseitig witzige Bemerkungen zu und lachten immer wieder schrill auf. Sie fanden es

besonders spaßig, daß ihre Schwester Roshan, die eine von ihnen noch vor kurzem als »Sau« bezeichnet hatte, nun

ganz ähnlich duftete wie ein guter, gekochter Keiler.

Als das Essen so gut wie fertig war, kam Ghashang zu

Mutter Liebe gerannt, um ihr zu berichten, daß der neue Sklave aus seiner Ohnmacht erwacht sei, sich jedoch noch im Delirium befände und nur Unsinn von sich gebe.

»Er sagt die ganze Zeit nur ›zwischen meinen Beinen...

schaut zwischen meine Beine‹. Ich habe gar keine Lust, ihm zwischen seine Beine zu schauen.«

Mir war klar, was Thor ihr damit sagen wollte, aber Mutter Liebe verstand es natürlich nicht. Sie gab nur ihr

schepperndes Lachen von sich und sagte: »Er vermißt

seinen Schwanz, wie? Laß ihn am besten gefesselt,

Ghashang, aber wir werden ihm helfen, wieder zu Kräften zu kommen, indem wir ihm etwas zu essen geben.« Also

schöpfte ich eine Portion von Roshan auf ein Platanenblatt, damit jemand ihn füttern konnte.

Dann häufte ich ebenso großzügige Portionen auf die

Blätter der Waliskarja, die inzwischen schon alle vor den Kesseln Schlange standen. Auch die Kinder, die an mir

vorbeiwatschelten oder herbeigetragen wurden, erhielten ihren Teil. Da in dieser Nacht ein Fest gefeiert wurde, waren alle Frauen des Stammes anwesend. Niemand mußte

Wache halten. Trotzdem hatte ich gedacht, daß Roshans

gewichtiger Kadaver ausreichen würde, um weniger als

dreißig Frauen und ungefähr halb so viele junge Mädchen und Kleinkinder mindestens zwei Tage lang satt zu machen.

Ich hatte mich geirrt. Sie schlangen ihre erste Portion schnell und gierig hinunter und schrieen nach mehr. Ich schöpfte alle Kessel leer, dann gab ich ihnen die blanken Knochen zum Zernagen, und schließlich kratzte ich sogar noch den allerletzten Rest an geronnenem Fett zusammen, um auch den noch zu verteilen. Die Frauen waren so sehr mit Essen beschäftigt, daß keine darauf achtete, ob ich aß oder nicht.

Als alles restlos verschlungen war, saßen die Schwestern eine Zeitlang herum und rülpsten; die eine oder andere lobte sogar meine Kochkünste. Dann befahl mir Mutter Liebe, die Hanfration für diese Nacht zu holen und sie auf die Feuer zu streuen. Und ich solle nicht vergessen, daß an diesem

Abend mehr benötigt würde als sonst, da die Wachen

ebenfalls noch unter uns weilten. Ich hatte noch etwas Kreuzkraut und Borretsch aufgehoben und mischte den Rest dieser Krauter nun unter die Hanfblätter, denn ich wollte sichergehen, daß die Dosis für die Waliskarja nicht zu gering war. Dann setzte ich mich ins Dunkle und wartete ab. Die Wirkung der Krauter ließ jedoch nicht allzu lange auf sich warten.

Kurz nachdem sie zum ersten Mal den Rauch tief

eingeatmet hatten, fielen die Frauen, die auch sonst

schneller auf den Hanf angesprochen hatten, bereits um und begannen zu schnarchen. Das galt auch für die Kinder.

Diejenigen, die an den anderen Abenden rauhe Gesänge

angestimmt hatten oder plump umhergetanzt waren, sangen und tanzten auch diesmal, jedoch immer lauter und

besessener, bis sie schließlich beinahe so wild

herumschrieen und umherhüpften wie die Bacchantinnen,

die ich früher einmal beim Feiern beobachtet hatte. Die Frauen, die sonst nur herumgesessen und Unsinn geredet hatten, begannen zuerst laut zu jammern und dann zu

bellen; aus ihrem Gekläffe entwickelte sich bald ein

handfester Streit, bis sie schließlich mit Schaum vor dem Mund aufeinander losgingen. Sie schlugen und kratzten

sich, rauften sich am Boden und rissen einander die Haare aus. Mutter Liebe versuchte zunächst, den Streit zu

schlichten, indem sie nachsichtig mit ihren Töchtern schalt, bald darauf war sie jedoch selbst in ein Knäuel von fünf Frauen verwickelt, kreischte noch lauter, und trat und schlug noch heftiger und verbissener um sich als alle ändern. Hier und dort wurden auch Frauen niedergeschlagen; keine von ihnen machte sich jedoch die Mühe, wieder aufzustehen; alle blieben einfach dort liegen, wo sie hingefallen waren, und begannen zu schnarchen...

Ich war mir sicher, daß früher oder später alle anderen ebenfalls schnarchen würden, wartete jedoch nicht ab, bis es soweit war, denn die Frauen nahmen mich schon lange nicht mehr wahr und achteten gar nicht darauf, was ich tat.

Wenn der Borretsch und das Kreuzkraut so wirkten, wie ich es erwartete, dann würden die Waliskarja am nächsten Tag noch genauso verrückt und verwirrt sein wie jetzt;

möglicherweise würde dieser Zustand sogar ein paar Tage anhalten. In dieser Zeit würden keine Wachen mich

aufhalten oder meine Flucht melden. In aller Ruhe

verwandelte ich mich nun wieder von Veleda in Thorn. Ich war sehr froh, endlich die Kleider Thorns aus ihrem Versteck hervorholen zu können, denn nachts war es inzwischen zu kühl, um mit bloßem Oberkörper herumzulaufen. Ich packte alle meine Habseligkeiten zusammen, ging zu dem Platz, an dem die Pferde angebunden waren, sattelte Velox und belud das neue - Thors - Pferd mit meinem Gepäck. Dann stieg ich in den Satte! und ritt langsam von dannen.

Nein, ich war nicht mehr zu der Gestalt hinübergegangen, die früher einmal Thor und Genoveva gewesen war, um ihr ein paar Worte der Schadenfreude oder des Abschieds

zuzuwerfen. Ich hatte zwar verhindert, daß man sie sofort tötete und abhäutete, aber nicht aus Gnade, Reue oder

Vergebung, und auch nicht um der engen Bande willen, die einmal zwischen mir und dieser Person, oder besser diesen Personen, bestanden hatten, sondern weil mir bewußt war, daß es keine schrecklichere Strafe für einen Missetäter gab, als ein Leben lang der Sklave dieser abscheulichen

Waliskarja zu sein.

Was mit ihm geschehen würde, ließ sich schwer sagen.

Wenn die Frauen ihre Geistesverwirrung überwunden

hatten, würden sie sicherlich sehr wütend auf mich sein und ihren Zorn möglicherweise an dem Gefangenen auslassen.

Wenn sie ihn nicht auf der Stelle umbrachten, würden sie vielleicht schließlich doch entdecken, was sich zwischen seinen Beinen befand, und was sie dann tun würden, war wirklich nicht vorauszusehen. Und was würde wohl

geschehen, wenn der Kutrigurer eintraf, um seine Aufgabe zu erfüllen?

Ich machte mir gar nicht erst die Mühe, irgendwelche

Mutmaßungen anzustellen. Es interessierte mich nicht im geringsten, was aus den Frauen und ihrem Gefangenen

werden würde. Ich war vielleicht nur eine halbe Frau, konnte mich jedoch ebenso herzlos und kalt verhalten wie eine richtige. Ich hatte also keinerlei Skrupel, als ich, ohne mich umzudrehen und ohne einen weiteren Gedanken an die

Zurückgebliebenen zu verschwenden, einfach in die dunkle Nacht hineinritt.

11

Kurze Zeit später stieß ich auf den Bug und folgte ihm zuerst durch dichte Wälder und dann durch unwirtliche, feuchtkalte Sumpfgebiete nach Norden. Ich war wirklich froh, als ich nach langer Zeit endlich ein Dorf erreichte, obwohl es fast ausschließlich von Slowenen bewohnt war und nur über eine dementsprechend schäbige Krchma verfügte. Das hier gesprochene Slowenisch enthielt noch mehr widerliche

Spucklaute als das anderer Stämme, daher kann ich den

Namen des Dorfes nur schriftlich wiedergeben: es hieß

Bsheshch. Dennoch schien es sich bei seinen Bewohnern, die sich selbst Polen nannten, um einen etwas höher

entwickelten slowenischen Stamm zu handeln, denn sie

hatten zwar auch die für dieses Volk charakteristischen breiten Gesichter, waren jedoch größer gewachsen, hatten eine hellere Haut und hellere Haare, und waren sogar

ziemlich reinlich. Außer mir übernachteten in der Krchma nur Flußschiffer, die sich hier in Bsheshch aufhielten, um ihre Fracht zu löschen und ihre Schiffe anschließend neu zu beladen, denn der Ort war der wichtigste Hafen am Bug. Da ich es wirklich leid war, weiterhin durch diese morastige Landschaft zu reiten, wurde ich mit dem Besitzer eines Frachtkahns schnell handelseinig. Er nahm mein Packpferd in Zahlung und war dafür bereit, mich und Velox auf seinem Schiff direkt bis zum Wendischen Golf zu bringen.

Die Besatzung ließ den großen, flachen Kahn, der mit

Flachs, Pelzen und Häuten beladen war, nicht einfach den Fluß hinuntertreiben, sondern beschleunigte seine Fahrt zusätzlich noch mit Stangen und Rudern. Zu Pferd wäre ich lange nicht so schnell vorangekommen. Erst als wir drei oder vier Tagesreisen von Bsheshch entfernt waren, kam mir der Gedanke, den Schiffer nach den Rugiern zu fragen, in deren Gebiet der Fluß uns ja trug. Ich war wie vom Blitz getroffen, als er sagte: »Die meisten Rugier halten sich im Augenblick gar nicht mehr in dieser Region auf. Alle kampfesfähigen Männer dieses Stammes befinden sich schon seit längerer Zeit auf einem Marsch nach Süden und sind inzwischen

sicher schon ein gutes Stück von ihrem Heimatgebiet

entfernt.«

»Was? Sie sind auf dem Marsch?«

»Tak«, sagte er, was im polnischen Dialekt »ja« bedeutet.

»Als wir das letzte Mal vom Norden her nach Bsheshch

fuhren, wurden wir unterwegs von König Fewa und seinen Truppen überholt, die ebenfalls auf dem Weg in den Süden waren. Die Reiter wie auch die Fußtruppen waren nicht nur deshalb schneller als wir, weil wir unseren Kahn

stromaufwärts rudern mußten, sondern auch, weil die

Truppen des Königs natürlich nur wenig Gepäck bei sich führten.«

»Waren sie auf dem Weg zu Strabo?«

»Wer ist Strabo?«

»Theoderich Triarius«, sagte ich ungeduldig, »der sich zum Krieg gegen Theoderich, den Amaler, rüstet.«

Der Schiffer hob bedauernd die Hände; er hatte weder von dem einen noch von dem anderen Theoderich je etwas

gehört. Nun, das hätte ich mir denken können. Der Mann mochte in seinem Leben Tausende von Meilen zurückgelegt haben, war jedoch nie mehr als eine Meile über die Ufer seines Flußes hinausgekommen.«

»Alles, was ich Euch sagen kann, Pana Thorn, ist, daß sie nach Süden marschierten. Und sie sahen wirklich so aus, als ob sie in den Krieg zögen.«

»Du sagtest vorhin, daß sie natürlich nur wenig Gepäck bei sich führten. Was hast du damit gemeint?«

»Auf unseren letzten Fahrten stromaufwärts hatten wir

keine Handelsgüter geladen, sondern lieferten stattdessen auf Befehl des rugischen Königs Fewa Proviant und andere Versorgungsgüter für seine Truppen an verschiedenen

Orten entlang des Bugs und der

Weichsel ab. Auch viele andere Frachtschiffe taten das.

Auf diese Weise sorgte der König dafür, daß seine Männer und die Pferde nicht alles, was unterwegs benötigt wurde, selbst mitschleppen mußten. Seine Truppen konnten sich so darauf verlassen, daß es ihnen auf ihrem Marsch nach

Süden nie an Lebensmitteln und anderen

lebensnotwendigen Dingen fehlen würde.«

Ein gut durchdachter Feldzug, der da schon seit geraumer Zeit im Gange war, ohne daß ich davon Kenntnis hatte,

dachte ich bei mir. Während ich mich tief im Land der

Amazonen befunden hatte, mußte die rugische Armee an

mir vorbei nach Süden gezogen sein. Ich bedauerte es

natürlich schon, daß dieser Marsch der Rugier mir

entgangen war, dennoch sprang ich weder sofort über Bord noch ließ ich mich baldmöglichst ans Ufer setzen. Es

bestand keine Veranlassung, der Armee zu folgen und vor ihr bei Theoderich einzutreffen, um ihn zu warnen, denn wenn selbst dieser gewöhnliche Bootsmann schon von dem Marsch wußte, dann war Theoderich sicherlich längst im Bilde.

Als der Flußschiffer mir erzählte, wieviel Proviant und Versorgungsgüter er entlang des Flußes abgeliefert hatte, war mir klar, daß die Rugier mit einer ziemlich großen Armee unterwegs sein mußten. Reiter und Fußtruppen

zusammengenommen schätzte ich ihre Zahl auf ungefähr

achttausend. Und als der Bootsmann dann noch erwähnte, daß König Fewas Gemahlin Giso eine Frau vom

ostgotischen Stamm der Amaler war, lag eine weitere

Vermutung nahe.

Ich hatte mich schon gefragt, warum Strabo sich nicht

unter den in seiner Nähe lebenden Völkern Verbündete

suchte, sondern ausgerechnet auf die so weit entfernten Rugier zurückgriff. Nun glaubte ich, die Antwort zu kennen.

Königin Giso und Strabo stammten sicherlich von derselben amalischen Linie ab. Wahrscheinlich hatte er sie durch Gesandte bitten lassen, ihren Gemahl dazu zu überreden, den Aufstand ihres Verwandten Strabo zu unterstützen.

Strabo hatte seine Verwandte sicherlich niederträchtig und schamlos belogen; sie und ihr Gemahl wohnten so weit von Moesien entfernt, daß sie wahrscheinlich gar nicht wußten, daß in Wirklichkeit nicht der verzweifelte, ausgestoßene und ohnmächtige Theoderich Strabo, sondern der Amaler

Theoderich der rechtmäßige und allgemein anerkannte

Herrscher dieser Provinz war.

Um die Königin für sich zu gewinnen und König Fewas

Unterstützung zu erhalten, hatte Strabo die Situation in Moesien zweifellos völlig falsch dargestellt.

Ich mußte mir also überlegen, wie ich zur Klärung der

Verhältnisse beitragen konnte.

Als unser Kahn in Pomore, der an der Mündung der

Weichsel in den Wendischen Golf gelegenen Hauptstadt der Rugier, anlegte, wurde ich von zwei alten Hafenbeamten gefragt, wer ich sei. Ich stellte mich ihnen als König Theoderichs Marschall Saio Thorn vor und zeigte ihnen - in der Gewißheit, daß sie nicht lesen konnten - das Dokument, das ich bei mir führte. Ich verschwieg ihnen allerdings, welcher Theoderich mein König war, und als ich behauptete, ich sei gekommen um ihrer Königin Giso dafür zu danken, daß sie meinem König ihre Rugier zu Hilfe geschickt hatte, sorgten sie dafür, daß ich meinem Rang entsprechend in einem kleinen Haus auf dem Gelände des königlichen

Palastes untergebracht wurde. Auf diese Weise hatte ich Gelegenheit, mir schon vor der Audienz bei Königin Giso ein Bild vom rugischen Königshaus zu machen. Die Ausstattung der Räume sollte prunkvoll wirken, war aber alles andere als erlesen; auch das Essen, das mir von ebenso schlecht

ausgewählten Bediensteten serviert wurde, ließ einiges zu wünschen übrig. Meine königliche Gastgeberin machte diese Mängel allerdings nicht durch eine ausgewählte Höflichkeit wett; sie lehnte es hochmütig ab, mich noch am selben Tag zu empfangen.

Als ich am nächsten Tag in Gisos Palast geführt wurde, bestätigte sich meine Vermutung, daß diese Königin

vornehmer erscheinen wollte als sie in Wirklichkeit war. Der Thronsaal strotzte fast schon vor falscher Pracht, und die Königin sprach zwar die alte Sprache, bediente sich jedoch eines betrüblich bäuerlichen Dialekts. Auch ihr Schmuck und ihre Kleider waren nicht besonders kostbar. Dennoch

empfing sie mich, als wäre sie Kaiser Zeno in seinem

Purpur-Palast. Da ihr ebenfalls anwesender Sohn erst

ungefähr neun Jahre alt war, mußte sie noch ziemlich jung sein. Trotzdem benahm sie sich so geringschätzig wie eine ältliche Matrone, die sich durch die Anwesenheit eines bartlosen Jugendlichen belästigt fühlt. Vielleicht lag es daran, daß sie nicht besonders hübsch war - ihre großen Zähne standen so weit hervor, daß sie nur mit Mühe ihre Lippen richtig schließen konnte.

»Was genau wollt Ihr von uns, Marschall?«

Ich zog mein Pergament hervor, aber sie winkte ab, als wolle sie mir andeuten, daß der Inhalt des Dokuments sie wenig interessiere; ihre Geste bewies mir jedoch lediglich, daß sie nicht lesen konnte. Nichtsdestoweniger nahm sie weiterhin protzig den Pluralis majestatis für sich in Anspruch.

»Wir haben vernommen, daß unser Vetter Theoderich

Triarius Euch geschickt hat. Hoffentlich habt Ihr nicht den Auftrag, uns um weitere Unterstützung zu bitten.«

Ich war einen Augenblick lang versucht, ihrem

aufgeblasenen Gehabe den Wind aus den Segeln zu

nehmen, indem ich ihr erzählte, welchem Theoderich ich in Wirklichkeit diente, und indem ich ihr vor allem enthüllte, daß die Rugier auf ihre Veranlassung hin im Begriff waren, ihre

»Unterstützung« dem falschen Theoderich zukommen zu

lassen. Bevor ich jedoch etwas sagen konnte, fuhr sie schon fort: »Wir haben bereits jeden Mann losgeschickt, der älter und kräftiger ist als unser Sohn Frido hier; mit Ausnahme der Slowenen natürlich, da diese Wracks als Krieger völlig unbrauchbar sind.« Der Junge machte ein

niedergeschlagenes Gesicht; er war offensichtlich nicht allzu glücklich darüber, noch nicht zu den Kriegern gezählt zu werden. »Und wir haben einen großen Teil unseres

Staatsschatzes verbraucht, um diese Armee für Euch

auszurüsten. Wenn Ihr also gekommen seid, um uns um

Männer, Gelder oder Waffen zu bitten, Marschall, dann ist diese Audienz hiermit beendet und Ihr habt unsere Erlaubnis zu gehen.«

Obwohl ich bisher noch gar nicht zu Wort gekommen war, hatte sie sich bereits von ihrem Thron erhoben. Sie stand jetzt auf dem Thronsockel, schaute hochnäsig auf mich

herab und zog gleichzeitig ihren Sohn so eng an sich heran, als wolle sie verhindern, daß ich ihn von ihrer Seite riß und in den Krieg schickte. Ich widerstand der Versuchung, ihr die Wahrheit zu erzählen, denn mir war klar, daß diese Königin mit schlichten Tatsachen nicht zu überzeugen war. Ein

Appell an ihre Vernunft hätte sie kaum dazu gebracht, sich statt mit dem falschen von nun an mit dem richtigen

Theoderich zu verbünden. Eine so starrköpfige und eitle Frau wie sie würde nicht einmal dann einen Fehler zugeben oder sich gar um dessen Berichtigung bemühen, wenn das Leben ihres Gemahls und das aller von ihm angeführten

Krieger auf dem Spiel stünde Daher sagte ich nur

salbungsvoll: »Erlauchte Königin, die Bitte die ich später an Euch richten möchte, ist nicht materieller Natur Zunächst einmal bin ich jedoch gekommen, um mich im Namen

Theoderichs aufs herzlichste für die Unterstützung zu

bedanken die Ihr uns bereits habt zuteil werden lassen.

Theoderich vertraut darauf, daß es ihm mit Hilfe Eurer rugischen Armee gelingen wird, seinen rechtmäßigen

Herrschaftsanspruch über die Ostgoten und all ihre Gebiete durchzusetzen. Sobald er König ist, wird er Euch großzügig für Euren Beistand belohnen und Euch als seine Kusine

ebenso an der Macht beteiligen wie jeden anderen Vetter aus der herrschenden amalischen Linie.«

Es war mir gelungen, die Königin freundlicher zu stimmen.

Sie entblößte sogar ihre langen Zähne zu einem leichten Lächeln. Also fuhr ich fort: »Da Theoderich fest damit rechnet, daß dieser Krieg glücklich ausgehen wird, wünscht er, daß die Geschichte der erhabenen, amalischen Linie von ihren frühesten Anfängen bis zur Gegenwart

niedergeschrieben wird. Die ganze Welt soll etwas über die Ursprünge und die bewunderungswürdigen Verdienste

seiner und Eurer Familie erfahren; und ich soll in seinem Auftrag diese Geschichte verfassen.«

»Ein verdienstvolles Unterfangen«, sagte sie mit einem noch breiteren Lächeln, das nun auch noch das Zahnfleisch über ihren großen Zähnen freilegte. »Es hat unsere volle Zustimmung.«

»Daher, Eure Hoheit, soll ich Euch bei dieser Gelegenheit auch darum bitten, mich mit dieser Küste und ihrer

Geschichte vertraut machen zu dürfen, denn es heißt, daß die ersten Goten, die ihre Heimatregion im hohen Norden verließen und mit ihren Schiffen über das Meer zum

europäischen Kontinent fuhren, hier gelandet sind.«

»Ja, das wird erzählt; natürlich bin ich mit Euren

Nachforschungen einverstanden, Saio Thorn. Können wir

Euch bei Eurer Arbeit in irgendeiner Weise behilflich sein?

Sollen wir Euch vielleicht einen kundigen Führer zur

Verfügung stellen?«

»Das wäre sehr freundlich von Euch, Majestät. Und ich

habe mir überlegt... daß es mir sicher leichter fallen würde, Euer edles Königshaus in dieser Geschichte der Amaler

angemessen und ausführlich zu würdigen, wenn Ihr mir den jungen Prinz Frido als Führer und Berichterstatter zur Seite stellen könntet.«

Der eben noch so niedergeschlagene Junge strahlte. Sein Gesicht verfinsterte sich jedoch augenblicklich wieder, als seine Mutter geringschätzig bemerkte: »Vai, der Junge ist über die rugischen Vorfahren seines Vaters viel besser unterrichtet als über die Goten.«

»Dann nehme ich an, Majestät, daß er auch das rugische Germanisch beherrscht. Diesen Dialekt unserer alten

Sprache spreche ich nur sehr schlecht.«

»Ja waila, er beherrscht sogar das rohe Slowenisch der Kaschuben, das diese selbst kaum aussprechen können«,

wieherte Giso heiter durch ihre Pferdezähne.

»Hervorragend! Er wäre mir hier als Dolmetscher wirklich von unschätzbarem Wert!« Der Prinz fühlte sich sichtlich unbehaglich, weil wir die ganze Zeit lang in der dritten Person über ihn gesprochen hatten, daher wandte ich mich nun direkt an ihn: »Würdet Ihr mir diesen Gefallen und diese Ehre erweisen, Prinz Frido?«

Erst als seine immer noch sehr skeptische Mutter

widerwillig genickt hatte, antwortete mir der erfreute Junge scheu: »Ja, gerne, Saio Thorn.«

Am nächsten Tag zeigte mir der junge Frido voller

Besitzerstolz die rugische Hauptstadt, in der es allerdings nicht viel zu sehen gab, weil sie hauptsächlich als

Umschlaghafen für die Erzeugnisse anderer Regionen

diente. In der Gegend um Pomore gab es nur Bernstein,

daher führte mich Frido in verschiedene

Steinschneidewerkstätten, wo ich zusehen konnte, wie

dieses Material zu Perlen, Spangen und Fibeln verarbeitet wurde.

Frido gab einen guten Fremdenführer ab, denn er war ein sehr umgänglicher Bursche, und die Hochnäsigkeit seiner Mutter war ihm völlig fremd. Außerhalb ihrer Reichweite war er ein ganz normaler, aufgeweckter und fröhlicher Junge, jedenfalls solange man ihn nicht an sie erinnerte. Als ich ihn fragte, ob sie der Grund gewesen sei, daß er seinen Vater, den König, nicht auf diesem Marsch begleitet habe, machte er wieder sein niedergeschlagenes Gesicht und murmelte:

»Mutter sagt, ich sei noch zu jung, um in den Krieg zu ziehen.«

»Mutterliebe«, sagte ich leise, und die Erinnerungen, die mir dabei in den Sinn kamen, ließen mich darüber lachen, daß ausgerechnet ich dieses Wort in den Mund genommen

hatte. »Ich habe schon einige Mütter kennengelernt, Frido«, fuhr ich fort, »aber ich selbst habe nie eine gehabt, daher kann ich mir vielleicht kein Urteil erlauben. Ich bin jedoch der Meinung, daß der Krieg eher die Sache der Väter und Söhne als die der Mütter ist.«

»Ihr findet also nicht, daß ich für den Krieg zu jung bin?«

»Vielleicht zu jung, um mitzukämpfen, aber alt genug, um zuzusehen. Du wirst irgendwann ein Mann sein, und jeder Mann sollte wissen, was Krieg bedeutet. Falls dieser Krieg der einzige in deinem ganzen Leben bleiben sollte, dann wäre es sehr schade, daß du ihn nicht miterlebt hast. Aber du bist ja erst neun Jahre alt. Irgendwann wird sich dir sicher noch einmal die Gelegenheit bieten, an einem Krieg

teilzunehmen. Welche männlichen Abenteuer gestattet man dir denn sonst?«

»Nun... ich darf mit den anderen Kindern des Palastes

spielen, solange sie meine Stellung respektieren und ihre Befugnisse nicht überschreiten. Ich darf ganz allein, also ohne Gefolge, auf meinem Pferd ausreiten, solange ich es nicht galoppieren lasse. Ich darf auch ganz allein den Strand entlangwandern und Muscheln sammeln, solange ich nicht ins Wasser gehe.« Er sah meinen Blick und fügte nur noch mit matter Stimme hinzu: »Ich habe eine recht beachtliche Muschelsammlung.«

»Sicher«, sagte ich.

Als wir eine Zeitlang schweigend nebeneinander

hergelaufen waren, fragte er: »Womit habt Ihr Euch denn in meinem Alter die Zeit vertrieben, Saio Thorn?«

»In deinem Alter... laß mich einmal nachdenken. Ich hatte weder ein Pferd noch einen Strand und mußte die meiste Zeit über hart arbeiten. Aber dort, wo ich aufgewachsen bin, gab es nicht nur einen Wasserfall, sondern auch eine Höhle.

In dieser Höhle entdeckte ich dann noch weitere Höhlen und Gänge, die tief ins Innere der Erde führten. Nach und nach erforschte ich sie alle. Ich bin auch auf Bäume geklettert, sogar auf recht hohe Bäume, die sehr schwer zu erklimmen waren, und im Wipfel einer dieser Bäume entdeckte ich

eines Tages direkt vor mir einen Vielfraß, den ich dann erlegte.«

Frido schaute mir direkt ins Gesicht, und seine Augen

glänzten bewundernd, neidisch und wehmütig. »Was für ein Glück Ihr hattet daß Ihr ohne Mutter aufgewachsen seid.«

Da ich mir Königin Gisos Vertrauen bewahren wollte,

kehrte ich mit Frido noch vor Einbruch der Dunkelheit zum Palast zurück. Von einigen Palastwachen umgeben wartete die Königin bereits trotz der Kälte vor dem Tor und war so unruhig wie eine Katzenmutter, deren Junges sich in

fremden Händen befindet. Sie war sichtlich erleichtert, als ich ihren Sohn unversehrt in sein Nest zurückbrachte. Und als ich sie fragte, ob Frido mich am nächsten Tag wieder begleiten dürfe, stimmte sie zu meiner Freude sogar etwas bereitwilliger zu als beim ersten Mal. Mit der gleichen Genugtuung stellte ich fest, daß die Königin offensichtlich nicht gelogen hatte, als sie mir erzählte, daß alle

kriegstauglichen rugischen Männer zusammen mit ihrem

königlichen Gemahl die Stadt verlassen hätten, denn ihre Palastwachen waren ebenso alt, fett und ungefährlich wie die beiden Hafenbeamten, denen ich zuvor begegnet war.

Der Prinz und die Königin begaben sich zum Abendessen, und ich ging zu meinem Gästequartier zurück. Dort wurde mir dann eine Mahlzeit serviert, die zwar wie am Tag zuvor einigermaßen abwechslungsreich zubereitet worden war,

jedoch erneut nur aus Fisch bestand. Diesmal war es

allerdings nicht Hering, sondern Kabeljau.

In den darauffolgenden Tagen machte ich mit Frido zu

Pferd Ausflüge in die weitere Umgebung. Meist ritten wir die Bernsteinküste entlang. Fridos Pferd war ein robuster, kastanienbrauner Wallach von etwas weniger edlem Geblüt als mein schwarzer Velox. Immer, wenn ich mir sicher war, daß uns niemand beobachtete, der seiner Mutter hätte

Meldung machen können, erlaubte ich dem Jungen, sein

Pferd zu einem langgestreckten Galopp anzutreiben. Und da der Junge auch in dieser Gangart recht sicher im Sattel saß, ermutigte ich ihn sogar regelrecht zum Galoppieren.

Nachdem ich Frido geholfen hatte, ein Fußseil an seinem Pferd anzubringen, und ihm auch gezeigt hatte, wie man es benutzt, ritt der Junge sogar noch besser. Wir brachen stets am Morgen auf und ritten dann am Strand entlang nach

Osten oder nach Westen, entfernten uns jedoch nie weiter als eine halbe Tagesreise von Pomore. Bereits um die

Mittagszeit machten wir jedesmal kehrt und ritten in Richtung Stadt zurück, damit der Prinz rechtzeitig zum gemeinsamen Abendessen mit seiner Mutter im Palast war. Und ich hoffte, daß die beiden besser speisten als ich, denn mir servierte man nach wie vor nur Hering oder Kabeljau, was mir schon etwas merkwürdig vorkam. Als Gast konnte ich mich jedoch schlecht über das Essen beschweren.

Immer wenn ich einem Küstenbewohner oder einem

Vorbeireisenden ein paar Fragen stellen wollte, erwies sich Frido als ein recht begabter Dolmetscher. Auch von ihm selbst erfuhr ich so manches, unter anderem auch, warum meine Kost im Palast so eintönig war.

»Kein Meer der Welt enthält so wenig Salz wie das

Sarmatische«, sagte er. »Es hat auch keine Gezeiten, die das Wasser in Bewegung halten und reinigen, daher ist es trübe. Sein Wasser ist selbst im Sommer sehr kalt, und im Winter friert es so fest zu, daß eine Armee über das Eis von hier bis zum nördlichen Gotland marschieren könnte. Die Fischer sagen, daß es aus diesen Gründen im Sarmatischen Meer keine Austernbänke oder Tiefseefische gibt. Kabeljau und Hering sind praktisch die einzigen eßbaren Fische, die hier ins Netz gehen.«

Das hiesige Meer warf also ebensowenig ab wie der

unfruchtbare, sandige Boden, der es umgab, dachte ich bei mir. Ich befand mich hier erneut in einer Gegend, in der die frühen Goten sich gar nicht erst niedergelassen hatten. Ich fragte mich, warum die später nach hier eingewanderten Rugier es so lange an der Bernsteinküste ausgehalten

hatten und erst jetzt begannen, sich weiter im Süden nach einem fruchtbareren Lebensraum umzusehen. Frido hatte

soeben jedoch etwas erwähnt, was mich noch mehr

interessierte.

»Du hast soeben von einer Region gesprochen, die ihr

Gotland nennt.«

»Ja, von dieser großen Insel tief im Norden stammen die gotischen Vorfahren meiner Mutter, die irgendwann vor sehr langer Zeit an dieser Küste landeten. Die rugischen

Vorfahren meines Vaters segelten dagegen erst etwas

später von einer im Westen gelegenen Insel namens

Rugiland hierher.«

»Soweit ich mich erinnern kann, habe ich schon von

diesem Gotland gehört«, sagte ich, »falls wir dieselbe Insel meinen. Ich kenne sie unter dem Namen Skandza.«

Frido beschrieb mit seinem Arm einen weiten Bogen vom

westlichen bis zum östlichen Ende des Horizonts. »Ach, das ganze Land da draußen heißt Skandza: die Gebiete der

Dänen, der Schweden, der Finnen, der Letten und all der anderen Völker, die jenseits dieses Ozeans leben. Aber die verschiedenen Teile von Skandza haben unterschiedliche Namen. Rugiland ist die ursprüngliche Heimat der Rugier, Gotland ist die ursprüngliche Heimat der -«

Ich unterbrach ihn wißbegierig: »Ist Gotland immer noch bewohnt? Vielleicht sogar von den Nachfahren einiger

Goten, die damals auf der Insel zurückblieben? Halten die Frachtschiffe, die Pomore verlassen, dort an, um Waren abzuliefern oder an Bord zu nehmen?«

»Unsere Schiffe legen zwar dort an, aber ich glaube nicht, daß es auf dieser Insel viel gibt, womit sich Handel treiben ließe«, sagte er unsicher.

»Laß uns bitte jemanden danach fragen, der mit seinem

Frachtschiff schon dort war.«

Der Seemann, zu dem Frido mich kurz darauf führte, war glücklicherweise ein Rugier, denn kein Slowene hätte sich die Mühe gemacht, sich mit der Geschichte seiner

Umgebung zu beschäftigen. Frido übersetzte mir, was er sagte: »Es gibt Beweise dafür, daß Gotland vor einigen Jahrhunderten ein bedeutendes Handelsund

Schiffahrtszentrum war. Heute noch erhalten wir für unsere Waren oft sonderbare alte Münzen: römische, griechische und sogar kretische. Aber mit dem regen Handel und mit dem Wohlstand war es nach dem Aufbruch der Goten

anscheinend zu Ende, denn während der letzten

Jahrhunderte war Gotland eine völlig bedeutungslose Insel.

Sie wird heute nur noch von ein paar vereinzelten,

ärmlichen, schwedischen Bauernfamilien bewohnt. Der

Anbau von Gerste und die Aufzucht von gelben Rindern

ermöglichen ihnen eine sehr bescheidene Existenz. Ihre Gerste verwenden wir zum Bierbrauen und ihre Rinder

liefern gute Felle, daher legen unsere Handelsschiffe

gelegentlich dort an. Eine alte, ziemlich verrückte Frau ist, soviel ich weiß, die einzige Nachfahrin der Goten, die noch auf dieser Insel lebt.«

»Dennoch würde ich meinem König gerne berichten

können daß ich diesen Ort mit eigenen Augen gesehen

habe«, sagte ich »Würdest du mich zu der Insel bringen?«

»Zu dieser Jahreszeit? Wo doch das Sarmatische Meer

gerade zufriert? Ni.«

»Mein König wird dafür sorgen, daß du und deine

Schiffsbesatzung für die Gefahren, die mit dieser Reise verbunden sein mögen, angemessen entschädigt werdet.

Und er bezahlt nicht mit wertlosen alten Münzen.«

»Gefährlich ist diese Reise nicht«, sagte der Seemann

ungeduldig. »Sie ist nur äußerst beschwerlich und völlig sinnlos. Nur ein Narr würde mitten im bitteren Winter das vereiste Sarmatische Meer durchqueren. Ni, ni. Auch mit Geld könnt Ihr mich nicht dazu bringen, Euch zu der Insel zu fahren.«

»Wir können es dir aber befehlen«, sagte Frido in einem respekteinflößenden Ton, der sowohl mich wie auch den

Seemann überraschte. »Ich, dein Kronprinz, habe ebenfalls den Wunsch, zu dieser Insel zu reisen. Und du wirst uns hinbringen.«

Der Seemann schalt, polterte und redete auf uns ein, um uns von unserem Vorhaben abzubringen, denn er konnte

sich einem königlichen Befehl natürlich nicht einfach

widersetzen. Unnachgiebig wies der Prinz ihn an, das Schiff bis zu unserer Rückkehr reisefertig zu machen. Dann gingen Frido und ich zum Palast zurück. Unterwegs sagte ich zu ihm: »Thags izvis, Frido, daß du dich als Prinz für mich eingesetzt hast; aber du weißt ja, daß deine Mutter dir eine solche Reise niemals erlauben würde.«

Er warf mir einen verschlagenen Blick zu und sagte: »Wir werden sehen.«

Königin Giso benutzte das Gotische, den germanischen

Dialekt der Rugier sowie den slowenischen Dialekt der

Kaschuben, also alle Sprachen, die sie beherrschte, um Fridos Ansinnen abzulehnen: »Ne! Ni! Nye! Du mußt

verrückt sein, mich überhaupt zu fragen, ob du eine

Seereise antreten darfst.«

»Der Besitzer des Schiffes hat uns versichert, daß diese Reise völlig ungefährlich ist, Majestät. Wir müssen uns lediglich gegen die Kälte schützen.«

»Die Kälte ist gefährlich genug. Der einzige Erbe des

Königreichs darf sich nicht der Gefahr aussetzen, krank zu werden.«

»Wenn der Junge gut in Felle verpackt ist -«

»Schweigt, Marschall!« sagte sie barsch. »Als seine

Mutter konnte ich es bereits kaum verantworten, daß Ihr ihn tagelang durch die Gegend geschleift habt. Ständig hielt er sich in der ungesunden frischen Luft auf. Damit ist jetzt ein für alle Mal Schluß.«

Ich bekniete sie eindringlich: »Schaut Euch den Burschen doch einmal an, Majestät! Er sieht inzwischen gesünder und kräftiger aus als bei meiner Ankunft.«

»Ich hatte Euch doch gebeten zu schweigen!«

Ich konnte ihr den Gehorsam nicht offen verweigern, Frido sagte jedoch: »Mutter, ich habe dem Seemann bereits

gesagt, daß ich nach Gotland fahren würde. Ich habe ihm sogar befohlen, uns hinzubringen. Soll ich etwa mein

königliches Wort brechen? Schließlich habe ich als Prinz eine Entscheidung getroffen und einen Befehl gegeben.«

Sie war ganz blaß geworden. Jetzt begriff ich, warum Frido so verschlagen dreingeschaut hatte: Er hatte bewußt die einzige Taktik angewendet, die bei einer Frau wie Königin Giso Erfolg versprach. Sie hatte so lange darauf bestanden, daß er auf seine »Stellung« pochte und von allen anderen den ihm gebührenden Respekt forderte, daß sie jetzt nicht zulassen konnte, daß er von seiner Position abrückte. Wenn sie als Mutter des rugischen Kronprinzen ihren Sohn

gebeten hätte, sein Wort zurückzunehmen, dann hätte diese Bitte sie als rugische Königin zutiefst in ihrem übersteigerten Stolz verletzt. Frido setzte seinen Willen schließlich durch; es war jedoch kein leicht errungener Sieg, denn die Königin tobte, fuchtelte wie wild mit den Armen herum, und rang sich erst nach wahren Höllenqualen zu dieser Entscheidung

durch; sie weinte sogar ein bißchen. Am Ende siegte jedoch ihr königlicher Eigendünkel über ihre mütterliche Besorgtheit.

»Daran seid nur Ihr allein schuld!« fauchte sie mich an, als sie schließlich nachgegeben hatte. »Bevor Ihr kamt, war Frido ein fügsames und belehrbares Kind. Du hast seine Achtung vor seiner Mutter untergraben. Aber ich verspreche Euch, daß dies der letzte Ausflug sein wird, den er mit Euch zusammen macht.«

Sie brüllte ihre Diener herbei und keifte ihnen Befehle entgegen. In Windeseile mußten sie alles zusammenpacken, was der Prinz unter Umständen auf seiner Reise benötigen könnte. Dann zeigte sie mir erneut ihre hervorstehenden Zähne. Ich hatte erwartet daß sie mir nun befehlen würde, unterwegs gut auf den Jungen aufzupassen, stattdessen

sagte sie: »Vier meiner vertrauenswürdigen Palastwachen werden Euch begleiten. Sie werden Frido nicht nur

beschützen, sondern vor allem auch dafür sorgen, daß Ihr nie mit ihm alleine seid, damit Ihr den Widerspruchsgeist, den Ihr bewußt in ihm geweckt habt, nicht noch weiter

anstacheln könnt. Nach dieser Reise, Marschall, werdet Ihr Pomore verlassen. Und wenn Frido nach seiner Rückkehr

auch nur die geringste Spur von Aufsässigkeit an den Tag legt, dann werde ich Euch mit einem in Streifen gepeitschten Rücken aus der Stadt jagen lassen. Habt Ihr mich

verstanden?«

Diese Drohung flößte mir keine allzu große Angst ein,

denn ich hatte nicht die Absicht, mich auspeitschen zu lassen. Ich mußte jedoch ehrlich zugeben, daß ich für das, was ich vorhatte, tatsächlich die Peitsche verdiente, denn ich war nicht nur im Begriff, eine gotische Stammesschwester zu hintergehen, sondern sogar bereit, noch viel

grundlegendere und unantastbarere Gesetze zu verletzen als die meines gotischen Volkes: Ich würde mich schon bald auf sträflichste Weise gegen alle Gesetze der

Gastfreundschaft versündigen.

12

Der Besitzer des Frachtschiffes war immer noch gegen

diese Reise. Er empfing uns mißmutig und machte sogleich weitere Einwände. Vielleicht hätte er sich noch in letzter Minute eine Ausrede ausgedacht oder sogar ein Loch in die Planken seines Schiffes geschlagen, wenn nicht Königin Giso, die mit uns zu den Docks gekommen war, sich in

kürzester Zeit bei allen Anwesenden so unbeliebt gemacht hätte, daß jeder von ihnen das Sarmatische Meer einem

weiteren Aufenthalt in der Hauptstadt dieser Königin

vorgezogen hätte. Schließlich erhob unser Seemann

resignierend die Hände, denn ihm blieb nichts anderes übrig als seinen Ruderern zu befehlen, ihre Plätze auf den Bänken unter Deck einzunehmen und sich in die Riemen zu legen.

Je weiter wir nach Norden fuhren, desto kälter wurde es.

Es wehte inzwischen ein äußerst scharfer, eisiger Wind, und der Himmel über uns war nun von bleischweren, dunklen

Wolken verhängen. War das Meer direkt am Wendischen

Golf schon eine trübe Brühe gewesen, so war es jetzt bereits ein dicker Brei aus Eisklumpen. Die Gesänge der Ruderer, die sich mit aller Kraft gegen diesen Matsch stemmen

mußten, wurden immer langsamer und schwächer. Die

Rudergänger im Heck, die während der ersten drei oder vier Tage unserer Reise lediglich unser Schiff auf Nordkurs hatten halten müssen, bekamen nun ebenfalls viel zu tun.

Sie mußten beinahe ununterbrochen ihre Steuerruder

betätigen, um das Schiff um große, im Wasser

umhertreibende Eisbrocken herumzulotsen, die von den

Seeleuten »Toross« genannt wurden. Die von den

übereinandergeschobenen und hoch aufgetürmten Schollen gebildeten riesigen, grauen Eisberge waren so groß und oft auch so hoch wie unser ganzes Schiff.

Selbst Frido, der diese Reise mit soviel Begeisterung

angetreten hatte, ging jetzt nur noch jeden Morgen einmal kurz an Deck, um nachzuschauen, ob das Meer inzwischen vielleicht einen lohnenderen Anblick bot. Da die Aussicht jedoch stets die gleiche blieb, verbrachte er die meiste Zeit mit mir und dem Besitzer des Schiffs unter Deck. Wir saßen meist bei einem Bier zusammen, und Frido übersetzte mir alles, was der Seemann sagte. Die vier Palastwachen

Königin Gisos nahmen nie an unserer Runde teil und

bemühten sich auch sonst nicht, dem Befehl ihrer Königin zu gehorchen, indem sie Frido und mich mit Gewalt

auseinanderhielten. Die dicken, alten Männer wußten

wahrscheinlich, daß sie von mir über Bord geworfen worden wären, wenn sie das versucht hätten. Der Seemann und ich redeten meist über belanglose Dinge, er erzählte mir jedoch auch etwas, was für meine historischen Aufzeichnungen von Interesse war, und erwähnte auch einen Namen, den ich auf meine Liste früher gotischer Könige setzen konnte.

»Ein gotischer König namens Berig befehligte die Schiffe, die die Goten von Gotland zum Kontinent brachten. In den alten Gesängen werden nur drei Schiffe erwähnt, ich glaube jedoch, daß sie mit wesentlich mehr Schiffen, vielleicht sogar mit einer ganzen Flotte, losgefahren sind. Wären es wirklich nur drei gewesen, dann müßten die so groß wie Noahs

Arche gewesen sein. Ich habe mich manchmal gefragt, was nach der Überfahrt wohl aus all diesen Schiffen geworden ist. Hat Berig sie einfach am Wendischen Golf

zurückgelassen? Oder haben die Kahnführer sie leer nach Gotland zurückgebracht? Aber ach, die Schiffe hatten

inzwischen so viele Jahrhunderte Zeit zu verrotten, daß natürlich nichts mehr von ihnen übrig ist.«

Die Kälte, die Trübseligkeit, die Enge und die Monotonie auf dem Schiff wurden immer unerträglicher. Ich kann nicht mehr sagen, nach wie vielen langen Tagen der Seemann

schließlich eines Nachmittags unser Gespräch unterbrach und zu Frido und mir sagte: »Die Insel dürfte gerade in Sicht kommen. Wollt Ihr mit hochkommen und es Euch

ansehen?«

In Windeseile kletterte Frido zum Oberdeck hinauf, und ich folgte ihm beinahe ebenso gespannt. Zum ersten Mal seit unserem Aufbruch aus Pomore sollten wir wieder Land

sehen, und es war tatsächlich Gotland, das da zu unserer Linken am nordwestlichen Horizont aus dem nebligen

grauen Meer auftauchte. Ich wünschte, ich könnte berichten, daß es aus der Ferne so zauberhaft schön und einladend aussah wie die legendären, glücklichen Inseln von Avalon.

Es erinnerte jedoch eher an eine andere Insel, die man aus den Sagen kennt: an Ultima Thule, die Insel am Ende der Welt. Gotland war lediglich ein weiterer trostloser Anblick auf diesem trostlosen Sarmatischen Ozean; wieder so ein Ort, den die Goten mit gutem Grund verlassen hatten.

Es entging unserem Seemann sicher nicht, daß wir sehr

enttäuscht waren, am Ende dieser langen und

beschwerlichen Reise so wenig vorzufinden; vielleicht

verspürte er sogar eine gewisse Genugtuung, weil er uns genau das prophezeit hatte. Aber er verzichtete höflich auf den Satz: »Das habe ich Euch doch gleich gesagt«, und

bemerkte stattdessen: »Sicher werdet Ihr die Heimatinsel Eurer Vorfahren auch betreten wollen. Ihr einziger

ausgebauter Hafen liegt an der Westküste. Das Meer ist dort jedoch zu dieser Jahreszeit so fest zugefroren, daß man nicht in den Hafen fahren kann; ich werde Euch daher an der steilen Ostküste an Land setzen. Dort kenne ich eine kleine, halbmondförmige Bucht, in der das Wasser tief genug ist, um anzulegen. Außerdem wohnt auf dieser Seite der Insel auch jene verwirrte alte Gotenfrau, von der ich Euch bereits erzählt habe. Vielleicht wollt Ihr ein paar Worte mit ihr wechseln. Wer weiß, ob sie sich nicht vielleicht sogar als Eure Ururgroßmutter entpuppt?«

Als das Schiff schließlich in dieser Bucht vertäut war, wurde es bereits dunkel, daher gingen wir an diesem Abend nicht mehr an Land. Am nächsten Morgen wurden Frido und ich von einem dünnen, aber durchdringenden Schrei

geweckt. Da wir vermuteten, eine der Schiffswachen habe Alarm gegeben, eilten wir sofort auf Deck, stellten jedoch bald darauf fest, daß die Schreie von der Insel kamen. Auf deren Kiesstrand vollführte eine kleine, schwer zu

beschreibende Gestalt eine Art Tanz; wild gestikulierend rief sie uns völlig unverständliche Sätze zu. Also gingen wir hinüber zu unserem Seemann, der gerade ein paar Männern befohlen hatte, ein kleines Lederboot ins Wasser zu lassen.

Er war jedoch in keinster Weise beunruhigt und erklärte nur ganz beiläufig: »Niemand befindet sich hier in Gefahr oder in Seenot. Es ist nur die alte Hildr. Jedesmal, wenn ein Schiff hier anlegt, gerät sie in helle Aufregung, denn dann

bekommt sie immer ein paar Vorräte geschenkt. Das sind, glaube ich, die einzigen Lebensmittel, die sie überhaupt erhält, und ich weiß wirklich nicht, wovon sie sich in der Zwischenzeit ernährt.«

Als wir das Ufer betraten, tanzte die Frau uns entgegen.

Sie war in graue Lumpen und in weiche, dünne Lederfetzen gekleidet. Ihr glattes, weißes Haar flatterte, und ihre spitzen alten Knie und Ellbogen zuckten, als sie aufgeregt vor uns herumhüpfte, auf uns einplapperte und uns an den Ärmeln zog, während wir das Boot auf den Kiesstrand zogen. Sie redete so hastig, daß ich zwar gerade noch ausmachen

konnte, daß sie einen Dialekt der alten Sprache sprach, jedoch kaum verstand, was sie uns sagen wollte. Sie

benutzte viele Wörter, die ich aus alten gotischen

Manuskripten kannte; allerdings hatte ich noch nie jemanden diese Wörter auch aussprechen hören. Die jungen Ohren

von Prinz Frido waren offensichtlich besser in der Lage, ihrem verwirrend schnellen Redeschwall zu folgen, denn er übersetzte mir zusammenfassend ihre Worte: »Sie dankt

uns für alles, was wir ihr gebracht haben.«

Als der Seemann ihr eine dicke Scheibe geräuchertes

Schweinefleisch und einen Schlauch Bier überreichte,

preßte sie ihre Geschenke freudestrahlend an sich und

machte sich dann hastig auf den Weg zu ihrer kleinen Hütte.

Während sie sich entfernte, gab sie uns jedoch mit

energischen Handzeichen zu verstehen, daß wir ihr folgen sollten. »Die verrückte Alte möchte uns zum Dank etwas zeigen«, sagte der Seemann grinsend. »Ich habe es schon oft gesehen, aber kommt ruhig mit.«

Als wir in ihrer winzigen, an den Felsen gebauten Hütte eintrafen, biß sie heißhungrig in ihre Scheibe

Schweinefleisch und sagte dann mit vollem Mund, aber mit ruhigerer Stimme: »Der Seemann hat Euch sicherlich

erzählt, daß ich verrückt bin. Er glaubt das weil ich mich an viele Dinge erinnern kann, die sich schon vor sehr, sehr langer Zeit zugetragen haben. Kein anderes Volk hat je von diesen Dingen gehört, daher glaubt mir niemand. Aber bin ich deswegen vielleicht verrückt?«

»Was sind das für Dinge, an die Ihr Euch erinnert, gute Hildr?« fragte ich freundlich.

Mit beiden Backen kauend winkte sie mit ihrer fettigen, alten Hand ab, als wolle sie mir damit sagen, daß man so viele Dinge unmöglich in so kurzer Zeit aufzählen könne.

Dann schluckte sie und sagte: »Ach, da sind unter

anderem... die großen Seeungeheuer, die es früher einmal gab... der Riesenkrake, die Kreatur, die wir Grindl nannten, der Drache Fafner...«

»Mythische Seeungeheuer«, sagte der Seemann hinter

vorgehaltener Hand zu mir. »Eine Erfindung abergläubischer Seeleute.«

»Mythen? Ni allis!« sagte die alte Hildr aufgebracht.

»Sigurd hat früher einige von ihnen mit dem Speer erlegt oder im Netz gefangen und an Land gezogen.« Mit dem

Stolz einer großen Dame zupfte sie die dünnen Lederfetzen zurecht, die sie am Leibe trug. »Sigurd hat all diese

Ungeheuer getötet, damit ich mich in feine Häute kleiden kann.« Als ich mir die Lederfetzen genauer ansah, konnte ich erkennen, daß es sich um die Haut eines kleinen Hais handelte.

»Gute Hildr, Ihr seid doch eine Gotin«, sagte ich. »Könnt Ihr Euch noch an die anderen Goten erinnern, die früher einmal auf Gotland wohnten?«

»Schwächlinge! Feiglinge! Weichlinge! Sie waren ganz

und gar nicht wie mein Sigurd!« schimpfte sie, und kleine Speisereste flogen ihr dabei aus dem Mund. »Unser Gotland war ihnen zu rauh, daher flohen sie. Einige fuhren mit Beowa nach Westen, die meisten brachen jedoch mit Berig nach Süden auf.«

Ich hatte bereits zurückgerechnet, daß König Berig um die Zeit Christi gelebt haben mußte, und wenn die alte,

lederhäutige Hildr vorgab, sich an ihn zu erinnern, dann war sie entweder wirklich verrückt oder tatsächlich sehr alt. Ich ging auf ihre Grillen ein und fragte: »Warum seid Ihr nicht mit ihnen gegangen?«

»Väi« Sie hatte nur noch ein einziges, ziemlich trübes Auge, und mit diesem schaute sie mich jetzt überrascht an.

»Ich konnte doch meinen Sigurd nicht einfach hier

zurücklassen!«

»Wollt Ihr damit sagen, daß Sigurd und König Berig zur selben Zeit lebten?«

Sie warf ihren Kopf so unwirsch zurück, als ob ich sie soeben beleidigt hätte, und sagte mit erhobener Stimme:

»Aber Sigurd lebt doch noch!«

Der Seemann grinste erneut und schüttelte verneinend

den Kopf, daher wechselte ich das Thema. »Gute Hildr, gibt es außer Sigurd und Berig noch andere Namen aus jener

Zeit, an die Ihr Euch noch erinnern könnt?«

»Ach, ja.« Sie kaute weiter und musterte mich eine

Zeitlang prüfend mit ihrem einen Auge. Ohne daß ich sie auf die Frühgeschichte der Goten angesprochen hätte, sagte sie dann plötzlich zu meiner völligen Überraschung: »Wenn Ihr etwas über den Anfang aller Dinge wissen wollt, dann müßt Ihr noch viel, viel weiter zurückgehen... in eine Zeit, die vor der Geschichtsschreibung und vor Sigurd, Beowa und Berig liegt... Ihr müßt Euch zum Anfang der Zeit begeben, als es weder Goten noch irgendwelche anderen Völker gab.

Damals lebten auf der Welt noch keine Menschen. Es war das Zeitalter der Äsen, der Familie der Alten Götter, zu der unter anderem Wodan, Thor und Tiwaz gehörten.«

Als sie eine Pause machte, um ein weiteres Stück von

ihrer Fleischscheibe abzubeißen, sagte ich hoffnungsvoll:

»Ja, diese Namen kenne ich.«

Sie nickte und schluckte. »Damals, in jener Finsternis aller Zeit, ernannten die Äsen einen ihrer niedrigeren Verwandten zum Vater der ersten Menschen. Sein Name war Gaut. Er

erfüllte seinen Auftrag und zeugte die Gautar, die Vielvölker.

Im Verlaufe der Jahrhunderte nahmen diese Menschen

verschiedene Namen an. Hier im Norden nannten sie sich Schweden, Rugier, Sachsen, Juten und Dänen...«

Als sie innehielt, um einen kräftigen Schluck aus ihrem Bierschlauch zu nehmen, sagte ich: »Ich verstehe. Es

handelte sich um die germanischen Völker. Die der

südlicheren Regionen nannten sich dann Alemannen,

Franken, Burgunder, Vandalen -«

Sie fiel mir ins Wort und deutete mit der Öffnung ihres Bierschlauchs auf mich: »Beachtet, daß von all diesen

Völkern nur wir Goten den Namen unserer Vorfahren

beibehalten haben. Er hat sich im Laufe der Zeit kaum

verändert. Zuerst hießen wir Gautar, später dann Gutans, und jetzt nennen wir uns Goten. Der Name blieb also

bestehen.«

Nun, immerhin hatte ich jetzt doch noch etwas über die Frühgeschichte der Goten in Erfahrung gebracht. Man mag mich ebenfalls für leicht verrückt halten, weil ich die Aussagen einer verrückten alten Frau in meine historischen Aufzeichnungen aufnahm, aber was Hildr zu diesem Thema gesagt hatte, hatte mir durchaus glaubwürdig geklungen; außerdem sah sie wirklich so uralt aus, als ob sie die Zeit, die sie als den »Anfang aller Dinge« bezeichnete, noch miterlebt hätte.

13

Als wir wieder an Bord gingen, sagte unser Seemann

freundlich: »Da wir nun schon einmal hier sind und dazu noch von so weit hergekommen sind, brauchen wir uns mit der Rückkehr jetzt wirklich nicht zu beeilen. Ihr könnt also so viele Ausflüge zur Insel machen, wie Ihr wollt.«

Und Frido sagte erwartungsvoll: »Saio Thorn, wir könnten die Klippen hinaufsteigen und das Innere der Insel

erforschen.«

»Ne«, sagte ich. »Habt Dank für Euer Angebot, Seemann, aber Ihr könnt die Anker lichten, sobald das Schiff reisefertig ist. Bringt uns wieder nach Pomore zurück.« Daraufhin ging er zu seinen Bootsleuten hinüber und erteilte ihnen alle notwendigen Befehle. Frido erklärte ich: »Meine Mission ist jetzt beendet. Die Geschichte der Goten läßt sich sicherlich nicht weiter zurückverfolgen als bis zu der Zeit, über die uns die verrückte alte Hildr erzählt hat. Ich brauche Gotland, Skandza und den eisigen, hohen Norden also nicht weiter zu erforschen. Ich weiß deinen Unternehmungsgeist durchaus zu würdigen, mein junger Frido, aber selbst in weniger unwirtlichen Gefilden ist es schon beschwerlich genug, sich während des Winters zu Fuß auf die Reise zu machen. Ich bin für deine Gesundheit verantwortlich und möchte

vermeiden, daß mich deine Mutter nach unserer Rückkehr in Streifen peitschen läßt.«

Eine Zeitlang schwiegen wir beide, und in genau diesem Augenblick reifte in mir dieser Plan, der weder mit meinem Treueschwur gegenüber dem gotischen Volk noch mit den

Gesetzen der Gastfreundschaft vereinbar war. Königin Giso war immerhin eine Gotin und dadurch zumindest entfernt mit mir verwandt. Ich hatte also vor, eine Angehörige meines eigenen Stammes zu hintergehen. Auch wenn sie mich nicht gerade mit offenen Armen empfangen hatte, so war ich doch eine ganze Zeitlang ihr Gast gewesen, und ich würde ihr diese Gastfreundschaft bald mit Verrat vergelten. Ich

schwieg weiterhin und wartete zunächst einmal ab, ob Frido nicht vielleicht sogar von sich aus denselben Gedanken äußern würde. Dann würde es nämlich so aussehen, als

wäre nicht ich, sondern er auf diese Idee gekommen.

Schließlich sagte er: »Was werdet Ihr nun tun, Saio

Thorn?«

»Ich werde mich auf den Weg nach Süden machen«,

sagte ich in bewußt ungezwungenem Ton. »Ich werde mich König Theoderich anschließen und mit ihm und deinem

königlichen Vater kämpfen, wenn der Krieg beginnt.« Diesen letzten Satz hatte ich absichtlich zweideutig formuliert.

»Wie wollt Ihr denn jetzt in den Süden gelangen? Das Eis auf der Weichsel wird in den nächsten zwei Monaten noch nicht schmelzen.«

»Ach, ich werde über Land reiten. Wenn man wie ich ein gutes Pferd besitzt, dann ist eine solche Reise auch im Winter nicht allzu beschwerlich.«

Erneut ließ ich ihm Zeit zu überlegen und wartete

gespannt darauf, was er nun wohl sagen würde.

»Auch ich habe ein gutes Pferd«, sagte er hoffnungsvoll.

Ich ließ ihn abermals eine Weile warten und sagte dann in nicht allzu strengem Ton: »Du würdest den Befehl deiner Mutter mißachten?«

»Ich glaube... was Ihr gesagt habt... daß der Krieg nicht Sache der Mütter ist. Ich werde ihr das ins Gesicht sagen und dann -«

»Langsam, Frido. Ich hielte es für besser, wenn du jeder Konfrontation aus dem Weg gingst.« Mein heimlicher

Ratschlag entsprang rein praktischen Erwägungen, denn ich hatte ja schon miterlebt, wie der Junge in Gegenwart dieser herrischen Frau all seinen Mut verlor. »Wir haben alles bei uns, was wir für die Reise brauchen. Wenn wir in Pomore anlegen, brauchst du lediglich einer deiner Leibwachen zu sagen, daß sie unsere Pferde aus dem Stall holen und

gesattelt zum Hafen bringen soll, damit wir in einem

Triumphzug zum Palast reiten können. Dann werfen wir

unser Gepäck auf die Pferde... und galoppieren einfach aus der Stadt hinaus.«

»Ich darf Euch also begleiten?« rief er freudestrahlend.

»Ja, das darfst du. Ich freue mich schon darauf, dich

deinem Vater, dem König, vorführen zu können - falls wir unterwegs nicht von den Wachen abgefangen werden, die

deine Mutter uns sicherlich sofort hinterherschickt.«

»Ach«, lachte er verächtlich. »Es wird Euch und mir ein leichtes sein, diese schwerfälligen, mürrischen,

würfelspielenden, bierbäuchigen, alten Männer abzuhängen.

Oder etwa nicht, Freund Thorn?«

»Selbstverständlich, Freund Frido!« sagte ich und klopfte ihm auf die Schulter.

Unsere Heimreise war viel weniger ermüdend und

beschwerlich als die Hinfahrt, denn diesmal hatten wir den Wind im Rücken und kamen daher doppelt so schnell voran.

Als eines Vormittags dann Pomore in Sicht kam, zogen die Bootsleute die Segel ein. Die Geschwindigkeit des Schiffes verringerte sich daraufhin zusehends, bis es schließlich ganz langsam in den Hafen glitt. Als ich auf den Docks eine aufgeregt winkende Gestalt wahrnahm, befürchtete ich

schon, Königin Giso hätte sich rechtzeitig von der Ankunft unseres Schiffes unterrichten lassen und würde nun bereits am Hafen auf uns lauern. Bald erkannte ich jedoch, daß es nicht die Königin, sondern mein einstiger Gefährte Maghib war, der uns da so freudig zuwinkte; daher sagte ich zu Prinz Frido: »Vielleicht können wir unseren Plan doch noch etwas ausfeilen, so daß wir ohne jedes Aufsehen aus der Stadt entwischen können.«

»Wie meint Ihr das?«

»Das weiß ich selbst noch nicht so genau; aber hör gut zu, was ich dir jetzt sage. Unser Seemann scheint deine Befehle stets zu befolgen. Sag ihm also, er soll das Schiff noch nicht fest am Dock vertäuen, sondern es nur notdürftig

festmachen und seine Ruderer startbereit halten. Dann

schick, wie besprochen, eine deiner Wachen los, um unsere gesattelten Pferde zu holen, aber schärf ihm ein, daß er sie heimlich zum Hafen bringen soll, da du deine Mutter

überraschen wolltest. Bis die Wache mit den Pferden hier eintrifft, werde ich wissen, was zu tun ist. Warte du

inzwischen hier an Bord.«

Frido stellte mir keine weiteren Fragen, sondern führte sofort meine Anweisungen aus. Als das Schiff das Dock

berührte, sprang ich über Bord und rannte auf den freudig grinsenden Armenier zu, um ihn zur Begrüßung in die Arme zu schließen. Während wir uns gegenseitig auf den Rücken klopften, sagte ich zu ihm: »Ich freue mich, dich zu sehen, Maghib. Ich nehme an, Du bist inzwischen wieder völlig gesund.«

»Ja, Herr. Ich wünschte, ich wäre schneller genesen, denn dann hätte ich früher hier sein können, um Euch mitzuteilen, daß die rugische Armee kurz nach Eurem Aufbruch durch

Lviv hindurch in Richtung Süden zog. Aber sicher wißt Ihr das inzwischen bereits.«

»Ja, ich bin über den Marsch der Rugier unterrichtet. Gibt es sonst noch irgendwelche Neuigkeiten? Vielleicht eine Nachricht von Meirus oder von Theoderich?«

»Nein, Herr. Aber Reisende haben mir unterwegs erzählt, daß sowohl Theoderich wie auch Strabo ihre Streitkräfte für einen Krieg im Frühjahr rüsten.«

»Auch das ist mir nicht neu.« Die ganze Zeit über hatte ich das Schiff nicht aus den Augen gelassen. Eine von Fridos Wachen war soeben von Bord gegangen und schlich nun in Richtung Palast. »Nun, ich habe dir schon ein paar

Kleinigkeiten zu berichten, Maghib. Deine Verletzung ist gerächt. Der heimtückische Thor wird nie mehr versuchen, dich oder sonst jemanden umzubringen.« In seiner

armenischen Redseligkeit bedachte er mich nun mit einem wahren Schwall von Dankesbezeugungen, ich unterbrach

ihn jedoch mit der Frage: »Was hat dich dazu bewogen, an diesem Morgen ausgerechnet auf unser Schiff zu warten?«

»Meine Gastgeberin Königin Giso teilte mir mit, daß Ihr zusammen mit ihrem Sohn eine Seereise unternommen

hättet, und daß Euer Schiff das einzige sei, das sich zur Zeit auf See befände Also bin ich jeden Tag zu den Docks

heruntergekommen.«

»Königin Giso ist deine Gastgeberin?«

»Wie Ihr wißt, hat mir Herr Meirus diesen Brief mitgegeben der mich dazu befugt, in seinem Auftrag mit Bernstein zu handeln. Als ich in Pomore eintraf, empfahl man mir, dieses Dokument der Königin vorzulegen, da sie anscheinend den gesamten Handel hier überwacht; es hieß, daß auch kein noch so geringfügiges Geschäft Ihrer Aufmerksamkeit

entginge. Als sie mir dann eine Audienz gewährte, erzählte ich ihr, daß ich Euch kenne, und daß ich ihren königlichen Gemahl an der Spitze seiner Truppen durch Lviv ziehen sah.

Sie war sehr freundlich und quartierte mich sogleich in Eurem Gästehaus neben dem Palast ein. Dort wohne ich im Augenblick. Ich genieße diese vornehme Unterkunft auch sehr, nur die Mahlzeiten, die immer nur aus Fisch bestehen, finde ich allmählich -«

»Väi, Maghib!« unterbrach ich ihn. »Ich habe der Königin erzählt, daß Theoderich Strabo mich nach Pomore geschickt hätte. Ist dir etwa herausgerutscht, wer ich wirklich bin?«

»Ne, ne, Herr. Einige Bemerkungen meiner Königin haben mich zwar zunächst etwas verwirrt. Ich habe jedoch sehr bald begriffen, wie die Dinge liegen, und ließ sie daher in dem Glauben, daß ich ebenso wie Ihr fest auf der Seite Strabos bin, mit dem sich ihr Gemahl König Fewa ja

verbündet hat. Ich habe ihr Eure wahre Identität also nicht enthüllt.«

»Thags izvis«, sagte ich erleichtert. Um mich für die guten Dienste erkenntlich zu zeigen, die Maghib mir erwiesen hatte, erzählte ich ihm nun alles, was ich über die

Bernsteinfunde in der hiesigen »blauen Erde« und über die Verarbeitung des edlen Materials wußte. Ich erklärte ihm auch, wo sich die einheimischen Steinschneidewerkstätten befanden, damit er sich dort eine genauere Vorstellung von seiner neuen Aufgabe machen konnte. »Dein geradezu

vorbildlicher Unternehmungsgeist wird dich sicher zu einem recht erfolgreichen Bernsteinhändler machen«, sagte ich zursichtlich und fügte zum Schluß noch hinzu: »Ich habe den Eindruck, daß du und deine Königin Giso euch in dieser kurzen Zeit schon sehr nahe gekommen seid.«

Sein Gesicht strahlte vor verhaltenem Stolz, als er mir nun offenbarte: »Sie scheint mir sehr gewogen zu sein. Ich glaube, daß sie nie zuvor einem Armenier begegnet ist und mein Volk nicht einmal vom Hörensagen kennt; woher sollte sie also wissen, daß ein elender Armenier es nicht wert ist, von einer angesehenen Frau wie ihr beachtet zu werden.«

Er wirkte richtig schüchtern, als er nun seine Augen

niederschlug und verlegen mit den Füssen auf dem Boden herumscharrte. »Sie hat sich sogar bewundernd über die Länge meiner Nase geäußert.«

Ich blinzelte überrascht und murmelte nur: »Nicht schlecht, wirklich nicht schlecht.« Und während ich über die ganz neuen Aussichten nachdachte, die sich uns dadurch

eröffneten, fügte ich noch geistesabwesend hinzu: »Ich hoffe, du hast es nicht versäumt, ihr über die Länge ihrer Zähne ebenfalls ein paar Komplimente zu machen.«

»Wie bitte?«

»Nichts, nichts. Die Königin ist dir also gewogen, sagst du?«

»Nun... sie hat mich sogar gefragt, ob ich auf die Nase ihres Gemahls geachtet hätte, als ich ihn durch Lviv reiten sah, und ob mir aufgefallen sei, wie klein sie ist.«

»Gudisks Himins, Mann!« sagte ich heiter und klopfte ihm nochmals herzhaft auf die Schulter. »Was stehst du dann noch hier herum und vergeudest deine Zeit damit, dich mit mir zu unterhalten? Du solltest wirklich nicht länger zögern, diese glücklichen Umstände zu nutzen.«

»Aber sie ist eine Königin!« piepste er. »Und ich bin nur ein Armenier.«

»Viele edle Damen haben eine geheime Vorliebe für das

Niedrige. Los, Maghib, sei nicht so feige. Ich wäre wirklich stolz auf dich.«

»Aber... aber... braucht Ihr meine Dienste denn nicht?«

»Du erweist mir damit durchaus einen großen Dienst. Für mich gibt es hier nichts mehr zu tun. Ich muß jetzt

schleunigst zu Theoderich zurückreiten.« In diesem

Augenblick sah ich die Wache mit Velox und Fridos Wallach zum Schiff zurückkehren, daher sagte ich hastig: »Aus

Gründen, die du nicht zu kennen brauchst, werde ich den Sohn der Königin mitnehmen. Sobald Giso das

herausbekommt, wird sie sehr wütend sein. Da sie jedoch annimmt, daß ich den Jungen zum Armeelager von Strabo

und Fewa bringe, wird sie sich bald wieder etwas beruhigen.

Der Junge und ich brauchen aber möglichst viel Vorsprung.

Dafür mußt du mit deiner langen Nase sorgen, indem du die Königin so lange wie möglich ablenkst.«